5 Tage 7 Stunden 56 Minuten - Daniel Ludwig · Künstlerhaus in Boswil AG, mit Bett, war-mem Wasser...

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Der kleine SAMSTAG, 24. MAI 2008 3 2 SAMSTAG, 24. MAI 2008 Der kleine «I ch schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit, du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit», sagt bei Wagner der Gurnemanz zu Parzival. Ich befinde mich auf dem von der ZürcherTram-EndstationTriemlisteilnach Südwest wegführenden Wanderweg. Seit zehn Minuten schreite ich nun voran, doch ich komme kaum vom Fleck. Mein Atem geht wegen der sich vor mir auftürmenden Eiszeit-Moräne namens Üetliberg bereits stossweise. Wohl wissend, wie mickrig die paar hundert Meter im Vergleich zu den noch abzuwandernden hundertfünfzig Ki- lometern sind, verschiebe ich die vertiefte Analyse desWagner-Zitats. Manch geschei- tes Statement ist nach kurzer Reibung an den Elementen schon in Rauch bezie- hungsweise Schweiss aufgegangen. Der perlt mittlerweile munter auf der Stirn, mein Körper hat Betriebstemperatur erreicht. Ich bin zu Fuss unterwegs von Zürich nach Bern, in fünfTagen will ich es schaffen. Natürlich, ich werde Menschen, Vögel, Pflanzen und glotzendem Vieh begegnen, ich werde das ganze pittoreske landschaft- liche Dekor würdig abmarschieren, wun- derbar, aber insgeheim ist nur das ferne Bern von Relevanz. Das Ziel ist das Ziel. Zürich sinkt allmählich hinter mir weg, das Dauerrauschen verebbt, ich verspüre Leichtigkeit. Und Mitgefühl mit den Tau- senden in ihren Stahl- und Glaspalästen, die vor Bildschirmen mit Plastikmäusen klickend Daten verschieben müssen – und mittags ist kaum Zeit für den hastigen Ver- zehr des dünnen Lachsbrots, für den kur- zen Schluck Rivella blau. Gutes Stichwort, ein Schluck Flüssigkeit tut not. Also kurz Luftlinie sind es 95 Kilometer, die Bahnstrecke misst gut 120, der Wanderweg nochmals einige mehr. Auf verschiedenen Wegen und mit ebenso verschiedenen Tempi begab sich der Autor Daniel Ludwig von Zürich nach Bern. Sein Fazit: Am seltsamsten ist eindeutig die Velotour. DANIEL LUDWIG (TEXT UND BILDER) pausiert und hineingegriffen in den Ruck- sack. Dort unter allerlei Utensilien ein di- ckesTaschenbuch: Karl Schlögels «Im Rau- me lesen wir die Zeit». Eine Ansammlung gescheiter Essays, eine Spurenlese über Geografie, Kartografie und Historie, über Kultur- und manch andere Räume, dicht und welthaltig, ein von «innen glühendes Buch», wie die «Zeit» den Schinken auf dem Buchrücken preist. Man hat den Raum vergessen, es gibt ihn nicht mehr. Die rasende Beschleunigung hat ihn angeblich zum Verschwinden gebracht. Doch trotz aller Beschleunigung gibt es noch eine Geografie, die nach wie vor eine Rolle spielt. Wir legen uns zurecht, wie wir vorgehen, vorankommen wollen. Wir machen einen Reiseplan, eine Reise- skizze, ein Itinerar. Es ist nicht die Luftlinie. Doch. Wir haben eine Schweizer Karte genommen, mit Leuchtstift eine Luftlinie von Zürich nach Bern gezogen, und nun hangeln wir uns mithilfe dreier 50 000er- Wanderkarten – «Zürich», «Willisau» und «Bern» – dieser imaginären Linie entlang Richtung Ziel, wie der Makak im Affenhaus von Ast zu Ast. Erster Etappenort ist das Künstlerhaus in Boswil AG, mit Bett, war- mem Wasser und Konzert um acht. Neue Töne in der alten Kirche, Kopfmusik. Ich brauchte eher etwas Gemütvolles. Viel- leicht ein paar Töne von Wagner, der mit Musik Zeit und Raum zerdehnen, ja auflö- sen wollte. Das nächstmorgendliche Früh- stück ist opulent, gibt Zuversicht und Ener- gie. Die Tageszeitung bleibt links liegen, was geht mich die Welt an, ich bin Welt, durchquere sie, heute bis nach Mauensee in den Gasthof Rössli. DieWelt zu erkennen, heisst, die ausschliess- liche Fixierung auf die Texte hinter sich zu lassen und die bequeme Illusion auf- zugeben, dass die Welt ein einziger grosser Text sei, den wir, gewissermassen einfach so, vom Schreibtisch oder vom Kaffeehaus aus dechiffrieren könnten. Landschaften sind keine Texte. Texte kann man lesen, in Landschaften muss man hineingehen. Sich hineinpflügen, reinwühlen, Land- schaft erlaufen, erdauern, erleiden, erle- ben. Eine Strecke bewältigen, die uns per Auto oder Bahn hoch vertraut ist. Zürich– Bern. Tausende pendeln täglich zwischen diesen Städten. Milliarden werden inves- tiert, um Autobahn und Schienenstrang zu optimieren, mittels linearer Streckenfüh- rung Distanz und Räume zu verdichten, Zeit zu sparen. Die gewonnene Zeit zer- rinnt allzu oft zu Langeweile, wird Angst vor Leere. Es ist paradox: Wir schaffen Räume und fürchten uns vor ihnen. Karten sind seit jeher das Medium, Raum zu vergegenwärtigen. Karten sind die wich- tigste Form, die der Mensch sich geschaffen hat, um dem Horror Vacui zu entgehen, ein Netz von Linien und Punkten, die er über den Globus geworfen hat, um sich Orientierung zu verschaffen. Erst wer einen Punkt, einen Halt im Raum gefunden hat, ist nicht mehr verloren. Ich weiss auch ohne Karte meist recht genau, wo ich mich befinde. Andere brau- chen topmoderne Krücken. Wie am Vortag der bierbäuchige Mountainbiker in der Mittagsbeiz in Menziken, der demonstrativ an seinem GPS-Gerät rumnestelte. Wo alle paar hundert Meter gelbe Schilder stehen, wirkte so ein Gadget eher lächerlich. Ich sitze im nördlichen Napfgebiet zwi- schen Gettnau und Huttwil in einemWald auf einem gefällten Baumstamm und ma- che Rast. Die Sonne brennt auf der Haut, ein riesiger Bussard schwebt lautlos über die Lichtung. Ich ducke mich wie eine Maus und verharre. Die Stille gellt in den Ohren. Ich lüfte die Füsse. Der linke Zeh ist abgehobelt bis aufs nackte Fleisch. Ich reisse den Rest des Druckpflasters weg, schreie auf. Der Bussard rauscht davon. Wie haben es die Urahnen geschafft, die Welt zu Fusse zu erschliessen?, frage ich mich auf dem Weg zur nahen Apotheke. Ich habe mir gestern zu viel zugemutet. Auf der Karte sah die Etappe leichter aus. Doch sie zog sich über neun Stunden hin, ins Mittelland vordringende Moränen stellten sich in den Weg, mussten bestie- gen, abgewandert werden. Zudem schlug der Wanderweg Haken wie die Hasen, die ich nie sah. Karten sind wie Texte oder Bilder Reprä- sentationen von Wirklichkeit. Karten spre- chen die Sprache ihrer Verfasser, und sie verschweigen das, wovon der Kartograf nicht spricht oder nicht sprechen kann. Karten sagen mehr als tausend Worte. Aber sie verschweigen auch mehr, als man in tausend Worten sagen könnte. Der Siedlungsdruck ist enorm in diesem Land. Bagger, Kräne, Betonmischer, Grä- ben, Röhren, Schächte allenthalben. Der Wanderweg führt auffallend oft superpro- visorisch um neu erstellte bauliche Bieder- keiten herum. Die Hoschtet ist planiert, die Scheune umgenutzt, der Bauer hat ver- kauft. Erstaunlich, mit welcher Selbstver- ständlichkeit hierzulande architektonisch dem Hässlichen gehuldigt wird. Ich habe auf der ganzenWanderschaft keinen einzi- gen schönen Neubau gesehen. Aesch am Hallwylersee. Ich laufe an einem frisch errichteten Haus vorbei. Ein Mann ist im Garten, sticht Löcher in ein fri- sches Beet. Er sät. Ich halte inne, will ihn be- grüssen, einen Schwatz halten, doch der Mann schaut nicht auf. Er sät weiter. Ich gehe. Die Landschaft ist das grösste denkbare Kunstwerk, das Menschen zuwege bringen können, und die grösste denkbare Kata- strophe, wenn sie damit scheitern. Land- schaft ist alles zusammen. Landschaft ist der härteste Stoff, in dem der Mensch sich vergegenständlicht hat. Bei jedem Schritt schreit die Wade, zuckt der Schmerz im skalpierten Zeh. Doch wei- ter gehts. An einem gelben Backsteinhaus hängt ein verspraytes Leintuch: «50 Johr Beat.Völl Glöck.» Unerforschte, rätselhafte Sprachräume. Bislang haben in den Dör- fern die an Häusern aufgemalten Geburts- anzeigen dominiert: Nadine, Kevin, Sarah, Lionel. Der Kabarettist Gerhard Polt fällt mir spontan ein: Seine Figuren haben Kin- der, die genauso heissen. Ein altes Postauto rattert mir entgegen, am Steuer sitzt ein schwarzer Fahrer und lacht. Rechts der Strasse eine Werbung: «Schweizer Rapsöl enthält viel Omega-3-Fettsäuren.» Links auf weitem Feld sind Hornusser, auf einer bedruckten Blache bietet www.napfwal- king.ch zeitgemässes Nordic Walking an. Blut spenden kann man in Huttwil, da wer- de ich im «Mohren» übernachten. Es gibt Geschichtsräume, Lebensräume, Erinnerungsräume, Gedächtnisräume, Geschichtslandschaften, Räume der Lite- ratur. Selbst wenn wir nur allgemein von Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft sprechen, benutzen wir räumliche An- gaben: Wir gehen zurück in die Vergan- genheit, wir leben im Hier und Jetzt, oder wir schreiten in die Zukunft. Ich stemme mich gegen den Westwind. Auf dem Rad wärs unangenehmer. Der Wanderer steht eben schlanker in der Landschaft, seine Trägheit schützt vor zu vielWiderstand. Es ist bereits der vierte Tag von Zürich Richtung Bern, es geht trotz stu- pender Langsamkeit weitaus schneller als erwartet. Der Weg steigt an, im Südosten grüsst der Napf mit schneeverzierten Gip- feltannen, die Dörfer werden rarer, die Wege rauer. Ich wuchte mich hoch auf ei- nen Grat, das Land fällt ab, öffnet sich nach allen Seiten, herrlich unbekannt und doch grandios vertraut, man kommt am Klischee nicht vorbei: Gotthelf-Landschaft. Spy- cher, Stöckli, stattliche Höfe. Die Kirchen sind jetzt unten imTal und haben einen Go- ckel auf dem Spitz. Diese Gärten . . . Schamlos schön geschnittene Hecken, frischfarbige, formvollendete Beete, Kunst- werke der Botanik. Hier einen Gotthelf- Film drehen? Einfach den Traktor wegstel- len und den Subaru, und los gehts. Ein fetter Bläss schnuppert ruhig an der Hose, schleckt die Hand. Das Auge schweift über tausend Hubel hin zum Alpenkranz, Letzterer unaufdringlich fern. Gerüche steigen in die Nasenhöhlen: frisch gemäh- tes Gras, Silofutter, geschlagenes Holz, Schotte, Bschütti. Eine Landschaft des Be- gehrens. Heimat. Ein anderer Zusammenhang, der sich in Landschaften im Kopf niederschlägt, ist Heimat, der engste Umkreis, in den Men- schen hineingeboren sind und der zur selbstständigen Heimat immer nur dann wird, wenn sie verloren geht. Heimat ist die intimste und zugleich am meisten dem Öffentlichen zugängliche Erfahrung. Ich sehe den Bantiger mit seiner Anten- ne von hinten. Seltsam. Ich habe doch kaum den Üetliberg und seine Antenne hinter mir gelassen.Vierte und letzte Über- nachtung in Rüegsauschachen bei Be- kannten, Kühlung der Füsse im Dorfbach, Wundpflege, Diskussionen. Essen ist Hei- mat, Sprache ist Heimat, Menschen sind Heimat. Dann schlafen wie ein Mehlsack. Am nächsten Morgen, letzter Tag. Blei- himmel. Die Wolken stationär, dunkel an der Basis und kurz vor dem Abregnen. Die Feuchte nimmt zu. Der Biembach, das schmale Tal. Es riecht nach Moos. Eine schmale Asphaltstrasse schlängelt in die Höhe. Man würde auf der anderen Seite kaum den Berner Grossraum vermuten. Ein Sattelschlepper mit tschechischen Nummernschildern ächzt um eine enge Kehre. Ein Bauer flickt am Strassenrand den Elektrozaun.Wir schauen dem Laster nach. «Die fahren neuerdings da durch, weil sie blind dem GPS folgen», sagt er.Trügerische Abkürzungen mit Satellitenhilfe? Prag–Lis- sabon via Biembach. Wir lachen. Es fängt an zu regnen, zum ersten Mal auf dieser Tour. Utzigen, Boll-Sinneringen, Stettlen, Ostermundigen, es geht rasend schnell. Und dann das blaue Ortsschild: Bern. Geschafft. Das Ziel erreicht durch kon- trolliert langsame Raserei. Durch das Addie- ren des Erlebten schrumpft nun alles zu Zeitbrei, gerinnt zu Erinnerung, wird riesig klein, wird defragmentiert. Auch die Physis meldet sich. Der offene Zeh, von dem mitt- lerweile sich der Nagel löst, wacht nach Druckanästhesie und Dauerkompression allmählich auf, nimmt flammend Teil am neuen Zielgefühl. Erleichterung, wo bleibst du? Freude? Katharsis? Warum habe ich ei- nenKörper?WarumhabeichdiesenKörper? MeinKörperistdieHölle.IchhinkeRichtung Hauptbahnhof. Ich bin da, und alles ist vor- bei, und ob der ganzen Fülle bin ich leer. HorrorVacui, unentrinnbar. RADWEG (SIEBEN STUNDEN) VierzehnTage später. Es ist peinlich, ich fin- de den Radweg von Zürich nach Bern nicht sofort. Erst in Schlieren, inmitten von La- gerhallen, erblicke ich das rote Schild mit Velosymbol. Heute will ich mich gleitend leiten lassen, will die Mühen der Fünftage- wanderung mit der Leichtigkeit des Peda- lierens, des Rollens und der Fahrtwindfri- sche kompensieren. Es müssten wohl an die 140 Kilometer werden heute. Lassen wirs langsam angehen. Wie sagte Churchill zu seinem Fahrer? «James, we are in a hurry, please drive slowly.» Ich pedale an Schrott- plätzen, Garagen, Schrebergärten entlang. Tauglitzernde Salatköpfe, Chabis, Rhabar- ber, flatternde Fahnen aus Portugal, Koso- vo, Serbien, Graubünden. Unvermutet liegt vor mir auf dem Rand- stein ein Inder oder Pakistani auf einem umgestürzten Rennvelo. Die Arme ver- schränkt, die Beine verrenkt, die Augen ge- schlossen, der weisse Anzug befleckt. Doch nirgends ist Blut. Ich beuge mich runter, be- rühre seine Schulter, rede mit dem Mann. Er öffnet die Augen, blinzelt mich an und murmelt leise: «I am fine, don’t worry.» Ich frage zur Sicherheit nochmals nach, die Antwort bleibt dieselbe. Party-Leiche im Nirgendwo. Es ist 8 Uhr morgens, die Sonne reisst das Limmattal auf, es wird ein herrlicher Sonn- tag im Mai. Ich fahre weiter, rolle wie aus ei- nem Guss, der Asphalt ist zart und glatt und schnell, eine leichte Bise aus Nordost schiebt mich sanft voran. Topverhältnisse. Schon bald die erste Pause in Gretzenbach AG, gleich gegenüber des Tierhotels Dragolino. Radfahren wird grüblerischen Naturen die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantworten, aber stundenweise beglü- ckend von ihr wegführen. Es ist die schnells- te Fortbewegungsart, die dem Menschen aus eigener Kraft zu Gebote steht. Man ist auf dem Rad tatsächlich auto-mobil. Michael Klonovskys Buch «Radfahren» (dtv) ist amüsant. Und so leicht, dass man es getrost mitführen kann. Paradoxerweise erlaubt das Radfahren – anders als das kon- templative Wandern – die Begegnung mit signifikant mehr Seltsamkeiten. Eine Bus- haltestelle kurz vor Olten heisst «Knob- lauch». Die Plakatwand imWartehäuschen zeigt gierige Hände, die nach Schweizer Pässen greifen, es ist das SVP-Abstim- mungsplakat. Knoblauch und die SVP. Der Mix passt. Stinkende Knoblauchfresser. Balkaner, Türken, Araber. Weiter nach Aarwangen. Grünes, sattes Land. Mächtige Höfe. Die Aare gestaut, do- mestiziert. Dann eine Wiese mit Schafen, alle ausnahmslos schwarz. Besagtes Ab- stimmungsplakat ist nirgends zu sehen. DieViecher haben hier wohl Asyl gefunden dank einem Xenophoben-Schutzpro- gramm. Das Land weitet sich unmerklich. Unschweizerischer, breiter Horizont, riesi- ger Himmel, weit entfernter Alpenkamm. Rapsfelder, so ein Gelb kann man nicht be- schreiben. Frischgrüne Laubwälder, kleine Strassen und Weite, nur Weite. Die Brust dehnt sich. Ich raste im Gras. Zwei Jung- raubvögel, vielleicht Milane, üben sich himmelhoch über meinem Kopf begeistert im Luftkampf. Stürzen kontrolliert, kippen, weichen aus, greifen an, was die Federn hergeben. Könner! Ich schlafe eine halbe Stunde. Ameisen wecken mich. Also weiter, ächzend auf den Sattel, erste Tritte ins Pedal, die Beinmuskeln wollen nicht so recht, sind hart wie Marmor. Doch das Auge erspäht vertraute Geografie. Hügel mit Antenne. Der Bantiger von hinten. Wer will, kann auf dem Rad nahezu jeden Schmerz vertreiben, indem er einfach einen stärkeren draufsetzt. So freut sich derjenige an einer getanen Arbeit am meisten, der alles gegeben hat und es sich hat sauer geben lassen. Ich bin effektiv übersäuert, bin kaputt. Sie zieht sich hin, dieseTour. In Kirchberg treffe ich mitten auf einem Platz mit Brun- nen einen Mann mit Rottweiler. Der Hund hat ein Gschtältli, eine Art Gurtzeug, und darauf sitzt ein blau-grüner Papagei. Wir stellen uns vor. Herr Kindler aus Alchen- flüh, Herr Rottweiler, Herr Blaustirnama- zon, Daniel Ludwig, grüessech, freut mi. Mitten im Mittelland. Ich darf fotografieren und sage dann Adieu. Weiter. Mattstetten taucht auf, ich sprinte wie ein Bub die Ei- senbahnbrücke hoch, Intercity gucken! Hier beschleunigen sie auf 200 km/h. Moosseedorf, Shoppyland, dann die kurze, giftige Radwegsteigung nach Zollikofen, runterrollen bis zur Tiefenau, hoch lebe die Schwerkraft. Auf dem Bundesplatz festen Türken in grossen Zelten, glänzendes Gold am Hals der Frauen und auf der Kuppel des Bundeshauses. Ist das anatolische Musik? Oder kurdische? Egal, das Ziel ist die Müns- terplattform, dort gibts ein Bier. Die Aare fliesst grün gleichmütig unten vorbei. Ich spüre nichts mehr, ich bin leer. SCHIENENWEG (56 MINUTEN) Am selbenTag. 18.02 Uhr. Der Intercity zurück nach Zürich fährt mit dreissig Se- kunden Verspätung ab. Oft sind es mehr. Doch dieser quasi homöopathisch winzige Zeitverlust kann sich für den zeitbewussten Pendler zum Tornado potenzieren und ge- neriert oft Emotionen, die der Zugbegleiter dann ausbadet. Ich sitze auf einem Behindertensitz und fühle mich auch so. Der Zug ist halb leer, man hört ein stilles Rauschen. Im Abteil gegenüber beginnt ein älteres Paar aufgeregt über Anschlusszei- ten, Taxis und den Flughafen zu reden, es geht um Minuten, es wird demonstrativ laut telefoniert. Wir sind Weltbürger, Rei- sende, schaut her. Overacting im Intercity. Würde ich nicht dasitzen, sie wären leiser. GPS-Menschen. 18.09.Wieder Mattstetten. Die Rückseite des Bantigers verschwindet hinter Beton. Der Intercity pflügt sich mit fürchterlicher Ruhe und eleganter Vehemenz durch den langen Tunnel. Ich muss den Druck im Ohr ausgleichen, das passiert beim Wandern nie. Ich starre auf die Tunnelleinwand, auf die Filmstreifen des Fortschritts. Kopf- schmerzen, Leergefühl. Wuuusch! Rrro- ammm! Ein Gegenzug. Druckwelle, Schock, Ohrenweh. Das, was kommt, das ahnst du nicht, das, was ging, nahmst du nicht wahr. Der Zug rüttelt, Turbulenzen. Kein Grund zur Sorge, wir sind auf Schie- nen, eingemauert in den Erden. Der Zug fliegt. 18.30. Landschaftsfetzen, ein Fluss, der Jura, grün fragmentiert. Rothrist. Was? Erst Rothrist? Bei dieser Geschwindigkeit? Eine Ewigkeit, diese IC-Fahrt. Irgendwann dann endlich Aarburg. Olten. Knoblauch . . . 18.37. Kühlturm. Dampffahne. Gösgen. Aarau. Lenzburg.Tunnel. Killwangen-Sprei- tenbach. Dietikon. 18.51. Schienen, Schie- nen, Schienen. Der Üetliberg leicht seitlich, die Antenne winkt. Dann Schlieren. Der In- tercity ruckelt, bremst, kreischt. Koffer rut- schen, das Velo randaliert. 18.54. Der Inter- city hält im Nirgendwo, zwei Kilometer vor Zürich Hauptbahnhof. Draussen ein Schre- bergarten. Fahnen aus Spanien, Italien, Kroatien.EinTotenkopf.DerZugstehtbock- still. Time-out. Plötzlicher Druckabfall. Im- plosion zusammengeraster Zeit. Es zischt. Dekompression, Depression, Leergefühl. «Mesdames et Messieurs, nous arrivons à Zurich. Ce train continue vers Zurich Aéroport, Winterthur . . .Wil . . .» Hat man nicht unterwegs doch irgend- wann das Parzival-Zitat leicht abgewan- delt? «Zwar wähnt’ ich mich sehr weit, doch schritt ich kaum; du siehst, mein Freund, zu Zeit wird hier der Raum.» Du kannst es dre- hen und wenden, wie du willst, dem Horror Vacui entrinnst du nicht, mein Freund. Der IC schleicht verspätet in den Kopfbahnhof. Schnalzend öffnen sich die Türen. 5 Tage, 7 Stunden, 56 Minuten Eriswil. WANDERWEG (FÜNF TAGE) Zwischen Aarwangen und Murgenthal. Üetliberg, Nordwestflanke. Birmensdorf. Gettnau. Huttwil. Kirchturm von Mettmenschongau. Schonegg bei Sumiswald.

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Der kleine SAMSTAG, 24. MAI 2008 32 SAMSTAG, 24. MAI 2008 Der kleine

«Ich schreite kaum, doch wähn’ ichmich schon weit, du siehst, meinSohn, zum Raum wird hier die

Zeit», sagt bei Wagner der Gurnemanz zuParzival. Ich befinde mich auf dem von derZürcherTram-EndstationTriemlisteilnachSüdwest wegführenden Wanderweg. SeitzehnMinutenschreite ichnunvoran,dochich komme kaum vom Fleck. Mein Atemgeht wegen der sich vor mir auftürmendenEiszeit-Moräne namens Üetliberg bereitsstossweise. Wohl wissend, wie mickrig diepaar hundert Meter im Vergleich zu dennoch abzuwandernden hundertfünfzig Ki-lometern sind, verschiebe ich die vertiefteAnalysedesWagner-Zitats.Manchgeschei-tes Statement ist nach kurzer Reibung anden Elementen schon in Rauch bezie-hungsweise Schweiss aufgegangen. Derperlt mittlerweile munter auf der Stirn,mein Körper hat Betriebstemperaturerreicht.

Ich bin zu Fuss unterwegs von ZürichnachBern,infünfTagenwillichesschaffen.Natürlich, ich werde Menschen, Vögel,Pflanzen und glotzendem Vieh begegnen,ich werde das ganze pittoreske landschaft-liche Dekor würdig abmarschieren, wun-derbar, aber insgeheim ist nur das ferneBern von Relevanz. Das Ziel ist das Ziel.

Zürich sinkt allmählich hinter mir weg,das Dauerrauschen verebbt, ich verspüreLeichtigkeit. Und Mitgefühl mit den Tau-senden in ihren Stahl- und Glaspalästen,die vor Bildschirmen mit Plastikmäusenklickend Daten verschieben müssen – undmittags ist kaum Zeit für den hastigen Ver-zehr des dünnen Lachsbrots, für den kur-zen Schluck Rivella blau. Gutes Stichwort,ein Schluck Flüssigkeit tut not. Also kurz

Luftlinie sind es 95 Kilometer, die Bahnstrecke misst gut 120, der Wanderweg nochmals einigemehr. Auf verschiedenen Wegen und mit ebenso verschiedenen Tempi begab sich der Autor DanielLudwig von Zürich nach Bern. Sein Fazit: Am seltsamsten ist eindeutig die Velotour.

D A N I E L L U D W I G( T E X T U N D B I L D E R )

pausiert und hineingegriffen in den Ruck-sack. Dort unter allerlei Utensilien ein di-ckesTaschenbuch: Karl Schlögels «Im Rau-me lesen wir die Zeit». Eine Ansammlunggescheiter Essays, eine Spurenlese überGeografie, Kartografie und Historie, überKultur- und manch andere Räume, dichtund welthaltig, ein von «innen glühendesBuch»,wiedie«Zeit»denSchinkenaufdemBuchrücken preist.

Man hat den Raum vergessen, es gibt ihnnicht mehr. Die rasende Beschleunigunghat ihn angeblich zumVerschwindengebracht. Doch trotz aller Beschleunigunggibt es noch eine Geografie, die nach wievor eine Rolle spielt.Wir legen uns zurecht,wie wir vorgehen, vorankommen wollen.Wir machen einen Reiseplan, eine Reise-skizze, ein Itinerar. Es ist nicht die Luftlinie.

Doch. Wir haben eine Schweizer Kartegenommen, mit Leuchtstift eine Luftlinievon Zürich nach Bern gezogen, und nunhangeln wir uns mithilfe dreier 50000er-Wanderkarten – «Zürich», «Willisau» und«Bern» – dieser imaginären Linie entlangRichtung Ziel, wie der Makak im Affenhausvon Ast zu Ast. Erster Etappenort ist dasKünstlerhaus in Boswil AG, mit Bett, war-mem Wasser und Konzert um acht. NeueTöne in der alten Kirche, Kopfmusik. Ichbrauchte eher etwas Gemütvolles. Viel-leicht ein paar Töne von Wagner, der mitMusik Zeit und Raum zerdehnen, ja auflö-sen wollte. Das nächstmorgendliche Früh-stückistopulent,gibtZuversichtundEner-gie. Die Tageszeitung bleibt links liegen,was geht mich die Welt an, ich bin Welt,durchquere sie, heute bis nach Mauenseein den Gasthof Rössli.

DieWeltzuerkennen,heisst,dieausschliess-liche Fixierung auf die Texte hinter sichzu lassen und die bequeme Illusion auf-

zugeben, dass dieWelt ein einziger grosserText sei, den wir, gewissermassen einfachso, vom Schreibtisch oder vom Kaffeehausaus dechiffrieren könnten. Landschaftensind keine Texte. Texte kann man lesen,in Landschaften muss man hineingehen.

Sich hineinpflügen, reinwühlen, Land-schaft erlaufen, erdauern, erleiden, erle-ben. Eine Strecke bewältigen, die uns perAuto oder Bahn hoch vertraut ist. Zürich–Bern. Tausende pendeln täglich zwischendiesen Städten. Milliarden werden inves-tiert, um Autobahn und Schienenstrang zuoptimieren, mittels linearer Streckenfüh-rung Distanz und Räume zu verdichten,Zeit zu sparen. Die gewonnene Zeit zer-rinntallzuoftzuLangeweile,wirdAngstvorLeere. Es ist paradox: Wir schaffen Räumeund fürchten uns vor ihnen.

Karten sind seit jeher das Medium, Raumzu vergegenwärtigen. Karten sind die wich-tigste Form, die der Mensch sich geschaffenhat, um dem HorrorVacui zu entgehen,ein Netz von Linien und Punkten, die erüber den Globus geworfen hat, um sichOrientierung zu verschaffen. Erst wer einenPunkt, einen Halt im Raum gefunden hat,ist nicht mehr verloren.

Ich weiss auch ohne Karte meist rechtgenau, wo ich mich befinde. Andere brau-chen topmoderne Krücken.Wie amVortagder bierbäuchige Mountainbiker in derMittagsbeizinMenziken,derdemonstrativan seinem GPS-Gerät rumnestelte.Wo allepaar hundert Meter gelbe Schilder stehen,wirkte so ein Gadget eher lächerlich.

Ich sitze im nördlichen Napfgebiet zwi-schen Gettnau und Huttwil in einemWaldauf einem gefällten Baumstamm und ma-che Rast. Die Sonne brennt auf der Haut,ein riesiger Bussard schwebt lautlos überdie Lichtung. Ich ducke mich wie eine

Maus und verharre. Die Stille gellt in denOhren. Ich lüfte die Füsse. Der linke Zeh istabgehobelt bis aufs nackte Fleisch. Ichreisse den Rest des Druckpflasters weg,schreie auf. Der Bussard rauscht davon.Wie haben es die Urahnen geschafft, dieWelt zu Fusse zu erschliessen?, frage ichmich auf dem Weg zur nahen Apotheke.Ich habe mir gestern zu viel zugemutet.Auf der Karte sah die Etappe leichter aus.Doch sie zog sich über neun Stunden hin,ins Mittelland vordringende Moränenstellten sich in den Weg, mussten bestie-gen, abgewandert werden. Zudem schlugder Wanderweg Haken wie die Hasen, dieich nie sah.

Karten sind wie Texte oder Bilder Reprä-sentationen vonWirklichkeit. Karten spre-chen die Sprache ihrerVerfasser, und sieverschweigen das, wovon der Kartografnicht spricht oder nicht sprechen kann.Karten sagen mehr als tausendWorte. Abersie verschweigen auch mehr, als man intausendWorten sagen könnte.

Der Siedlungsdruck ist enorm in diesemLand. Bagger, Kräne, Betonmischer, Grä-ben, Röhren, Schächte allenthalben. DerWanderweg führt auffallend oft superpro-visorisch um neu erstellte bauliche Bieder-keiten herum. Die Hoschtet ist planiert, dieScheune umgenutzt, der Bauer hat ver-kauft. Erstaunlich, mit welcher Selbstver-ständlichkeit hierzulande architektonischdem Hässlichen gehuldigt wird. Ich habeauf der ganzenWanderschaft keinen einzi-gen schönen Neubau gesehen.

Aesch am Hallwylersee. Ich laufe aneinem frisch errichteten Haus vorbei. EinMann ist im Garten, sticht Löcher in ein fri-schesBeet.Ersät.Ichhalteinne,will ihnbe-grüssen, einen Schwatz halten, doch derMann schaut nicht auf. Er sät weiter. Ichgehe.

Die Landschaft ist das grösste denkbareKunstwerk, das Menschen zuwege bringenkönnen, und die grösste denkbare Kata-strophe, wenn sie damit scheitern. Land-schaft ist alles zusammen. Landschaft istder härteste Stoff, in dem der Mensch sichvergegenständlicht hat.

Bei jedem Schritt schreit die Wade, zucktderSchmerzimskalpiertenZeh.Dochwei-ter gehts. An einem gelben Backsteinhaushängt ein verspraytes Leintuch: «50 JohrBeat.Völl Glöck.» Unerforschte, rätselhafteSprachräume. Bislang haben in den Dör-fern die an Häusern aufgemalten Geburts-anzeigen dominiert: Nadine, Kevin, Sarah,Lionel. Der Kabarettist Gerhard Polt fälltmir spontan ein: Seine Figuren haben Kin-der,diegenausoheissen.EinaltesPostautorattert mir entgegen, am Steuer sitzt einschwarzer Fahrer und lacht. Rechts derStrasse eine Werbung: «Schweizer Rapsölenthält viel Omega-3-Fettsäuren.» Linksauf weitem Feld sind Hornusser, auf einerbedruckten Blache bietet www.napfwal-king.ch zeitgemässes Nordic Walking an.Blut spenden kann man in Huttwil, da wer-de ich im «Mohren» übernachten.

Es gibt Geschichtsräume, Lebensräume,Erinnerungsräume, Gedächtnisräume,Geschichtslandschaften, Räume der Lite-ratur. Selbst wenn wir nur allgemein vonVergangenheit, Gegenwart oder Zukunftsprechen, benutzen wir räumliche An-gaben:Wir gehen zurück in dieVergan-genheit, wir leben im Hier und Jetzt, oderwir schreiten in die Zukunft.

Ich stemme mich gegen den Westwind.Auf dem Rad wärs unangenehmer. DerWanderer steht eben schlanker in derLandschaft, seine Trägheit schützt vor zuvielWiderstand. Es ist bereits der vierteTagvonZürichRichtungBern,esgehttrotzstu-pender Langsamkeit weitaus schneller alserwartet. Der Weg steigt an, im Südostengrüsst der Napf mit schneeverzierten Gip-feltannen, die Dörfer werden rarer, dieWege rauer. Ich wuchte mich hoch auf ei-nen Grat, das Land fällt ab, öffnet sich nachallen Seiten, herrlich unbekannt und dochgrandiosvertraut,mankommtamKlischeenicht vorbei: Gotthelf-Landschaft. Spy-cher, Stöckli, stattliche Höfe. Die KirchensindjetztuntenimTalundhabeneinenGo-ckel auf dem Spitz. Diese Gärten . . .Schamlos schön geschnittene Hecken,frischfarbige,formvollendeteBeete,Kunst-werke der Botanik. Hier einen Gotthelf-Film drehen? Einfach den Traktor wegstel-len und den Subaru, und los gehts.

Ein fetter Bläss schnuppert ruhig an derHose,schlecktdieHand.DasAugeschweiftüber tausend Hubel hin zum Alpenkranz,Letzterer unaufdringlich fern. Gerüchesteigen in die Nasenhöhlen: frisch gemäh-

tes Gras, Silofutter, geschlagenes Holz,Schotte, Bschütti. Eine Landschaft des Be-gehrens. Heimat.

Ein anderer Zusammenhang, der sich inLandschaften im Kopf niederschlägt, istHeimat, der engste Umkreis, in den Men-schen hineingeboren sind und der zurselbstständigen Heimat immer nur dannwird, wenn sie verloren geht. Heimat istdie intimste und zugleich am meisten demÖffentlichen zugängliche Erfahrung.

Ich sehe den Bantiger mit seiner Anten-ne von hinten. Seltsam. Ich habe dochkaum den Üetliberg und seine Antennehinter mir gelassen.Vierte und letzte Über-nachtung in Rüegsauschachen bei Be-kannten, Kühlung der Füsse im Dorfbach,Wundpflege, Diskussionen. Essen ist Hei-mat, Sprache ist Heimat, Menschen sindHeimat. Dann schlafen wie ein Mehlsack.

Am nächsten Morgen, letzter Tag. Blei-himmel. Die Wolken stationär, dunkel ander Basis und kurz vor dem Abregnen. DieFeuchte nimmt zu. Der Biembach, dasschmale Tal. Es riecht nach Moos. Eineschmale Asphaltstrasse schlängelt in dieHöhe. Man würde auf der anderen Seitekaum den Berner Grossraum vermuten.

Ein Sattelschlepper mit tschechischenNummernschildern ächzt um eine engeKehre.EinBauerflicktamStrassenranddenElektrozaun.WirschauendemLasternach.«Die fahren neuerdings da durch, weil sieblind dem GPS folgen», sagt er.TrügerischeAbkürzungen mit Satellitenhilfe? Prag–Lis-sabon via Biembach.Wir lachen.

Esfängtanzuregnen,zumerstenMalaufdieser Tour. Utzigen, Boll-Sinneringen,Stettlen, Ostermundigen, es geht rasendschnell. Und dann das blaue Ortsschild:Bern.Geschafft.DasZielerreichtdurchkon-trolliertlangsameRaserei.DurchdasAddie-ren des Erlebten schrumpft nun alles zuZeitbrei, gerinnt zu Erinnerung, wird riesigklein, wird defragmentiert. Auch die Physismeldet sich. Der offene Zeh, von dem mitt-lerweile sich der Nagel löst, wacht nachDruckanästhesie und Dauerkompressionallmählich auf, nimmt flammend Teil amneuen Zielgefühl. Erleichterung, wo bleibstdu? Freude? Katharsis? Warum habe ich ei-nenKörper?WarumhabeichdiesenKörper?MeinKörperistdieHölle.IchhinkeRichtungHauptbahnhof. Ich bin da, und alles ist vor-bei, und ob der ganzen Fülle bin ich leer.HorrorVacui, unentrinnbar.

RADWEG(SIEBENSTUNDEN)

VierzehnTagespäter.Esistpeinlich,ichfin-de den Radweg von Zürich nach Bern nichtsofort. Erst in Schlieren, inmitten von La-gerhallen, erblicke ich das rote Schild mitVelosymbol. Heute will ich mich gleitendleiten lassen, will die Mühen der Fünftage-

wanderung mit der Leichtigkeit des Peda-lierens, des Rollens und der Fahrtwindfri-sche kompensieren. Es müssten wohl andie 140 Kilometer werden heute. Lassenwirs langsam angehen.Wie sagte ChurchillzuseinemFahrer?«James,weareinahurry,please drive slowly.» Ich pedale an Schrott-plätzen, Garagen, Schrebergärten entlang.Tauglitzernde Salatköpfe, Chabis, Rhabar-ber, flatternde Fahnen aus Portugal, Koso-vo, Serbien, Graubünden.

Unvermutet liegt vor mir auf dem Rand-stein ein Inder oder Pakistani auf einemumgestürzten Rennvelo. Die Arme ver-schränkt, die Beine verrenkt, die Augen ge-schlossen,derweisseAnzugbefleckt.DochnirgendsistBlut.Ichbeugemichrunter,be-rühre seine Schulter, rede mit dem Mann.Er öffnet die Augen, blinzelt mich an undmurmelt leise: «I am fine, don’t worry.» Ichfrage zur Sicherheit nochmals nach, dieAntwort bleibt dieselbe. Party-Leiche imNirgendwo.

Esist8Uhrmorgens,dieSonnereisstdasLimmattal auf, es wird ein herrlicher Sonn-tagimMai. Ichfahreweiter, rollewieausei-nemGuss,derAsphalt istzartundglattundschnell, eine leichte Bise aus Nordostschiebt mich sanft voran. Topverhältnisse.Schon bald die erste Pause in GretzenbachAG, gleich gegenüber des TierhotelsDragolino.

Radfahren wird grüblerischen Naturendie Frage nach dem Sinn des Lebens nichtbeantworten, aber stundenweise beglü-ckend von ihr wegführen. Es ist die schnells-te Fortbewegungsart, die dem Menschenaus eigener Kraft zu Gebote steht. Manist auf dem Rad tatsächlich auto-mobil.

Michael Klonovskys Buch «Radfahren»(dtv) ist amüsant. Und so leicht, dass manes getrost mitführen kann. ParadoxerweiseerlaubtdasRadfahren–andersalsdaskon-

templative Wandern – die Begegnung mitsignifikant mehr Seltsamkeiten. Eine Bus-haltestelle kurz vor Olten heisst «Knob-lauch». Die Plakatwand imWartehäuschenzeigt gierige Hände, die nach SchweizerPässen greifen, es ist das SVP-Abstim-mungsplakat. Knoblauch und die SVP. DerMix passt. Stinkende Knoblauchfresser.Balkaner, Türken, Araber.

Weiter nach Aarwangen. Grünes, sattesLand. Mächtige Höfe. Die Aare gestaut, do-mestiziert. Dann eine Wiese mit Schafen,alle ausnahmslos schwarz. Besagtes Ab-stimmungsplakat ist nirgends zu sehen.DieViecher haben hier wohl Asyl gefundendank einem Xenophoben-Schutzpro-gramm. Das Land weitet sich unmerklich.Unschweizerischer, breiter Horizont, riesi-ger Himmel, weit entfernter Alpenkamm.Rapsfelder, so ein Gelb kann man nicht be-schreiben. Frischgrüne Laubwälder, kleineStrassen und Weite, nur Weite. Die Brustdehnt sich. Ich raste im Gras. Zwei Jung-raubvögel, vielleicht Milane, üben sichhimmelhoch über meinem Kopf begeistertimLuftkampf.Stürzenkontrolliert,kippen,weichen aus, greifen an, was die Federnhergeben. Könner! Ich schlafe eine halbeStunde.Ameisenweckenmich.Alsoweiter,ächzend auf den Sattel, erste Tritte insPedal, die Beinmuskeln wollen nicht sorecht,sindhartwieMarmor.DochdasAugeerspäht vertraute Geografie. Hügel mitAntenne. Der Bantiger von hinten.

Wer will, kann auf dem Rad nahezu jedenSchmerz vertreiben, indem er einfach einenstärkeren draufsetzt. So freut sich derjenigean einer getanen Arbeit am meisten, deralles gegeben hat und es sich hat sauergeben lassen.

Ich bin effektiv übersäuert, bin kaputt.Sie zieht sich hin, diese Tour. In Kirchbergtreffe ich mitten auf einem Platz mit Brun-

nen einen Mann mit Rottweiler. Der Hundhat ein Gschtältli, eine Art Gurtzeug, unddarauf sitzt ein blau-grüner Papagei. Wirstellen uns vor. Herr Kindler aus Alchen-flüh, Herr Rottweiler, Herr Blaustirnama-zon, Daniel Ludwig, grüessech, freut mi.MittenimMittelland.Ichdarffotografierenund sage dann Adieu. Weiter. Mattstettentaucht auf, ich sprinte wie ein Bub die Ei-senbahnbrücke hoch, Intercity gucken!Hier beschleunigen sie auf 200 km/h.Moosseedorf, Shoppyland, dann die kurze,giftige Radwegsteigung nach Zollikofen,runterrollen bis zurTiefenau, hoch lebe dieSchwerkraft. Auf dem Bundesplatz festenTürken in grossen Zelten, glänzendes Goldam Hals der Frauen und auf der Kuppel desBundeshauses. Ist das anatolische Musik?Oder kurdische? Egal, das Ziel ist die Müns-terplattform, dort gibts ein Bier. Die Aarefliesst grün gleichmütig unten vorbei. Ichspüre nichts mehr, ich bin leer.

SCHIENENWEG(56MINUTEN)

Am selben Tag. 18.02 Uhr. Der Intercityzurück nach Zürich fährt mit dreissig Se-kunden Verspätung ab. Oft sind es mehr.Doch dieser quasi homöopathisch winzigeZeitverlustkannsichfürdenzeitbewusstenPendler zum Tornado potenzieren und ge-neriert oft Emotionen, die der Zugbegleiterdann ausbadet. Ich sitze auf einemBehindertensitz und fühle mich auch so.Der Zug ist halb leer, man hört ein stillesRauschen.ImAbteilgegenüberbeginnteinälteres Paar aufgeregt über Anschlusszei-ten, Taxis und den Flughafen zu reden, esgeht um Minuten, es wird demonstrativlaut telefoniert. Wir sind Weltbürger, Rei-sende, schaut her. Overacting im Intercity.Würde ich nicht dasitzen, sie wären leiser.GPS-Menschen.

18.09.WiederMattstetten.DieRückseitedes Bantigers verschwindet hinter Beton.

Der Intercity pflügt sich mit fürchterlicherRuhe und eleganter Vehemenz durch denlangenTunnel. Ich muss den Druck im Ohrausgleichen, das passiert beim Wandernnie. Ich starre auf die Tunnelleinwand, aufdie Filmstreifen des Fortschritts. Kopf-schmerzen, Leergefühl. Wuuusch! Rrro-ammm! Ein Gegenzug. Druckwelle,Schock, Ohrenweh. Das, was kommt, dasahnst du nicht, das, was ging, nahmst dunicht wahr. Der Zug rüttelt, Turbulenzen.Kein Grund zur Sorge, wir sind auf Schie-nen, eingemauert in den Erden. Der Zugfliegt.

18.30. Landschaftsfetzen, ein Fluss, derJura, grün fragmentiert. Rothrist. Was? ErstRothrist? Bei dieser Geschwindigkeit? EineEwigkeit, diese IC-Fahrt. Irgendwann dannendlich Aarburg. Olten. Knoblauch . . .18.37. Kühlturm. Dampffahne. Gösgen.Aarau.Lenzburg.Tunnel.Killwangen-Sprei-tenbach. Dietikon. 18.51. Schienen, Schie-nen, Schienen. Der Üetliberg leicht seitlich,die Antenne winkt. Dann Schlieren. Der In-tercity ruckelt, bremst, kreischt. Koffer rut-schen, das Velo randaliert. 18.54. Der Inter-city hält im Nirgendwo, zwei Kilometer vorZürich Hauptbahnhof. Draussen ein Schre-bergarten. Fahnen aus Spanien, Italien,Kroatien.EinTotenkopf.DerZugstehtbock-still. Time-out. Plötzlicher Druckabfall. Im-plosion zusammengeraster Zeit. Es zischt.Dekompression, Depression, Leergefühl.«Mesdames et Messieurs, nous arrivons àZurich. Ce train continue vers ZurichAéroport,Winterthur . . .Wil . . .»

Hat man nicht unterwegs doch irgend-wann das Parzival-Zitat leicht abgewan-delt?«Zwarwähnt’ ichmichsehrweit,dochschrittichkaum;dusiehst,meinFreund,zuZeit wird hier der Raum.» Du kannst es dre-henundwenden,wieduwillst,demHorrorVacui entrinnst du nicht, mein Freund. DerIC schleicht verspätet in den Kopfbahnhof.Schnalzend öffnen sich die Türen.

5 Tage, 7 Stunden,56 Minuten

Eriswil.

WANDERWEG(FÜNFTAGE)

Zwischen Aarwangen und Murgenthal.

Üetliberg, Nordwestflanke. Birmensdorf. Gettnau. Huttwil. Kirchturm von Mettmenschongau. Schonegg bei Sumiswald.