Skriptum Studentische Onlinezeitschrift für Geschichte
und Geschichtsdidaktik
Autor: Patrick LöwertTitel: Zwischen religiösem Produkt und Orientierungshilfe – Die Darstellung Afrikas auf Landkarten des 14. bis 16. JahrhundertsHerausgegeben in: Skriptum 2 (2012), Nr. 1, S. 17–29URL: http://www.skriptum-geschichte.de/?p=1144 (03.05.2012)URN: urn:nbn:de:0289-2012050327ISSN: 2192-4457
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Zwischen religiösem Produkt und Orientierungshilfe – Die Darstellung Afrikas auf Landkarten des 14. bis 16. JahrhundertsPatrick Löwert
ZusammenfassungDie Bedeutung historischer Karten innerhalb der Geschichtswissenschaft wird im Essay „Zwischen religiösem Produkt und Orientierungshilfe – Die Darstellung Afrikas auf Landkarten des 14. bis 16. Jahrhunderts“ von Patrick Löwert herausgestellt, indem er insbesondere spätmittelalterliche Kartierungen Afrikas einer genauen Untersuchung unterzieht. Am Beispiel der Karten Theatrium Orbis Terrarum (1570), der Dulcerts Karte (1339) und der berühmten Ebstorfer Weltkarte (Anfang 14. Jh.) zeigt sich, dass frühe Darstellungen von Landschaften keineswegs reine Realitätsabbildungen waren – ihnen lag eine ganz andere Intention zu Grunde. Der Sinn dieser faszinierenden, reich bebilderten Weltdarstellungen war eben nicht, wie heute, die exakte Wiedergabe der Realität mit Hilfe von geografischen Kenntnissen, sondern geht über diese Funktion weit hinaus. Man wollte sich die Terra incognita ausmalen und gestaltete das unbekannte Gebiet mit Hilfe von sagenumwobenen Figuren, fabelhaften Wesen und religiösen Symbolen. Zum einem ist dies durch den Mangel an geografischem Wissen begründet, zum anderen aber im Bestreben der Menschen im Mittelalter, ihre Welt zu deuten und das geografische Wissen mit den religiösen Vorstellungen zu verbinden. Das Essay veranschaulicht diese für uns heute unvorstellbare Verschmelzung von irdischer und geistlicher Welt im Mittelalter.
AbstractThe importance of historical maps for the study of history will be discussed in the essay „Zwischen religiösem Produkt und Orientierungshilfe – Die Darstellung Afrikas auf Landkarten des 14. bis 16. Jahrhunderts“ (Between a Religious Product and a Orientation Guide – The Representation of Africa on Maps from the 14th to the 16th Century) by Patrick Löwert. The author focuses on the mapping of Africa in the late Middle Ages. The following maps serve as examples: Theatrium Orbis Terrarum (1570), Dulcerts Map (1339) and the famous Ebstorfer world map (from the beginning of the 14th century). The maps show that the early depictions of landscapes did not to any degree offer a realistic image. Thus, these maps were intended for a different purpose. The main intention of the richly illuminated world maps was not the precise depiction of reality according to geographical knowledge, but rather something that goes beyond the scope of this function.The main goal was to show the unknown territory and to describe this area with the help of creatures of myth and legend as well as religious symbols. On the one hand, this is due to the lack of geographical knowledge; on the other, it shows the urge of the medieval people to interpret and link geographical knowledge with religious ideas. The essay shows this amalgamation of mundane and spiritual worlds in medieval times, which is entirely unfamiliar for us today.
RésuméL’essai « Zwischen religiösem Produkt und Orientierungshilfe – Die Darstellung Afrikas auf Landkarten des 14. bis 16. Jahrhunderts » (« Entre produit religieux et aide à l’orientation – la représentation de l’Afrique sur les cartes géographiques du 14° jusqu’au 16° siècle ») de Patrick Löwert met en valeur la signification des cartes historiques en analysant de façon détaillée la cartographie de l’Afrique du bas Moyen Age. C’est à travers la carte géographique Theatrium Orbis Terrarum (1570), le portulan de Dulcert (1339) et la fameuse mappa mundi d’Ebstorf (datant du début du 14° siècle) que Löwert démontre le fait que cette cartographie précoce ne visa pas du tout à une pure représentation de la réalité géographique, mais que son objectif fut tout autre : contrairement à nos jours, l’intention de base de ces représentations fascinantes et riches en images
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du monde dépassa le cadre fonctionnel d’une simple reproduction exacte de la réalité à l’aide des connaissances géographiques : ces cartes peignirent la Terra incognita tout en présentant ces régions inconnues à l’aide de figures mythiques, légendaires, d’êtres fabuleux ainsi que de symboles religieux ce qui résulta d’un côté du manque de connaissances géographiques profondes, de l’autre côté de l’objectif et du but de l’homme médiéval d’interpréter le monde qui l’entoure tout en liant des connaissances géographiques à la conception religieuse. L’essai illustre donc cet amalgame du temporel et du religieux qui est tout à fait inconcevable pour l’homme d’aujourd’hui.
Einleitung – Eine Relativierung des Urteils über historische KartenRichtet der heute lebende Mensch einen kurzen Blick auf eine mittelalterliche Landkarte, so wird er
unweigerlich mit Merkmalen konfrontiert, die seinen Sehgewohnheiten streng zuwiderlaufen. Wir,
die wir mit dem funktionalen Prinzip von Satelliten- und Straßenkarten vertraut sind, dürften wohl
zuerst von der reichhaltigen Dekoration überrascht sein, die als Umrahmung des historischen
Werkes dient. Danach könnte sich unser Blick auf die seltsame, fantastisch anmutende Form der
Kontinente richten, die wenig mit den uns bekannten Küstenverläufen gemeinsam haben.
Schließlich dürften dem Betrachter die vielen kleinen Darstellungen auffallen, die Land und Meer
auf Karten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit schmücken. Darunter finden sich Schiffe,
Gebäude, Personen und andere mehr oder weniger reale Lebewesen (siehe Abb. 1).
Die historischen Karten scheinen uns heute fremd. Ihre Grundprinzipien stehen in starkem
Widerspruch zur navigatorischen Priorität unserer Satellitenbilder und elektronischen Landkarten.
Eine Karte wird nach der Internationalen Kartographischen Vereinigung heute als „versinnbildlichte
Repräsentation geographischer Realität“1 definiert. Einer Karte des Untersuchungszeitraums
müssen wir den Umstand absprechen, dass sie die geographische Realität vollständig abbildet. Ihre
Intention war, das geographische Wissen mit religiösen Vorstellungen zu verbinden. Die Karten
wurden teilweise umrahmt wie ein Gemälde, und stellten gewissermaßen ein Fenster zu einer Welt
dar, die für den zeitgenössischen Betrachter nur in sehr kleinem Maßstab zu bereisen war. Auch
wenn unsere heutigen Karten real scheinen, – jedes Satellitenbild wird retuschiert, damit es unseren
Sehgewohnheiten entspricht, und ist niemals ein objektives Abbild unserer Welt2 – sind vor allem
die historischen Kartenwerke, insbesondere die Weltkarten des späten Mittelalters und der frühen
Renaissance, eher als Bilder denn als Versuch zu definieren, eine objektive Realität abzubilden. Der
moderne Anspruch auf zielgerechte Vollständigkeit war unmöglich zu erfüllen, sodass die
eigentliche Karte – quasi als Kompensation – einen bildhaften Zusatz erhielt. Dieser besteht aus den
erwähnten Darstellungen in der Karte bzw. an ihren Rändern.
1 Schneider, Ute: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2006, S. 7.
2 Vgl. Schneider, S. 8.
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Terra Incognita AfrikaDiese Darstellungen auf Karten des späten Mittelalters werden im Folgenden analysiert und
interpretiert. Für eine genauere Betrachtung ist es aber zuerst notwendig, den Radius der zu
behandelnden Abbildungen einzuschränken. Untersuchungsgegenstand werden Karten aus dem 14.
bis 16. Jahrhundert sein. Diese Zeit liegt in einem besonderen Spannungsfeld, in dem das
traditionelle transzendente Denken sowie neue Gedanken und Ideen zusammenprallen, um sich am
Ende der Epoche zu entladen: Die europäische Expansion, soziale Unruhen und die Reformation
sind nur einige Beispiele hierfür. Gleichzeitig begann der Europäer, seinen Horizont nach und nach
zu erweitern. Für die Bibel und den damit verbundenen mittelalterlichen Vorstellungen von der Welt
waren die Orte, die sich nicht mit dem Heilsgeschehen befassen, d.h. außerhalb der sogenannten
Ökumene liegen, unbedeutend.3 Den ersten europäischen Entdeckern im betrachteten Zeitraum
jedoch gaben unbekannte Länder Anlass zu immer neuen und gefährlichen Seereisen, durch die das
Wissen um die geographische Welt erweitert wurde, sodass mit Ortelius Theatrium Orbis Terrarum
von 1570 (siehe Abb. 2) die Erschließung der Küstenverläufe im Wesentlichen abgeschlossen war.4
Ein Erdteil, der aufgrund seiner menschenfeindlichen Umwelt, seiner Unzugänglichkeit und einem
vermeintlichen Mangel an interessanten Ressourcen bis ins 19. Jahrhundert hinein jedoch
weitgehend unerforscht blieb, war Afrika. Hier befand sich konstant Terra Incognita, unbekanntes
Gebiet. Dieses konnte nach damaligem Verständnis von keinen Menschen bewohnt werden, die sich
ja allesamt auf den biblischen Adam oder Noe innerhalb der christlichen Ökumene zurückführen
ließen, und war somit nicht Teil des relevanten christlichen Lebensraumes.5
Die Darstellungen im Inneren Afrikas auf historischen Karten werden gemeinhin sinnentleert
interpretiert, als dekoratives Beiwerk und spirituell-geistliche Symbole, die in der weltlichen
Kartographie keinen Platz finden und deren Fehlen nach Meinung mancher Autoren den
intellektuellen Anspruch der Karte erhöht.6 Die vormodernen, nicht-technischen Bilder, zu denen ja
auch diese Darstellungen zählen, werden als der Willkür des Künstlers ausgesetzt angesehen, die
einer objektiven Wahrheit nicht entsprechen können und als Fantasieprodukte gelten.7 Ihre Funktion
– und ich benutze hier absichtlich diesen anachronistisch scheinenden Begriff – war jedoch
vordergründig weder dekorativ noch rein spirituell. Irdische und geistliche Welt waren im 14. und
15. Jahrhundert noch keine isolierten Einheiten, sondern fanden im Leben des Menschen und all
seinen lebensweltlichen Erklärungen eine starke Überschneidung. Der Mensch begann, sich seiner
3 Vgl. Aertsen, Jan A. / Speer, Andreas (Hrsg.): Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Berlin/New York 1998, S. 561.
4 Vgl. Schneider 2006, S. 50–51.5 Vgl. Aersten, S. 567.6 Vgl. Barber, Peter: Die Evsham-Weltkarte von 1392. In: Cartographica Helvetica 9 (1994), S. 18.7 Vgl. Hüppolf, Bernd / Wulf, Christian (Hrsg.): Bild und Einbildungskraft. München 2006, S. 18.
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Individualität, seines Mensch-Seins bewusst zu werden8; gleichzeitig konnte er aber in den Karten
nicht ohne die Informationen auskommen, welche die christliche Lehre und teilweise irreführende
Reiseberichte ihm vorgaben. Bilder waren transzendente Produkte, die der Künstler aus sich
gegenseitig ergänzenden weltlichen und geistlichen Vorstellungen entwarf. In modernen Karten
existiert eine zweigliedrige Opposition: die objektivierte Realität wird durch bekannte Symbole
abgelesen. Bei Bildern und Karten des späten Mittelalters und der Renaissance bildete sich dagegen
eine dreigliedrige Opposition aus – abgeleitet nach dem Konzept von Boehm9 – indem zwischen
dem Einen, der materiellen geographischen Welt, abgebildet durch Küstenlinien und Staatsgrenzen,
und dem Anderen, der spirituellen Welt, die immateriell und somit nicht abzubilden ist, eine
Verbindung geschaffen wird. Beide Welten negieren sich nicht gegenseitig, sondern sind in ein und
demselben Bild zu fassen, nämlich in der vormodernen (Welt-)Karte, in die ein alternativer Sinn
additiv zur modernen Intention einer Karte hineininterpretiert werden muss. Um diese
Überscheidung adäquat darzustellen, dienten dem damaligen Kartographen die beschriebenen
Darstellungen. Abbildungen dieser Art waren jedoch keine rein künstlerischen Interpretationen der
Wirklichkeit, sondern sie waren die Wirklichkeit; die Fantasie, die notwendig gewesen wäre, um
etwas nicht-existentes künstlerisch zu verarbeiten, ist eine Erfindung der Neuzeit.10 Die Existenz
dieser Darstellungen war hauptsächlich weder dekorativen Ursprungs, noch ist ihre Entstehung auf
die oft erwähnte Angst des Kartographen vor der leeren Fläche, dem „Horror vacui“11,
zurückzuführen. Die Darstellungen hatten einen konkreten Grund in der heilsgeschichtlichen
Vorstellungswelt der Menschen: Das althergebrachte Wissen stand im Kontrast zu ständigen
Erweiterungen der materiellen, geographisch durchreisten Welt. Dieser Konflikt manifestierte sich
im Bild der vormodernen Karte. Nicht Angst, Fantasie oder ein gewisser Sinn für Ästhetik trieben
den Kartographen dazu, das Innere Afrikas mit Gebilden auszuschmücken; vielmehr war es das
Bestreben, die religiös-transzendente Weltsicht mit der aufkommenden wissenschaftlichen
Denkweise der beginnenden Moderne in einem Kartenbild als Fenster zu vereinen, das einen Blick
in beide Welten gleichzeitig und ohne Negation erlaubte.
8 Vgl. Garin, Eugenio (Hrsg.): Der Mensch der Renaissance. Frankfurt 2004, S. 2f.9 Nach Boehm steht unter anderem der begrenzten, konstanten Fläche des Bildes das subjektive, sich kontinuierlich
wandelnde Abgebildete gegenüber. Beides vereint sich im Auge des Lesers durch das Ereignis des Sehens, was Boehm zusammengefasst als ‚dreigliedrige Opposition‘ bezeichnet. Boehm konstatiert, dass Bilder somit selbst eine „Form des Ereignisses“ darstellen. Vgl. Boehm, Gottfried: Ikonische Differenz. In: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik. 1 (2011), S. 171f.
10 Vgl. Hüppolf, S. 10.11 Vgl. Schneider, Ute: Die Macht der Karten. In: www.bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung), URL:
http://www.bpb.de/themen/YZHHE7,2,0,Weltbilder_auf_Karten.html (Aufruf am 20.08.2011).
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KartenbeispieleEin Musterexemplar der Verbindung von irdischer und geistlicher Darstellung stellt die Ebstorfer
Weltkarte dar, die Anfang des 14. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich im Benediktinerinnenkloster
Ebstorf entstanden ist (Abb. 2).12 Entgegen der heutigen Vorstellung einer Karte stellt sie ein
Bildnis, eine Demonstration der göttlichen Schöpfung mit Jerusalem im Zentrum dar, deren
Schwerpunkt eindeutig auf dem religiösen Aspekt liegt, auch wenn der Verfasser bereits
„geographische Kenntnisse und naturwissenschaftliches Wissen verarbeitet.“13 Dennoch ist Afrika
anhand seiner Küstenlinien kaum zu erkennen. Der Kontinent ist zweigeteilt in eine Nord- und eine
Südregion. Im geographischen Norden (die Karte ist nach Osten ausgerichtet) sind an der
Mittelmeerküste die Darstellungen ‚zivilisierter‘ Städte zu erkennen. Diese Region stellt die
besiedelte Ökumene dar. Weiter im Süden befinden sich dagegen zahlreiche Tiere, welche einerseits
die Gefährlichkeit der Wüste darstellen, anderseits aber auch die Vielfalt von Gottes Schöpfung
repräsentieren sollen. Unter ihnen finden sich reale Lebewesen wie Kamele und Leoparden ebenso
wie Fabelwesen, etwa geflügelte Schlangen und Gestalten, die man als menschenähnlich
bezeichnen könnte. Außerdem erkennt man in der Südregion Darstellungen zum Teil deformierter
Menschen, deren Bedeutung durch Texte erläutert wird. Einigen Menschen fehlt die Zunge, sodass
sie sich nur über Gebärden ausdrücken können, andere sind gegen Schlangenbisse immun und
wieder andere haben keine Ohren.14 All diesen Darstellungen ist gemein, dass sie keine bloßen
ästhetischen Lückenfühler im Gesamtbild der Karte darstellen, sondern in sie ein Sinn interpretiert
werden kann. Die Menschen mit zu vielen oder zu wenigen Gliedmaßen sind keine in christlichen
Texten erwähnte Gestalten; doch mit ihrer Darstellung wird die Ökumene von der restlichen Welt
abgeschnitten. Die irdische und geistliche Welt wird als bildliche, nicht aber als realweltliche
Einheit dargestellt. Im Zwischenraum von Nord- und Südregion finden sich besonders viele Tiere
und Ungeheuer, die eine Verbindung zwischen beiden Gebieten verhindern. Während vertikal –
zwischen himmlischer Spiritualität und weltlicher Geographie – also eine Überschneidung
stattfindet, kann eine horizontale Vereinigung zwischen Europa und dem südlichen Afrika nicht
gelingen. Die Bedeutung der horizontalen und vertikalen Dynamik wird weiter erhöht, wenn man
sich darüber bewusst wird, dass mit Frau Mauro ein Mönch, also ein Vertreter der geistlichen
Interessen, der Schöpfer der Karte war.
12 Vgl. Schulte, Benedikt: Die Karte als symbolische Form. Kartografische Repräsentationen des Raums und ihre Transformation durch technische Bilder: Eine vergleichende Analyse der Ebstorfer Weltkarte und Google Earth. Ohne Ort 2010, S. 18.
13 Schneider 2006, S. 28.14 Vgl. Warnke, Martin: Die Ebstorfer Weltkarte in einer interaktiven Weltkarte. URL: http://weblab.uni-
lueneburg.de/kulturinformatik/projekte/ebskart/content/start.html (Aufruf am 23.08.2011).
21
Ein zweites Beispiel ist Dulcerts Karte von 1339 (Abb. 3). Sie war eine der ersten Seefahrerkarten
(ein sog. Portolan, von ital. portolano „Schifferhandbuch“) und „die erste ihrer Art, die das Innere
Afrikas zeigt.“15 Neben einigen anderen Abbildungen wie Kamelen und Bergen fällt hier das Bild
eines weißen Mannes auf, der anhand von Krone und Zepter eindeutig als König zu identifizieren
ist. Neben seinem europäischen Aussehen entdeckt man Komponenten, die der Kartograph
zweifellos mit dem ihm bekannten Teil Afrikas identifizierte: Kissen, Turban und ein sarazenisches
Gewand sind als Attribute der nordafrikanischen Araber zu identifizieren. Die Person stellt König
Melly dar, den Herrscher von Mali, dessen sagenumwobener Reichtum auf historischen Tatsachen
beruht. Die prächtige Pilgerreise des Königs Mansa Musa machte das Königreich auch in Europa
bekannt, wodurch die Erzählung über dessen Herrscher – als einer der wenigen bekannten Könige
des subsaharischen Afrika – in der Folgezeit legendenhaften Charakter annahm.16 Neben König
Melly sind in südöstlicher Richtung zwei Nubier abgebildet, zu denen Dulcert schreibt, sie
kämpften unter dem afrikanischen Priester Johannes gegen die Muslime. Als Hintergrund dieser
Abbildung dienten Berichte aus Jerusalem und Ostafrika, wo tatsächlich Christen zu finden waren,
aber natürlich nicht unter dem Befehl eines Johannes. Zwischen Atlasgebirge und den besagten
Personen sind zahlreiche Tiere eingezeichnet, die in der als „unbrauchbar“ titulierten Wüste
platziert sind: Elefanten, Vipern, Tiger usw.17 Tatsachen vermischen sich also mit Legenden, die auf
dem religiösen und wirtschaftlichen Denken der Zeitgenossen beruhen. Die heilsgeschichtliche
Hoffnung auf das Reich des Johannes und der irdische Neid auf das Gold des Melly vereinen sich
hier wie in der Ebstorfer Weltkarte zu einem Raum, der durch die schreckliche Wüste von der
Ökumene getrennt und unerreichbar ist.
Die afrikanische Wüste als Ort der Vereinigung von materieller und immaterieller WeltBei den Darstellungen von sagenhaften christlichen Herrschern und Fabelwesen stellt sich die
Frage, warum sie in Afrika zahlreicher auftraten als auf anderen Kontinenten. Natürlich spielt es
hierbei eine Rolle, dass der südliche Kontinent kaum erforscht war, sodass in den unbekannten
Regionen genug Raum für Darstellungen gegeben war. Vor allem aber stellt die Wüste als
dominierende Landschaftsform Afrikas, wie man es damals kannte, in der christlichen Lehre den
Schauplatz besonderer heilsgeschichtlicher Erfahrungen dar. Sie war keine weiße Fläche, die es zu
bemalen galt. Vielmehr wird die Wüste „zum Sprachbild, (…) [welches] das von allem diskursiv
15 Pelletier, Monique: Der Portolan von Angelino Dulcert. In: Geographica Helvetica 9 (1994), S. 30.16 Vgl. Lugard, Flora S.: A Tropical Dependency. An Outline of the Ancient History of the Western Sudan with an
Account to the Modern Settlement of Northern Nigeria. Cambridge 2010, S. 122f.17 Vgl. Pelletier, S. 30f.
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gelöste Bild [repräsentiert].“18 In der endlosen Wüste scheint der Sinn der Darstellungen umso
intensiver hervorzutreten. War die Wüste in jüdischer Zeit noch Ort des Schutzes, als Moses sein
Volk aus Ägypten führte, wandelt sich der Charakter im Neuen Testament. In der Wüste musste
Jesus dem Teufel widerstehen. Eremiten versuchten, in der Einsamkeit den Dämonen zu entsagen.
Die Wüste wurde zu einem Ort, an dem man seinen Glauben prüfte, um im Erfolgsfall aber nicht
die Wüste geographisch zu durchqueren, sondern ins Himmelreich aufzusteigen.19 Die Wüste ist ein
Ort der Einsamkeit und Gefahr, die dem mittelalterlichen Ethnozentrismus Grenze der eigenen
bewohnbaren Welt war.20 Jenseits der Wüste konnten Wünsche und Hoffnungen der Menschen in
Erfüllung gehen, die aber ganz im Sinne des christlichen Verständnisses vom leidvollen Leben, das
erst durch das Seelenheil endete, unerreichbar waren. Umso mehr hatten die Darstellungen einen
betont religiösen Charakter inne, auch wenn dies etwa bei Nilpferden oder Menschen ohne Ohren
nicht sofort auffällt. Sie sind als Geschöpfe Gottes anzusehen, die nur in der Bilderwelt
wahrnehmbar waren.
Das Ende des Bildcharakters von KartenFast genau 120 Jahre später wurde das Ende der bildhaften Konzeption von Karten eingeleitet. Der
Mönch Fra Mauro entwarf 1459 eine Weltkarte, bei der er sich von den traditionellen
Weltvorstellungen durch zahlreiche Veränderungen entfernte (Abb. 4): Er betrachtete Afrika als
umschiffbar, stellte erstmals in einer europäischen Karte Japan dar und setzte Mesopotamien statt
Jerusalem ins Zentrum seiner Karte. Seine Weltkarte verrät „eine kritische Einstellung zu den
Quellen und folgt im Zweifelsfall empirischen Erkenntnissen“.21 Fabelwesen fehlen auf seiner Karte
völlig. Das legendenhafte Reich des Erzpriesters Johannes wird erstmals mit einer realen
geographischen Region, Abessinien, verbunden und somit als theoretisch erreichbar interpretiert.22
Auch wenn noch weitere Jahrhunderte vergingen, bis die letzten sagenhaften Orte von den
Landkarten verschwanden – die britische Admiralität verbannte erst 1873 die nicht existierende
Insel Brasil von ihren Karten23 – wichen die Darstellungen innerhalb der Karten zunehmend‚weißen
Flecken‘, die jeglicher religiöser Interpretationsmöglichkeit entbehrten.
18 Müller, Ulrich (Hrsg.): Burgen, Länder, Orte. Mittelalter-Mythen Bd. 5. Konstanz 2008, S. 1003.19 Vgl. Lindemann, Uwe: Die Wüste. Terra incognita. Erlebnis. Symbol. Eine Genealogie der abendländischen
Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000, S. 46–50. 20 Vgl. Lindemann, S. 13.21 Tajoli, Luciano: Die zwei Planisphären des Fra Mauro (um 1460). In: Geographica Helvetica 9 (1994), S. 15.22 Vgl. Tajoli, S. 15.23 Schneider 2006, S. 112.
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SchlussDie Abbildungen in Afrika stellten in der Gesamtkonzeption des Kartenbildes den Beweis für die
Unzulänglichkeit des Menschen dar. Sie waren angesichts des entstehenden Expansionsdrangs der
Europäer Mahnmale christlicher Zurückhaltung. Nicht die Angst vor der Leere war es, die den
Kartenzeichner zum Füllen der Fläche trieb, sondern die „armor infiniti, die Liebe zum
Unendlichen“24, wobei man darin die unvorstellbar vielfältige Welt des biblischen Gottes, die im
Denken eines spätmittelalterlichen europäischen Kartographen unweigerlich verwurzelt war,
erkennen kann. Die gewaltige Terra incognita Afrikas, die in der Regel mit der Charakterisierung
der Wüste in enger Verbindung stand, stellte „unzugängliche, aber bewohnbar gedachte Regionen
ferner Gegenwelten dar“25, in denen die Verbindung zwischen christlichem Paradies und irdischer
Welt als einzige situiert werden konnte, da die anderen Regionen der Alten Welt bereits bekannt
waren. Umso mehr stellten sie Orte der Sehnsucht, zu denen es die Betrachter der Karten zog, wie
auch gefahrvolle Orte der Glaubensprüfung dar. Einen Raum für die religiöse Interpretation des
Betrachters zu lassen, durch ihre Ästhetik Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und verschiedene
Vorstellungen zu vereinen: dies gelang spätmittelalterlichen Karten durch ihre Darstellungen besser
als so manchem Kunstwerk der Neuzeit.
LiteraturverzeichnisAertsen, Jan A./Speer, Andreas (Hrsg.): Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Berlin/New York 1998.
Boehm, Gottfried: Ikonische Differenz. In: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170–176.
Garin, Eugenio (Hrsg.): Der Mensch der Renaissance. Frankfurt 2004.
Gombrich, Ernst H.: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens. Stuttgart 1982.
Lindemann, Uwe: Die Wüste. Terra incognita. Erlebnis. Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000.
Müller, Ulrich (Hrsg.): Burgen, Länder, Orte. Konstanz 2008 (= Mittelalter-Mythen, Bd. 5).
Pelletier, Monique: Der Portolan von Angelino Dulcert. In: Geographica Helvetica 9 (1994), S. 27–31.
24 Gombrich, Ernst H.: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens. Stuttgart 1982. S. 92. (Hervorhebung nicht im Original)
25 Aertsen, S. 568.
24
Schneider, Ute: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2006.
Schneider, Ute: Die Macht der Karten. In: www.bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung), URL: http://www.bpb.de/themen/YZHHE7,2,0,Weltbilder_auf_Karten.html (Aufruf am 20.08.2011).
Schulte, Benedikt: Die Karte als symbolische Form. Kartografische Repräsentationen des Raums und ihre Transformation durch technische Bilder: Eine vergleichende Analyse der Ebstorfer Weltkarte und Google Earth. Ohne Ort 2010.
Tajoli, Luciano: Die zwei Planisphären des Fra Mauro (um 1460). In: Geographica Helvetica 9 (1994), S. 13–16.
Warnke, Martin: Die Ebstorfer Weltkarte in einer interaktiven Weltkarte. URL: http://weblab.uni-lueneburg.de/kulturinformatik/projekte/ebskart/content/start.html (Aufruf am 23.08.2011).
Lugard, Flora S.: A Tropical Dependency. An Outline of the Ancient History of the Western Sudan with an Account to the Modern Settlement of Northern Nigeria. Cambridge 2010.
Patrick Löwert ist Student der Geschichte, der Ethnologie und Afrikastudien sowie
der Geographie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in den Studiengängen
Bachelor of Arts und Bachelor of Science.
Lizenzierung:
Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz.
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Namensnennung — Sie müssen den Namen des Autors/Rechteinhabers in der von ihmfestgelegten Weise nennen.
Keine Bearbeitung — Dieses Werk bzw. dieser Inhalt darf nicht bearbeitet, abgewandelt oder in anderer Weise verändert werden.
Angaben zur Rechtslage der Abbildungen können Sie dem Anhang entnehmen.
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AnhangDie Karte kann aus urheberrechtlichen Gründen hier leider nicht abgebildet werden. Der
untenstehende Link verweist jedoch auf eine im Internet verfügbare Abbildung.
Abb. 1: Münster, Sebastian: Affricae tabula nova. Basel ca. 1544. Im Zentrum der Karte, etwa im
Bereich des Kongo, findet sich ein ‚Monoculus‘, ein Einäugiger. Desweiteren sind unter anderem
ein Elefant, europäisch aussehende Kronen und Städte auf der Karte zu sehen.
Quelle: Münster, Sebastian: Geographia universalis, vetus et nova Basel 1545
URL: http://www.brynmawr.edu/library/exhibits/maps/munster2big.shtml (Aufruf am 21.02.2012).
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Abb. 2: Ausschnitt der Ebstorfer Weltkarte (Anfang 14. Jh.) Zur besseren Orientierung sind alle
Landflächen außer dem afrikanischen Festland eingefärbt.
Quelle/Urheber: Foto des Originals des Benutzers:Kolossus
Lizenz: CC-BY-SA 3.0 http://www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ebstorfer-stich2.jpg?uselang=de
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Abb. 3: Ausschnitt des Portolans von Dulcert, Palma 1339. Im Osten ist das Rote Meer deutlich zu
erkennen, die dicken blauen Linien in der Bildmitte stellen das Atlasgebirge und seine Ausläufer
dar.
Quelle: Scan des Original von Angelino Dulcert der Französischen Nationalbibliothek BNF aus
[Carte marine de la mer Baltique, de la mer du Nord, de l'océan Atlantique Est, de la mer
Méditerranée, de la mer Noire et de la mer Rouge] / Hoc opus fecit angelino dulcert/ ano M CCC
XXX VIIII de mense augusti/ [in civitate] maioricharum
(http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b7759104r)
Lizenz: Public Domain
URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_Angelino_Dulcert_cropped.jpg?uselang=de
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Abb. 4: Weltkarte des Fra Mauro, ca. 1457-1459. Abgesehen von der Ausrichtung nach Süden und
dem Fehlen der Alten Welt, sind bereits wichtige Merkmale moderner Karten zu finden.
Quelle: Scan des Originals der Biblioteca Marciana
Lizenz: Public Domain
URL: http://www.rab-friedrich-ramm.de/Maritimer_Exkurs_4.html (Aufruf am 28.02.2012)
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