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Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 30. April 2011 - 11.05 – 12.00 Uhr
Getrennt durch die Schengen-Grenze –
Die Zwillingsstädte
Narva in Estland und Iwangorod in Russland
Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier
Musikauswahl: Babette Michel
Moderation: Henning von Löwis
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- unkorrigiertes Exemplar - DESIGN MUSIK MODERATOR Ein Rentner in Narva über die Geschichte seiner Heimatstadt:
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O-TON REIN ANNIK
Für die Russen beginnt die Geschichte von Narva nach dem Zweiten
Weltkrieg, als sie hierherkamen, um die Stadt wieder aufzubauen. Auf eine
gewisse Weise haben sie damit sogar Recht. Ja: Die Russen haben Narva
aufgebaut, nicht die Esten. Aber eine Frage sei mir dennoch erlaubt: Wer hat
Narva denn zerstört? Darüber spricht hier nämlich keiner.
MODERATOR …und eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung von Iwangorod über die Perspektiven
Iwangorods und Narvas:
O-TON TATJANA SCHAROVA
Ich glaube, Iwangorod und Narva haben eine gemeinsame Zukunft –
Schengener Grenze hin oder her. Welche politischen Entscheidungen auch
immer getroffen werden: Die Einwohner verbindet eine enge Geschichte.
Natürlich wäre es besser, wenn es diese Grenze gar nicht erst gäbe. Aber da
sie nun einmal da ist, da wir auf diese Tatsache keinen Einfluss haben, wollen
wir wenigstens alles tun, um für unsere Bürgern die Grenz-Bürokratie zu
minimieren.
MODERATOR Gesichter Europas – Heute: Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte
Narva in Estland und Iwangorod in Russland.
Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier.
Am Mikrofon: Henning von Löwis.
MUSIK MODERATOR Es war einmal eine Stadt mit einer Brücke, die die Menschen verband. Sie konnten die
Brücke passieren – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. Und sie mussten keinen
Pass vorzeigen, kein Visum haben.
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Diese Stadt hieß Narva , lag in der UdSSR, vor 1918 in Russland – gehörte einst
zum Gouvernement Sankt Petersburg.
Heute ist alles anders in Narva. Seit die UdSSR untergegangen ist, die Republik Estland
ihre Unabhängigkeit wiedererlangte und der Europäischen Union beitrat endet an
dieser Brücke EU-Europa.
Und das hat Folgen für die Menschen – im estnischen Narva und im russischen
Iwangorod. Jede Phase des europäischen Einigungsprozesses trennt die Einwohner der
Zwillingsstädte weiter voneinander. Morgen, am 1. Mai, öffnen Deutschland und
Österreich als letzte der alten EU-Länder ihren Arbeitsmarkt für Bürger aus
Osteuropa. Dann können sich die Bewohner Narvas mit estnischer Staatsbürgerschaft
ohne spezielle Arbeitserlaubnis in der gesamten Europäischen Union bewerben. Den
Bewohnern Iwangorods ist das verwehrt.
Es leben vorwiegend Russen an beiden Ufern des Grenzflusses Narva.
Estlands drittgrößte - Estlands östlichste – Stadt hat zwar einen estnischen
Bürgermeister, doch etwa 95 Prozent der rund 70.000 Einwohner sind ihrer Herkunft
nach Russen.
Und nicht wenige von ihnen haben Verwandte und Bekannte in Iwangorod oder im
gerade mal hundert Kilometer entfernten Sankt Petersburg.
ATMO MOTORGERÄUSCHE
REPORTERIN
Es ist immer das gleiche Bild – zu jeder Tageszeit, und manchmal auch des
Nachts: Quer durch die Stadt Narva, den zentralen Peetri Platz entlang, quält
sich eine Autoschlange in Richtung Schlagbaum. Direkt hinter der
Passkontrolle führt eine Autobrücke über einen Fluss: Drüben beginnt die
Russische Föderation. Meistens stehen die Wagen mit laufenden Motoren
herum. In einer Parkanlage neben der Straße - in monumentaler Größe und
strahlendem Weiß - erhebt sich der Lange Hermann, der berühmte Wachtturm
der Hermannsfeste. Doch die Wartenden sind nicht in Stimmung für
kulturhistorische Erbauung.
ATMO MÄDCHENSTIMME, PAPA ERZÄHLT
REPORTERIN
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„Wir fahren nach St. Petersburg – nach Hause“, ruft ein Mädchen durch die
offene Autotür. Hier, in Estland, hat sie ihre Großeltern besucht – jetzt geht es
zurück in die russische Heimat. Auf dem Fahrersitz: ihr Vater.
O-TON VATER
Ihre Großeltern wohnen in Estland, aber meine Tochter lebt bei meiner Frau,
drüben, in Russland. Ich selbst lebe auch in Estland. Wie es eben so passiert
im Leben …
REPORTERIN
Russischer Herkunft sind sie beide, russische Staatbürgerin aber ist nur die
Tochter. Der Vater hat den EU-Pass der Republik Estland – an diesem
Grenzübergang ist das ein entscheidender Vorteil.
O-TON VATER
An keiner anderen Grenze der Welt muss man so lange warten. Ich mit
meinem Schengener Pass darf die Grenze ohne Wartezeit passieren. Aber
alle anderen stehen hier drei Tage.
REPORTERIN
Verwandtenbesuch – das ist hier das Zauberwort für den Grenzübertritt. Ein
Abkommen zwischen Russland und Estland gibt den Bewohnern von Narva
und seiner Zwillingsstadt Iwangorod das Recht auf ein Langzeitvisum für das
Nachbarland – denen jedenfalls, die am anderen Flussufer Familie haben.
Tatsächlich aber geht es wohl den wenigsten hier um einen Besuch bei der
Oma oder bei der Ex-Frau. Das wird schnell klar im Gespräch mit den
Fahrern, die rauchend am Straßenrand stehen.
O-TON FAHRER
Ich fahre zum Tanken rüber. Ich komme aus einer Stadt, die liegt etwa 60
Kilometer von hier. Aber die Anfahrt lohnt sich. Benzin ist in Russland nur halb
so teuer wie in Estland.
O-TON FAHRER
Nur das Benzin bewegt diese Autoschlange. Entschuldigung, aber das ist so.
Wir müssen ja auch irgendwie über die Runden kommen. Hätten wir Gehälter
wie in Europa, würden wir hier nicht stehen.
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ATMO AUTOTÜR
REPORTERIN
Die Schengener Grenze mag zu den best bewachten der Welt zählen – die
Bewohner von Narva überschreiten sie für eine Tankfüllung. Wer sich nicht
selbst drei Tage lang in die Schlange stellen mag, der kann über eine
spezielle Agentur einen Warteplatz buchen – kostenpflichtig, versteht sich.
Dann wird er per SMS auf dem Laufenden gehalten, wie schnell es vorangeht,
und wann der Zeitpunkt für den eigenen Grenzübertritt gekommen ist. Doch
selbst dieser nützliche Service hebt die Laune der Wartenden kaum.
O-TON ALEKSANDR
Hat denn Europa vor irgendwas Angst? Vor Russland vielleicht? Warum setzt
ihr uns diese Grenze vor die Nase? Russland hat doch auch keine Angst!
Russland setzt sich für Visa-freien Grenzverkehr ein!
REPORTERIN
Der Mann stellt sich als Aleksandr vor. Seine Frau Elena sitzt auf dem
Beifahrersitz. Sie sind Russen, beide Mitte 50. In Narva wohnen sie fast ihr
ganzes Leben. Auch sie fahren an diesem Tag zum Tanken nach Russland -
und für etwas, das sie als „Business“ bezeichnen. Beim stundenlangen
Schlangestehen haben sie sich in Rage geredet über die verworrenen
Verhältnisse in diesem seltsamen, neuen Europa: ER hat einen russischen
Pass, SIE einen estnischen.
O-TON ELENA
Zu Sowjetzeiten waren wir alle Russen. Aber ich arbeite ich als
Krankenschwester in einem staatlichen Krankenhaus. Dort hat man mir mit
Entlassung gedroht, wenn ich nicht die estnische Staatsbürgerschaft
annehme. Ich musste estnisch lernen und Sprachprüfungen ablegen. Auf der
anderen Seite kann man mit der estnischen Staatsbürgerschaft leichter
Wohnungen kaufen. Auch sonst gibt es Privilegien.
REPORTERIN
Elena bekommt ihr Gehalt in Estland, Aleskandr macht kleine Geschäfte mit
Freunden in Russland – auf diese Weise reicht das Geld gerade eben. In
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Narva kann nur überleben, wer ein wirtschaftliches Standbein im Ausland hat,
glaubt das Ehepaar. Viele ihrer Freunde, die wie sie selbst eigentlich kurz vor
der Rente stehen, haben sich als Putzkräfte in Norwegen oder Irland verdingt.
Und der Sohn, ein diplomierter Ingenieur, lebt mit seiner Familie in Finnland.
O-TON ALESKANDR
Öffnet Deutschland jetzt nicht auch endlich seinen Arbeitsmarkt? Mein Sohn
wäre gerne mit seiner Familie nach Deutschland gegangen. Aber die
Entscheidung, wo man leben und arbeiten will, richtet sich eben meistens
danach, wie gut oder schlecht man sich aufgenommen fühlt.
REPORTERIN
Endlich taucht vor der Windschutzscheibe der Schlagbaum auf. Jenseits des
Flusses, am anderen Ende der Autobrücke, sieht man schon die Flagge der
Russischen Föderation flattern. Aleskandr gibt Gas. Dann, schon im Rollen,
steckt er noch einmal den Kopf aus dem Seitenfenster.
O-TON ALEKSANDR
Sagen Sie Ihrer Regierung, dass wir hier wieder einen freien Übergang
brauchen! Die Grenze muss weg! Wir wollen hier so eine Grenze, wie ihr
Deutschen sie habt - mit Österreich und anderen Staaten.
MUSIK MODERATOR Es war einmal eine reiche Stadt Narva.
Doch weil sie reich war – und zudem an der Grenze zwischen dem russischen
Zarenreich und dem Baltikum lag, in dem zunächst die Dänen, dann der Deutsche
Orden und ab 1581 die Schweden herrschten, war Narva stets bedroht.
Und die Bürger mussten sich etwas einfallen lassen, um ihren Reichtum zu schützen.
Eine Sage erzählt davon, „Wo Narvas früherer Reichtum liegt“.
MUSIK
In den Tagen, als Narva noch eine reiche Stadt war, zog einst von Russland
oder von Polen her der grimmige Feind mit großer Heeresmacht heran, um
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die Stadt einzunehmen und auszuplündern. Zum Glück erhielten die
Bewohner einige Tage vorher durch ihre Spione Nachricht, so dass sie noch
Zeit hatten, den größten Teil ihres Goldes und Silbers zusammenzuraffen und
in der Mündung des Flusses unweit der See zu versenken. Darauf wurden die
Tore geschlossen und die Schanzen besetzt. Mit Proviant war die Stadt so
reichlich versehen, dass eine Hungersnot nicht zu besorgen stand; die festen
Mauern und Werke rings um die Stadt, der tiefe, breite Fluß einerseits, und
die mit Wasser gefüllten Wallgräben andrerseits wehrten den Feind ab, so
dass er nicht eindringen konnte. Er belagerte die Stadt bis zum Herbst, musste
aber dann unverrichteter Sache abziehen. Nach dem Abzuge des Feindes
hatten die Bürger der Stadt nichts Eiligeres zu tun, als an die Mündung des
Flusses zu gehen, um ihren Schatz aus seinem Versteck heraufzuholen.
Unglücklicherweise aber hatten sie ihn zu nahe am Meere auf den Grund
gesenkt; die heftigen Stürme hatten oftmals die Tiefe aufgewühlt und die
Geldfässer gegeneinander geschüttelt und zerbrochen, der vom Meere
ausgeworfene Sand aber hatte später alles bedeckt und festgelegt, sodaß man
nur wenig von dem versenkten Gelde wieder erlangte. Der größte Teil dieses
Schatzes der Vorzeit ruht bis zum heutigen Tage auf dem Grunde des Flusses
und des Meeres, und niemand weiß, welchem Glückskind er einmal in die
Hände fallen wird.
MUSIK MODERATOR Der Handelsplatz Narva ist in sieben Jahrhunderten immer wieder auch
Kriegsschauplatz gewesen.
Im Großen Nordischen Krieg erlitten die Heere von Peter I. in der Schlacht von Narva
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am 30. September 1700 eine verheerende Niederlage. Vier Jahre später war der Zar
dann erfolgreicher und eroberte Narva.
Im Zweiten Weltkrieg tobte die erbitterte Schlacht um den Brückenkopf Narva, in der
sich 1944 die Rote Armee und die Heeresgruppe Nord der Wehrmacht
gegenüberstanden. Auf deutscher Seite kämpften Freiwillige der Waffen-SS aus ganz
Europa.
Als die „Festung Narva“ fiel und die Waffen schwiegen gab es das alte Narva nicht
mehr.
Die Geschichte hat Spuren hinterlassen. Und manche, die das Gestern in dieser Stadt
miterlebten, erinnern sich.
ATMO FAHRSTUHLMUSIK
REPORTERIN
Die alte Hansestadt mit ihrer 700-jährigen Geschichte - die Wellness-Hotels
am Ostsee-Strand von Narva-Joesuu, dem früheren Hungerburg - die
aufwändig renovierte und als Museum hergerichtete Hermannsfestung. In den
Hochglanzprospekten, die stapelweise im Schaufenster ausliegen, locken
Mittelaltermärkte, Biker-Touren und Kulturevents. Die Stadt Narva, das ist
offensichtlich, hat den boomenden Baltikum-Tourismus als neues
wirtschaftliches Standbein entdeckt. Gerade vor ein paar Wochen hat die
Touristeninformation ihre neuen Geschäftsräume am Peetri Platz bezogen.
Jetzt steht - inmitten von kunterbunten Auslagen und funkelnden Souvenir-
Vitrinen - ein alter Herr. Etwas nachdenklich rückt er seine Schlägermütze
zurecht.
O-TON REIN ANNIK
Das ist ein historischer Ort für mich. Genau an dieser Stelle stand vor dem
Krieg ein Lebensmittelgeschäft. Meine Mutter hat hier als Verkäuferin
gearbeitet. Hier am Peetri Platz
ATMO
REPORTERIN
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Rein Annik: Der lebhafte Rentner ist Este, doch sein Russisch ist akzentfrei –
anders geht es nicht in dieser Stadt der Russen, von denen die wenigsten
auch nur gebrochen die Landessprache sprechen. Doch mit dem, was er zu
erzählen hat, klagt Annik, stoße er bei den Russen sowieso auf taube Ohren.
Schließlich gehört er zu den ganz wenigen Zeitzeugen, die schon in Narva
gelebt haben, bevor die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee in ihren
über zwei Jahre währenden Schlachten hier verbrannte Erde hinterließen. Es
ist die Geschichte vom blutigen Untergang einer estnischen Stadt.
O-TON REIN ANNIK
Für die Russen beginnt die Geschichte von Narva nach dem Zweiten
Weltkrieg, als sie hierherkamen, um die Stadt wieder aufzubauen. Auf eine
gewisse Weise haben sie damit sogar Recht. Ja: Die Russen haben Narva
aufgebaut, nicht die Esten. Aber eine Frage sei mir dennoch erlaubt: Wer hat
Narva denn zerstört? Darüber spricht hier nämlich keiner.
ATMO
REPORTERIN
Hinter dem Schaufenster glänzt regennass der Asphalt des Peetri Platzes,
den die Russen „Petrovskij“ nennen – nach Peter dem Großen. Früher war
hier kein Parkplatz, sondern ein quirliger Markt. In den verwinkelten Gassen
der Hansestadt wohnten Esten und Juden, Deutsche und Tartaren, Ukrainer
und Schweden, erzählt Annik. Die Erinnerung an dieses alte, das estnische
Narva wach zu halten – dafür hat er sich viele Jahre lang als Lokalpolitiker in
verschiedensten Funktionen eingesetzt. Heute lebt der 80-Jährige
zurückgezogen. Zu einer Zeitreise durch das Narva seiner Kindheit aber lässt
er sich immer noch gerne überreden. Der Anfang vom Ende kam 1940, erzählt
Annik. Die estnische Regierung – erschrocken über die näher rückende
Deutsche Wehrmacht im Westen, und eingeschüchtert durch Stalins
Gewaltandrohungen aus dem Osten – unterzeichnete damals den
Beitrittsvertrag zur Sowjetunion.
O-TON REIN ANNIK
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Der Peetri Platz hatte damals Kopfsteinpflaster, und alles, was darüber fuhr,
machte dieses Tik-Tik-Tik-Geräusch. Als die sowjetische Armee in Estland
einrollte, da schallten die Ketten der Panzer durch die ganze Stadt. Ich war
damals vier Jahre alt. Mit meinem Großvater zusammen habe ich mir die
einrückenden Truppen angeschaut.
ATMO SCHRITTE – TÜR - GURT
REPORTERIN
Heute gibt es auf dem Peetri Platz nichts als eine Parkfläche und die
Autoschlange vor dem Grenzübergang. Annik lässt sich auf den Fahrersitz
seines Wagens fallen. Die Stadtbesichtigung beginnt im Wohnviertel – dort,
wo sich in sozialistischer Tristesse Häuserblock an Häuserblock reiht.
O-TON REIN ANNIK
Ab 1942 haben die sowjetischen Truppen die Stadt fast jede Nacht aus ihren
Flugzeugen bombardiert. Ihr wichtigstes Ziel waren die beiden Brücken
zwischen Narva und Iwangorod - die hölzerne, und die Eisenbahnbrücke.
Über die versorgte die Deutsche Wehrmacht die Front bei Leningrad – andere
Versorgungsrouten gab es nicht. Unsere Familie hatte damals einen kleinen
Hund. Der begann immer schon zehn Minuten vor dem Bombenalarm zu
bellen. So haben wir es dann rechtzeitig in den Keller geschafft. Was für ein
Hund!
ATMO AUTO
REPORTERIN
Graue Stichstraßen, zerfallene Hinterhöfe, verrußte Häuserfronten – was
immer vor der Windschutzscheibe des Wagens auftaucht, bekommt durch die
Erinnerung des alten Mannes seine eigene Geschichte.
O-TON REIN ANNIK
Hier vor uns, diese Parkanlage, die nannten wir damals den „dunklen Wald“.
Dunkel, weil die Bäume so dicht stehen. Vor dem Krieg sind die jungen Leute
hier hingegangen, um zu tanzen, um sich zu küssen und zu lieben. .... Ach wie
schade. Diese Stadt gibt es nicht mehr.
ATMO
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REPORTERIN
Mehrmals zog die Front über Narva hinweg. Erst geriet die Stadt unter
deutschen Beschuss. Nachdem die Wehrmacht die Sowjets zurückgeschlagen
und die Stadt besetzt hatte, gingen die Bomben der Roten Armee auf die
beiden Brücken nieder. Ein einziges Holzhaus aus der Vorkriegszeit hat
diesen Dauer-Beschuss überlebt – jetzt lugen seine schiefen Wände zwischen
den Häuserfronten hervor. Auffallend unbeschadet ist auch eine prächtige
russisch-orthodoxe Kirche. Für die Sowjets, erzählt Annik, war sie von
strategischer Bedeutung - als Orientierungspunkt für die Luftwaffe. Nur
deshalb blieb sie verschont. Von den anderen Gebäuden blieben, wenn
überhaupt, Ruinen.
O-TON REIN ANNIK
Da vorne, dieses rote Backsteingebäude, dort wohnte mein Freund. Wir
waren damals fünf oder sechs Jahre alt. Als Narva bombardiert wurde, hat er
sich mit seiner Mutter im Keller versteckt. Sie müssen wohl geglaubt haben,
dass sie dort sicher sind. Aber das Gebäude hatte damals ein hölzernes Dach,
die Bombe hat es einfach durchschlagen. Der Vater meines Freundes war zu
dieser Zeit an der Front. Und das erste, was er fand, als er nach Narva
zurückkehrte, war die Zeitung mit der Todesanzeige. Sowas muss man sich
mal vorstellen. Da kommt einer von der Front, und das erste was er liest, ist
die die Nachricht vom Tod seiner Familie ...
ATMO ANNIK
REPORTERIN
Zu keiner Zeit war das sowjetische Bombardement verheerender als am 6.
März 1944. Was immer bis zu diesem Tag noch stand, fiel jetzt dem
Feuerinferno zum Opfer. Das Wasser der Narva, erzählt Annik, war rot vom
Blut der Soldaten. Die meisten Einwohner aber hatten sich rechtzeitig in
Sicherheit gebracht. Anniks Vater, der damals als Chauffeur arbeitete, hatte
ein Auto zur Verfügung. Andere flohen mit Pferdschlitten oder Handkarren –
jeder wie er konnte. Die meisten kehrten nie nach Narva zurück.
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Jetzt taucht vor der Windschutzscheibe eine prächtig verzierte Fassade mit
Säulenportal auf. Eines der wenigen Gebäude, von denen genug übrig war,
dass eine Restaurierung sich lohnte. Das Kulturhaus, sagt Annik, und lacht.
Nach dem Krieg begann hier das Leben neu.
O-TON REIN ANNIK
Hier gab es ein Kino, und man konnte tanzen. Die Sitte, dass Mädchen mit
Mädchen tanzen, die stammt aus Narva – wussten Sie das? Weil es hier so
lange keine Männer gab.
REPORTERIN
Annik selbst kehrte erst im Jahr 1957 in die Stadt seiner Kindheit zurück. Doch
er erkannte sie kaum wieder: Narva war jung, weiblich und russisch
geworden. Stalin hatte angeordnet, die Ruinenwüste mit Bulldozern
einzuebnen, und dann als Industriezentrum wieder aufzubauen. Tausende
junger Frauen fanden Arbeit in der Textilfabrik Kreenholm. Später zogen
Ingenieure und Bauarbeiter aus dem ganzen Sowjetreich nach Narva, sie
bauten Elektrizitätswerke. Auch Annik fand eine Anstellung als
Elektroingenieur, fast vierzig Jahre überwachte er die Stromnetze der Stadt.
ATMO KRÄHEN
Das Ufer der Narva – das ist für ihn bis heute der schönste Platz. Auf einem
Parkplatz, unter alten Bäumen, stellt er seinen Wagen ab. Hinter der
historischen Stein-Balustrade, die das Steilufer säumt, nimmt der Rentner
seine Schlägermütze ab. Ein schneidender Wind zaust sein weißes Haar: Von
hier oben eröffnet sich der Blick auf ein halbes Jahrtausend Weltgeschichte.
Ein Fluss, zwei Brücken, zwei Burgen – zwei Weltreiche, eine Grenze.
O-TON REIN ANNIK
Was für ein Anblick! Die Hermannsfeste! Und da drüben die Iwangoroder
Festung. Wenn es die Altstadt noch gäbe - Narva wäre mit Touristen
überflutet.
ATMO KRÄHEN
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REPORTERIN
1991, als die Esten ihre Unabhängigkeit von Russland erklärten, ging Annik in
die Politik. Estnisch wurde zur Staatssprache erklärt - allein Narva blieb ein
russische Stadt: Im Stadtrat waren damals gerade acht von 31 Sitzen von
gebürtigen Esten besetzt. Und von denen, sagt Annik bitter, ist heute noch ein
einziger übrig. Langsam hebt er seine Hand, und weist mit dem Finger auf die
Außenmauer der Hermannsfeste – dorthin, wo hoch über dem Fluss die
estnische Flagge weht.
O-TON REIN ANNIK
Sehen Sie die estnische Flagge? Aufgestellt haben wir sie im Jahr 2001 –
ohne Aufsehen zu erregen. Damals war der Innenhof für die Öffentlichkeit
geschlossen, er wurde von zwei Hunden bewacht. Am anderen Morgen eilten
die Stadtvertreter der kommunistischen Fraktion zu der Festung, um sich das
Malheur anzuschauen: Die estnische Flagge - au weia! Sofort haben sie den
leitenden Polizeichef herbeikommandiert. Er sollte die Hunde erschießen, und
die estnische Flagge wieder herunterlassen. Der Polizeichef aber war selbst
ein Este, und er antwortete ihnen: „Erschießen Sie die Hunde doch selbst!“.
So haben sie gestritten und gestritten, bis endlich jemand auf die Idee kam, in
der Hauptstadt Tallinn anzurufen. Und da bekamen sie zu hören: „Jawohl, das
hat so seine Richtigkeit. Ab jetzt werden in Estland nur noch estnische
Flaggen wehen.“
MUSIK MODERATOR Estland heute – das ist NATO-Land, EU-Land und seit dem 1. Januar 2011 auch
EURO-Land.
Etwa zeitgleich mit der EURO-Einführung schloss das traditionsreichste Unternehmen
Narvas seine Tore – die 1857 gegründete Textilfabrik Kreenholm, einst die größte
Baumwollspinnerei des Russischen Reiches. Zu Sowjetzeiten waren hier nach dem
Zweiten Weltkrieg einmal 12.000 Näherinnen beschäftigt.
Heute liegt die Arbeitslosenquote in Narva bei 16 Prozent.
Viele, die jung und ungebunden sind, machen sich auf der Suche nach Arbeit auf in
Richtung Westen – und manche in Richtung Osten. Längst locken auch Unternehmen
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jenseits der Grenze in Russland mit ansehnlichen Gehältern und guten
Karrieremöglichkeiten.
Ab 1. Mai 2011 steht Bürgern Estlands der Arbeitsmarkt von ganz EU-Europa offen.
Der Haken bei der Sache: Es reicht nicht in Estland zu leben – man muss einen
estnischen Pass besitzen.
ATMO ARBEITSAMT
REPORTERIN
Die Frau hinter dem Schreibtisch macht ein ernstes Gesicht. Dann fährt sie mit
verlegener Geste ihre Hand durchs Haar.
O-TON BERATERIN
In unserer städtischen Internet-Stellenbörse gab es gestern genau null
Stellenanzeigen. Kein einziges. Letzte Woche waren es immerhin noch fünf.
Auf der anderen Seite weist unsere Statistik 6000 Arbeitslose auf. Tut mir leid
– das sieht nicht gut aus. Es gibt hier jetzt nur wenige Stellen. Sehr wenige.
ATMO BERATUNGSZIMMER
REPORTERIN
Sergej und Ivan schauen sich an. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt von
Narva, so scheint es, wird immer hoffungsloser. Die jungen Russen sind
Anfang 20, beide haben eine Berufsausbildung. Sergej, ein sportlicher Typ in
abgewetzter Lederjacke, ist ausgebildeter Schweißer. Bis vor kurzem hat er
sich mit Gelegenheitsjobs in Russland durchgeschlagen. Jetzt wünscht er sich
nichts sehnlicher als eine gesicherte Existenz in seiner Heimatstadt. Sein
Freund Ivan, der seine Sweatshirt-Kapuze ins Gesicht gezogen trägt wie ein
HipHopper, hat in Narva erst Programmierer gelernt, wurde dann auf
Arbeitsamts-Kosten zum Ventilationstechniker umgeschult. Freie Stellen aber
gibt es in beiden Berufen nicht. Und so steht er jetzt schon wieder hier und
sucht Arbeit.
O-TON IVAN
Irgendwas eben, mit sozialer Absicherung oder wenigstens mit
Krankenversicherung. Da habe ich nun schon zwei Berufsabschlüsse, und
trotzdem will mich niemand. Inzwischen bin ich soweit, dass ich überall hin
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gehen würde. Hier hält mich nichts. Hier bin ich den Arbeitgebern zu jung, und
ich habe keine Berufserfahrung. Das ist natürlich ein Hindernis.
REPORTERIN
Ob er denn die estnische Staatsbürgerschaft besitze, fragt die
Arbeitsamtberaterin. Ivan nickt. Mit einem EU-Pass, erklärt sie weiter, könne
man sich bald ohne jeden bürokratischen Aufwand in der gesamten
Europäischen Union bewerben. Das biete vielfältige Möglichkeiten für
qualifizierte junge Leute – und das Arbeitsamt unterstützt diese Abwanderung.
O-TON BERATERIN
Wir tun ja alles, um unseren Klienten aus der Arbeitslosigkeit herauszuhelfen.
Und wenn jemand für sich Chancen im Ausland sieht, dann halten wir ihn nicht
zurück. Wir unterstützen ihn nach Kräften, damit er dort Arbeit findet. Zum
Beispiel veranstalten wir Infotage über Berufsmöglichkeiten im Ausland. ....
ATMO PAPIERRASCHELN
REPORTERIN
Die Beraterin reicht Ivan einige Handzettel herüber. Eine Einladung zu einer
Infoveranstaltung übe die EU-weite Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei, und
Informationen über Stellenvermittlungsprogramme verschiedener EU-Länder -
darunter auch eine Ausschreibung der deutschen Bundesanstalt für Arbeit, die
in Estland um Ärztenachwuchs wirbt. Ivans Miene hellt sich auf.
O-TON IVAN
Ich würde gerne nach Finnland gehen. Dort ist es schön, dort habe ich schon
mal gejobbt. Deutschland fände ich auch gut. Da lässt es sich bestimmt gut
leben, und Deutsch war meine erste Fremdsprache in der Schule. Über
Deutschland habe ich sogar schon mal ein Referat gehalten.
ATMO PAPIERRASCHELN
REPORTERIN
Interessiert blättert Ivan in den Flyern. Sein Freund Sergej hat dem Gespräch
wortlos gelauscht. Ob der EU-Markt denn auch für Menschen mit russischem
Pass geöffnet sei, fragt er seine Beraterin. Diese schüttelt bedauernd den
Kopf. Sergej ist russischer Staatsbürger, ihm ist der Weg nach Europa
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versperrt. Immerhin, sagt die Beraterin, könne er als Einwohner von Narva die
estnische Staatsbürgerschaft beantragen. Voraussetzung sei allerdings eine
Prüfung in der Landessprache Estnisch – und diese mit dem Finnischen
verwandte Sprache auf hohem Niveau zu erlernen, sei nicht ganz einfach.
Genervt verdreht Sergej die Augen. Ohne estnische Sprachekenntnisse kann
er sich nur in Russland bewerben – aber von dort ist er ja gerade
zurückgekehrt. Nun ist er ratlos.
O-TON SERGEJ
Im Prinzip bin ich ja für alles Mögliche offen. Iwangorod etwa liegt nahe, dort
kann man zu Fuß hingehen. Aber bei dem Hyundai-Werk, das dort im
vergangenen Jahr aufgemacht hat, gibt es schon jetzt eine Warteliste. Man
muss einen Antrag ausfüllen, und wenn einer kündigt, dann rückt man einen
Platz auf. Ich könnte natürlich auch nach St. Petersburg zurückgehen. Da sind
die Einkommen jetzt deutlich höher als hier. Das Problem ist nur, dass das
Gehalt dort in Rubel ausgezahlt wird, und der Kursverlust ist riesig. Sogar
jetzt, wo es in Estland den Euro gibt. Trotzdem bliebe mehr übrig, als ich hier
je verdienen könnte – wenigstens in Narva.
ATMO TÜRKLAPPEN , EMPFANGSRAUM
REPORTERIN
Als die Freunde das Arbeitsamt verlassen, ist ihre Stimmung gedrückt. Sergej
und Ivan sind schon zusammen zur Schule gegangen. Eigentlich sind beide
Russen mit ständigem Wohnsitz in Estland. Und doch werden sie wohl bald
getrennte Wege gehen – ob sie es nun wollen oder nicht. Denn Iwans
berufliche Zukunft liegt in Europa, Sergejs in Russland. Den Unterschied
macht nur die Staatsbürgerschaft – und die haben sie selbst gewählt,
beiläufig, irgendwann vor ein paar Jahren. Die Tragweite dieser Entscheidung
begreift Ivan erst jetzt.
O-TON IVAN
Ich hatte die Wahl zwischen dem europäischen und dem russischen Pass.
Und mich hat Europa mehr gereizt. Da gibt es bessere Perspektiven.
Außerdem habe ich eine estnische Oma, darum fiel mir der Sprachtest nicht
so schwer. Aber ehrlich gesagt: Damals war ich gerade sieben. Es war wohl
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mehr die Entscheidung meiner Eltern. Die haben mir gesagt: Was willst du mit
einem russischen Pass – nimm den europäischen!
MUSIK MODERATION Narva – das war einmal ein Kleinod im fernen Osten Europas. Eine prächtige Stadt mit
vielen Gesichtern. Ein Reisender aus Deutschland namens Hermann Kassebaum, der
sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmachte das deutsche Narva zu entdecken, war
nicht wenig überrascht über das, was sich seinem Auge bot.
„Narwa! Es liegt an der baltischen Nordbahn, die von Petersburg über Gatschina hierher
und weiter nach Reval führt. Wer die Stadt vom Bahnhofe her betritt, erlebt zunächst eine
herbe Enttäuschung. Man hat ihm von einer alten deutschen Ordensstadt erzählt, die
gleich anderen Baltenorten das Gepräge ihrer deutschen Herkunft an der Stirn trage, und
was ihn hier umfängt, ist die Langeweile einer russischen Kleinstadt. Bis auf das
Straßenpflaster erscheint alles echt russisch. Die Stöße und Püffe, welche dieses bis zur
Unwahrscheinlichkeit schlechte Pflaster dem Reisenden versetzt, werden auch durch die
Federn und Gummireifen des Wagens, der auch jetzt noch diese kostbare und seltene
Bereifung trägt, nur halbwegs gemildert. Aber die Sprünge des leichten Wägelchens
verhindern wenigstens ein allzu trübseliges Sinnen. So nimmt uns nach geraumer Zeit ein
weiter Platz auf, wie er den östlichen Städten eigen ist. Was ihn einfasst an nüchternen,
kahlen Häusern, befreit uns nicht von dem bedrückenden Gefühl des Versinkens in die
trostlose, russische Einförmigkeit. Auch der buntschillernde Obelisk in der Mitte, der dort,
wie in vielen Städten, auch des Baltenlandes, als erzwungener Ausdruck einer nie
gekannten und nicht geschuldeten Dankbarkeit für irgend einen der russischen Herrscher
seit Peter dem Großen aufragt, bringt keine Erlösung. Aber vor uns wölbt sich’s zur Höhe,
und dort ragen weiße Häuser und Mauern und schlanke Türme gen Himmel. Das muß das
Narwa sein, das wir suchten. Und zur Rechten, das ist gewisslich die Burg, die des
Deutschtums Ostwacht hielt seit ungezählten Jahrhunderten!“
MUSIK MODERATOR Die Stadt jenseits des Stromes ist viel kleiner als Narva. Und sie ist so gut wie völlig
unbekannt in der Welt.
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Oder kennen Sie vielleicht Iwangorod?
Und doch: Auch Iwangorod – Narvas kleine russische Schwester mit 11.000 Einwohnern
– möchte Touristen anlocken. Und sie möchte Brücken schlagen über die Brücke zu
jenen, die schon in EU-Europa angekommen sind. Was für russische Patrioten aber
keinesfalls bedeutet: Abkehr von Russland.
ATMO FRAUENKLACKERSCHRITTE
REPORTERIN
Es ist neun Uhr in der Früh. Schräg fällt die Morgensonne durch die Fenster,
bildet Schattenspiele auf dem welligen PVC-Boden.
ATMO HANDYTELEFONAT
REPORTERIN
Noch ist das Gebäude der Stadtverwaltung von Iwangorod so gut wie
menschenleer. Tatjana Scharova aber nimmt bereits die ersten Telefonate
entgegen. Hellwach sitzt sie im Konferenzsaal, ein Aktenordner mit der
Aufschrift „Tourismus“ liegt bereit: der gehört gerade zu den
vielversprechendsten Zukunftsbranchen. Die junge Frau spricht mit
vorgelehntem Oberkörper, um jedem ihrer Worte Nachdruck zu verleihen.
O-TON TATJANA SCHAROVA
Nicht einmal die Reisebusse, die unseren Grenzübergang ohnehin passieren,
machen hier einen Halt für eine Burgbesichtigung – nicht die russischen
Touristen auf dem Weg nach Tallinn, und auch die europäischen Touristen auf
dem Weg nach St. Petersburg. Zur Sowjetzeit war eine Besichtigung Festung
Iwangorod Standard. Jetzt müssen wir alles neu aufbauen. Unsere Burg ist
groß und schön – aber sie braucht dringend Investitionen.
ATMO STADTVERWALTUNG
REPORTERIN
Tatjana Scharova: 36 Jahre, dunkler Pagenkopf, dezent geschminkte Lippen:
Die Russin ist das neue Gesicht des Stadtrats von Iwangorod. Gerade Anfang
des Jahres hat sie ihr Amt als Leiterin angetreten. Davor hatte sie zehn Jahre
für die städtische Visastelle gearbeitet, regelmäßig fuhr sie mit Stapeln von
Pässen ins Konsulat nach St. Petersburg, um für die Antragsteller aus
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Iwangorod Visa und Staatsbürgerschaftspapiere zu besorgen. Das hat ihr
politisches Profil geprägt.
O-TON TATJANA SCHAROVA
Ich glaube, Iwangorod und Narva haben eine gemeinsame Zukunft –
Schengener Grenze hin oder her. Welche politischen Entscheidungen auch
immer getroffen werden: Die Einwohner verbindet eine enge Geschichte.
Natürlich wäre es besser, wenn es diese Grenze gar nicht erst gäbe. Aber da
sie nun einmal da ist, da wir auf diese Tatsache keinen Einfluss haben, wollen
wir wenigstens alles tun, um für unsere Bürgern die Grenz-Bürokratie zu
minimieren.
ATMO
REPORTERIN
Durch hartnäckigen Papierkrieg, das ist ihre Erfahrung, lässt sich sogar die
Schengener Grenze überwinden. Zwar haben die Stadtverwaltungen von
Narva und Iwangorod längst einen Sonderstatus für die Einwohner der
Zwillingsstädte erstritten – die Konditionen aber mussten mit jeder Phase des
Europäischen Einigungsprozesses neu verhandelt werden. Erst war der
papierlose Grenzübertritt allen erlaubt, dann nur noch denjenigen, die drüben
Verwandte nachweisen können. Inzwischen ist das Chaos perfekt: In beiden
Zwillingsstädten gibt es russisch-stämmige Einwohner mit estnischem EU-
Pass und mit russischer Staatsbürgerschaft, solche mit und ohne
Langzeitvisum für den Nachbarstaat. Darüber hinaus gibt es die Staatenlosen.
Das sind diejenigen, die sich bis heute nicht für eine Staatsbürgerschaft
entschieden haben, weil sie gerne einen EU-Pass hätten, aber den
obligatorischen Sprachtest im Estnischen scheuen. Und dann sind da noch
diejenigen mit doppelter Staatsbürgerschaft - und dieses Rechtsphänomen
kann nicht einmal die Leiterin des Stadtrats richtig erklären.
O-TON TATJANA SCHAROVA
Die russische Gesetzgebung erlaubt die doppelte Staatsbürgerschaft – die
estnische nicht. Aber es gibt da einen Paragrafen – so hat man es mir
wenigstens erklärt – dass nach estnischem Recht im Fall von
verwandtschaftlichen Beziehungen Ausnahmen zulässig sind. … So nach dem
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Motto: „Nun ja, eigentlich ist es verboten, aber irgendwie geht es doch.“ Tja.
Solche Eigentümlichkeiten gibt’s bei uns auch.
REPORTERIN
Tatjana selbst hat ein Langzeitvisum für die EU in ihrem russischen Pass: Ihr
Bruder lebt in Narva.
O-TON TATJANA SCHAROVA
Das Überschreiten der Grenze ist ja für uns inzwischen kein Problem mehr.
Eigentlich braucht man dazu nur den Wunsch und das richtige Wetter. Bei
Regen mag ich ja nicht über die Brücke gehen ...
ATMO GEMURMEL AUF DEN FLUREN DER STADTVERWALTUNG
REPORTERIN
Inzwischen ist es Mittag geworden, und die Flure der Stadtverwaltung sind
voller Menschen: In Gruppen drängen sie von der Straße herein, warten vor
Bürotüren, tauschen sich aus, falten Formulare. Ob unter ihnen wohl auch
solche sind, die ihr Verwandtschaftsvisum nach Narva als Ticket in den EU-
Arbeitsmarkt benutzen? Tatjana Scharova lächelt verbindlich. Dann schwärmt
sie von den Karrieremöglichkeiten, die sich heute in Russland böten -
Iwangorod eingeschlossen. Hier habe gerade im vergangenen Jahr ein
Hyundai-Werk aufgemacht hat, und es gebe gut bezahlte Arbeit genug. Nein,
eine Massenflucht aus Russland in die EU fürchtet sie nicht.
O-TON TATJANA SCHAROVA
Viele meiner Bekannten aus Narva sind damals zum Arbeiten nach Finnland
oder England gegangen. Doch während der Finanzkrise sind alle
zurückgekehrt, weil es da auch keine Arbeit mehr gab. Ob jetzt wieder jemand
in die EU will ... ich schließe es nicht aus, aber konkret habe ich noch von
keinem gehört.
REPORTERIN
Und sie selbst – als Akademikerin mit Führungserfahrung, familiär
ungebunden? Hat sie das europäische Ausland nie gelockt? Tatjana schüttelt
den Kopf.
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O-TON TATJANA SCHAROVA
Ich wollte die estnische Staatsbürgerschaft nie haben, und ich will sie bis
heute nicht. Was habe ich in Estland verloren, oder in Europa? Ich bin Russin,
und mit gefällt das Leben in Russland. Ich bin Patriotin.
MUSIK O-TON VIKTOR KIRILLOV
Viktor Kirillov
Zwei Festungen
Als wären zwei zornige Helden
Zusammengekommen zum tödlichen Duell …
Und plötzlich, wie durch Zauberhand,
zu Stein erstarrt.
Ihre Gesichter sind voller Runzeln und Schrammen,
die bewegte Zeiten hinterlassen haben.
Nun sind sie einander ewig Feind -
Welch törichte Bürde!
Seit langem haben die Ufer Frieden geschlossen
Doch starr der mürrische Blick,
grausam und unversöhnlich,
belauern einander die Festungskolosse.
Und doch – mag ich mich auch irren –
So scheint mir, in schlaflosen Nächten
träumen sie insgeheim,
einander die Hände zu reichen.
Unbeweglich sind die steinernen Hände,
die dunklen Seelen von Unruhe befallen,
so ahnen sie doch die Notwendigkeit
die Jahrhunderte währende Feindschaft zu begraben.
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Wie sehr braucht die Welt Versöhnung!
Wie stark sind Zwietracht und Zank!
Möge es geschehen, dass irgendwann nicht Streit zum Augenblick erstarrt,
sondern Liebe und Verbrüderung!
O-TON VIKTOR KIRILLOV
MUSIK MODERATOR Deutlicher lässt sich eine Welten-Grenze nicht markieren als hier am Ufer der Narva.
Auf westlicher Seite die Hermannsfeste, eine Burg des Deutschen Ordens aus dem 13.
Jahrhundert. Auf östlicher Seite die Festung Iwangorod, erbaut von Iwan III. im Jahre
1492.
Zwei wuchtige Monumente, die Herrschaftsansprüche dokumentieren.
Kurzzeitig wehte in den Zwischenkriegsjahren über beiden Burgen die estnische Flagge,
dann für Jahrzehnte die sowjetische.
Heute markieren sie wieder eine Grenze. Das heißt für die Festung Iwangorod: Hier
beginnt, hier endet ein Imperium, das sich von der Ostsee bis zum Pazifik erstreckt.
Iwangorod ist das Tor nach Russland.
ATMO SCHRITTE, SCHWERE TÜR, GEPLAPPER
REPORTERIN
Das Mauerwerk ist Meter dick, die Steine herausgehauen aus grobem Fels.
Wer sich beim Erklimmen der Festungsmauer daran abstützt, der kann die
nasse Kälte des Vorfrühlings spüren.
O-TON STADTFÜHRERIN
Gleich kommen sieben Stufen – auf geht’s! … Wir befinden uns im dritten
Wachturm, er wird der „Schießpulver-Turm “ genannt. Alle Namen der zehn
Türme beziehen sich auf ihre Form oder Funktion: Es gibt den Proviantturm,
den Wasserturm, die „Sturmglocke“. Und einer heißt: „Langer Hals“. Das
haben sich die italienischen Architekten ausgedacht, die die Festung erbaut
haben.
ATMO SCHRITTE
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REPORTERIN
Die steinernen Treppenstufen haben eine unbequeme Höhe, und sie sind
rutschig. Doch mit geübtem Schritt strebt die Stadtführerin voran. Der Weg
führt an der Innenseite der alten Stadtmauer entlang – eine gewaltige,
zinnenbewehrte Ruine, die früher einmal das gesamte mittelalterliche
Iwangorod umfasste. Und dann herauf, in Richtung „Schießpulver-Turm“.
ATMO STADTFÜHRERIN
Irina Arefego, eine zierliche 50-Jährige, redet, als sei jeder einzelne Tourist,
den es an diesen äußersten Zipfel des russischen Riesenreiches verschlägt,
ein Fest für sie – es ist eine Litanei von Tragödien, Intrigen und Legenden, die
sich in diesem über 500 Jahre alten Gemäuer abgespielt haben sollen. Es
sind die Geschichten von Ivan III., der die Festung einst erbaute als Bollwerk
gegen den Deutschen Orden. Vom Livländischen und vom Großen
Nordischen Krieg. Von der Zeit unter schwedischer, russischer, estnischer und
schließlich sowjetischer Herrschaft. Durch die Schießscharten dringt ein
eisiger Wind.
O-TON STADTFÜHRERIN
Dieses Loch, hier im Boden, ist eine Falltür. Hier geht es zwei Meter runter.
Insgesamt gibt es vier Falltüren. Aber die Kinder sind immer enttäuscht, wenn
sie hören, dass nicht ein einziger litauischer Ritter hier je hineingefallen ist.
Diese Burg ist nie im Sturm genommen worden.
ATMO KRÄHEN
REPORTERIN
Dann auf einmal - als man schon wähnte, der steinerne Gang nehme kein
Ende mehr – ist das Plateau des Wachtturms erreicht. Der Wind zerrt an den
Mänteln, und in allen Himmelsrichtungen ist der Blick frei bis zum Horizont.
Weit unten, am Fuße der historischen Stadtmauer, fließt die Narva. Und am
anderen Ufer, nicht mehr als einen Pfeilschuss entfernt: Der „Lange
Hermann“, der berühmte Wachtturm der Festung von Narva - mit der Flagge
der Republik Estland.
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O-TON STADTFÜHRERIN
Die Grenzlinie zwischen der EU und der Russischen Föderation verläuft in der
Mitte des Flusses. Hier fahren die Grenzbeamten Patrouille. Das Baden ist
hier verboten, einen Strand gibt es weiter dahinten. Aber Fischen ist erlaubt.
Da unten ist die Akustik ist sehr gut, man kann bis zum anderen Ufer
herüberreden. Ich kenne zwei alte Damen, die nicht mehr hinter
irgendwelchen Visa herlaufen wollen. Also verabreden sie sich an den
Flussufern und rufen herüber. Naja, sie müssen schreien, weil die Strömung
der Narva wild ist. Aber das andere Ufer ist wirklich nahe.
ATMO KRÄHEN
REPORTERIN
Wie tote Augen glotzen die Fenster der beiden Burgen sich an. Die
Iwangoroder Festung ist eine imposante Ruine, weitläufig wie eine
Mittelalterstadt – im Innenhof jedoch leer, wenn man von zwei verfallenen
Kapellen absieht. Die Hermannsfeste dagegen wirkt fast zierlich und elegant.
Kein Wunder, sagt Stadtführerin Irina mit betretenem Gesichtsausdruck. Die
sei ja auch aufs Professionellste restauriert, und innen zum mehrstöckigen
Museum ausgebaut.
O-TON STADTFÜHRERIN
Der Lange Hermann war bereits im Jahr 1968 vollständig restauriert. Estland
war damals eine Sowjetrepublik, darum hat man dort begonnen. Immer schon
sind die Reisegruppen dort heraufgestiegen, und haben von oben in unsere
zerstörte Festung hineingeschaut – die ist ja fast fünf Hektar groß. Bei uns
haben sie kaum angefangen, da kam die Perestrojka – und die
Restaurierungspläne waren dahin.
ATMO WIND/KRÄHEN
REPORTERIN
Die Russische Föderation und die Europäische Union – die Machtblöcke des
neuen Europa. Man muss auf den „Schießpulver-Turm“ steigen, um zu
begreifen, wie unvermittelt sie an den Ufern der Narva aufeinanderstoßen.
Hier kann man lange stehen, und seinen Blick schweifen lassen über beide
Ufer – über die Wohnblocks und Industriegebäude, zwischen denen vereinzelt
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ein Kirchendach oder die historische Fassade eines Bürgerhauses hervorlugt.
Über die Narva-Brücke mit ihren Schlagbäumen, über die Zollhäuschen und
die wartenden Autoschlangen. Und selbst Irina, die diesen Anblick in ihrem
Leben schon tausende Male genossen hat, hält einen Moment lang inne.
O-TON STADTFÜHRERIN
Was für ein einzigartiger Platz: In alten Schriften steht geschrieben, dass
Iwangorod auf dem Stein erbaut ist, den Narva vom anderen Ufer
herübergeworden hat. Da hinten, an der schmalsten Stelle des Flusses, sind
es gerade 150 Meter bis Estland. Wo sonst auf der Erde stehen sich zwei
feindliche Burgen so dicht gegenüber? Zu Sowjetzeiten gab es ein Gedicht.
Darin hieß es, Narva sei die Braut, Iwangorod der Bräutigam. Doch zwischen
ihnen fließt eine Fluss. Sie können einfach nicht zusammenkommen.
MUSIK MODERATOR Im Deutschlandfunk hörten Sie die Sendung Gesichter Europas: Getrennt durch die
Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estland und Iwangorod in Russland.
Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier.
Musik & Regie: Babette Michel.
Die Sage „Wo Narvas früherer Reichtum liegt“, die historische Stadtbeschreibung von
Hermann Kassebaum und die Lyrik aus der Feder von Viktor Kirillov wu rden gelesen
von Volker Risch.
Am Mikrophon war Henning von Löwis.
MUSIK