Aufbau Verlag Programmvorschau Victor Klemperer, Revolutionstagebuch 1919

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Victor Klemperer » « Klemperer ist vergleichbar mit Heine, der in seinen Artikeln über die Revolution gleich nah und gleich genau und gleich erzählmächtig ist wie Klemperer. Martin Walser © SLUB / Deutsche Fotothek, Ursula Richter, um 1928 Revolutionstagebuch 1919 Man möchte immer weinen und lachen in einem

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Victor Klemperer

» « Klemperer ist vergleichbar mit Heine, der in seinen Artikeln über die Revolution gleich nah und gleich genau und gleich erzählmächtig ist wie Klemperer.

Martin Walser

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Revolutionstagebuch 1919

Man möchte immer weinen und lachen in einem

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ein bedeutender chronist deutscher geschichte

Als Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933

bis 1945 Mitte der 1990er Jahre postum publi-

ziert wurden, war der Dresdner Romanistikprofessor,

der zunächst in einem sogenannten »Judenhaus«,

dann versteckt und auf der Flucht die Gräuel der

Nazizeit überlebt hatte, mit einem Paukenschlag

zum weit über die akademischen Fachkreise hinaus

bekannten Chronisten und menschlich bewunderten

Zeitzeugen geworden, an dem fortan kein Weg mehr

vorbeiführte. Seine Tagebücher, dieses einzigartige

Dokument des unmittelbar erlebten Alltags in Nazi-

deutschland, wurden vom Feuilleton zu Recht als

Sensation gefeiert und entfalteten eine solche

Wirkung, dass ein völlig neues Nachdenken über die

Zeit des Nationalsozialismus einsetzte. Dem ent-

sprach der beispiellose Publikumserfolg: Bis heute

haben Klemperers Werke eine Gesamtauflage von

einer halben Million Exemplaren erreicht, es gab Son-

derdrucke, Schulausgaben und eine Verfilmung.

Auch die internationale Wirkung war ungeheuer. Li-

zenzausgaben erschienen in einem Dutzend Länder.

In den USA wurde für die Übersetzung der Tagebü-

cher die bis dahin höchste Lizenzsumme für ein

deutsches Buch in Amerika erzielt.

welch eine entdeckung: die geburtsstunde des chronisten

Der vorliegende neue Fund überrascht uns mit einer

bislang völlig unbekannten Facette von Klemperers

Schaffen. Der junge Kriegsheimkehrer hat bereits

1919 eine der interessantesten Epochen der Zeitge-

schichte aus der unmittelbaren eigenen Anschauung

heraus für uns festgehalten: die Revolution von

1918/19, aus der die erste deutsche Demokratie her-

vorging – und in der sich zugleich das kommende

Unheil schon ankündigte. Wie unter einem Brenn-

glas schildert Klemperer die Monate der Münchner

Räterepublik, als das Chaos nach dem Ende des Ers-

ten Weltkriegs in vollem Ausmaß zutage trat. Sein

Revolutionstagebuch nutzt er für anderthalb Dutzend

»Zeitungsbriefe«, die er als »Antibavaricus« aus dem

besetzten München an die »Leipziger Neuesten Nach-

richten« sendet. Und schon während dieser Zeit schärft

sich der Blick des immer hellsichtigeren Chronisten zu-

nehmend auf den sich zuspitzenden Fanatismus und

Antisemitismus.

angriffslustig, meinungstark, doch stets menschlich

Mit der Direktheit des engagierten, hochgebildeten

und unabhängigen Mannes, der sich für den einzig-

artigen Anlass auf die politische Journalistik einlässt,

verfasste Victor Klemperer pointiert witzige, kluge

wie sprachlich brillante Skizzen. Er liefert uns einen

sehr nahen, eigenen Blick auf Akteure wie Ernst

Mühsam, Max Levien oder Kurt Eisner und eine vom

Standpunkt des eher konservativen Bildungsbürgers

geprägte scharfsinnige Einordnung der aktuellen Er-

eignisse. Solch genaue, anschauliche Momentaufnah-

men aus der belagerten Stadt findet man nirgendwo

sonst. Die Lücken, die diese Zeitungsbriefe lassen,

Victor Klemperervon einer ungekannten Seite

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Victor Klempererindem sie unmittelbar und anlassbezogen Tages-

ereignisse betrachten, schloss Klemperer 1942, als er

diese Epoche in seinen Lebenserinnerungen aus der

Rückschau heraus noch einmal beleuchtete. Beide

Textsorten – Zeitungsbriefe und Erinnerungen – erge-

ben nun, für diesen Band gegeneinander geschnit-

ten, ein packendes, mit Genuss zu lesendes Gesamt-

bild von diesem alles entscheidenden Wendepunkt

der jüngeren deutschen Geschichte.

die erstveröffentlichung

Zwei Drittel der Zeitungsbriefe von 1919 werden hier

erstmals zugänglich gemacht, da damals nur jeder

dritte in den »Leipziger Neuesten Nachrichten«

abgedruckt werden konnte – die anderen gelang-

ten in den Revolutionswirren zu spät an ihr Ziel

oder erreichten es nie. In Gänze erstmals veröffent-

licht werden zudem die Aufzeichnungen von 1942. Es

sind die letzten Seiten, die unter den schwierigsten

Bedingungen entstanden und eigentlich Teil eines

noch größeren Kapitels werden sollten, das Klempe-

rer nicht mehr schreiben konnte – zu groß war die

Gefahr geworden, dass die Gestapo das Manuskript

entdecken könnte. Mit dieser Erstveröffentlichung

fügt Klemperer der Essenz all dessen, was ihn schon

als Chronisten der Nazizeit auszeichnete, mit den

Zeitungsbriefen etwas ganz Eigenes, besonders Reiz-

volles hinzu und erweist sich einmal mehr als muti-

ger, moderner und uns damit ganz naher Publizist

auf der Höhe der Besten seiner Zeit. Zum

Verständnis der Epoche und ihres besten Zeugen

ist das erstmals vorliegende Revolutionstagebuch

unerlässlich.

Die sensationelle Erstveröffentlichung:

Victor Klempererüber die »wilden

Münchner Tage« 1919»1919 ist aus vielerlei

Gründen ein Jahr, das für uns

von besonderer Bedeutung ist.«

Christopher Clark

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Auszug

REVOLUTION

ENDE 1918

Was aber in diesen letzten Leipziger Wochen von ent-

scheidender Wichtigkeit für mich wurde, waren we-

der die feierlichen Augenblicke der Wahl zur Natio-

nalversammlung noch die verschiedenen Streiks,

die uns in Mitleidenschaft zogen – so fehlte zu Haus

alle Beleuchtung, und Merkur wurde vom Café zum

Asyl –, noch die Spartakuskämpfe in Berlin noch der

Sturm auf die »Leipziger Neuesten Nachrichten«.

Entscheidend wurde eine Simplicissimuskarikatur.

Da saß Erich Mühsam, den wir um 1904 beide als

harmlos gutmütigen, politisch gänzlich uninteres-

sierten Bohémien und Reimschmied in Berlin ge-

kannt hatten und der jetzt zu den radikalen Münch-

ner Politikern gehörte, auf einem roten Diwan und

ließ sich maniküren. Darunter stand: »Maniküren Sie

mir Schwielen an die Hände, ich bin jetzt Arbeiter-

rat!« – »Das paßt genau zu Ihren Erzählungen von

Eisner und vom ›Rat der geistigen Arbeiter‹«, sagte

Harms, nachdem wir genügend über das Bild gelacht

hatten. Diesmal entwickelte sich aus der Bemerkung

»

Mühsam-Karikatur im Simplicissimus vom

31. Dezember 1918: »Maniküren Sie mir Schwielen

an die Hände. Ich bin jetzt im Arbeiterrat.«

Illustration von Karl Arnold

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Einmarsch der Regierungstruppen vor

der Feldherrnhalle (1919)Münchner

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ein langes Gespräch, und jenes Sichnachhause-

begleiten, das nächtliche Auf-und-ab-Pendeln zwischen

Reiche- und Grassistraße wurde wieder und bis tief in

die Nacht geübt.

Ich muß wohl im Café Merkur ziemlich lebhaft von

den politischen Eindrücken dieser Tage erzählt ha-

ben, denn Harms sagte spontan: »Wenn Sie in Mün-

chen sind, sollten Sie uns Berichte schreiben.« Ich

entgegnete ebenso spontan: »Dann werde ich als Ihr

A.B.-Korrespondent unterzeichnen, Abkürzung für

Antibavaricus.« Wir lachten.

POLITIK UND BOHÈME(Von unserem A.B.-Mitarbeiter)

MÜNCHEN, IM ANFANG FEBRUAR 1919

Es ist jetzt mit der Münchner Politik, wie es mit der

Münchner Kunst war; man fragt sich: Wo stecken die

Münchner oder die Bayern? In der Kunst stieß man

auf ostpreußische, auf württembergische, auf alle

möglichen Namen – und es war doch »Münchner«

Kunst. Und jetzt in der Politik? Es ist wahrhaftig un-

nötig, dem Ministerpräsidenten Galiziertum unterzu-

schieben und an seinem deutschen Namen zu zwei-

feln. Er ist ja selber geständig, ein »Preiß« zu sein

und nun gar ein Berliner.

Das Münchner Rätsel. Der Bayer ist so stolz auf

sein Volkstum, so abweisend gegen alles Fremde,

besonders gegen alles Nordische, das er gern unter

dem Sammelnamen des »Preußischen« zusammen-

faßt. Und nun regieren, jeder in seinem Kreise,

die Herren Eisner, Mühsam und Levien! Man hat das

Rätsel sehr einfach lösen wollen. Man hat von Eisner

gesagt (und auf Levien trifft ja das gleiche verstärkt

zu), er herrsche in München, weil er aufs heftigste

Berlin befehde. Das spielt ja gewiß auch

mit. Aber dennoch: beide Männer sind ja ganz

unbayerisch in ihrem Wesen und vor allem auch, was

hier von großer Wichtigkeit, in ihrem Dialekt, daß

das Antipreußentum allein die Möglichkeit ihrer

Führerrollen keineswegs bilden kann.

Nein, es ist mit der Münchner Politik wie mit der

Münchner Kunst: man braucht dazu weder gebore-

ner Bayer, noch geborener Münchner zu sein. Und

das ist mehr als ein Vergleich, das ist die gleiche Sa-

che! Hier nämlich liegt die Lösung des Rätsels. In an-

deren Revolutionen, in anderen Zeiten, an anderen

Orten tauchen die Führer von der Straße, aus Fabri-

ken, aus Redaktions- und Rechtsanwalts-Schreibstu-

ben auf. In München sind sie vielfach aus der Bohème

gekommen. Man muß nur in Betracht ziehen – und

hier liegt eine Aufgabe für den künftigen Kulturhisto-

riker und Romanschriftsteller –, daß sich der Begriff

der Bohème, daß sich ihr Umkreis während des Krie-

ges erweitert hat. Vor 1914 war man als Bohémien

Dichter oder Maler oder Journalist oder Musiker.

Auch heute ist man dies alles noch, sei es im Haupt-,

sei es im Nebenfach. Aber man ist auch Politiker,

man ist auch Nationalökonom geworden; einfacher

und deutlicher ausgedrückt: man interessiert sich

auch sehr für Schleichhandel und Schiebertum, man

interessierte sich (meist negativ) für das Verhältnis

des einzelnen zum Heer, man richtete sozusagen

sein Augenmerk allgemein auch auf die früher als

unästhetisch verpönten Dinge über dem Feuille-

tonstrich der Zeitung. Der Zusammenhang zwischen

Bohème und Politik ist hier in München der denkbar

engste. Ist nicht Eisner durchaus Bohémien, fühlt er

sich nicht als Künstler und Dichter, wie er selber ja

immer wieder betont? Von der Bohème aber verlangt

das Münchner Volk nicht, daß sie bayrisch sei; viel-

leicht ist ihr ein richtiges Münchner Blut zu schade

für diesen Kreis. Die Münchner Bohème ist eine

Fremdenlegion, erhalten zur Belustigung, zur Gaudi

des Münchener Bürgers. Und jetzt ist an die Stelle

der künstlerischen Belustigung die politische Gaudi

getreten …

»

»

»Die erste Manuskriptseite

»Revolution« von 1942

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Victor Klempererim Aufbau Verlag

Peter JacobsVictor Klemperer.Im Kern ein deutsches GewächsDie Biographie 381 Seiten€ [D] 12,95 · € [A] 13,40 ISBN 978-3-7466-1655-1

Victor KlempererMan möchte immer weinenund lachen in einemRevolutionstagebuch 1919 Bearbeitet und kommentiert von Christian LöserMit einem Geleit von Christopher Clark und einem Essay von Wolfram WetteMit etwa 16 AbbildungenEtwa 240 SeitenGebunden mit Schutzumschlag € [D] 19,95 · € [A] 20,60ISBN 978-3-351-03598-3

Victor KlempererIch will Zeugnis ablegen bis zum letztenTagebücher 1933–1945Herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig KlempererBearbeitet von Christian LöserMit etwa 16 Abbildungen2 Bde. im Schmuckschuber/ Gebunden Etwa 1648 Seiten€ [D] 39,95 · € [A] 41,10ISBN 978-3-351-03616-4

Auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Burghart Klaußner.

Auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Udo Samel

Die einzige lieferbare Biographie

» «Klemperers Tagebücher gehören

fortan zu den bleibenden Zeugnissen

deutscher Geschichte und Kultur.

Der Spiegel

Wie Hunderttausende

andere Leser habe ich Klemperers

Tagebücher verschlungen, voll der

Bewunderung für die tiefe Menschlichkeit

des Autors und die Schärfe seiner

Beobachtungen (und seiner Feder).

Christopher Clark

»«

In Kooperation mit dem