Post on 21-Jul-2016
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Victor Klemperer
» « Klemperer ist vergleichbar mit Heine, der in seinen Artikeln über die Revolution gleich nah und gleich genau und gleich erzählmächtig ist wie Klemperer.
Martin Walser
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Revolutionstagebuch 1919
Man möchte immer weinen und lachen in einem
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ein bedeutender chronist deutscher geschichte
Als Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933
bis 1945 Mitte der 1990er Jahre postum publi-
ziert wurden, war der Dresdner Romanistikprofessor,
der zunächst in einem sogenannten »Judenhaus«,
dann versteckt und auf der Flucht die Gräuel der
Nazizeit überlebt hatte, mit einem Paukenschlag
zum weit über die akademischen Fachkreise hinaus
bekannten Chronisten und menschlich bewunderten
Zeitzeugen geworden, an dem fortan kein Weg mehr
vorbeiführte. Seine Tagebücher, dieses einzigartige
Dokument des unmittelbar erlebten Alltags in Nazi-
deutschland, wurden vom Feuilleton zu Recht als
Sensation gefeiert und entfalteten eine solche
Wirkung, dass ein völlig neues Nachdenken über die
Zeit des Nationalsozialismus einsetzte. Dem ent-
sprach der beispiellose Publikumserfolg: Bis heute
haben Klemperers Werke eine Gesamtauflage von
einer halben Million Exemplaren erreicht, es gab Son-
derdrucke, Schulausgaben und eine Verfilmung.
Auch die internationale Wirkung war ungeheuer. Li-
zenzausgaben erschienen in einem Dutzend Länder.
In den USA wurde für die Übersetzung der Tagebü-
cher die bis dahin höchste Lizenzsumme für ein
deutsches Buch in Amerika erzielt.
welch eine entdeckung: die geburtsstunde des chronisten
Der vorliegende neue Fund überrascht uns mit einer
bislang völlig unbekannten Facette von Klemperers
Schaffen. Der junge Kriegsheimkehrer hat bereits
1919 eine der interessantesten Epochen der Zeitge-
schichte aus der unmittelbaren eigenen Anschauung
heraus für uns festgehalten: die Revolution von
1918/19, aus der die erste deutsche Demokratie her-
vorging – und in der sich zugleich das kommende
Unheil schon ankündigte. Wie unter einem Brenn-
glas schildert Klemperer die Monate der Münchner
Räterepublik, als das Chaos nach dem Ende des Ers-
ten Weltkriegs in vollem Ausmaß zutage trat. Sein
Revolutionstagebuch nutzt er für anderthalb Dutzend
»Zeitungsbriefe«, die er als »Antibavaricus« aus dem
besetzten München an die »Leipziger Neuesten Nach-
richten« sendet. Und schon während dieser Zeit schärft
sich der Blick des immer hellsichtigeren Chronisten zu-
nehmend auf den sich zuspitzenden Fanatismus und
Antisemitismus.
angriffslustig, meinungstark, doch stets menschlich
Mit der Direktheit des engagierten, hochgebildeten
und unabhängigen Mannes, der sich für den einzig-
artigen Anlass auf die politische Journalistik einlässt,
verfasste Victor Klemperer pointiert witzige, kluge
wie sprachlich brillante Skizzen. Er liefert uns einen
sehr nahen, eigenen Blick auf Akteure wie Ernst
Mühsam, Max Levien oder Kurt Eisner und eine vom
Standpunkt des eher konservativen Bildungsbürgers
geprägte scharfsinnige Einordnung der aktuellen Er-
eignisse. Solch genaue, anschauliche Momentaufnah-
men aus der belagerten Stadt findet man nirgendwo
sonst. Die Lücken, die diese Zeitungsbriefe lassen,
Victor Klemperervon einer ungekannten Seite
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Victor Klempererindem sie unmittelbar und anlassbezogen Tages-
ereignisse betrachten, schloss Klemperer 1942, als er
diese Epoche in seinen Lebenserinnerungen aus der
Rückschau heraus noch einmal beleuchtete. Beide
Textsorten – Zeitungsbriefe und Erinnerungen – erge-
ben nun, für diesen Band gegeneinander geschnit-
ten, ein packendes, mit Genuss zu lesendes Gesamt-
bild von diesem alles entscheidenden Wendepunkt
der jüngeren deutschen Geschichte.
die erstveröffentlichung
Zwei Drittel der Zeitungsbriefe von 1919 werden hier
erstmals zugänglich gemacht, da damals nur jeder
dritte in den »Leipziger Neuesten Nachrichten«
abgedruckt werden konnte – die anderen gelang-
ten in den Revolutionswirren zu spät an ihr Ziel
oder erreichten es nie. In Gänze erstmals veröffent-
licht werden zudem die Aufzeichnungen von 1942. Es
sind die letzten Seiten, die unter den schwierigsten
Bedingungen entstanden und eigentlich Teil eines
noch größeren Kapitels werden sollten, das Klempe-
rer nicht mehr schreiben konnte – zu groß war die
Gefahr geworden, dass die Gestapo das Manuskript
entdecken könnte. Mit dieser Erstveröffentlichung
fügt Klemperer der Essenz all dessen, was ihn schon
als Chronisten der Nazizeit auszeichnete, mit den
Zeitungsbriefen etwas ganz Eigenes, besonders Reiz-
volles hinzu und erweist sich einmal mehr als muti-
ger, moderner und uns damit ganz naher Publizist
auf der Höhe der Besten seiner Zeit. Zum
Verständnis der Epoche und ihres besten Zeugen
ist das erstmals vorliegende Revolutionstagebuch
unerlässlich.
Die sensationelle Erstveröffentlichung:
Victor Klempererüber die »wilden
Münchner Tage« 1919»1919 ist aus vielerlei
Gründen ein Jahr, das für uns
von besonderer Bedeutung ist.«
Christopher Clark
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Auszug
REVOLUTION
ENDE 1918
Was aber in diesen letzten Leipziger Wochen von ent-
scheidender Wichtigkeit für mich wurde, waren we-
der die feierlichen Augenblicke der Wahl zur Natio-
nalversammlung noch die verschiedenen Streiks,
die uns in Mitleidenschaft zogen – so fehlte zu Haus
alle Beleuchtung, und Merkur wurde vom Café zum
Asyl –, noch die Spartakuskämpfe in Berlin noch der
Sturm auf die »Leipziger Neuesten Nachrichten«.
Entscheidend wurde eine Simplicissimuskarikatur.
Da saß Erich Mühsam, den wir um 1904 beide als
harmlos gutmütigen, politisch gänzlich uninteres-
sierten Bohémien und Reimschmied in Berlin ge-
kannt hatten und der jetzt zu den radikalen Münch-
ner Politikern gehörte, auf einem roten Diwan und
ließ sich maniküren. Darunter stand: »Maniküren Sie
mir Schwielen an die Hände, ich bin jetzt Arbeiter-
rat!« – »Das paßt genau zu Ihren Erzählungen von
Eisner und vom ›Rat der geistigen Arbeiter‹«, sagte
Harms, nachdem wir genügend über das Bild gelacht
hatten. Diesmal entwickelte sich aus der Bemerkung
»
Mühsam-Karikatur im Simplicissimus vom
31. Dezember 1918: »Maniküren Sie mir Schwielen
an die Hände. Ich bin jetzt im Arbeiterrat.«
Illustration von Karl Arnold
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Einmarsch der Regierungstruppen vor
der Feldherrnhalle (1919)Münchner
Räterepublik
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ein langes Gespräch, und jenes Sichnachhause-
begleiten, das nächtliche Auf-und-ab-Pendeln zwischen
Reiche- und Grassistraße wurde wieder und bis tief in
die Nacht geübt.
Ich muß wohl im Café Merkur ziemlich lebhaft von
den politischen Eindrücken dieser Tage erzählt ha-
ben, denn Harms sagte spontan: »Wenn Sie in Mün-
chen sind, sollten Sie uns Berichte schreiben.« Ich
entgegnete ebenso spontan: »Dann werde ich als Ihr
A.B.-Korrespondent unterzeichnen, Abkürzung für
Antibavaricus.« Wir lachten.
POLITIK UND BOHÈME(Von unserem A.B.-Mitarbeiter)
MÜNCHEN, IM ANFANG FEBRUAR 1919
Es ist jetzt mit der Münchner Politik, wie es mit der
Münchner Kunst war; man fragt sich: Wo stecken die
Münchner oder die Bayern? In der Kunst stieß man
auf ostpreußische, auf württembergische, auf alle
möglichen Namen – und es war doch »Münchner«
Kunst. Und jetzt in der Politik? Es ist wahrhaftig un-
nötig, dem Ministerpräsidenten Galiziertum unterzu-
schieben und an seinem deutschen Namen zu zwei-
feln. Er ist ja selber geständig, ein »Preiß« zu sein
und nun gar ein Berliner.
Das Münchner Rätsel. Der Bayer ist so stolz auf
sein Volkstum, so abweisend gegen alles Fremde,
besonders gegen alles Nordische, das er gern unter
dem Sammelnamen des »Preußischen« zusammen-
faßt. Und nun regieren, jeder in seinem Kreise,
die Herren Eisner, Mühsam und Levien! Man hat das
Rätsel sehr einfach lösen wollen. Man hat von Eisner
gesagt (und auf Levien trifft ja das gleiche verstärkt
zu), er herrsche in München, weil er aufs heftigste
Berlin befehde. Das spielt ja gewiß auch
mit. Aber dennoch: beide Männer sind ja ganz
unbayerisch in ihrem Wesen und vor allem auch, was
hier von großer Wichtigkeit, in ihrem Dialekt, daß
das Antipreußentum allein die Möglichkeit ihrer
Führerrollen keineswegs bilden kann.
Nein, es ist mit der Münchner Politik wie mit der
Münchner Kunst: man braucht dazu weder gebore-
ner Bayer, noch geborener Münchner zu sein. Und
das ist mehr als ein Vergleich, das ist die gleiche Sa-
che! Hier nämlich liegt die Lösung des Rätsels. In an-
deren Revolutionen, in anderen Zeiten, an anderen
Orten tauchen die Führer von der Straße, aus Fabri-
ken, aus Redaktions- und Rechtsanwalts-Schreibstu-
ben auf. In München sind sie vielfach aus der Bohème
gekommen. Man muß nur in Betracht ziehen – und
hier liegt eine Aufgabe für den künftigen Kulturhisto-
riker und Romanschriftsteller –, daß sich der Begriff
der Bohème, daß sich ihr Umkreis während des Krie-
ges erweitert hat. Vor 1914 war man als Bohémien
Dichter oder Maler oder Journalist oder Musiker.
Auch heute ist man dies alles noch, sei es im Haupt-,
sei es im Nebenfach. Aber man ist auch Politiker,
man ist auch Nationalökonom geworden; einfacher
und deutlicher ausgedrückt: man interessiert sich
auch sehr für Schleichhandel und Schiebertum, man
interessierte sich (meist negativ) für das Verhältnis
des einzelnen zum Heer, man richtete sozusagen
sein Augenmerk allgemein auch auf die früher als
unästhetisch verpönten Dinge über dem Feuille-
tonstrich der Zeitung. Der Zusammenhang zwischen
Bohème und Politik ist hier in München der denkbar
engste. Ist nicht Eisner durchaus Bohémien, fühlt er
sich nicht als Künstler und Dichter, wie er selber ja
immer wieder betont? Von der Bohème aber verlangt
das Münchner Volk nicht, daß sie bayrisch sei; viel-
leicht ist ihr ein richtiges Münchner Blut zu schade
für diesen Kreis. Die Münchner Bohème ist eine
Fremdenlegion, erhalten zur Belustigung, zur Gaudi
des Münchener Bürgers. Und jetzt ist an die Stelle
der künstlerischen Belustigung die politische Gaudi
getreten …
»
»
»Die erste Manuskriptseite
»Revolution« von 1942
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Victor Klempererim Aufbau Verlag
Peter JacobsVictor Klemperer.Im Kern ein deutsches GewächsDie Biographie 381 Seiten€ [D] 12,95 · € [A] 13,40 ISBN 978-3-7466-1655-1
Victor KlempererMan möchte immer weinenund lachen in einemRevolutionstagebuch 1919 Bearbeitet und kommentiert von Christian LöserMit einem Geleit von Christopher Clark und einem Essay von Wolfram WetteMit etwa 16 AbbildungenEtwa 240 SeitenGebunden mit Schutzumschlag € [D] 19,95 · € [A] 20,60ISBN 978-3-351-03598-3
Victor KlempererIch will Zeugnis ablegen bis zum letztenTagebücher 1933–1945Herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig KlempererBearbeitet von Christian LöserMit etwa 16 Abbildungen2 Bde. im Schmuckschuber/ Gebunden Etwa 1648 Seiten€ [D] 39,95 · € [A] 41,10ISBN 978-3-351-03616-4
Auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Burghart Klaußner.
Auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Udo Samel
Die einzige lieferbare Biographie
» «Klemperers Tagebücher gehören
fortan zu den bleibenden Zeugnissen
deutscher Geschichte und Kultur.
Der Spiegel
Wie Hunderttausende
andere Leser habe ich Klemperers
Tagebücher verschlungen, voll der
Bewunderung für die tiefe Menschlichkeit
des Autors und die Schärfe seiner
Beobachtungen (und seiner Feder).
Christopher Clark
»«
In Kooperation mit dem