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Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Dossier „Ökonomie mit Energie“
Ausgabe 174, 2018
1. Artikel: Kampf um Nord Stream 2 (17.12.2018)
2. Artikel/Grafik: Wie eine Pipeline Europa spaltet (17.12.2018)
3. Meinung: Soll Nord Stream 2 gebaut werden? (18.12.2018)
„[…] Das 9,5-Milliarden-Euro-Projekt [Nord Stream 2] soll die Kapazität der 2011 in
Betrieb genommenen Nord-Stream-Pipeline verdoppeln und noch mehr russisches
Erdgas quer durch die Ostsee über eine Strecke von 1 200 Kilometern bis nach
Greifswald transportieren. Schon nächstes Jahr könnte der von Russland und
Deutschland vorangetriebene Bau abgeschlossen sein. […] Doch je näher die
Fertigstellung rückt, desto stärker wird der Widerstand. Gerade erst hat das
europäische Parlament gefordert, den Bau abzubrechen. Auch die EU-Kommission
zählt zu den Gegnern. Die Osteuropäer wettern ohnehin gegen das Projekt, seit Jahren
schon. Und sie haben einen mächtigen Verbündeten gefunden: die USA. Die
Nordstream-Kritiker eint die Sorge, dass die Pipeline Europas Energieabhängigkeit
von Russland verstärkt. […] Die Befürworter von Nord Stream 2 haben gewichtige
Argumente, angefangen mit dem Importbedarf. […] Bleibt die Frage: Wenn so viel
für die Pipeline spricht, warum ist es Deutschland dann nicht gelungen, die Sorgen
seiner Nachbarn rechtzeitig zu zerstreuen? Jetzt hat die Bundesregierung alle Mühe,
ihr Versäumnis nachzuholen.“
Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Perspektiven
der Weltenergieversorgung“
1. Stellen Sie dar, zu welchem Zweck die Erdgas-Pipeline North Stream 2 gebaut
werden soll und wer daran beteiligt ist.
2. Untersuchen Sie, wer direkt bzw. indirekt von dem Vorhaben betroffen ist. Ar-
beiten Sie heraus, ob die jeweiligen Gruppen das Vorhaben befürworten oder
ablehnen und analysieren Sie die vorgebrachten Argumente.
3. Nehmen Sie selber Stellung zu dem Projekt.
4. Erklären Sie am vorliegenden Beispiel, was unter der Interdependenz der
Handlungen der Akteure im internationalen Politik- und Wirtschaftsgeschehen
verstanden wird.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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4. Artikel/Grafik: Klimakonferenz: Kattowitz offenbart Staatsversagen
(17.12.2018)
5. Kommentar: Paris: Auf dem Höhepunkt (17.12.2018)
„[…] Nach drei Jahren Vorbereitung und zwei Verhandlungswochen einigten sich die
betroffenen 197 Staaten und die EU auf gemeinsame Regeln zur Umsetzung des
Pariser Klimaschutzabkommens. Verabschiedet wurde ein sogenanntes Regelbuch -
eine Art Gebrauchsanweisung dafür, nach welchen Vorgaben die Klimaschutz-
bemühungen der Länder gemessen und verglichen werden können. […] Die Einigung
in Kattowitz sei "ein Sieg des Multilateralismus unter extrem schwierigen
Bedingungen", sagte Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für
Klimafolgenforschung (PIK), dem Handelsblatt. Doch zur Abwendung der Klimakrise
kommt es nun darauf an, dass alle Staaten einen deutlich größeren politischen Willen
zeigen. Darin sind sich viele Experten einig. Denn trotz einiger Erfolge: Die Gesamt-
bilanz des Gipfeltreffens ist überschaubar. […]“
Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Umweltschutz“
1. Stellen Sie Hintergründe und Ziele der Klimakonferenz im polnischen Kattowitz
dar. Ordnen Sie die Konferenz in die internationalen Bemühungen zum Klima-
schutz ein.
2. Geben Sie die Ergebnisse der Konferenz in eigenen Worten wieder.
3. Vergleichen Sie die Reaktionen und Einschätzungen zu den erzielten Ergebnis-
sen. Arbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus.
4. Analysieren Sie die den Verhandlungen grundsätzlich zugrunde liegende Di-
lemmastruktur, indem Sie sich mit den Konflikten zwischen den gemeinschaftli-
chen und nationalstaatlichen Zielsetzungen auseinandersetzen.
5. Setzen Sie sich mit der Aussage des Klimaforschers Edenhofer auseinander,
dass „der Klimawandel nicht mehr nur als das größte Marktversagen aller Zei-
ten angesehen werden [kann]. Er sei angesichts der steigenden Emissionen
auch zu einem beispiellosen Staatsversagen geworden.“ Nehmen Sie dazu Stel-
lung.
6. Artikel/Grafik: Energiewende: Schub für den Netzausbau (17.12.2018)
„Die Realität ist noch immer ernüchternd: Das 2013 in Kraft getretene Bundesbedarfs-
plangesetz hat den Bau oder die Verstärkung von insgesamt 5 900 Kilometer
Höchstspannungsstromleitung für vordringlich erklärt. Bis heute sind davon erst 600
Kilometer genehmigt und gerade einmal 150 Kilometer realisiert. Etwas besser sieht
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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es beim Vorgängergesetz aus, dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) von 2009:
Von den 1 800 Kilometer Leitung aus dem EnLAG sind rund 1 200 Kilometer
genehmigt und davon 800 Kilometer realisiert. Diese Zahlen der Bundesnetzagentur
verdeutlichen, dass der Ausbau der Netze trotz aller Beschleunigungsbemühungen nur
schleppend vorankommt. Doch das soll sich nun ändern. Mit der Novelle des Gesetzes
zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus (NABEG), der das Bundeskabinett
vergangene Woche zustimmte, glaubt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU) den Schlüssel für die Trendwende in der Hand zu halten. […]“
Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“,
„Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft“ und „Energiemix der Zukunft“
1. Nennen Sie Gründe für den Ausbau des Stromnetzes und beschreiben Sie diese
knapp. Stellen Sie mithilfe der Grafik dar, welche Regionen in Deutschland in
besonderem Maße davon betroffen sind.
2. Fassen Sie den Status des Netzausbaus zusammen. Analysieren Sie, inwiefern
dieser von den ursprünglichen Planungen abweicht und erläutern Sie ggf. Ur-
sachen.
3. Überprüfen Sie, inwiefern im Zusammenhang mit dem Netzausbau soziale Di-
lemmastrukturen zu beobachten sind. Begründen Sie, warum sich diese nur
schwer auflösen lassen.
4. Beurteilen Sie vor diesem Hintergrund, inwiefern die von der Bundesregierung
angestoßenen Maßnahmen dazu beitragen, bestehende Schwierigkeiten und
Konflikte zu lösen.
7. Artikel/Grafik: Saudi-Arabien: Krisensignale aus Riad (20.12.2018)
„[…] Das einst so reiche Land steckt in einer tiefen Krise. Ob Politik oder Wirtschaft,
da braut sich einiges zusammen in Riad: ein deutlich abgesackter Ölpreis, eine von
Jahresbeginn an vereinbarte erhebliche Absenkung der Ölförderung, hohe
Arbeitslosigkeit. Dazu ein gigantischer Verlust an Vertrauen bei ausländischen
Partnern seit der Ermordung des oppositionellen Journalisten Jamal Khashoggi im
saudischen Konsulat in Istanbul Anfang Oktober. Dazu die zunehmende Skepsis der
überwiegend jungen Bevölkerung, ob der von Kronprinz Mohamed versprochene
Aufbruch des erzkonservativen Königreichs in eine neue Zukunft funktioniert. […]“
Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“,
„Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft“ und „Energiemix der Zukunft“
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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1. Beschreiben Sie die Stellung Saudi-Arabiens im internationalen Ölmarkt. Ana-
lysieren Sie, welche Bedeutung Ölexporte für die Wirtschaft des Landes haben.
2. Arbeiten Sie heraus, inwiefern der momentan niedrige Ölpreis und geringe
Fördermengen die Wirtschaftslage belasten. Nennen und erläutern Sie weitere
Faktoren.
3. Erläutern Sie, wie die saudische Regierung auf die momentan angespannte
Wirtschaftslage reagiert und welche Rolle die Ölförderung dabei spielt.
4. Begründen Sie am vorliegenden Beispiel, warum es eine starke Interdependenz
der Handlungen der Akteure im Wirtschafts- und Politikgeschehen gibt. Beur-
teilen Sie, welche Herausforderungen damit verbunden sein können.
8. Artikel/Grafik: Kohlebergbau: Ein letztes „Glück auf!“ (20.12.2018)
„[…] Am Freitag schließt Prosper Haniel, die letzte noch aktive Steinkohlezeche
Deutschlands. Damit kommt der jahrzehntelange Abschied von einer der größten
Traditionsbranchen zum Abschluss. Die Arbeit unter Tage hat Generationen von
Familien geprägt. […] 2007 beschloss der Bundestag schließlich einen Fahrplan für
den Ausstieg aus der defizitären Steinkohle bis Ende 2018. […] Die Arbeit unter Tage
ist mit dem Ende des Bergbaus aber noch lange nicht vorbei. Tief unter dem
Ruhrgebiet und in oberflächennahen Senken, die durch den Abbau entstanden sind,
muss dauerhaft Wasser in riesigen Mengen abgepumpt werden, damit das
Grundwasser geschützt wird und die Region nicht versinkt. […] Eine neue Nutzung
für die Zechengelände zu finden bleibt eine Aufgabe für Jahrzehnte: Aktuell
entwickelt eine RAG-Tochter rund 10 000 Hektar freier Bergwerksflächen in 100
Einzelprojekten. […]“
Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Energiemix der
Zukunft“
1. Stellen Sie kurz und bündig die Entwicklung der Steinkohleförderung in
Deutschland dar. Beschreiben Sie deren Bedeutung für die Förderregionen.
2. Analysieren Sie, warum die Steinkohleförderung in Deutschland subventioniert
wurde und man sich schließlich zu einem Ausstieg aus der Förderung entschie-
den hat.
3. Erläutern Sie, welche Aufgaben und Herausforderungen mit dem Ausstieg aus
der Steinkohleförderung verbunden sind. Arbeiten Sie dabei heraus, wer davon
betroffen ist bzw. in der Verantwortung steht.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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4. Begründen Sie, warum der Ausstieg aus der Steinkohleförderung einen struktu-
rellen Wandel in den betroffenen Regionen ausgelöst hat.
5. Nehmen Sie Stellung zu der Aussage des Historikers Brüggemeier: „Das Zeit-
alter der Kohle ist also noch lange nicht zu Ende.“
9. Artikel: Intelligente Stromzähler: Gütesiegel gegen den Blackout
(20.12.2018)
„Die anfällig unser Stromnetz für Cyberangriffe ist, hat der Autor Marc Elsberg in
seinem Thriller "Blackout" 2012 mit düsteren Details geschildert. […] Die Geschichte
verfängt, weil die Fiktion Anleihen bei der Realität nimmt. Tatsächlich gelten Smart
Meter Gateways - so der Fachbegriff - als Einfallstore für Angreifer. Aus diesem
Grund müssen Hersteller in Deutschland hohe Sicherheitsauflagen erfüllen. Damit tun
sie sich schwer. Obwohl die Einführung der Geräte bereits 2017 beginnen sollte, ist
bis heute kein einziges Modell für den Einsatz freigegeben. Jetzt tut sich aber etwas.
[…]“
Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiesparen“ und
„Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft“
1. Beschreiben Sie Funktion und Einsatzmöglichkeiten von intelligenten Strom-
zählern.
2. Stellen Sie deren Bedeutung für eine erfolgreiche Umgestaltung der Energie-
versorgung in Richtung erneuerbare Energien und Energieeffizienz dar.
3. Arbeiten Sie mithilfe des Artikels heraus, welche Anforderungen an die Geräte
gestellt werden und aus welchen Gründen. Erläutern Sie, inwiefern sich daraus
für Hersteller aber auch den Staat Herausforderungen ergeben.
4. Begründen Sie, warum der Staat im Zusammenhang mit der Einführung dieser
Technologie besonders gefordert ist.
5. Entwickeln Sie ein Szenario, wie der Einsatz intelligenter Stromzähler im Jahr
2030 aussehen könnte und inwiefern Sie davon in Ihrem Alltag berührt sind.
Diskutieren Sie über Vorzüge und mögliche Nachteile aus unterschiedlichen
Perspektiven.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Kampf um Nord Stream 2
Die Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland spaltet Europa und erzürnt die
USA. Jetzt wächst auch in den Berliner Regierungsparteien der Widerstand.
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Richard Grenell hatte sich zwei außenpolitische Ziele gesetzt, als er im Mai sein Amt
als US-Botschafter in Berlin antrat: europäische Konzerne aus dem Iran vertreiben
und die Pipeline Nord Stream 2 verhindern. Das erste Ziel hat er erreicht, und dem
zweiten kommt er näher. In der Berliner Regierungskoalition schwindet der Rückhalt
für das Projekt, das zusätzliches Gas aus Russland nach Europa leiten soll. Grenell 10
nimmt das zufrieden zur Kenntnis. "In Deutschland und ganz Europa gibt es einen
wachsenden Widerstand gegen Nord Stream 2", sagte er dem Handelsblatt. "Warum
sollten wir Putin mehr Macht über Europa geben?", fragt der Botschafter.
Die Bundesregierung hält offiziell dagegen: "Nord Stream 2 kann dazu beitragen, die 15
Versorgungssicherheit Europas zu verbessern", betont das Auswärtige Amt. Und das
Wirtschaftsministerium erklärt: Russische Gaslieferungen nach Europa
einzuschränken sei "keine sinnvolle Politik". Doch entgegen diesen wohlmeinenden
Äußerungen rumort es in der Koalition. SPD-Außenpolitiker Nils Schmid räumt
Fehler ein: "Wir haben politisch zu spät auf die Kritik reagiert." Diese kommt vor 20
allem auch aus Polen und dem Baltikum, wo die Vertiefung der deutsch-russischen
Energiepartnerschaft neue Ängste geweckt hat. Jürgen Hardt, außenpolitischer
Sprecher der Union, sagt: "Sorgen unserer Nachbarn ernst zu nehmen sollte immer ein
Wesensmerkmal deutscher Außenpolitik sein."
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Die Bundesregierung bestreitet dabei nicht, dass die Energiewirtschaft ein Instrument
des russischen Machtstrebens ist. Doch sei die Abhängigkeit Moskaus von Devisen
weit größer als die europäische Abhängigkeit von russischem Gas. Daher verleihe die
Pipeline Russland kein Erpressungspotenzial.
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Quelle: Koch, M./Stratmann, K., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 1
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Wie eine Pipeline Europa spaltet
Je näher die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 rückt, desto größer wird
der Widerstand. Aus einem wirtschaftlich sinnvollen Projekt ist ein außenpolitisches
Desaster für die Bundesregierung geworden. 5
Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege-
schiff, seit August 2016 auf den Weltmeeren im Einsatz, gehört mit einer Länge von
382 Metern und einer Breite von 123 Metern zu den größten Schiffen überhaupt. Vor
wenigen Tagen hat das Schiff über die Große-Belt-Querung in Dänemark die Ostsee 10
erreicht; in dieser Woche wird die "Pioneering Spirit" damit beginnen, vor der Küste
Finnlands Rohre für die Pipeline Nord Stream 2 zu verlegen. Der Einsatz des Schiffs-
giganten zeigt, dass es mit Nord Stream 2 vorangeht, technisch zumindest. Das 9,5-
Milliarden-Euro-Projekt soll die Kapazität der 2011 in Betrieb genommenen Nord-
Stream-Pipeline verdoppeln und noch mehr russisches Erdgas quer durch die Ostsee 15
über eine Strecke von 1 200 Kilometern bis nach Greifswald transportieren. Schon
nächstes Jahr könnte der von Russland und Deutschland vorangetriebene Bau abge-
schlossen sein.
Doch je näher die Fertigstellung rückt, desto stärker wird der Widerstand. Gerade erst 20
hat das europäische Parlament gefordert, den Bau abzubrechen. Auch die EU-
Kommission zählt zu den Gegnern. Die Osteuropäer wettern ohnehin gegen das Pro-
jekt, seit Jahren schon. Und sie haben einen mächtigen Verbündeten gefunden: die
USA. Die Nordstream-Kritiker eint die Sorge, dass die Pipeline Europas Energieab-
hängigkeit von Russland verstärkt. "Warum sollten wir Putin mehr Macht über Europa 25
geben?", fragt Richard Grenell, US-Botschafter in Berlin - und weiß nicht nur seine
Regierung hinter sich, sondern auch eine breite Mehrheit im Kongress.
Deutschland steht mit seiner unverbrüchlichen Treue zu der neuen Pipeline ziemlich
einsam da. Erst recht, seit die russische Kanonenbootpolitik im Asowschen Meer der 30
Welt erneut vor Augen geführt hat, wie ruchlos der Kreml das Recht des Stärkeren in
seiner Nachbarschaft durchsetzt. Doch bei aller Empörung über Moskau betont die
Bundesregierung, dass die Energiebeziehungen ein stabilisierendes Element im Ver-
hältnis zu Russland seien. Und dass Deutschland schon aus wirtschaftlichen Gründen
ein starkes Eigeninteresse am Gelingen des Nord-Stream-2-Projekts habe. 35
"Russland hat einen großen Fehler begangen, als es die beiden Schiffe im Asowschen
Meer aufgebracht und die Besatzungen festgesetzt hat", sagte Bundeswirtschaftsmi-
nister Peter Altmaier (CDU) der Nachrichtenagentur Reuters. Trotzdem will er Forde-
rungen der USA, der Ukraine und aus seiner Partei, Nord Stream 2 zu stoppen, nicht 40
einfach folgen. Die Frage ist, wie lange diese Linie noch zu halten ist. Nord Stream 2
ist zum Gegenstand des geopolitischen Spiels um Rohstoffeinnahmen und Machtsphä-
ren geworden. "Wir sind besorgt, dass Russland für seine Aktionen auf der Krim und
im Asowschen Meer, für die widerrechtliche Inhaftierung ukrainischer Militärangehö-
rige und Cyberattacken in aller Welt mit weiteren Gas-Verträgen belohnt werden 45
würde", mahnt Grenell. Schon im kommenden Jahr könnten die Amerikaner ihren
Worten Sanktionen folgen lassen, fürchten deutsche Diplomaten. Die Interessen der
USA mögen leicht zu durchschauen sein: Amerika will sein eigenes Gas nach Europa
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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verschiffen und Russland Marktanteile abnehmen. Doch es wäre falsch, den Streit nur
durch das Prisma der "America first"-Politik zu betrachten. In der Pipelinefrage iso-50
liert sich nicht Amerika, sondern Deutschland.
Eine wachsende Zahl von deutschen Politikern erkennt das: "Wir dürfen neue Sankti-
onen nicht vom Tisch nehmen und müssen dabei auch die Frage nach Gaslieferungen
thematisieren", mahnt Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher von CDU und CSU. 55
"Angesichts der politischen Lage müssen sich die Nord-Stream-2-Investoren fragen,
ob ihr Geld gut angelegt ist - oder ob sie nicht besser aussteigen sollten." Die neue
CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer geht ebenfalls auf Distanz. Es sei
zwar "zu radikal", das Projekt abzublasen, sagt sie. Allerdings könne man durchaus
noch beeinflussen, "wie viel Gas durch die Pipeline geleitet wird". Sogar den Sozial-60
demokraten, die sich als Erben der Ostpolitik sehen, kommen Zweifel. "Wir haben
politisch zu spät auf die Kritik reagiert", räumt SPD-Außenpolitiker Nils Schmid ein.
Die Bundesrepublik, so lautet der Vorwurf der Pipelinegegner, fordere gern Solidarität
ein, doch in außenpolitischen Kernfragen verfolge sie ihre Interessen ohne Rücksicht 65
auf Nachbarn und Partner. Nord Stream 2 gleich Germany first.
Eigentlich wollte die EU den nationalen Ressourcen-Egoismus überwinden: Als Reak-
tion auf die russischen Aggressionen gegen die Ukraine hatten sich die Europäer
schon 2015 auf eine gemeinsame Energiepolitik verständigt. Ihr Leitgedanke war, die 70
Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Damit ist Nord Stream 2 schwer zu
vereinbaren. Der Streit ist festgefahren. Auch beim Treffen der EU-Energieminister
am Mittwoch dürfte es laut EU-Diplomaten kaum Fortschritte geben. Die Mitglied-
staaten diskutieren bereits seit einem Jahr darüber, ob Pipelines von außerhalb der EU
wie Nord Stream 2 den europäischen Regeln unterworfen werden sollen. Die osteuro-75
päischen Staaten sind dafür, sie sehen darin eine Möglichkeit, Nord Stream 2 noch zu
verhindern. Die Bundesregierung lehnt das ab. Viele Länder haben sich wie Frank-
reich noch nicht positioniert.
Jahrelang hatte die Bundesregierung behauptet, die Pipeline sei ein unternehmerisches 80
Vorhaben - und sich damit jeder politischen Debatte verweigert. Auch heute noch
betont das Auswärtige Amt: "Nord Stream 2 ist ein kommerzielles Vorhaben der be-
teiligten Unternehmen." Ein schwerer Fehler, kritisiert CDU-Politiker Hardt: "Sorgen
unserer Nachbarn ernst zu nehmen sollte immer ein Wesensmerkmal deutscher Au-
ßenpolitik sein." In Polen und im Baltikum hat die Vertiefung der deutsch-russischen 85
Energiepartnerschaft Einkreisungsängste geweckt. Noch konkreter sind die Ängste in
der Ukraine. Die Staatsfinanzen hängen entscheidend von den Transitgebühren ab, die
das Land für die Durchleitung russischen Gases nach Europa kassiert. Transitgebüh-
ren, die durch Nord Stream 2 gefährdet sind.
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Die Sanktionsdrohungen der Amerikaner wird Deutschland nicht ignorieren können.
Im vergangenen Jahr hat der US-Kongress das "Gesetz zur Eindämmung der Gegner
Amerikas" beschlossen. Alle Unternehmen, die sich am Bau russischer Exportpipe-
lines beteiligen, müssen seither Strafen fürchten. Das ruft in Berlin wütende Reaktio-
nen hervor. "Ich möchte nicht, dass europäische Energiepolitik in Washington defi-95
niert wird", wettert Außenstaatsminister Andreas Michaelis. Bei den Energieversor-
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gern seien "Kerninteressen" berührt. Die Entscheidung über Nord Stream 2 sei eine
Frage der Souveränität.
Noch gibt sich die Nord-Stream-2-Projektgesellschaft gelassen - und schafft Fakten 100
auf dem Meeresgrund. Man sei somit "voll im Plan", heißt es. Getragen wird Nord
Stream 2 von den europäischen Energieunternehmen Uniper, Wintershall, OMV, En-
gie und Shell sowie dem russischen Staatskonzern Gazprom.
Zumindest in einem Punkt ist die Bundesregierung ihren Kritikern entgegengekom-105
men. "Wir setzen uns nachdrücklich dafür ein, dass der Erdgastransit durch die Ukrai-
ne über 2019 hinaus eine Zukunft hat", versichert das Auswärtige Amt inzwischen.
Altmaier hatte im Frühjahr vorgeschlagen, dass Russland, die Ukraine und die EU-
Kommission über die Zukunft des Gastransits verhandeln. Im Juli fanden auf Einla-
dung Altmaiers Verhandlungen zwischen den drei Parteien darüber statt, welche 110
Gasmengen auch nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 noch durch die Ukraine
geleitet werden sollen. Konkrete Ergebnisse gibt es bislang nicht. Dennoch lobt Bernd
Westphal, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, die Bemü-
hungen. Für ihn steht fest: Nord Stream 2 "ist ein sinnvolles Projekt zur Erhöhung der
Versorgungssicherheit Europas". Die Pipeline, so zeigt sich, spaltet nicht nur Europa, 115
sondern auch die Koalition. Außenpolitiker sind tendenziell dagegen, Wirtschaftspoli-
tiker tendenziell dafür.
Die Befürworter von Nord Stream 2 haben gewichtige Argumente, angefangen mit
dem Importbedarf. Die Erdgasversorgung in Deutschland speist sich im Wesentlichen 120
aus drei Quellen: Wichtigster Lieferant ist Russland, es folgen Norwegen und die
Niederlande. Allerdings haben die Niederlande beschlossen, die Förderung ab 2022
um zwei Drittel zu reduzieren und bis 2030 zu beenden. Auch die norwegischen Lie-
fermengen werden zurückgehen. Daher ist Deutschlands Interesse groß, langfristig
Zugriff auf russische Quellen zu haben. Zumal sich das Ziel des Kohleausstiegs nur 125
erreichen lässt, wenn mehr Gaskraftwerke zum Einsatz kommen. Die jährliche Durch-
leitungskapazität von Nord Stream 2 beträgt 55 Milliarden Kubikmeter. Das entspricht
ziemlich exakt dem Volumen der jährlichen niederländischen Gasförderung.
Kritiker der Pipeline übersehen: Im Notfall kann die Versorgung auch ohne Russland 130
sichergestellt werden. In der EU gibt es rund zwei Dutzend Terminals für verflüssigtes
Erdgas ("liquefied natural gas", LNG). "Energiesicherheit ist nicht dadurch definiert,
wo man kauft, sondern von der Möglichkeit, die Bezugsquelle zu wechseln. LNG
spielt dabei eine Schlüsselrolle", sagt BP-Chefökonom Spencer Dale. LNG sei als
"Versicherungspolice" zu betrachten. Europas LNG-Terminals haben eine Jahreska-135
pazität von 220 Milliarden Kubikmetern, sind aber zu weniger als 30 Prozent ausge-
lastet. Denn LNG, gerade amerikanisches, kann preislich mit Pipelinegas nicht kon-
kurrieren.
Bleibt die Frage: Wenn so viel für die Pipeline spricht, warum ist es Deutschland dann 140
nicht gelungen, die Sorgen seiner Nachbarn rechtzeitig zu zerstreuen? Jetzt hat die
Bundesregierung alle Mühe, ihr Versäumnis nachzuholen.
Quelle: Koch, M./Stratmann, K./Fischer, E., Handelsblatt, Nr. 243, 4/5
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Meinung: Soll Nord Stream 2 gebaut werden?
Pro: Gewinn für Europa
Wer Nord Stream 2 ablehnt, muss sagen, wo der Ersatz herkommen soll. Verflüssigtes
Erdgas dient nur der Absicherung im Notfall, sagt Klaus Stratmann. 5
Die Gaspipeline Nord Stream 2 steht im Fokus einer geopolitischen Debatte. Doch
dort hat sie nichts zu suchen. Wer sich mit den energiewirtschaftlichen Realitäten be-
fasst, kommt schnell zu dem Ergebnis, dass die EU und insbesondere Deutschland
allen Grund haben, sich für das Projekt einzusetzen. Günstiges russisches Pipelinegas 10
ist ein Garant für die internationale Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen. Die deut-
sche Chemieindustrie etwa, durch kostenträchtige Sonderwege in der deutschen Ener-
giepolitik gebeutelt genug, profitiert enorm davon, durch Pipelines an die russischen
Gasvorkommen angebunden zu sein.
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Wenn nun fünf Unternehmen aus der EU und der russische Gazprom-Konzern Milli-
arden in die Hand nehmen, um die Gasversorgungsinfrastruktur zu verbessern, kommt
das einer Selbstverpflichtung gleich. Nur wenn sie via Nord Stream 2 über Jahre kon-
tinuierlich Gas nach Europa schicken, rechnet sich die Leitung. Das sichert die Gas-
versorgung für private Verbraucher und die Wirtschaft in ganz Europa. Die Mär, das 20
Nord-Stream-2-Gas sei "für Deutschland" bestimmt, hält sich hartnäckig. Sie hat mit
der Realität eines zusammenwachsenden europäischen Binnenmarktes für Gas nichts
zu tun. Ein großer Teil des Gases dürfte in Zentraleuropa verbraucht werden. Ein an-
derer Teil könnte etwa nach Österreich geleitet werden, am Ende aber über die Grenze
nach Deutschland zurückfließen und dort verbrannt werden. Wo das Gas eingesetzt 25
wird, entscheidet der Markt.
Sollten die Russen eines Tages wider jede wirtschaftliche Vernunft am Gashahn dre-
hen, wäre das zwar misslich, aber keine Katastrophe. Die Terminals für verflüssigtes
Erdgas ("liquefied natural gas", kurz LNG) an Europas Küsten sind zu weniger als 30 30
Prozent ausgelastet. Es gibt also noch reichlich Spielraum. Allerdings ist LNG teuer
und eher eine Notfalllösung für den Übergang.
Wer auf Nord Stream 2 verzichten will, sollte darum sagen, woher er dauerhaft preis-
günstigen Ersatz beschaffen will. Dabei sollte man im Hinterkopf haben, dass die 35
Niederlande, Deutschlands zweitwichtigster Gaslieferant hinter Russland, beschlossen
haben, ihre Produktion ab 2022 um zwei Drittel zu drosseln und 2030 ganz einzustel-
len. Europa muss größtes Interesse haben, sich langfristigen Zugriff auf Erdgas zu
sichern.
40
Das Argument, wenn Nord Stream 2 fertiggestellt werde, könnten die Russen den Uk-
rainern den Gashahn zudrehen, läuft ins Leere. Schon in den Jahren 2016 und 2017
hat die Ukraine keinen einzigen Kubikmeter russisches Erdgas für den eigenen Bedarf
importiert. Und was den Transit betrifft: Nord Stream 2 kann die Durchleitung durch
die Ukraine nur etwa zur Hälfte ersetzen. Es wird also auch weiterhin den Transit rus-45
sischen Gases durch das Land geben.
Der Autor Klaus Stratmann ist stellvertretender Leiter des Hauptstadtbüros.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Contra: Auf Kosten der EU
Deutschland hält gern den Multilateralismus hoch, setzt sich mit der Pipeline aber 50
über die Ängste seiner Nachbarn hinweg - und untergräbt die gemeinsame Außenpoli-
tik der EU, sagt Moritz Koch.
Heiko Maas hat am Wochenende an den Jahrestag des Marshallplans erinnert. "Wie
uns damals geholfen worden ist", schrieb der deutsche Außenminister auf Twitter, 55
"müssen wir uns auch heute noch ins Gedächtnis rufen." Maas sieht Berlin in beson-
derer Verantwortung. Der Sozialdemokrat will eine "Allianz für den Multilateralis-
mus" schmieden, das Ideal einer Weltgemeinschaft in Zeiten hochhalten, in denen in
Washington, Moskau und Peking unverhohlen die Rückkehr zum Recht des Stärkeren
propagiert wird. Ein nobles Ziel - aber mit der Praxis der bundesrepublikanischen Au-60
ßenpolitik leider nur bedingt vereinbar.
Es ist schwer, ein Bündnis für internationale Solidarität zu schmieden, wenn sich in
europäischen Hauptstädten der Eindruck festsetzt, dass Deutschland in entscheidenden
Fragen auf internationale Solidarität pfeift. Womit man am Greifswalder Bodden wä-65
re. Hier endet die Nord-Stream-2-Pipeline, die die Erdgasmengen verdoppeln soll, die
auf direktem Weg von Russland nach Deutschland gelangen. Das Investitionsvolumen
beträgt 9,5 Milliarden Euro. Doch die wahren Kosten der Pipeline sind nicht in Euro
aufzurechnen: Auf dem Spiel steht das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik.
70
Nord Stream 2 hat viele Gegner, nicht nur in Washington, wo Lobbyisten die Chance
wittern, teures Flüssiggas loszuschlagen. Die Osteuropäer wollen die Pipeline verhin-
dern, die Briten und Dänen auch, und in Brüssel opponieren Kommission und Parla-
ment in seltener Eintracht gegen das Projekt. Deutschland rechtfertigt sich: Eine ein-
seitige Abhängigkeit von Moskau ergebe sich nicht, und die gesteigerte Versorgungs-75
sicherheit komme letztlich auch Osteuropa zugute. Das mag stimmen, lenkt aber vom
Kern des Problems ab: Die neue Pipeline sichert dem Kreml zusätzliche Devisen - und
das in einer Zeit, in der Moskau Rohstoffgewinne für Militäraktionen, Desinformati-
onskampagnen und Rüstungsprojekte investiert, die Europas Sicherheit untergraben.
80
Dass Berlin jahrelang behauptet hat, Nord Stream 2 sei ein rein privatwirtschaftliches
Vorhaben, war Ausdruck einer Arroganz, die man für historisch überwunden hielt.
Die Pipeline wird nur in Betrieb gehen können, wenn Deutschland seine Interessen
gegen seine Nachbarn durchboxt. Dabei sucht die Bundesregierung gerade den Schul-
terschluss mit anderen EU-Staaten, um sich der Sanktionspolitik der USA zu wider-85
setzen. Schleierhaft, wie das gelingen soll, wenn die Berliner Antwort auf "America
first" in Energiefragen auf "Deutschland zuerst" hinausläuft. Ein Stopp der Pipeline
wäre nicht, wie Nord-Stream-2-Unterstützer gern behaupten, eine Kapitulation vor
dem polternden US-Präsidenten Donald Trump - im Gegenteil: Er wäre die Voraus-
setzung für eine Außenpolitik der EU, die der Trump-Regierung die Stirn bieten kann. 90
Der Autor ist Senior Correspondent Moritz Koch.
Quelle: Stratmann, K./Koch, M., Handelsblatt, Nr. 244, 18.12.2018, 14
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Kattowitz offenbart Staatsversagen
Die Klimakonferenz in Kattowitz ist beendet. Doch Umweltschützer und Ökonomen
fordern mehr politischen Willen, die Erderwärmung zu begrenzen.
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Sein persönlicher Wunsch ging nicht in Erfüllung. Auf möglichst wenige schlaflose
Nächste hatte der polnische Präsident der Klimakonferenz, Micha Kurtyka, gehofft.
Am Ende musste er froh sein, dass er am Samstagabend, inklusive eines Tags Ver-
längerung und mehrerer schlafarmer Nächte, die Weltklimakonferenz in Kattowitz für
beendet erklären konnte. Nach drei Jahren Vorbereitung und zwei Verhandlungs-10
wochen einigten sich die betroffenen 197 Staaten und die EU auf gemeinsame Regeln
zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens. Verabschiedet wurde ein soge-
nanntes Regelbuch - eine Art Gebrauchsanweisung dafür, nach welchen Vorgaben die
Klimaschutzbemühungen der Länder gemessen und verglichen werden können.
15
In der französischen Hauptstadt war im Dezember 2015 vereinbart worden, die
Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit
begrenzen zu wollen. Wie das erreicht werden soll, bleibt jedem Land selbst
überlassen, nur vergleichbar sollte es sein. "Wir haben erreicht, dass sich zum ersten
Mal nicht nur die halbe, sondern die ganze Welt beim Klimaschutz in die Karten 20
schauen lässt", sagte Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). Das Pariser
Abkommen beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass alle Staaten ihren Beitrag
zum Klimaschutz leisten. "Darum ist es entscheidend, dass jeder sehen kann, was der
andere tut." Bislang reicht das Engagement der meisten Staaten nicht aus, um das
Pariser Abkommen zu erfüllen. Es muss nachgesteuert werden - was aber nur passiert, 25
wenn die Bemühungen der Staaten gemessen und verglichen werden können und sich
nicht nur alle misstrauisch beäugen.
Deutschland hatte im Vorfeld von Kattowitz klare Transparenzpflichten auch für
große Schwellenländer wie China gefordert. Tatsächlich einigten sich Industrie- und 30
Entwicklungsländer in Polen darauf, dass sie ab 2024 einheitlich, also nach denselben
Kriterien, an die Vereinten Nationen berichten. China, weltgrößter Emittent des
Treibhausgases CO2, machte den Weg letztendlich dafür frei. Einfachere Regeln gibt
es künftig nur noch für die ärmsten Länder der Welt, denen Kapazitäten fehlen, um
Emissionen zuverlässig zu messen. 35
"Dieses Regelwerk ist eine solide technische Basis", kommentierte Christoph Bals,
politischer Kopf der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch. Er sprach
von einem "beachtlichen Ergebnis, weil es einige Sabotageversuche aus dem Weißen
Haus, von Saudi-Arabien und Brasilien gab". Die Einigung in Kattowitz sei "ein Sieg 40
des Multilateralismus unter extrem schwierigen Bedingungen", sagte Ottmar
Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), dem
Handelsblatt.
Doch zur Abwendung der Klimakrise kommt es nun darauf an, dass alle Staaten einen 45
deutlich größeren politischen Willen zeigen. Darin sind sich viele Experten einig.
Denn trotz einiger Erfolge: Die Gesamtbilanz des Gipfeltreffens ist überschaubar.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
15
"Die dringend notwendige Steigerung des Ambitionsniveaus ist im Wesentlichen
ausgeblieben, und beim Regelbuch haben wir nur ein Minimum erreicht", kritisierte 50
Edenhofer. Johan Rockström, der zusammen mit Edenhofer als designierter Direktor
das PIK leitet, sagte, es sei in Kattowitz versäumt worden, "klarzumachen, dass die
globalen Emissionen aus fossilen Brennstoffen bis 2030 halbiert werden müssen,
wenn man dem 1,5-Grad-Report des Weltklimarats folgen will". Der Bericht mahnt
ein entschlosseneres Handeln gegen den Klimawandel an. Die Erderwärmung solle 55
auf 1,5 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit begrenzt werden, um die schlimmsten
Folgen für den Planeten abzuwenden.
Der Klimagipfel in Kattowitz sei nur ein Schritt auf dem langen und kurvenreichen
Weg hin zu einer Zukunft ohne fossile Brennstoffe, mahnte der Schwede Rockström. 60
"Wir alle müssen jetzt aufhören, herumzutrippeln. Wir müssen unsere Schritte be-
schleunigen." Und Europa könne und müsse sich dabei an die Spitze stellen. Der
Gipfel habe gezeigt, "dass weiterhin auf der nationalen Ebene insbesondere in den
Industrieländern wenig Ambition herrscht", sagte Lukas Hermwille vom Wuppertal
Institut für Klima, Umwelt, Energie, dem Handelsblatt. Das gelte auch und im be-65
sonderen Maße für die EU und Deutschland. Deutschland habe es durch die Ver-
zögerungen bei der Kohlekommission verpasst, ein internationales Zeichen zu setzen.
Wissenschaftler hören nicht auf, die Gefahren zu beschreiben, sollte es beim Status
Quo bleiben. Extreme Wetterereignisse treffen bereits heute Menschen auf der ganzen 70
Welt, mit einer globalen Erwärmung von nur einem Grad. Auch Hitze- und Dürre-
sommer in Deutschland könnten sich in Zukunft weiter häufen. Die Welt brauche
konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Treibhausgase; und sie brauche diese
Maßnahmen nicht irgendwann, sondern jetzt, forderte Edenhofer. In dieser Hinsicht
könne der Klimawandel nicht mehr nur als das größte Marktversagen aller Zeiten 75
angesehen werden. Er sei angesichts der steigenden Emissionen auch zu einem bei-
spiellosen Staatsversagen geworden. Der Veränderungsbedarf ist gewaltig - auch in
der Wirtschaft. "Der Druck auf die Unternehmen steigt, sich fossilfrei oder zumindest
fossilarm aufzustellen", sagte Edenhofer.
80
Verbände reagierten gelassen: Für die deutschen Unternehmen sei es wichtig, dass die
Umsetzung des Pariser Abkommens auch tatsächlich zu mehr Klimaschutz in anderen
Weltregionen führe, erklärte Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages (DIHK). […] Auch der Verband der Chemischen Industrie
(VCI) sieht in den Gipfelbeschlüssen eine Grundlage, um den Klimaschutz globaler 85
aufzustellen. Von vergleichbaren Wettbewerbssystemen für die Industrie sei man aber
noch weit entfernt, sagte VCI-Hauptgeschäftsführer Utz Tillmann. Das zeigen seiner
Ansicht nach auch die schwierigen Diskussionen, Kohlendioxid (CO2) weltweit einen
Preis zu geben. Dieses Thema musste in Kattowitz vertagt werden. "Globale Regeln
für CO2-Preise und passende Marktinstrumente haben es leider nicht in das 90
Regelbuch geschafft", sagte Tillmann. Das mache es für Unternehmen in Europa sehr
viel schwieriger, die Investitionen in treibhausgasärmere Technologien zu stemmen.
Er hoffe jetzt auf Fortschritte auf der Ebene der 20 größten Volkswirtschaften.
Quelle: Kersting, S., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 6/7 95
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Internationale Klimadiplomatie: Paris: Auf dem Höhepunkt
Das Bewusstsein und der Kampf für eine saubere Umwelt und ein besseres Klima ist
gekennzeichnet von einem ständigen Auf und Ab, von Fortschritten und
Rückschlägen. Den Startpunkt für die globale Umweltdebatte setzte 1972 der Think 5
Tank Club of Rome mit seiner Studie "Die Grenzen des Wachstums" zur Lage der
Menschheit.
Als Auftakt für die nunmehr 36-jährige internationale Klimadiplomatie gilt jedoch die
Versammlung der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro. Davor war das Thema 10
Klimawandel in erster Linie etwas für Spezialisten. Es folgte, 1995, Klimagipfel
Nummer eins in Berlin. Konferenzpräsidentin war Angela Merkel, damals im Kabinett
von Helmut Kohl Umweltministerin. Seitdem fanden die internationalen Klima-
konferenzen in einem jährlichen Rhythmus statt, üblicherweise zwei Wochen lang
gegen Ende eines jeden Jahres. 15
Das international bekannte Kyoto-Protokoll wurde im Dezember 1997 verabschiedet
und legte erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treib-
hausgasen fest. Einer der Hauptverursacher von CO2-Emissionen, die Vereinigten
Staaten, trat dem Abkommen jedoch nie bei, Kanada stieg wieder aus. Eine große 20
Zahl von Klimagipfeln war dadurch geprägt, dass Entwicklungs- und Schwellen-
länder, darunter vor allem China, sich jedweder Verhandlung über eigene Ver-
pflichtungen oder Ziele strikt verweigerten. Kein Wunder, wurde ein Bekenntnis zur
Reduktion von Treibhausgasemissionen doch vielfach als Verzicht auf Wachstums-
und Entwicklungschancen wahrgenommen. Dazu war niemand bereit. 25
Im Jahr 2009 kam dann der Tiefpunkt in Kopenhagen bei den 15. internationalen
Klimaverhandlungen: Anders als erwartet gab es keine global verbindlichen Ziele.
Gute Absichten waren zweifellos auf vielen Seiten vorhanden, aber am Ende über-
wogen Eigeninteressen. Arme und reiche Länder waren zu keinen echten Kompro-30
missen bereit. Für viele Umweltschützer steht Kopenhagen symbolisch für ein ver-
schenktes Jahrzehnt in Sachen Klimaschutz. Doch das vermurkste Gipfeltreffen stieß
auch konstruktive Verhandlungen an. Nahezu alle Staaten erkannten zunehmend die
Notwendigkeit eigener Bemühungen um den Klimaschutz. Die oft destruktive Haltung
wich einem Bewusstsein dafür, die Erderwärmung nur gemeinsam bremsen zu 35
können.
Bisheriger Höhepunkt: das internationale Klimaabkommen von Paris. Ende 2015 war
in der französischen Hauptstadt beschlossen worden, die Erderwärmung auf deutlich
unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, möglichst auf 1,5 Grad. Das Abkommen gilt, 40
rückblickend, sogar als Sternstunde des Multilateralismus. Das Kyoto-Protokoll hatte
allein die Industriestaaten in die Pflicht genommen, ihren Ausstoß an klimaschäd-
lichen Treibhausgasen zu senken. Doch einzuhalten ist das Pariser Abkommen nur,
wenn bis zur Mitte des Jahrhunderts die Gesellschaften weitgehend treibhaus-
gasneutral agieren, also keine fossilen Energien mehr verfeuert werden. 45
Quelle: Kersting, S., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 7
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Energiewende: Schub für den Netzausbau
Minister Altmaier erhofft sich von neuem Gesetz Beschleunigung. Branche ist
verhalten optimistisch.
5
Die Realität ist noch immer ernüchternd: Das 2013 in Kraft getretene Bundesbedarfs-
plangesetz hat den Bau oder die Verstärkung von insgesamt 5 900 Kilometer
Höchstspannungsstromleitung für vordringlich erklärt. Bis heute sind davon erst 600
Kilometer genehmigt und gerade einmal 150 Kilometer realisiert. Etwas besser sieht
es beim Vorgängergesetz aus, dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) von 2009: 10
Von den 1 800 Kilometer Leitung aus dem EnLAG sind rund 1 200 Kilometer
genehmigt und davon 800 Kilometer realisiert.
Diese Zahlen der Bundesnetzagentur verdeutlichen, dass der Ausbau der Netze trotz
aller Beschleunigungsbemühungen nur schleppend vorankommt. Doch das soll sich 15
nun ändern. Mit der Novelle des Gesetzes zur Beschleunigung des Energieleitungs-
ausbaus (NABEG), der das Bundeskabinett vergangene Woche zustimmte, glaubt
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) den Schlüssel für die Trendwende in
der Hand zu halten.
20
Die NABEG-Novelle sei "wesentlicher Bestandteil" seiner Pläne zur Beschleunigung
des Netzausbaus, schreibt Altmaier in einem dem Handelsblatt vorliegenden Brief an
die Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag. "Wir vereinfachen die Verfahren",
schreibt Altmaier. Auch werde mit der Novelle dafür gesorgt, dass für die Leitungen
zügig neue Materialien zum Einsatz kommen könnten, die höhere Transportkapa-25
zitäten ermöglichten. Die materiellen Rechte der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
blieben durch die Novelle "in vollem Umfang erhalten".
Besondere Fortschritte verspricht sich Altmaier von einer "vorausschauenden
Planung". So können die Netzbetreiber künftig bei der Erdverkabelung Leerrohre 30
gewissermaßen auf Vorrat verlegen und diese dann später für Kapazitätser-
weiterungen nutzen. "Das spart Zeit und Kosten und schont Umwelt und Anwohner",
wirbt Altmaier. Erhebliche Beschleunigungseffekte erhofft sich der Wirtschafts-
minister von einer neuen Entschädigungspraxis für Land- und Forstwirte. Die Ent-
schädigungen werden insgesamt angehoben, außerdem erhalten Land- und Forstwirte, 35
die sich innerhalb von acht Wochen gütlich mit dem Netzbetreiber einigen, einen
"Beschleunigungszuschlag".
Altmaier hat die Beschleunigung des Netzausbaus zu einem seiner vordringlichen
Ziele erklärt. Auf zwei jeweils mehrtägigen Reisen zu den Brennpunkten des Netzaus-40
baus im Nordwesten und im Südosten der Republik machte er sich in diesem Jahr ein
Bild von den praktischen Problemen. Die Kritik der Menschen entzündet sich meist
am Trassenverlauf. Oft fordern die Bürger vor Ort auch die Erdverkabelung, während
der jeweilige Netzbetreiber Freileitungen für ausreichend hält. Auf Unverständnis
stoßen auch ganz neue Trassenverläufe, wenn es möglicherweise ausreichen würde, 45
bestehende Trassen auszubauen. Der Widerstand mündet oft in Klagen vor den
Verwaltungsgerichten.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Altmaier will beim Thema Netzausbau nicht lockerlassen. "Ich werde mich mit den
Landesministern und der Bundesnetzagentur über die Netzkarten beugen, um die für 50
die Menschen und die Natur schonendsten Verläufe der Stromtrassen zu diskutieren
und umzusetzen", sagte er dem Handelsblatt. Am 8. Februar werde er zu seiner dritten
Reise zu den Brennpunkten des Netzausbaus aufbrechen, sagte er. Diesmal gehe es
nach Hessen.
55
Der Netzausbau ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen der Energiewende.
Spätestens wenn 2022 das letzte Atomkraftwerk im Süden Deutschlands vom Netz
gegangen ist, sollten nach ursprünglicher Planung die neuen Nord-Süd-Leitungen, die
den Windstrom vom Norden Deutschlands bis nach Bayern und Baden-Württemberg
transportieren, fertiggestellt sein. Mittlerweile ist allen Beteiligten klar, dass sich das 60
Mammutprojekt Leitungsausbau verzögern wird. Das sorgt für kostentreibende
Ineffizienzen. Weil die Netze immer häufiger an die Grenzen ihrer Kapazität stoßen,
müssen Windräder im Norden abgeregelt und im Süden konventionelle Kraftwerke
eingeschaltet werden. Verschärft wird das Problem dadurch, dass die Bundesregierung
zuletzt ihre Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien angehoben hat. Während 65
die Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen wächst, kann der Ausbau der Netze
nicht Schritt halten.
Die Novellierung des NABEG, die Anfang kommenden Jahres den Bundestag
passieren soll, wird von der Branche begrüßt. "Vor allem der Punkt der voraus-70
schauenden Planung ist uns wichtig, weil er hilft, Eingriffe in Natur und Landschaft
zu reduzieren, und zudem Kosteneffizienz fördert", sagte Frank Golletz, technischer
Geschäftsführer beim Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, dem Handelsblatt. "Auch
das Thema Abschnittsbildung, durch das bei einem Leitungsprojekt in einem Teilab-
schnitt schon gebaut werden kann, auch wenn in einem anderen Teilabschnitt die 75
Genehmigung noch nicht vorliegt, kann die Verfahren wirklich beschleunigen. Und
das brauchen wir", sagte er.
In die Bewertung mischen sich aber auch kritische Töne. "Gesetze sind das eine, ihr
Vollzug ist das andere. Es kommt nun darauf an, dass die Genehmigungsbehörden die 80
neuen Werkzeuge auch effektiv nutzen", sagte Hans-Jürgen Brick, kaufmännischer
Geschäftsführer des Übertragungsnetzbetreibers Amprion, dem Handelsblatt. Brick
hält die Regulierung der Netze für grundsätzlich reformbedürftig. "So wie der Netz-
ausbau dem Ausbau der Erneuerbaren hinterherläuft, läuft die Regulierung der Ener-
giewende hinterher. Sie schaut in den Rückspiegel, ohne die Anforderungen eines be-85
schleunigten Netzausbaus abbilden zu können", kritisiert Brick. Die Regulierung
müsse zu einem zukunftstauglichen System werden, das die notwendigen Innova-
tionen für die Energiewende zulasse. "Das lässt sich insbesondere erreichen, indem
wir die Regulierung zwischen Übertragungs- und Verteilnetzen harmonisieren. Die
Herausforderungen der Energiewende betreffen schließlich beide", sagte Brick. Statt-90
dessen verliere sich die Regulierung heute in bürokratischen Winkelzügen, kritisierte
er. Das manifestiere sich derzeit in der Reform der Anreizregulierung für die
Übertragungsnetzbetreiber.
Quelle: Stratmann, K., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 895
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
20
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Saudi-Arabien: Krisensignale aus Riad
Trotz niedrigen Ölpreises verteilt der König Geschenke an die Regierung - und schickt
sein Land weiter in die roten Zahlen. Ökonomen warnen bereits vor einem
Staatsbankrott. 5
Wie fast alles, fällt auch die Präsentation des Haushalts in Saudi-Arabien eine
Nummer größer aus. In einem Meer aus bunten Blumen verlas erst König Salman das
umfangreiche Zahlenwerk - und gab die politischen Ziele seiner Regierung bekannt,
die die Milliardenausgaben bringen sollen. Und nun wurde erstmals am Tag darauf in 10
einer gewaltigen Show in Riads Ritz-Carlton-Nobelhotel das Budget Analysten,
Unternehmern, Staatsbediensteten und Journalisten vorgestellt.
Imagefilme und gewaltige Grafiken, die auf riesige Bildschirme geworfen werden,
erhellen den Ballsaal mit den Zahlen des umfangreichsten Budgets des wichtigsten 15
Petrostaats. Vier Runden gespickt mit Ministern und CEOs von Großkonzernen
antworten auf viele Fragen. Und immer wieder leuchtet die Zahl von 1,1 Billionen
saudischen Rial - etwa 295 Milliarden Dollar und damit sieben Prozent mehr als 2018
- in den riesigen Raum. So viel will Riad 2019 ausgeben - und eigentlich kann Saudi-
Arabien sich das gar nicht leisten. 20
Das einst so reiche Land steckt in einer tiefen Krise. Ob Politik oder Wirtschaft, da
braut sich einiges zusammen in Riad: ein deutlich abgesackter Ölpreis, eine von
Jahresbeginn an vereinbarte erhebliche Absenkung der Ölförderung, hohe Arbeits-
losigkeit. Dazu ein gigantischer Verlust an Vertrauen bei ausländischen Partnern seit 25
der Ermordung des oppositionellen Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen
Konsulat in Istanbul Anfang Oktober. Dazu die zunehmende Skepsis der überwiegend
jungen Bevölkerung, ob der von Kronprinz Mohamed versprochene Aufbruch des
erzkonservativen Königreichs in eine neue Zukunft funktioniert.
30
Um auf das im Haushalt angepeilte Haushaltsdefizit von 4,2 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts (35 Milliarden Dollar) zu kommen, müsste laut Analysten der Ölpreis
im kommenden Jahr auf momentan kaum realistische 80 Dollar je Barrel im Durch-
schnitt steigen. Das benachbarte Katar plant in seinem gerade vorgestellten Budget für
2019 mit 55 Dollar je Ölfass. 35
Doch die Führung um den alternden König Salman stand ohnehin bereits seit
Längerem unter Druck. "Und der Khashoggi-Mord hat die Lage deutlich ver-
schlechtert", berichten Diplomaten. Um das Schlimmste zu verhindern, lässt der
Monarch nun großzügig Geschenke verteilen. Vor allem wird er trotz der gesunkenen 40
Ölpreise seinen Bürgern weiterhin die Lebenshaltungskosten zahlen: Das sind 1 000
Rial (fast 250 Euro) im Monat. Eigentlich sollte diese staatliche Unterstützung ge-
strichen werden - ebenso wie die Subventionen auf Strom und Wasser, die nun auch
erst einmal bleiben.
45
Ein Raunen geht durch den Ballsaal im Ritz, als ein Unternehmer dem Wirtschafts-
minister vorhält: "Es gibt erhebliche Differenzen zwischen den vorgestellten Zahlen
und der Realität." Seit der Verhaftung von 200 Unternehmern, Ministern, Ex-
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Politikern, Militärs und Prinzen im November 2017 und erst recht seit dem Mord von
Istanbul wagt sich eigentlich niemand mehr, die Führung öffentlich zu kritisieren. 50
Dass Privatunternehmer die politische Lage momentan "genau beobachten und ab-
warten", räumt aber auch Handels- und Investment-Minister Majid bin Abdullah al-
Qasabi ein. Und Finanzminister Mohammed al-Jadaan sagt dem Handelsblatt am
Rande seines Budget-Forums, dass er das verloren gegangene Vertrauen durch "eine 55
Investitionsoffensive zurückgewinnen will. Auch ausländische Unternehmen würden
profitieren, ergänzt er. Außerdem versprach er weitere Reformen, vor allem im
umstrittenen Justizwesen.
Das Misstrauen allerdings ist längst in der Wirtschaft angekommen: Laut Unter-60
nehmern, die ihre Namen nicht in der Zeitung sehen wollen, seien "eine schleppende
Vergabe und eine noch schleppendere Bezahlung von Staatsaufträgen" das große
Problem. Auf der anderen Seite aber sollen sie dafür sorgen, dass die Masse der
Arbeitslosen (die Quote liegt bei 12,8 Prozent) Jobs bekommt. "Saudisierung" nennt
sich der Plan, der junge Saudis anstatt von Gastarbeitern an Ladentheken, auf 65
Baustellen und an Bankschalter bringen soll. Für Gastarbeiter wurde bereits eine
Strafabgabe eingeführt, fast eine Million von ihnen hat seit Mitte vorigen Jahres das
Königreich verlassen.
Doch "kleine und mittlere Unternehmen, die dazu gezwungen sind, Saudis einzu-70
stellen, schließen reihenweise", verrät ein langjähriger Beobachter. Und auch ein
deutscher Firmenvertreter klagt: "Wir bekommen einfach nicht genug gut ausgebildete
saudische Fachkräfte, die tatsächlich arbeiten wollen." Erst müsse das Bildungswesen
gründlich reformiert und eine echte Berufsausbildung eingeführt werden, um eine
echte Saudisierung des Arbeitsmarkts durchführen zu können. "Sonst erhöht dies nur 75
die Arbeitskosten gewaltig und schreckt Investoren ab", so der Mahner.
Die schlechte Verfassung des Arbeitsmarkts belastet vor allem auch die Staats-
finanzen. "Saudi-Arabien droht der Staatsbankrott", warnt etwa der Autor des
Wirtschafts-Bestsellers "Black Swan", Nassim Taleb. Zwar verfügt das Land nach wie 80
vor über üppige Währungsreserven, sagen Ökonomen. Sollte allerdings der Ölpreis
kollabieren, könne sich die Lage schnell ändern.
Quelle: Brüggmann, M., Handelsblatt, Nr. 246, 20.12.2018, 10
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Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Kohlebergbau: Ein letztes "Glück auf!"
Am Freitag schließt das Bergwerk Prosper Haniel, die einzige noch aktive
Steinkohlezeche in Deutschland. Nicht nur für das Ruhrgebiet ist das eine Zäsur.
5
Rasend schnell geht es hinab ins Dunkel. Die Luft wird dünner, die Temperatur steigt.
Dann wird es hell. Tausend Meter unter der Erde befindet sich eine ganz eigene Welt.
Kilometerlange Tunnel ziehen sich unter den Straßen Bottrops entlang. Neonröhren
erleuchten die Dunkelheit. Wie kleine Lichtreflexe glitzern schwarzgraue Punkte
durch die Luft. Männer mit weißen Baumwollanzügen, blau-weiß gestreiften Hemden, 10
weißen Halstüchern und schwarz verschmierten Gesichtern streifen durch die Pfade
unter Tage. "Glück auf!", rufen sie sich entgegen. Es sind Kumpel, Bergleute - die
letzten ihrer Art. Mehr als 150 Jahre lang wurde hier, im Werk Prosper Haniel im
Ruhrgebiet, Steinkohle abgebaut. Doch damit ist jetzt Schluss.
15
Am Freitag schließt Prosper Haniel, die letzte noch aktive Steinkohlezeche Deutsch-
lands. Damit kommt der jahrzehntelange Abschied von einer der größten Traditions-
branchen zum Abschluss. Die Arbeit unter Tage hat Generationen von Familien
geprägt. Familien wie die von Dirk Erba. Seit über 30 Jahren arbeitet der Deutsche mit
italienischen Wurzeln im Bergbau. "Für uns geht hier eine Tradition zu Ende", sagt er 20
wehmütig und wirkt dabei mit seiner großen Statur in dem kleinen Schacht unter der
Erde fast wie ein Riese. Das komplette Gesicht und der Bart sind von schwarzem
Staub überzogen. Schon sein Vater hat in der Zeche "malocht", wie es im Ruhrgebiet
heißt. Genauso wie sein Großvater. "Hand in Hand zum Erfolg", propagiert eine Tafel
zu Füßen des Schachts. Der Zusammenhalt der "Kumpel", wie die Bergarbeiter unter 25
Tage genannt wurden, war stets legendär. Aber Steinkohle hat nicht nur die Gesell-
schaft geprägt, sondern die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung ganz Europas
verändert.
Obwohl schon vor 900 Jahren die erste Steinkohle im Aachener Revier abgebaut 30
wurde, erlebte der fossile Rohstoff seine Hochzeit erst im 19. Jahrhundert. Zur vor-
letzten Jahrhundertwende lieferte das "schwarze Gold", wie man die Steinkohle
nannte, dann 95 Prozent der global genutzten Energie und beschäftigte in Europa über
2,5 Millionen Menschen. "Es galt für Deutschland, Europa und den Rest der Welt: Für
die Industrialisierung brauchte man enorme Mengen an Energie. Und ohne die Stein-35
kohle hätte es diese Energie nicht gegeben", sagt Franz-Josef Brüggemeier, Professor
für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität in Freiburg. Auch
wenn der Energieträger heute als Klimaschädling Nummer eins in Verruf steht,
"Kohle schuf die Welt, in der wir leben, im Guten wie im Schlechten", betont der
Essener. Und die Region an Rhein und Ruhr habe dabei eine entscheidende Rolle 40
gespielt.
Das Ruhrgebiet war früher das größte Steinkohlerevier Europas. Zu seinen Hochzeiten
fand hier fast eine halbe Million Menschen Arbeit, die über 110 Millionen Tonnen
Steinkohle pro Jahr förderten. Sie feuerten die Hochöfen der Eisen- und Stahlindustrie 45
an, lieferten Grundstoffe für die chemische Industrie und wurden in den Häusern der
Deutschen verheizt. Steinkohle machte aus einstigen Agrarländern wie Frankreich,
Deutschland und Großbritannien Industrienationen.
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
25
Schon in den späten 1950er-Jahren wurde aber immer mehr billige Kohle aus dem
Ausland importiert, und auch das preisgünstige Erdöl stürzte die deutsche Steinkohle 50
in eine tiefe Krise. "Bis dahin gab es eigentlich keine Alternative zur Steinkohle. Aber
mit der Verbreitung von Energie aus Atom und Erdöl begann der Abstieg des Gruben-
golds", erklärt Brüggemeier. Das mühsame Fördern aus mehr als 1 000 Meter Tiefe
unter hohen Sicherheitsstandards in den deutschen Bergwerken hatte sich schon seit
vielen Jahren nicht mehr gelohnt. In Australien kann die Konkurrenz etwa 30 Meter 55
dicke Flöze teils mit dem Schaufelradbagger im Tagebau gewinnen. In China drücken
billige Arbeitskräfte den Preis.
Mit der Kohlekrise begann auch das große Zechensterben: Von 1960 bis 1980 sank
die Zahl der Bergwerke in Deutschland von 146 auf 39, im Jahr 2000 waren noch 60
zwölf Zechen in Betrieb. Neben Prosper Haniel in Bottrop war zuletzt nur noch die
Zeche Ibbenbüren im Münsterland in Betrieb. Die Fördermenge sank von 150
Millionen Tonnen Steinkohle 1957 auf 20,7 Millionen Tonnen im Jahr 2006. 2017
waren es gerade noch 3,7 Millionen Tonnen.
65
2007 beschloss der Bundestag schließlich einen Fahrplan für den Ausstieg aus der
defizitären Steinkohle bis Ende 2018. Gut eine Milliarde Euro Subventionen pro Jahr
fielen zuletzt an, um die Preisdifferenz zum Weltmarkt auszugleichen. Für die
Kumpel zog die Kohlekrise dramatische Arbeitsplatzverluste nach sich. Während
1957 noch fast 610 000 Menschen bei den Kohlebetrieben in Lohn und Brot standen, 70
gab es 1970 nur noch etwas mehr als eine Viertelmillion Stellen. 1994 sank die Zahl
der Arbeitsplätze erstmals unter 100 000, im November vergangenen Jahres lag sie
gerade mal bei ein paar Tausend.
Unter Tage windet sich die Dieselkatze durchs Bergwerk. Aufgehängt an einer 75
Schiene, schaukelt sie die Kumpels an ihre Arbeitsplätze, oft tief im Berg. Durch die
Stollen weht ein steter Wind. Aber nicht dort, wo die Kohle abgebaut wird. In dem nur
1,50 Meter hohen Schacht, in dem ein Hobel den schwarzen Stein von der Wand
schabt, ist die Hitze schier unerträglich. Mit einem dumpfen Grollen rollt er heran und
im dichten Kohlestaub davon. Alle paar Minuten geht das so. Über ein Laufband 80
werden die glitzernden Brocken einmal quer unter Bottrop entlang zur Lagerstätte
gebracht. "Die Arbeit hier unten ist hart", sagt Dirk Erba. Erst nach sechs Stunden
geht es wieder ans Tageslicht. Jeden Tag. Bis jetzt. Wer älter als 49 Jahre ist, für den
beginnt nun der Ruhestand, das gilt auch für Erba. Die Arbeit unter Tage ist mit dem
Ende des Bergbaus aber noch lange nicht vorbei. 85
Tief unter dem Ruhrgebiet und in oberflächennahen Senken, die durch den Abbau
entstanden sind, muss dauerhaft Wasser in riesigen Mengen abgepumpt werden, damit
das Grundwasser geschützt wird und die Region nicht versinkt. Ohne regelmäßiges
Pumpen läge etwa der Essener Hauptbahnhof zwölf Meter tief unter Wasser. Die 90
Kosten dafür - nach derzeitiger Schätzung rund 220 Millionen Euro jährlich - trägt die
RAG-Stiftung, die 2007 gegründet wurde, aus Kapital- und Dividendenerträgen. Für
Bergschäden kommt die RAG aus den Rückstellungen auch in Zukunft auf.
Eine neue Nutzung für die Zechengelände zu finden bleibt eine Aufgabe für Jahr-95
zehnte: Aktuell entwickelt eine RAG-Tochter rund 10 000 Hektar freier Bergwerks-
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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flächen in 100 Einzelprojekten. Der Bedarf an Gewerbegebieten ist groß im Ruhr-
gebiet. Teils gelang auch schon der Umbau zu Kulturzentren, Naherholungs-gebieten
oder stadtnahen Wohnvierteln. Hans-Peter Noll hat für die RAG Montan Immobilien
jahrelang die weitere Nutzung der stillgelegten Zechen verwaltet, seit diesem Jahr ist 100
er Vorsitzender des Industriekomplexes Zeche Zollverein. "Die Schließung der letzten
Zeche muss Symbol für einen Neustart sein", findet er. Auch Noll selbst kommt aus
einer Bergbau-Familie. "Ohne die Steinkohle würde es die Region so nicht geben",
weiß er. Aber jetzt müsse der Blick nach vorne gerichtet werden. "Genau das macht
die Leute im Ruhrgebiet doch aus: Ärmel hochkrempeln und anpacken", sagt Noll. 105
Das Weltkulturerbe Zeche Zollverein sei dafür ein gutes Beispiel.
Auf dem Gelände der Mitte der Achtzigerjahre stillgelegten Zeche in Essen befinden
sich 30 Jahre später nicht nur ein Museum, sondern auch zahlreiche Eventlocations,
Start-ups und sogar eine Universität. Die Ruhrregion sei schon immer ein Ort des 110
Wandels gewesen. "Die Zeit ist jetzt reif", sagt Noll.
Das wissen auch die Bergmänner. Abschied zu nehmen tut trotzdem weh, sagt Erba.
Für die meisten der verbliebenen 3 500 Kumpel geht es in den Vorruhestand. Andere
gehen in die Verwaltung, zur Feuerwehr, arbeiten an Flughäfen oder Bahnhöfen, 115
einige lassen sich zu Krankenpflegern umschulen. Was aus der Zeche Prosper Haniel
wird, ist noch offen. Es gab mal die Idee, das Bergwerk zum Stromspeicher umzu-
bauen, als Pumpspeicherkraftwerk. Aber daraus wird wahrscheinlich nichts mehr.
Die Förderung von Steinkohle mag in Deutschland zu Ende sein, verheizt wird sie 120
aber weiter, wie Experte Brüggemeier erklärt. "Rund 15 Prozent unseres Strombedarfs
werden durch Steinkohle gedeckt. Die wird jetzt aus dem Ausland importiert", erklärt
er. Und auch wenn das Ende der Braunkohleförderung in Deutschland bevorsteht,
brauche es den fossilen Energieträger noch eine Weile für den Übergang - Ausstieg
hin oder her. Kohle ist ein natürlicher Speicher, aus dem die Energie jederzeit abge-125
rufen werden kann. Das Problem der Speicherung erneuerbarer Energien ist hingegen
noch nicht gelöst, vor allem nicht mit Blick auf den steigenden Energiehunger der
Welt. "Das größte Erbe aus der Ära der Steinkohle ist die weltweit steigende Energie-
nachfrage", sagt Brüggemeier. Das Zeitalter der Kohle ist also noch lange nicht zu
Ende. 130
Quelle: Wisch, K., Handelsblatt, Nr. 246, 20.12.2018, 14
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018
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Intelligente Stromzähler: Gütesiegel gegen den Blackout
Das erste Smart Meter ist fertig - ein Zertifikat soll ein hohes Sicherheitsniveau
garantieren.
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Die anfällig unser Stromnetz für Cyberangriffe ist, hat der Autor Marc Elsberg in
seinem Thriller "Blackout" 2012 mit düsteren Details geschildert. Der Plot: Hacker
nutzen eine Sicherheitslücke in intelligenten Stromzählern, um diese zum Absturz zu
bringen - in der Folge bricht die Energieversorgung zusammen. Bald steht das öffent-
liche Leben vor dem Kollaps. Die Geschichte verfängt, weil die Fiktion Anleihen bei 10
der Realität nimmt. Tatsäch-lich gelten Smart Meter Gateways - so der Fachbegriff -
als Einfallstore für Angreifer. Aus diesem Grund müssen Hersteller in Deutschland
hohe Sicherheitsauflagen erfüllen. Damit tun sie sich schwer. Obwohl die Einführung
der Geräte bereits 2017 beginnen sollte, ist bis heute kein einziges Modell für den
Einsatz freigegeben. 15
Jetzt tut sich aber etwas: Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
(BSI) erteilt am heutigen Donnerstag dem ersten intelligenten Stromzähler die Zu-
lassung, einem Gerät der Firma Power Plus Communications. Mit weiteren Zertifi-
zierungen ist im Januar zu rechnen. Damit steht einer breiten Einführung der intelli-20
genten Stromzähler, die für die Energiewende unverzichtbar sind, nichts mehr im
Wege. Informationssicherheit sei die Voraussetzung für die Digitalisierung, sagte
BSI-Präsident Arne Schönbohm dem Handelsblatt. "Deswegen halten wir die Sicher-
heitsanforderungen für Smart Meter sehr hoch: Wir wollen von Anfang an für Sicher-
heit sorgen." Dagegen fordert der Chaos Computer Club (CCC) noch schärfere Maß-25
nahmen, um Zugriffe von außen zu verhindern.
Intelligente Stromzähler spielen bei der Energieversorgung der Zukunft eine wichtige
Rolle. Sie sollen den Verbrauch der Haushalte praktisch in Echtzeit an die Netz-
betreiber oder Messstellenbetreiber melden, ebenso Daten zur Stromproduktion mit 30
Solaranlagen. Die Unternehmen können so Angebot und Nachfrage punktgenau
steuern - das ist wichtig, weil sich die Energieerzeugung mit Wind, Sonne und Bio-
masse schlecht planen lässt. Zudem können die Unternehmen mit den Daten neue
Geschäftsmodelle entwickeln. Ein Smart Meter ermögliche es künftig, Unregelmäßig-
keiten im Verbrauch festzustellen, erklärt der Energiekonzern Eon - so lässt sich 35
beispielsweise erkennen, ob Geräte defekt seien. Auch die Nutzung von tageszeit-
abhängigen Tarifen soll so möglich sein.
Wenn Stromproduzenten, Netzbetreiber und Verbraucher sich immer stärker ver-
netzen, entstehen allerdings zahlreiche Angriffspunkte. Das Nationale Cyber-Abwehr-40
zentrum warnt davor, dass Hacker derzeit die Energieversorger mit "Aufklärungs-
aktivitäten" auskundschaften. Dabei könne es sich um Vorbereitungen für einen An-
griff handeln - wie bei "Blackout". "Durch die Energiewende werden solche Szenarien
wahrscheinlicher, weil die Komplexität zugenommen hat", sagt Schönbohm.
Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, das weiß jeder. Schönbohm betont aber, 45
dass das Zertifikat ein hohes Niveau gewährleiste - dabei gehe es nicht nur um die
Einhaltung der Sicherheitsanforderungen, sondern auch um die Prozesse von der
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Entwicklung über Herstellung bis zur Auslieferung der Geräte. "Das ist nicht trivial
und schon gar nicht punktuell."
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Trotz aller Vorkehrungen sieht der Chaos Computer Club (CCC) die Zertifizierung
kritisch. "Ein Smart Meter Gateway ist ein hochkomplexes Produkt - man wird damit
rechnen müssen, dass es trotz Zertifizierung Schwachstellen gibt", sagt Mathias
Dalheimer, der in der Branche arbeitet und im Hackerverein engagiert ist. Das gelte
umso mehr, als die Geräte viele Jahre laufen. Daher stelle sich die Frage, wie lange es 55
Sicherheitsupdates gebe. Was Dalheimer noch mehr Sorgen bereitet: Die intelligenten
Stromzähler sollen in Zukunft auch Geräte ein- und ausschalten können, etwa Wärme-
pumpen oder Photovoltaikanlagen. "Wenn Angreifer sich Zugang verschaffen und
möglichst viele Geräte zum gleichen Zeitpunkt steuern, kann es zu Blackouts
kommen." 60
Dalheimer fordert daher eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme: Das Smart Meter
Gateway müsse die Befehle auf ihre Plausibilität prüfen. Sprich: Ob es beispielsweise
sinnvoll ist, die Last zurückzufahren. Das sei mit Messungen von Spannung und
Frequenz im Stromnetz durchaus möglich: "Die Physik lügt nicht." Allerdings war die 65
Zertifizierung schon so "für alle Beteiligten Neuland", wie Ingo Schönberg sagt,
Vorstandschef der Power Plus Communications AG. Komplexe Anwendungen, hohe
Sicherheitsstandards, ausführliche Tests - all das "war ursächlich für den deutlich
höheren zeitlichen Aufwand". Etliche Funktionen sind zunächst nicht enthalten, der
Hersteller will sie "zeitnah" mit Updates nachliefern. 70
Das BSI habe einige Anwendungsfälle wie die Nutzung von zeitvariablen Tarifen
oder die Steuerung von Photovoltaikanlagen zunächst außen vor gelassen, damit die
Zertifizierung schneller vonstattengehe, sagt Udo Sieverding, Bereichsleiter Energie
bei der Verbraucherzentrale NRW. "Die Smart Meter der ersten Generation können 75
nicht viel - damit geht der Mehrwert gegen null", kritisiert der Verbraucherschützer.
Daher hält er die jährliche Gebühr von bis zu 100 Euro, die Anbieter verlangen
dürfen, für überzogen. "Wenn alle diese Funktionen wegfallen, muss die Preisober-
grenze angepasst werden. Das ist den Verbrauchern sonst nicht zu erklären", sagt
Schick. Angesichts der späten Einführung regt die Organisation außerdem an, die 80
Fristen für die Einführung der Geräte zu verlängern.
Quelle: Krekmann, C., Handelsblatt, Nr. 246, 20.12.2018, 18