5 Tage 7 Stunden 56 Minuten - Daniel Ludwig · Künstlerhaus in Boswil AG, mit Bett, war-mem Wasser...

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Der kleine SAMSTAG, 24. MAI 2008 32 SAMSTAG, 24. MAI 2008 Der kleine

«Ich schreite kaum, doch wähn’ ichmich schon weit, du siehst, meinSohn, zum Raum wird hier die

Zeit», sagt bei Wagner der Gurnemanz zuParzival. Ich befinde mich auf dem von derZürcherTram-EndstationTriemlisteilnachSüdwest wegführenden Wanderweg. SeitzehnMinutenschreite ichnunvoran,dochich komme kaum vom Fleck. Mein Atemgeht wegen der sich vor mir auftürmendenEiszeit-Moräne namens Üetliberg bereitsstossweise. Wohl wissend, wie mickrig diepaar hundert Meter im Vergleich zu dennoch abzuwandernden hundertfünfzig Ki-lometern sind, verschiebe ich die vertiefteAnalysedesWagner-Zitats.Manchgeschei-tes Statement ist nach kurzer Reibung anden Elementen schon in Rauch bezie-hungsweise Schweiss aufgegangen. Derperlt mittlerweile munter auf der Stirn,mein Körper hat Betriebstemperaturerreicht.

Ich bin zu Fuss unterwegs von ZürichnachBern,infünfTagenwillichesschaffen.Natürlich, ich werde Menschen, Vögel,Pflanzen und glotzendem Vieh begegnen,ich werde das ganze pittoreske landschaft-liche Dekor würdig abmarschieren, wun-derbar, aber insgeheim ist nur das ferneBern von Relevanz. Das Ziel ist das Ziel.

Zürich sinkt allmählich hinter mir weg,das Dauerrauschen verebbt, ich verspüreLeichtigkeit. Und Mitgefühl mit den Tau-senden in ihren Stahl- und Glaspalästen,die vor Bildschirmen mit Plastikmäusenklickend Daten verschieben müssen – undmittags ist kaum Zeit für den hastigen Ver-zehr des dünnen Lachsbrots, für den kur-zen Schluck Rivella blau. Gutes Stichwort,ein Schluck Flüssigkeit tut not. Also kurz

Luftlinie sind es 95 Kilometer, die Bahnstrecke misst gut 120, der Wanderweg nochmals einigemehr. Auf verschiedenen Wegen und mit ebenso verschiedenen Tempi begab sich der Autor DanielLudwig von Zürich nach Bern. Sein Fazit: Am seltsamsten ist eindeutig die Velotour.

D A N I E L L U D W I G( T E X T U N D B I L D E R )

pausiert und hineingegriffen in den Ruck-sack. Dort unter allerlei Utensilien ein di-ckesTaschenbuch: Karl Schlögels «Im Rau-me lesen wir die Zeit». Eine Ansammlunggescheiter Essays, eine Spurenlese überGeografie, Kartografie und Historie, überKultur- und manch andere Räume, dichtund welthaltig, ein von «innen glühendesBuch»,wiedie«Zeit»denSchinkenaufdemBuchrücken preist.

Man hat den Raum vergessen, es gibt ihnnicht mehr. Die rasende Beschleunigunghat ihn angeblich zumVerschwindengebracht. Doch trotz aller Beschleunigunggibt es noch eine Geografie, die nach wievor eine Rolle spielt.Wir legen uns zurecht,wie wir vorgehen, vorankommen wollen.Wir machen einen Reiseplan, eine Reise-skizze, ein Itinerar. Es ist nicht die Luftlinie.

Doch. Wir haben eine Schweizer Kartegenommen, mit Leuchtstift eine Luftlinievon Zürich nach Bern gezogen, und nunhangeln wir uns mithilfe dreier 50000er-Wanderkarten – «Zürich», «Willisau» und«Bern» – dieser imaginären Linie entlangRichtung Ziel, wie der Makak im Affenhausvon Ast zu Ast. Erster Etappenort ist dasKünstlerhaus in Boswil AG, mit Bett, war-mem Wasser und Konzert um acht. NeueTöne in der alten Kirche, Kopfmusik. Ichbrauchte eher etwas Gemütvolles. Viel-leicht ein paar Töne von Wagner, der mitMusik Zeit und Raum zerdehnen, ja auflö-sen wollte. Das nächstmorgendliche Früh-stückistopulent,gibtZuversichtundEner-gie. Die Tageszeitung bleibt links liegen,was geht mich die Welt an, ich bin Welt,durchquere sie, heute bis nach Mauenseein den Gasthof Rössli.

DieWeltzuerkennen,heisst,dieausschliess-liche Fixierung auf die Texte hinter sichzu lassen und die bequeme Illusion auf-

zugeben, dass dieWelt ein einziger grosserText sei, den wir, gewissermassen einfachso, vom Schreibtisch oder vom Kaffeehausaus dechiffrieren könnten. Landschaftensind keine Texte. Texte kann man lesen,in Landschaften muss man hineingehen.

Sich hineinpflügen, reinwühlen, Land-schaft erlaufen, erdauern, erleiden, erle-ben. Eine Strecke bewältigen, die uns perAuto oder Bahn hoch vertraut ist. Zürich–Bern. Tausende pendeln täglich zwischendiesen Städten. Milliarden werden inves-tiert, um Autobahn und Schienenstrang zuoptimieren, mittels linearer Streckenfüh-rung Distanz und Räume zu verdichten,Zeit zu sparen. Die gewonnene Zeit zer-rinntallzuoftzuLangeweile,wirdAngstvorLeere. Es ist paradox: Wir schaffen Räumeund fürchten uns vor ihnen.

Karten sind seit jeher das Medium, Raumzu vergegenwärtigen. Karten sind die wich-tigste Form, die der Mensch sich geschaffenhat, um dem HorrorVacui zu entgehen,ein Netz von Linien und Punkten, die erüber den Globus geworfen hat, um sichOrientierung zu verschaffen. Erst wer einenPunkt, einen Halt im Raum gefunden hat,ist nicht mehr verloren.

Ich weiss auch ohne Karte meist rechtgenau, wo ich mich befinde. Andere brau-chen topmoderne Krücken.Wie amVortagder bierbäuchige Mountainbiker in derMittagsbeizinMenziken,derdemonstrativan seinem GPS-Gerät rumnestelte.Wo allepaar hundert Meter gelbe Schilder stehen,wirkte so ein Gadget eher lächerlich.

Ich sitze im nördlichen Napfgebiet zwi-schen Gettnau und Huttwil in einemWaldauf einem gefällten Baumstamm und ma-che Rast. Die Sonne brennt auf der Haut,ein riesiger Bussard schwebt lautlos überdie Lichtung. Ich ducke mich wie eine

Maus und verharre. Die Stille gellt in denOhren. Ich lüfte die Füsse. Der linke Zeh istabgehobelt bis aufs nackte Fleisch. Ichreisse den Rest des Druckpflasters weg,schreie auf. Der Bussard rauscht davon.Wie haben es die Urahnen geschafft, dieWelt zu Fusse zu erschliessen?, frage ichmich auf dem Weg zur nahen Apotheke.Ich habe mir gestern zu viel zugemutet.Auf der Karte sah die Etappe leichter aus.Doch sie zog sich über neun Stunden hin,ins Mittelland vordringende Moränenstellten sich in den Weg, mussten bestie-gen, abgewandert werden. Zudem schlugder Wanderweg Haken wie die Hasen, dieich nie sah.

Karten sind wie Texte oder Bilder Reprä-sentationen vonWirklichkeit. Karten spre-chen die Sprache ihrerVerfasser, und sieverschweigen das, wovon der Kartografnicht spricht oder nicht sprechen kann.Karten sagen mehr als tausendWorte. Abersie verschweigen auch mehr, als man intausendWorten sagen könnte.

Der Siedlungsdruck ist enorm in diesemLand. Bagger, Kräne, Betonmischer, Grä-ben, Röhren, Schächte allenthalben. DerWanderweg führt auffallend oft superpro-visorisch um neu erstellte bauliche Bieder-keiten herum. Die Hoschtet ist planiert, dieScheune umgenutzt, der Bauer hat ver-kauft. Erstaunlich, mit welcher Selbstver-ständlichkeit hierzulande architektonischdem Hässlichen gehuldigt wird. Ich habeauf der ganzenWanderschaft keinen einzi-gen schönen Neubau gesehen.

Aesch am Hallwylersee. Ich laufe aneinem frisch errichteten Haus vorbei. EinMann ist im Garten, sticht Löcher in ein fri-schesBeet.Ersät.Ichhalteinne,will ihnbe-grüssen, einen Schwatz halten, doch derMann schaut nicht auf. Er sät weiter. Ichgehe.

Die Landschaft ist das grösste denkbareKunstwerk, das Menschen zuwege bringenkönnen, und die grösste denkbare Kata-strophe, wenn sie damit scheitern. Land-schaft ist alles zusammen. Landschaft istder härteste Stoff, in dem der Mensch sichvergegenständlicht hat.

Bei jedem Schritt schreit die Wade, zucktderSchmerzimskalpiertenZeh.Dochwei-ter gehts. An einem gelben Backsteinhaushängt ein verspraytes Leintuch: «50 JohrBeat.Völl Glöck.» Unerforschte, rätselhafteSprachräume. Bislang haben in den Dör-fern die an Häusern aufgemalten Geburts-anzeigen dominiert: Nadine, Kevin, Sarah,Lionel. Der Kabarettist Gerhard Polt fälltmir spontan ein: Seine Figuren haben Kin-der,diegenausoheissen.EinaltesPostautorattert mir entgegen, am Steuer sitzt einschwarzer Fahrer und lacht. Rechts derStrasse eine Werbung: «Schweizer Rapsölenthält viel Omega-3-Fettsäuren.» Linksauf weitem Feld sind Hornusser, auf einerbedruckten Blache bietet www.napfwal-king.ch zeitgemässes Nordic Walking an.Blut spenden kann man in Huttwil, da wer-de ich im «Mohren» übernachten.

Es gibt Geschichtsräume, Lebensräume,Erinnerungsräume, Gedächtnisräume,Geschichtslandschaften, Räume der Lite-ratur. Selbst wenn wir nur allgemein vonVergangenheit, Gegenwart oder Zukunftsprechen, benutzen wir räumliche An-gaben:Wir gehen zurück in dieVergan-genheit, wir leben im Hier und Jetzt, oderwir schreiten in die Zukunft.

Ich stemme mich gegen den Westwind.Auf dem Rad wärs unangenehmer. DerWanderer steht eben schlanker in derLandschaft, seine Trägheit schützt vor zuvielWiderstand. Es ist bereits der vierteTagvonZürichRichtungBern,esgehttrotzstu-pender Langsamkeit weitaus schneller alserwartet. Der Weg steigt an, im Südostengrüsst der Napf mit schneeverzierten Gip-feltannen, die Dörfer werden rarer, dieWege rauer. Ich wuchte mich hoch auf ei-nen Grat, das Land fällt ab, öffnet sich nachallen Seiten, herrlich unbekannt und dochgrandiosvertraut,mankommtamKlischeenicht vorbei: Gotthelf-Landschaft. Spy-cher, Stöckli, stattliche Höfe. Die KirchensindjetztuntenimTalundhabeneinenGo-ckel auf dem Spitz. Diese Gärten . . .Schamlos schön geschnittene Hecken,frischfarbige,formvollendeteBeete,Kunst-werke der Botanik. Hier einen Gotthelf-Film drehen? Einfach den Traktor wegstel-len und den Subaru, und los gehts.

Ein fetter Bläss schnuppert ruhig an derHose,schlecktdieHand.DasAugeschweiftüber tausend Hubel hin zum Alpenkranz,Letzterer unaufdringlich fern. Gerüchesteigen in die Nasenhöhlen: frisch gemäh-

tes Gras, Silofutter, geschlagenes Holz,Schotte, Bschütti. Eine Landschaft des Be-gehrens. Heimat.

Ein anderer Zusammenhang, der sich inLandschaften im Kopf niederschlägt, istHeimat, der engste Umkreis, in den Men-schen hineingeboren sind und der zurselbstständigen Heimat immer nur dannwird, wenn sie verloren geht. Heimat istdie intimste und zugleich am meisten demÖffentlichen zugängliche Erfahrung.

Ich sehe den Bantiger mit seiner Anten-ne von hinten. Seltsam. Ich habe dochkaum den Üetliberg und seine Antennehinter mir gelassen.Vierte und letzte Über-nachtung in Rüegsauschachen bei Be-kannten, Kühlung der Füsse im Dorfbach,Wundpflege, Diskussionen. Essen ist Hei-mat, Sprache ist Heimat, Menschen sindHeimat. Dann schlafen wie ein Mehlsack.

Am nächsten Morgen, letzter Tag. Blei-himmel. Die Wolken stationär, dunkel ander Basis und kurz vor dem Abregnen. DieFeuchte nimmt zu. Der Biembach, dasschmale Tal. Es riecht nach Moos. Eineschmale Asphaltstrasse schlängelt in dieHöhe. Man würde auf der anderen Seitekaum den Berner Grossraum vermuten.

Ein Sattelschlepper mit tschechischenNummernschildern ächzt um eine engeKehre.EinBauerflicktamStrassenranddenElektrozaun.WirschauendemLasternach.«Die fahren neuerdings da durch, weil sieblind dem GPS folgen», sagt er.TrügerischeAbkürzungen mit Satellitenhilfe? Prag–Lis-sabon via Biembach.Wir lachen.

Esfängtanzuregnen,zumerstenMalaufdieser Tour. Utzigen, Boll-Sinneringen,Stettlen, Ostermundigen, es geht rasendschnell. Und dann das blaue Ortsschild:Bern.Geschafft.DasZielerreichtdurchkon-trolliertlangsameRaserei.DurchdasAddie-ren des Erlebten schrumpft nun alles zuZeitbrei, gerinnt zu Erinnerung, wird riesigklein, wird defragmentiert. Auch die Physismeldet sich. Der offene Zeh, von dem mitt-lerweile sich der Nagel löst, wacht nachDruckanästhesie und Dauerkompressionallmählich auf, nimmt flammend Teil amneuen Zielgefühl. Erleichterung, wo bleibstdu? Freude? Katharsis? Warum habe ich ei-nenKörper?WarumhabeichdiesenKörper?MeinKörperistdieHölle.IchhinkeRichtungHauptbahnhof. Ich bin da, und alles ist vor-bei, und ob der ganzen Fülle bin ich leer.HorrorVacui, unentrinnbar.

RADWEG(SIEBENSTUNDEN)

VierzehnTagespäter.Esistpeinlich,ichfin-de den Radweg von Zürich nach Bern nichtsofort. Erst in Schlieren, inmitten von La-gerhallen, erblicke ich das rote Schild mitVelosymbol. Heute will ich mich gleitendleiten lassen, will die Mühen der Fünftage-

wanderung mit der Leichtigkeit des Peda-lierens, des Rollens und der Fahrtwindfri-sche kompensieren. Es müssten wohl andie 140 Kilometer werden heute. Lassenwirs langsam angehen.Wie sagte ChurchillzuseinemFahrer?«James,weareinahurry,please drive slowly.» Ich pedale an Schrott-plätzen, Garagen, Schrebergärten entlang.Tauglitzernde Salatköpfe, Chabis, Rhabar-ber, flatternde Fahnen aus Portugal, Koso-vo, Serbien, Graubünden.

Unvermutet liegt vor mir auf dem Rand-stein ein Inder oder Pakistani auf einemumgestürzten Rennvelo. Die Arme ver-schränkt, die Beine verrenkt, die Augen ge-schlossen,derweisseAnzugbefleckt.DochnirgendsistBlut.Ichbeugemichrunter,be-rühre seine Schulter, rede mit dem Mann.Er öffnet die Augen, blinzelt mich an undmurmelt leise: «I am fine, don’t worry.» Ichfrage zur Sicherheit nochmals nach, dieAntwort bleibt dieselbe. Party-Leiche imNirgendwo.

Esist8Uhrmorgens,dieSonnereisstdasLimmattal auf, es wird ein herrlicher Sonn-tagimMai. Ichfahreweiter, rollewieausei-nemGuss,derAsphalt istzartundglattundschnell, eine leichte Bise aus Nordostschiebt mich sanft voran. Topverhältnisse.Schon bald die erste Pause in GretzenbachAG, gleich gegenüber des TierhotelsDragolino.

Radfahren wird grüblerischen Naturendie Frage nach dem Sinn des Lebens nichtbeantworten, aber stundenweise beglü-ckend von ihr wegführen. Es ist die schnells-te Fortbewegungsart, die dem Menschenaus eigener Kraft zu Gebote steht. Manist auf dem Rad tatsächlich auto-mobil.

Michael Klonovskys Buch «Radfahren»(dtv) ist amüsant. Und so leicht, dass manes getrost mitführen kann. ParadoxerweiseerlaubtdasRadfahren–andersalsdaskon-

templative Wandern – die Begegnung mitsignifikant mehr Seltsamkeiten. Eine Bus-haltestelle kurz vor Olten heisst «Knob-lauch». Die Plakatwand imWartehäuschenzeigt gierige Hände, die nach SchweizerPässen greifen, es ist das SVP-Abstim-mungsplakat. Knoblauch und die SVP. DerMix passt. Stinkende Knoblauchfresser.Balkaner, Türken, Araber.

Weiter nach Aarwangen. Grünes, sattesLand. Mächtige Höfe. Die Aare gestaut, do-mestiziert. Dann eine Wiese mit Schafen,alle ausnahmslos schwarz. Besagtes Ab-stimmungsplakat ist nirgends zu sehen.DieViecher haben hier wohl Asyl gefundendank einem Xenophoben-Schutzpro-gramm. Das Land weitet sich unmerklich.Unschweizerischer, breiter Horizont, riesi-ger Himmel, weit entfernter Alpenkamm.Rapsfelder, so ein Gelb kann man nicht be-schreiben. Frischgrüne Laubwälder, kleineStrassen und Weite, nur Weite. Die Brustdehnt sich. Ich raste im Gras. Zwei Jung-raubvögel, vielleicht Milane, üben sichhimmelhoch über meinem Kopf begeistertimLuftkampf.Stürzenkontrolliert,kippen,weichen aus, greifen an, was die Federnhergeben. Könner! Ich schlafe eine halbeStunde.Ameisenweckenmich.Alsoweiter,ächzend auf den Sattel, erste Tritte insPedal, die Beinmuskeln wollen nicht sorecht,sindhartwieMarmor.DochdasAugeerspäht vertraute Geografie. Hügel mitAntenne. Der Bantiger von hinten.

Wer will, kann auf dem Rad nahezu jedenSchmerz vertreiben, indem er einfach einenstärkeren draufsetzt. So freut sich derjenigean einer getanen Arbeit am meisten, deralles gegeben hat und es sich hat sauergeben lassen.

Ich bin effektiv übersäuert, bin kaputt.Sie zieht sich hin, diese Tour. In Kirchbergtreffe ich mitten auf einem Platz mit Brun-

nen einen Mann mit Rottweiler. Der Hundhat ein Gschtältli, eine Art Gurtzeug, unddarauf sitzt ein blau-grüner Papagei. Wirstellen uns vor. Herr Kindler aus Alchen-flüh, Herr Rottweiler, Herr Blaustirnama-zon, Daniel Ludwig, grüessech, freut mi.MittenimMittelland.Ichdarffotografierenund sage dann Adieu. Weiter. Mattstettentaucht auf, ich sprinte wie ein Bub die Ei-senbahnbrücke hoch, Intercity gucken!Hier beschleunigen sie auf 200 km/h.Moosseedorf, Shoppyland, dann die kurze,giftige Radwegsteigung nach Zollikofen,runterrollen bis zurTiefenau, hoch lebe dieSchwerkraft. Auf dem Bundesplatz festenTürken in grossen Zelten, glänzendes Goldam Hals der Frauen und auf der Kuppel desBundeshauses. Ist das anatolische Musik?Oder kurdische? Egal, das Ziel ist die Müns-terplattform, dort gibts ein Bier. Die Aarefliesst grün gleichmütig unten vorbei. Ichspüre nichts mehr, ich bin leer.

SCHIENENWEG(56MINUTEN)

Am selben Tag. 18.02 Uhr. Der Intercityzurück nach Zürich fährt mit dreissig Se-kunden Verspätung ab. Oft sind es mehr.Doch dieser quasi homöopathisch winzigeZeitverlustkannsichfürdenzeitbewusstenPendler zum Tornado potenzieren und ge-neriert oft Emotionen, die der Zugbegleiterdann ausbadet. Ich sitze auf einemBehindertensitz und fühle mich auch so.Der Zug ist halb leer, man hört ein stillesRauschen.ImAbteilgegenüberbeginnteinälteres Paar aufgeregt über Anschlusszei-ten, Taxis und den Flughafen zu reden, esgeht um Minuten, es wird demonstrativlaut telefoniert. Wir sind Weltbürger, Rei-sende, schaut her. Overacting im Intercity.Würde ich nicht dasitzen, sie wären leiser.GPS-Menschen.

18.09.WiederMattstetten.DieRückseitedes Bantigers verschwindet hinter Beton.

Der Intercity pflügt sich mit fürchterlicherRuhe und eleganter Vehemenz durch denlangenTunnel. Ich muss den Druck im Ohrausgleichen, das passiert beim Wandernnie. Ich starre auf die Tunnelleinwand, aufdie Filmstreifen des Fortschritts. Kopf-schmerzen, Leergefühl. Wuuusch! Rrro-ammm! Ein Gegenzug. Druckwelle,Schock, Ohrenweh. Das, was kommt, dasahnst du nicht, das, was ging, nahmst dunicht wahr. Der Zug rüttelt, Turbulenzen.Kein Grund zur Sorge, wir sind auf Schie-nen, eingemauert in den Erden. Der Zugfliegt.

18.30. Landschaftsfetzen, ein Fluss, derJura, grün fragmentiert. Rothrist. Was? ErstRothrist? Bei dieser Geschwindigkeit? EineEwigkeit, diese IC-Fahrt. Irgendwann dannendlich Aarburg. Olten. Knoblauch . . .18.37. Kühlturm. Dampffahne. Gösgen.Aarau.Lenzburg.Tunnel.Killwangen-Sprei-tenbach. Dietikon. 18.51. Schienen, Schie-nen, Schienen. Der Üetliberg leicht seitlich,die Antenne winkt. Dann Schlieren. Der In-tercity ruckelt, bremst, kreischt. Koffer rut-schen, das Velo randaliert. 18.54. Der Inter-city hält im Nirgendwo, zwei Kilometer vorZürich Hauptbahnhof. Draussen ein Schre-bergarten. Fahnen aus Spanien, Italien,Kroatien.EinTotenkopf.DerZugstehtbock-still. Time-out. Plötzlicher Druckabfall. Im-plosion zusammengeraster Zeit. Es zischt.Dekompression, Depression, Leergefühl.«Mesdames et Messieurs, nous arrivons àZurich. Ce train continue vers ZurichAéroport,Winterthur . . .Wil . . .»

Hat man nicht unterwegs doch irgend-wann das Parzival-Zitat leicht abgewan-delt?«Zwarwähnt’ ichmichsehrweit,dochschrittichkaum;dusiehst,meinFreund,zuZeit wird hier der Raum.» Du kannst es dre-henundwenden,wieduwillst,demHorrorVacui entrinnst du nicht, mein Freund. DerIC schleicht verspätet in den Kopfbahnhof.Schnalzend öffnen sich die Türen.

5 Tage, 7 Stunden,56 Minuten

Eriswil.

WANDERWEG(FÜNFTAGE)

Zwischen Aarwangen und Murgenthal.

Üetliberg, Nordwestflanke. Birmensdorf. Gettnau. Huttwil. Kirchturm von Mettmenschongau. Schonegg bei Sumiswald.