Victor Klemperer LTI - Reclam Verlag · 2019. 4. 4. · Victor Klemperer (1881–1960), Sohn eines...

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Victor Klemperer LTI

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  • Victor KlempererLTI

  • Victor Klemperer (1881–1960), Sohn eines Rabbiners, wurde alsProfessor für Romanistik von den Nazis 1935 in den vorläufigenRuhestand versetzt. Während der Kriegsjahre legte er mit seinenTagebüchern den Grundstein für sein erfahrungsgesättigtes »LTI«.Mit viel Glück überlebte er als zum christlichen Glauben überge-tretener Jude mit seiner Frau den Feuersturm in Dresden und diedrohende Deportation. In der unsicheren Nachkriegszeit verfassteer sein »LTI«, das 1947 erschien und schnell Furore machte. Klem-perer lebte bis zu seinem Tode in der DDR, für die er sich nach-drücklich engagierte. Ab 1995 wurden unter dem Titel »Ich willZeugnis ablegen (1933–1945)« seine Tagebücher veröffentlicht.

  • Victor Klemperer

    LTINotizbuch eines Philologen

    Nach der Ausgabe letzter Handherausgegeben und kommentiert

    von Elke Fröhlich

    Reclam

  • RECLAM TASCHENBUCH Nr. 205202010, 2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

    Siemensstraße 32, 71254 DitzingenUmschlagabbildungen: Nürnberger Reichsparteitag 1935 | Joseph Goebbels 1934

    Druck und Bindung: CPI books GmbH,Birkstraße 10, 25917 LeckPrinted in Germany 2019

    RECLAM ist eine eingetragene Markeder Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

    ISBN 978-3-15-020520-4

    Auch als E-Book erhältlich

    www.reclam.de

    www.fsc.org

    MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

    FSC® C083411

    ®

  • Inhalt

    Heroismus (Statt eines Vorwortes) . . . . . . . . . . . . . . 9

    I LTI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19II Vorspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

    III Grundeigenschaft: Armut . . . . . . . . . . . . . . . 29IV Partenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35V Aus dem Tagebuch des ersten Jahres . . . . . . . . . 40

    VI Die drei ersten Wörter nazistisch . . . . . . . . . . 53VII Aufziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

    VIII Zehn Jahre Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . 62IX Fanatisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70X Autochthone Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 76

    XI Grenzverwischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80XII Interpunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

    XIII Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89XIV Kohlenklau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100XV Knif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

    XVI An einem einzigen Arbeitstag . . . . . . . . . . . . 110XVII System und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . 114

    XVIII Ich glaube an ihn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120XIX Familienanzeigen als kleines Repetitorium

    der LTI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138XX Was bleibt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

    XXI Die deutsche Wurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . 148XXII Sonnige Weltanschauung (aus Zufallslektüre) . . . . 162

    XXIII Wenn zwei dasselbe tun … . . . . . . . . . . . . . . 169XXIV Café Europe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180XXV Der Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

    XXVI Der jüdische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194XXVII Die jüdische Brille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

  • 6 Inhalt

    XXVIII Die Sprache des Siegers . . . . . . . . . . . . . . . 213XXIX Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225XXX Der Fluch des Superlativs . . . . . . . . . . . . . . 241

    XXXI Aus dem Zug der Bewegung … . . . . . . . . . . . 252XXXII Boxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

    XXXIII Gefolgschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265XXXIV Die eine Silbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276XXXV Die Wechselbrause . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

    XXXVI Die Probe aufs Exempel . . . . . . . . . . . . . . . 290

    »Wejen Ausdrücken« (Ein Nachwort) . . . . . . . . . . . . 318

    Anhang

    Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

  • MEINER FRAU EVA KLEMPERER

    Schon vor zwanzig Jahren schrieb ich Dir, liebe Eva, vor dieWidmung einer Studiensammlung, von einer Widmung imüblichen Sinn eines Geschenkes könne von mir zu Dir keineRede sein, da Du an sich schon Miteigentümerin meiner Bü-cher seiest, die durchweg das Ergebnis einer geistigen Güter-gemeinschaft darstellten. Das ist nun bis heute so geblieben.

    Aber diesmal liegen die Dinge noch etwas anders als bei allmeinen früheren Veröffentlichungen, diesmal bin ich nochviel weniger zu einer Widmung an Dich berechtigt und un-vergleichlich mehr zu ihr verpflichtet als damals, da wir infriedlichen Zeiten Philologie trieben. Denn ohne Dich wäreheute dieses Buch nicht vorhanden und auch längst nichtmehr sein Schreiber.

    Es würde vieler und intimer Seiten bedürfen, wollte ichdas im einzelnen erklären. Nimm statt dessen die allgemeineReflexion des Philologen und Pädagogen am Eingang dieserSkizzen. Du weißt es, und ein Blinder muß es mit dem Stockfühlen, an wen ich denke, wenn ich vor meinen Hörern überHeroismus spreche.

    Dresden, Weihnachten 1946

    VICTOR KLEMPERER

  • Spracheist mehr als Blut

    Franz Rosenzweig

  • Heroismus

    Statt eines Vorwortes

    Die Sprache des Dritten Reiches hat aus neuen Bedürfnissen herausder distanzierenden Vorsilbe ent einigen Zuwachs zuteil werdenlassen (wobei es jedesmal dahingestellt bleibt, ob es sich um völligeNeuschöpfung handelt oder um die Übernahme in Fachkreisen be-reits bekannter Ausdrücke in die Sprache der Allgemeinheit). Fen-ster mußten vor der Fliegergefahr verdunkelt werden, und so ergabsich die tägliche Arbeit des Entdunkelns. Hausböden durften beiDachbränden den Löschenden kein Gerümpel in den Weg stellen,sie wurden entrümpelt. Neue Nahrungsquellen mußten erschlos-sen werden: die bittere Roßkastanie wurde entbittert …

    Zur umfassenden Bezeichnung der notwendigsten Gegenwarts-aufgabe hat man eine analog gebildete Wortform allgemein einge-führt: am Nazismus ist Deutschland fast zugrunde gegangen; dasBemühen, es von dieser tödlichen Krankheit zu heilen, nennt sichheute Entnazifizierung. Ich wünsche nicht und glaube auch nicht,daß das scheußliche Wort ein dauerndes Leben behält; es wird ver-sinken und nur noch ein geschichtliches Dasein führen, sobald sei-ne Gegenwartspflicht erfüllt ist.

    Der zweite Weltkrieg hat uns mehrfach diesen Vorgang gezeigt,wie ein eben noch überlebendiger und scheinbar zu nie mehr aus-rottbarer Existenz bestimmter Ausdruck plötzlich verstummt: erist versunken mit der Lage, die ihn erzeugte, er wird später einmalZeugnis von ihr ablegen wie eine Versteinerung. So ist es demBlitzkrieg ergangen und dem ihm zugeordneten Adjektiv schlagar-tig, so den Vernichtungsschlachten und den dazugehörigen Einkes-selungen, so auch dem »wandernden Kessel« – er bedarf schonheute der Kommentierung, daß es sich um den verzweifeltenRückzugsversuch eingekesselter Divisionen handelte –, so dem

  • 10 Heroismus (Statt eines Vorwortes)

    Nervenkrieg, so schließlich gar dem Endsieg. Der Landekopf lebtevom Frühjahr bis zum Sommer 1944, er lebte noch, als er schon zuunförmlicher Größe angeschwollen war; aber dann, als Paris gefal-len, als ganz Frankreich zum Landekopf geworden, dann war esplötzlich durchaus vorbei mit ihm, und erst im Geschichtsunter-richt späterer Zeiten wird seine Versteinerung wieder auftauchen.

    Und so wird es auch mit dem schwerstwiegenden Entschei-dungswort unserer Übergangsepoche gehen: eines Tages wird dasWort Entnazifizierung versunken sein, weil der Zustand, den esbeenden sollte, nicht mehr vorhanden ist.

    Aber eine ganze Weile wird es bis dahin noch dauern, denn zuverschwinden hat ja nicht nur das nazistische Tun, sondern auchdie nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung undihr Nährboden: die Sprache des Nazismus.

    Wie viele Begriffe und Gefühle hat sie geschändet und vergiftet!Am sogenannten Abendgymnasium der Dresdener Volkshoch-schule und in den Diskussionen, die der Kulturbund mit der Frei-en Deutschen Jugend veranstaltete, ist mir oft und oft aufgefallen,wie die jungen Leute in aller Unschuld und bei aufrichtigem Be-mühen, die Lücken und Irrtümer ihrer vernachlässigten Bildungauszufüllen, an den Gedankengängen des Nazismus festhalten. Siewissen es gar nicht; der beibehaltene Sprachgebrauch der abgelau-fenen Epoche verwirrt und verführt sie. Wir redeten über den Sinnder Kultur, der Humanität, der Demokratie, und ich hatte denEindruck, es werde schon Licht, es kläre sich schon manches inden gutwilligen Köpfen – und dann, das lag ja so unvermeidlichnah, sprach irgend jemand von irgendeinem heldischen Verhaltenoder einem heroischen Widerstand oder von Heroismus über-haupt. Im selben Augenblick, wo dieser Begriff im geringsten insSpiel kam, war alle Klarheit verschwunden, und wir staken wiedertief im Gewölk des Nazismus. Und nicht nur die jungen Men-schen, die eben aus dem Felde und der Gefangenschaft zurückge-kehrt waren und sich nicht genug berücksichtigt, geschweige denngefeiert sahen, nein, auch Mädchen, die keinen Heeresdienst getanhatten, waren völlig befangen in der fragwürdigsten Auffassung

  • Heroismus (Statt eines Vorwortes) 11

    des Heldentums. Außer Frage stand dabei nur, daß man nun dochunmöglich ein wirklich richtiges Verhältnis zum Wesen der Huma-nität, der Kultur und der Demokratie haben konnte, wenn manderart über Heldentum dachte oder, genauer gesagt, an ihm vor-beidachte.

    Aber in welchen Zusammenhängen war denn dieser Generation,die 1933 noch kaum über das Abc hinaus gewesen, das Wort hero-isch mit seinem ganzen Sippenzubehör ausschließlich entgegen-getreten? Darauf war vor allem zu antworten, daß es immer inUniform gesteckt hatte, in drei verschiedenen Uniformen, aber niein Zivil.

    Wo Hitlers Kampfbuch allgemeine Richtlinien der Erziehungaufstellt, da steht das Körperliche weitaus im Vordergrund. Er liebtden Ausdruck »körperliche Ertüchtigung«, den er dem Lexikonder Weimarischen Konservativen entnommen hat, er preist dieWilhelminische Armee als die einzige gesunde und lebenspendendeEinrichtung eines im übrigen verfaulenden Volkskörpers, und ersieht im Heeresdienst vor allem oder ausschließlich eine Erziehungzu körperlicher Leistungsfähigkeit. Die Ausbildung des Charaktersnimmt für Hitler ausdrücklich nur die zweite Stelle ein; nach sei-ner Meinung ergibt sie sich mehr oder minder von selber, wenneben das Körperliche die Erziehung beherrscht und das Geistigezurückdrängt. An letzter Stelle aber, und nur widerwillig zugelas-sen und verdächtigt und geschmäht, steht in diesem pädagogischenProgramm die Ausbildung des Intellekts und seine Versorgung mitWissensstoff. In immer neuen Wendungen gibt sich die Angst vordem denkenden Menschen, der Haß auf das Denken zu erkennen.Wenn Hitler von seinem Aufstieg, seinen ersten großen Versamm-lungserfolgen berichtet, dann rühmt er nicht weniger als die eigeneRednergabe die Kampftüchtigkeit seiner Ordnungsmänner, aus de-ren kleiner Gruppe sich bald die SA entwickelt. Die »braunenSturmabteilungen«, deren Aufgabe eine rein brachiale ist, die überpolitische Gegner innerhalb der Versammlung herzufallen und sieaus dem Saal zu treiben haben: das sind seine eigentlichen Helferim Ringen um das Herz des Volkes, das sind seine ersten Helden,

  • 12 Heroismus (Statt eines Vorwortes)

    die er als blutüberströmte Besieger feindlicher Übermacht, als dievorbildlichen Heroen historischer Saalschlachten schildert. Undähnliche Schilderungen und gleiche Gesinnung und gleiches Voka-bular finden sich, wo Goebbels seinen Kampf um Berlin erzählt.Nicht der Geist ist Sieger, es geht nicht ums Überzeugen, nichteinmal die Übertölpelung mit den Mitteln der Rhetorik bringt dieletzte Entscheidung zugunsten der neuen Lehre, sondern das Hel-dentum der frühesten SA-Männer, der »alten Kämpfer«.

    Wobei sich mir Hitlers und Goebbels’ Berichte ergänzen durchdie fachliche Unterscheidung unserer Freundin, die damals Assi-stenzärztin im Krankenhaus eines sächsischen Industrienestes war.»Wenn wir am Abend nach den Versammlungen die Verletztenhereinbekamen«, erzählte sie oft, »dann wußte ich sofort, welcherPartei jeder angehörte, auch wenn er schon ausgekleidet im Bettlag: die mit der Kopfwunde vom Bierseidel oder Stuhlbein warenNazis, und die mit dem Stilettstich in der Lunge waren Kommuni-sten.« Im Punkte des Ruhms verhält es sich mit der SA wie mit deritalienischen Literatur, beide Male fällt der höchste, nie wieder zugleicher Intensität erstarkte Glanz auf die Anfänge.

    Die zeitlich zweite Uniform, in der nazistisches Heldentum auf-tritt, ist die Vermummung des Rennfahrers, sind sein Sturzhelm,seine Brillenmaske, seine dicken Handschuhe. Der Nazismus hatalle Sportarten gepflegt, und rein sprachlich ist er von allen andernzusammen nicht derart beeinflußt wie vom Boxen; aber das ein-prägsamste und häufigste Bild des Heldentums liefert in der Mitteder dreißiger Jahre der Autorennfahrer: nach seinem Todessturzsteht Bernd Rosemeyer eine Zeitlang fast gleichwertig mit HorstWessel vor den Augen der Volksphantasie. (Anmerkung für meineHochschulkollegen: über wechselseitige Beziehungen zwischenGoebbels’ Stil und dem Erinnerungsbuch der Fliegerin Elly Bein-horn: »Mein Mann, der Rennfahrer« lassen sich die interessantestenSeminaruntersuchungen anstellen.) Eine Zeitlang sind die Sieger iminternationalen Autorennen, hinter dem Lenkrad ihres Kampfwa-gens oder an ihn gelehnt oder auch unter ihm begraben, diemeistphotographierten Tageshelden. Wenn der junge Mensch sein

  • Heroismus (Statt eines Vorwortes) 13

    Heldenbild nicht von den muskelbeladenen nackten oder in SA-Uniform steckenden Kriegergestalten der Plakate und Denkmün-zen dieser Tage abnimmt, dann gewiß von den Rennfahrern; ge-meinsam ist beiden Heldenverkörperungen der starre Blick, in demsich vorwärtsgerichtete harte Entschlossenheit und Eroberungs-wille ausdrücken.

    An die Stelle des Rennkampfwagens tritt von 1939 an der Tank,an die Stelle des Rennfahrers der Panzerfahrer. (So nannte derLandser nicht nur den Mann am Steuer, sondern auch die Panzer-grenadiere.) Seit dem ersten Kriegstag und nun bis zum Untergangdes Dritten Reichs trägt alles Heldentum zu Wasser, zu Lande undin der Luft militärische Uniform. Im ersten Weltkrieg gab es nochein ziviles Heldentum hinter der Front. Wie lange gibt es jetzt nochein Hinter-der-Front? Wie lange noch ein ziviles Dasein? Die Lehrevom totalen Krieg wendet sich fürchterlich gegen ihre Urheber:alles ist Kriegsschauplatz, in jeder Fabrik, in jedem Keller bewährtman militärisches Heldentum, sterben Kinder und Frauen undGreise genau den gleichen heroischen Schlachtentod, oft genug so-gar in genau der gleichen Uniform, wie sich das sonst nur für jungeSoldaten des Feldheeres schickte oder zustande bringen ließ.

    Durch zwölf Jahre ist der Begriff und ist der Wortschatz desHeroischen in steigendem Maße und immer ausschließlicher aufkriegerischen Mut, auf verwegene todverachtende Haltung in ir-gendeiner Kampfhandlung angewandt worden. Nicht umsonst hatdie Sprache des Nazismus das neue und seltene Adjektiv neu-romantischer Ästheten: »kämpferisch« in allgemeinen Umlauf ge-setzt und zu einem ihrer Lieblingsworte gemacht. Kriegerisch warzu eng, ließ nur an die Dinge des Krieges denken, war wohl auchzu offenherzig, verriet Streitlust und Eroberungssucht. Dagegenkämpferisch! Es bezeichnet in einer allgemeineren Weise die ange-spannte, in jeder Lebenslage auf Selbstbehauptung durch Abwehrund Angriff gerichtete, zu keinem Verzicht geneigte Haltung desGemütes, des Willens. Der Mißbrauch, den man mit dem Kämpfe-rischen getrieben hat, paßt genau zu dem übermäßigen Verschleißan Heroismus bei schiefer und falscher Verwendung des Begriffes.

  • 14 Heroismus (Statt eines Vorwortes)

    »Aber Sie tun uns wirklich Unrecht, Herr Professor! Uns – da-mit meine ich nicht die Nazis, ich bin keiner. Doch im Feld warich, mit ein paar Unterbrechungen, die ganzen Jahre über. Ist esnicht natürlich, daß in Kriegszeiten besonders viel von Heldentumgesprochen wird? Und wieso muß es ein falsches Heldentum sein,das da an den Tag gelegt wird?«

    »Zum Heldentum gehört nicht nur Mut und Aufsspielsetzen deseigenen Lebens. So etwas bringt jeder Raufbold und jeder Verbre-cher auf. Der Heros ist ursprünglich ein Vollbringer menschheits-fördernder Taten. Ein Eroberungskrieg, und nun gar ein mit sovielGrausamkeit geführter wie der Hitlerische, hat nichts mit Herois-mus zu tun.«

    »Aber es hat doch unter meinen Kameraden so viele gegeben,die nicht an Grausamkeiten beteiligt und die der festen Überzeu-gung waren – man hatte es uns ja nie anders dargestellt –, daß wir,auch im Angreifen und Erobern, nur einen Verteidigungskriegführten, und daß es auch zum Heil der Welt sein würde, wenn wirsiegten. Die wahre Sachlage haben wir erst viel später und allzuspät erkannt … Und glauben Sie nicht, daß auch im Sport wirkli-ches Heldentum entwickelt werden kann, daß eine Sportleistung inihrer Vorbildlichkeit menschheitsfördernd zu wirken vermag?«

    »Gewiß ist das möglich, und sicherlich hat es auch in Nazi-deutschland unter den Sportlern und den Soldaten gelegentlichwirkliche Helden gegeben. Nur im ganzen stehe ich dem Helden-tum gerade dieser beiden Berufsgruppen skeptisch gegenüber. Esist beides zu lautes, zu gewinnbringendes, die Eitelkeit zu sehr be-friedigendes Heldentum, als daß es häufig echt sein könnte. Gewiß,diese Rennfahrer waren buchstäbliche Industrieritter, ihre halsbre-cherischen Fahrten sollten den deutschen Fabriken und damit demVaterland zugute kommen, und vielleicht sollten sie sogar der All-gemeinheit Nutzen tragen, indem sie zur Vervollkommnung desAutobaus Erfahrungen beisteuerten. Aber es war doch soviel Eitel-keit, soviel Gladiatorengewinn im Spiel! Und was bei den Rennfah-rern die Kränze und Preise, das sind bei den Soldaten die Ordenund Beförderungen. Nein, ich glaube in den seltensten Fällen an

  • Heroismus (Statt eines Vorwortes) 15

    Heroismus, wo er sich in aller Öffentlichkeit laut betätigt, und woer sich im Fall des Erfolges gar zu gut bezahlt macht. Heroismus istum so reiner und bedeutender, je stiller er ist, je weniger Publikumer hat, je weniger rentabel er für den Helden selber, je weniger de-korativ er ist. Was ich dem Heldenbegriff des Nazismus vorwerfe,ist gerade sein ständiges Gekettetsein an das Dekorative, ist dasPrahlerische seines Auftretens. Ein anständiges, echtes Heldentumhat der Nazismus offiziell überhaupt nicht gekannt. Und dadurchhat er den ganzen Begriff verfälscht und in Mißkredit gebracht.«

    »Sprechen Sie stilles und echtes Heldentum den Hitlerjahrenüberhaupt ab?«

    »Den Hitlerjahren nicht – im Gegenteil, die haben reinsten He-roismus gezeitigt, aber auf der Gegenseite sozusagen. Ich denke andie vielen Tapferen in den KZ, an die vielen verwegenen Illegalen.Da waren die Todesgefahren, waren die Leiden noch ungleich grö-ßer als an den Fronten, und aller Glanz des Dekorativen fehlte sogänzlich! Es war nicht der vielgerühmte Tod auf dem ›Felde derEhre‹, den man vor Augen hatte, sondern günstigstenfalls der Toddurch die Guillotine. Und doch – wenn auch das Dekorative fehlteund dieses Heldentum fraglos echt war, eine innere Stütze und Er-leichterung haben diese Helden doch auch besessen: auch sie wuß-ten sich die Angehörigen einer Armee, sie hatten den festen undwohlbegründeten Glauben an den schließlichen Sieg ihrer Sache,sie konnten den stolzen Glauben mit ins Grab nehmen, daß ihrName irgendwann einmal um so ruhmreicher auferstehen werde,je schmachvoller man sie jetzt hinmordete.

    Aber ich weiß von einem noch viel trostloseren, noch viel stille-ren Heldentum, von einem Heroismus, dem jede Stütze der Ge-meinsamkeit mit einem Heer, einer politischen Gruppe, dem jedeHoffnung auf künftigen Glanz durchaus abging, der ganz und garauf sich allein gestellt war. Das waren die paar arischen Ehefrauen(allzu viele sind es nicht gewesen), die jedem Druck, sich von ihrenjüdischen Ehemännern zu trennen, standgehalten hatten. Wie hatder Alltag dieser Frauen ausgesehen! Welche Beschimpfungen,Drohungen, Schläge, Bespuckungen haben sie erlitten, welche Ent-

  • 16 Heroismus (Statt eines Vorwortes)

    behrungen, wenn sie die normale Knappheit ihrer Lebensmittel-karten mit ihren Männern teilten, die auf die unternormale Ju-denkarte gestellt waren, wo ihre arischen Fabrikkameraden die Zu-lagen der Schwerarbeiter erhielten. Welchen Lebenswillen mußtensie aufbringen, wenn sie krank lagen von all der Schmach undqualvollen Jämmerlichkeit, wenn die vielen Selbstmorde in ihrerUmgebung verlockend auf die ewige Ruhe vor der Gestapo hin-wiesen! Sie wußten, ihr Tod werde den Mann unweigerlich hintersich herzerren, denn der jüdische Ehegatte wurde von der nochwarmen Leiche der arischen Frau weg ins mörderische Exil trans-portiert. Welcher Stoizismus, welch ein Aufwand an Selbstdiszi-plin war nötig, den Übermüdeten, Geschundenen, Verzweifeltenimmer wieder und wieder aufzurichten. Im Granatfeuer desSchlachtfeldes, im Schuttgeriesel des nachgebenden Bombenkel-lers, selbst im Anblick des Galgens gibt es noch die Wirkung einespathetischen Moments, das stützend wirkt – aber in dem zermür-benden Ekel des schmutzigen Alltags, dem unabsehbar viele gleichschmutzige Alltage folgen werden, was hält da aufrecht? Und hierstark zu bleiben, so stark, daß man es dem andern immerfort pre-digen und es ihm immer wieder aufzwingen kann, die Stunde wer-de kommen, es sei Pflicht, sie zu erwarten, so stark zu bleiben, woman ganz auf sich allein angewiesen ist in gruppenloser Vereinze-lung, denn das Judenhaus bildet keine Gruppe trotz seines gemein-samen Feindes und Schicksals und trotz seiner Gruppensprache:das ist Heroismus über jeglichem Heldentum.

    Nein: den Hitlerjahren hat es wahrhaftig nicht an Heldentum ge-fehlt, aber im eigentlichen Hitlerismus, in der Gemeinschaft derHitlerianer hat es nur einen veräußerlichten, einen verzerrten undvergifteten Heroismus gegeben, man denkt an protzige Pokale undOrdensgeklingel, man denkt an geschwollene Worte der Beweih-räucherung, man denkt an erbarmungsloses Morden …«

    Gehört die Sippe der Heldentumsworte in die LTI? Eigentlichja, denn sie sind dicht gesät und charakterisieren überall spezifi-sche Verlogenheit und Roheit des Nazistischen. Auch sind sie engverknotet worden mit den Lobpreisungen der germanischen Aus-

  • Heroismus (Statt eines Vorwortes) 17

    erwähltheit: alles Heroische war einzig der germanischen Rassezugehörig. Und eigentlich nein; denn alle Verzerrungen und Ver-äußerlichungen haben dieser tönenden Wortsippe schon oft genugvor dem Dritten Reich angehaftet. So mag sie hier im Randgebietdes Vorworts erwähnt sein.

    Eine Wendung freilich muß als spezifisch nazistisch gebuchtwerden. Schon um des Trostes willen, der von ihr ausging. Im De-zember 1941 kam Paul K. einmal strahlend von der Arbeit. Er hat-te unterwegs den Heeresbericht gelesen. »Es geht ihnen miserabelin Afrika«, sagte er. Ob sie das wirklich zugäben, fragte ich – sieberichteten doch sonst immer nur von Siegen.

    »Sie schreiben: ›Unsere heldenhaft kämpfenden Truppen.‹ Hel-denhaft klingt wie Nachruf, verlassen Sie sich darauf.«

    Seitdem hat heldenhaft in den Bulletins noch viele, viele Malewie Nachruf geklungen und niemals getäuscht.

  • 18 Heroismus (Statt eines Vorwortes)

  • LTI 19

    I

    LTI

    Es gab den BDM und die HJ und die DAF und ungezählte anderesolcher abkürzenden Bezeichnungen.

    Als parodierende Spielerei zuerst, gleich darauf als ein flüchtigerNotbehelf des Erinnerns, als eine Art Knoten im Taschentuch, undsehr bald und nun für all die Elendsjahre als eine Notwehr, als einan mich selber gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in mei-nem Tagebuch. Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das DritteReich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte:Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanterals schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und aufden wirkt es dann erst recht.)

    LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs. Ich habeso oft an eine Alt-Berliner Anekdote gedacht, wahrscheinlichstand sie in meinem schönillustrierten Glaßbrenner, dem Humori-sten der Märzrevolution – aber wo ist meine Bibliothek geblieben,in der ich nachsehen könnte? Ob es Zweck hätte, sich bei der Ge-stapo nach ihrem Verbleib zu erkundigen? … »Vater«, fragt alsoein Junge im Zirkus, »was macht denn der Mann auf dem Seil mitder Stange?« – »Dummer Junge, das ist eine Balancierstange, ander hält er sich fest.« – »Au, Vater, wenn er sie aber fallen läßt?« –»Dummer Junge, er hält ihr ja fest!«

    Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balan-cierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stun-den des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Ödemechanischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, anGräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach,bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forde-rung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was ge-schieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du esschon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.Und sehr bald verdichtete sich dann dieser Anruf, mich über die Si-

  • 20 LTI

    tuation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren, zu der im-mer wirksamen Geheimformel: LTI, LTI!

    Selbst wenn ich, was nicht der Fall ist, die Absicht hätte, das ganzeTagebuch dieser Zeit mit all seinen Alltagserlebnissen zu veröffentli-chen, würde ich ihm dieses Signum zum Titel geben.

    Man könnte das metaphorisch nehmen. Denn ebenso wie es üb-lich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genau sowird der Ausdruck einer Epoche als ihre Sprache bezeichnet. DasDritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus allseinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlo-sen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus demTyp der Soldaten, der SA- und SS-Männer, die es als Idealgestaltenauf immer andern und immer gleichen Plakaten fixierte, aus seinenAutobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des DrittenReichs, und von alledem ist natürlich auch in diesen Blättern dieRede. Aber wenn man einen Beruf durch Jahrzehnte ausgeübt undsehr gern ausgeübt hat, dann ist man schließlich stärker durch ihngeprägt als durch alles andere, und so war es denn buchstäblich undim unübertragen philologischen Sinn die Sprache des DrittenReichs, woran ich mich aufs engste klammerte, und was meine Ba-lancierstange ausmachte über die Öde der zehn Fabrikstunden, dieGreuel der Haussuchungen, Verhaftungen, Mißhandlungen usw.usw. hinweg.

    Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazuda, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und frag-würdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Ge-genteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will,sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußtin sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auchder Sinn der Sentenz: le style c’est l’homme; die Aussagen einesMenschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt seinWesen hüllenlos offen.

    Es ist mir merkwürdig ergangen mit dieser eigentlichen (philolo-gisch eigentlichen) Sprache des Dritten Reichs.

    Ganz im Anfang, solange ich noch keine oder doch nur sehr ge-

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    linde Verfolgung erfuhr, wollte ich so wenig als möglich von ihr hö-ren. Ich hatte übergenug an der Sprache der Schaufenster, der Pla-kate, der braunen Uniformen, der Fahnen, der zum Hitlergruß ge-reckten Arme, der zurechtgestutzten Hitlerbärtchen. Ich flüchtete,ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen undübersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir,ich arbeitete mit aller Anspannung an meinem Achtzehnten Jahr-hundert der französischen Literatur. Warum mir durch das Lesennazistischer Schriften das Leben noch weiter vergällen, als es mir oh-nehin durch die allgemeine Situation vergällt war? Kam mir durchZufall oder Irrtum ein nazistisches Buch in die Hände, so warf ich esnach dem ersten Abschnitt beiseite. Grölte irgendwo auf der Straßedie Stimme des Führers oder seines Propagandaministers, so machteich einen weiten Bogen um den Lautsprecher, und bei der Zeitungs-lektüre war ich ängstlich bemüht, die nackten Tatsachen – sie warenin ihrer Nacktheit schon trostlos genug – aus der ekelhaften Brüheder Reden, Kommentare und Artikel herauszufischen. Als dann dieBeamtenschaft gereinigt wurde und ich mein Katheder verlor, such-te ich mich erst recht von der Gegenwart abzuschließen. Die so un-modernen und längst von jedem, der etwas auf sich hielt, geschmäh-ten Aufklärer, die Voltaire, Montesquieu und Diderot, waren immermeine Lieblinge gewesen. Nun konnte ich meine gesamte Zeit undArbeitskraft an mein weit fortgeschrittenes Opus wenden; was dasachtzehnte Jahrhundert anlangt, saß ich ja im Dresdener JapanischenPalais wie die Made im Speck; keine deutsche, kaum die Pariser Na-tionalbibliothek selber hätte mich besser versorgen können.

    Aber dann traf mich das Verbot der Bibliotheksbenutzung, unddamit war mir die Lebensarbeit aus der Hand geschlagen. Unddann kam die Austreibung aus meinem Hause, und dann kam allesÜbrige, jeden Tag ein weiteres Übriges. Jetzt wurde die Balancier-stange mein notwendigstes Gerät, die Sprache der Zeit mein vor-züglichstes Interesse.

    Ich beobachtete immer genauer, wie die Arbeiter in der Fabrikredeten, und wie die Gestapobestien sprachen, und wie man sichbei uns im Zoologischen Garten der Judenkäfige ausdrückte. Es

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    waren keine großen Unterschiede zu merken; nein, eigentlichüberhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutz-nießer und Opfer, von denselben Vorbildern geleitet.

    Ich suchte dieser Vorbilder habhaft zu werden, und das war ingewisser Hinsicht über alle Maßen einfach, denn alles, was inDeutschland gedruckt und geredet wurde, war ja durchaus partei-amtlich genormt; was irgendwie von der einen zugelassenen Formabwich, drang nicht an die Öffentlichkeit; Buch und Zeitung undBehördenzuschrift und Formulare einer Dienststelle – allesschwamm in derselben braunen Sauce, und aus dieser absolutenEinheitlichkeit der Schriftsprache erklärte sich denn auch dieGleichheit aller Redeform.

    Aber wenn das Heranziehen der Vorbilder für tausend andereein Kinderspiel bedeutet hätte, so war es doch für mich ungemeinschwer und immer gefährlich und manchmal ganz und gar unmög-lich. Kaufen, auch Ausleihen jeder Art von Buch, Zeitschrift undZeitung war dem Sternträger verboten. Was man heimlich im Haushatte, bedeutete Gefahr und wurde unter Schränken und Teppi-chen, auf Öfen und Gardinenhaltern versteckt oder beim Kohlen-vorrat als Anheizmaterial aufbewahrt. Derartiges half natürlichnur, wenn man Glück hatte.

    Nie, in meinem ganzen Leben nie, hat mir der Kopf so von ei-nem Buche gedröhnt wie von Rosenbergs Mythus. Nicht etwa,weil er eine so ausnehmend tiefsinnige, schwer zu begreifendeoder seelisch erschütternde Lektüre bedeutete, sondern weil mirClemens den Band minutenlang auf den Kopf hämmerte. (Cle-mens und Weser waren die besonderen Folterknechte der Dresde-ner Juden, man unterschied sie allgemein als den Schläger und denSpucker.) »Wie kannst du Judenschwein dich unterstehen, ein sol-ches Buch zu lesen?« brüllte Clemens. Ihm schien das eine ArtHostienentweihung. »Wie kannst du es überhaupt wagen, einWerk aus der Leihbibliothek hier zu haben?« Nur daß der Bandnachweislich auf den Namen der arischen Ehefrau ausgeliehenwar, und freilich auch, daß das dazugehörige Notizblatt unentzif-fert zerrissen wurde, rettete mich damals vor dem KZ.

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    Alles Material mußte auf Schleichwegen herangeschafft, mußteheimlich ausgebeutet werden. Und wie vieles konnte ich mir aufkeine Weise beschaffen! Denn wo ich ins Wurzelwerk einer Fra-ge einzudringen suchte, wo ich, kurz gesagt, fachwissenschaftli-ches Arbeitsmaterial brauchte, da ließen mich die Leihbüchereienim Stich, und die öffentlichen Bibliotheken waren mir ja ver-schlossen.

    Vielleicht denkt mancher, Fachkollegen oder ältere Schüler, dieinzwischen zu Ämtern gekommen waren, hätten mir aus dieserNot helfen, sie hätten sich für mich als Mittelsmänner in denLeihverkehr einschalten können. Du lieber Gott! das wäre ja eineTat persönlichen Mutes, persönlicher Gefährdung gewesen. Esgibt einen hübschen altfranzösischen Vers, den ich oft vom Kathe-der herab zitiert, aber erst später, in der kathederlosen Zeit, wirk-lich nachgefühlt habe. Ein ins Unglück geratener Dichter gedenktwehmütig der zahlreichen amis que vent emporte, et il ventait de-vant ma porte, »der Freunde, die der Wind davonjagt, und windigwar’s vor meiner Tür«. Doch ich will nicht ungerecht sein: ichhabe treue und tapfere Freunde gefunden, nur waren eben nichtgerade engere Fachkollegen oder Berufsnachbarn darunter.

    So stehen denn in meinen Notizen und Exzerpten immer wiederBemerkungen wie: Später feststellen! … Später ergänzen! … Späterbeantworten! … Und dann, als die Hoffnung auf das Erleben die-ses Später sinkt: das müßte später ausgeführt werden …

    Heute, wo dies Später noch nicht völlige Gegenwart ist, aber esdoch in dem Augenblick sein wird, da wieder Bücher aus demSchutt und der Verkehrsnot auftauchen (und da man mit gutemGewissen aus der Vita activa des Mitbauenden in die Studierstubezurückkehren darf), heute weiß ich, daß ich nun doch nicht im-stande sein werde, meine Beobachtungen, meine Reflexionen undFragen zur Sprache des Dritten Reichs aus dem Zustand des Skiz-zenhaften in den eines geschlossenen wissenschaftlichen Werkeshinüberzuführen.

    Dazu würde mehr Wissen und wohl auch mehr Lebenszeit ge-hören, als mir, als (vorderhand) irgendeinem Einzelnen zur Verfü-

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    gung stehen. Denn es wird sehr viel Facharbeit auf verschiedenstenGebieten zu leisten sein, Germanisten und Romanisten, Anglistenund Slawisten, Historiker und Nationalökonomen, Juristen undTheologen, Techniker und Naturwissenschaftler werden in Exkur-sen und ganzen Dissertationen sehr viele Einzelprobleme zu lösenhaben, ehe ein mutiger und umfassender Kopf es wagen darf, dieLingua Tertii Imperii in ihrer Gesamtheit, der allerarmseligstenund allerreichhaltigsten Gesamtheit, darzustellen. Aber ein erstesHerumtasten und Herumfragen an Dingen, die sich noch nichtfixieren lassen, weil sie noch im Fließen sind, die Arbeit der erstenStunde, wie die Franzosen so etwas nennen, wird doch für die da-nach kommenden eigentlichen Forscher immer seinen Wert haben,und ich glaube, es wird ihnen auch von Wert sein, ihr Objekt imZustand einer halb vollzogenen Metamorphose zu sehen, halb alskonkreten Erlebnisbericht und halb schon in die Begrifflichkeitder wissenschaftlichen Betrachtung eingegangen.

    Doch wenn dies die Absicht meiner Veröffentlichung ist, warumgebe ich dann das Notizbuch des Philologen nicht ganz so wieder,wie es sich aus dem privateren und allgemeineren Tagebuch derschweren Jahre herausschälen läßt? Warum ist dies und jenes in ei-nem Überblick zusammengefaßt, warum hat sich zum Gesichts-punkt des Damals so häufig der Gesichtspunkt des Heute, der er-sten Nachhitlerzeit gesellt?

    Ich will das genau beantworten. Weil eine Tendenz im Spiel ist,weil ich mit dem wissenschaftlichen Zweck zugleich einen erziehe-rischen verfolge.

    Es wird jetzt soviel davon geredet, die Gesinnung des Faschis-mus auszurotten, es wird auch soviel dafür getan. Kriegsverbrecherwerden gerichtet, »kleine PG.s« (Sprache des Vierten Reichs!) ausihren Ämtern entfernt, nationalistische Bücher aus dem Verkehrgezogen, Hitlerplätze und Göringstraßen umbenannt, Hitler-Ei-chen gefällt. Aber die Sprache des Dritten Reichs scheint in man-chen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie habensich so tief eingefressen, daß sie ein dauernder Besitz der deutschenSprache zu werden scheinen. Wie viele Male zum Exempel habe

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    ich seit dem Mai 1945 in Funkreden, in leidenschaftlich antifaschi-stischen Kundgebungen etwa von »charakterlichen« Eigenschaftenoder vom »kämpferischen« Wesen der Demokratie sprechen hö-ren! Das sind Ausdrücke aus dem Zentrum – das Dritte Reichwürde sagen: »aus der Wesensmitte« – der LTI. Ist es Pedanterie,wenn ich mich hieran stoße, kommt hier der Schulmeister ansLicht, der in jedem Philologen verborgen kauern soll?

    Ich will die Frage durch eine zweite Frage bereinigen.Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? Waren es

    Hitlers und Goebbels’ Einzelreden, ihre Ausführungen zu demund jenem Gegenstand, ihre Hetze gegen das Judentum, gegen denBolschewismus?

    Fraglos nicht, denn vieles blieb von der Masse unverstandenoder langweilte sie in seinen ewigen Wiederholungen. Wie oft inGasthäusern, als ich noch sternlos ein Gasthaus betreten durfte,wie oft später in der Fabrik während der Luftwache, wo die Arierihr Zimmer für sich hatten und die Juden ihr Zimmer für sich, undim arischen Raum befand sich das Radio (und die Heizung unddas Essen) – wie oft habe ich die Spielkarten auf den Tisch klat-schen und laute Gespräche über Fleisch- und Tabakrationen undüber das Kino führen hören, während der Führer oder einer seinerPaladine langatmig sprachen, und nachher hieß es in den Zeitun-gen, das ganze Volk habe ihnen gelauscht.

    Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden aus-geübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakateoder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewuß-tem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte.

    Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge überdurch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die erihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mecha-nisch und unbewußt übernommen wurden. Man pflegt das Schil-ler-Distichon von der »gebildeten Sprache, die für dich dichtet unddenkt«, rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen. Ein ge-lungener Vers in einer »gebildeten Sprache« beweist noch nichtsfür die dichterische Kraft seines Finders; es ist nicht allzu schwer,