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17.07.2012
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Empathie
Bedeutungsspektrum und
evolutionäre Deutungen
Dr. Günter Renz
Evangelische Akademie Bad Boll
• „Seit Adams und Heva´s Tagen, seit aus Einem Zweie
wurden, hat niemand leben können, der sich nicht in
seinen Nächsten versetzen wollte und seine wahre Lage
erkunden, indem er sie auch mit fremden Augen zu
sehen versuchte. Einbildungskraft und Kunst des
Erratens in bezug auf das Gefühlsleben der anderen,
Mitgefühl also, ist nicht nur löblich, sofern es die
Schranken des Ich durchbricht, es ist auch ein
unentbehrliches Mittel der Selbsterhaltung.“ (Thomas
Mann: Joseph und seine Brüder. Der zweite Roman: Der
junge Joseph, Der Geläufige, Fischer TB 9436 S.98)
In dieser Passage aus Joseph und seine Brüder
formuliert Thomas Mann wunderbar das Ineinander
verschiedener Aspekte von Empathie (ohne dieses Wort
zu verwenden).
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Empathie – Thomas Mann:
löblich und lebenserhaltend • in den Nächsten
versetzen
• seine wahre Lage
erkunden
• mit fremden Augen
zu sehen
versuchen
• Erraten des
Gefühlslebens des
anderen
de Waal: Das Prinzip Empathie S.270
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Aspekte/Konzepte von
Empathie Vorbemerkung: Empathie als
Hermeneutisches, ästhetisches Konzept
1. Gefühlsansteckung
2. körperliche bzw. neuronale Imitation
3. distress – egoistische Besorgtheit
4. imagine self perspective, Sich-hinein-
versetzen - ethisch (mehr oder weniger emotional bzw. kognitiv)
5. imagine other perspective - therapeutisch
6. Theory of Mind
Hermeneutisch-ästhetisches
Konzept: Hineinversetzen • Theodor Lipps: Einfühlung (1903)
• E. B. Titchener übersetzte es mit empathy 1909
• beide waren fasziniert von dem Prozess, in dem
ein Schriftsteller oder Maler sich vorstellt, wie es
wäre, eine bestimmte Person zu sein oder auch
ein unbelebtes Objekt, wie ein knorriger toter
Baum auf einem windgepeitschten Hügel.
• „ästhetische Projektion“ „aesthetic empathy“ (L.
Wispé, 1968)
• Rückübersetzung ins Deutsche: Empathie
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Konzept 1:
contagion: Gefühl teilen • Gefühlsansteckung
• automatische emotionale Empathie
• affektive Empathie
• emotion matching - emotion catching
• shared physiology
Wahlkampfauftakt CDU in Berlin 2001
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Konzept 1:
contagion: Gefühl teilen • Stimmungsübertragung
• Hang zu körperlicher Synchronisation
• Laufen, Gähnen, Lachen, Essen
• Tendenz, sich gefühlsmäßig anstecken zu
lassen, wird z.B. mit der emotional
contagion scale gemessen
zygomaticus major
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corrugator supercilii
Konzept 2: körperliche bzw.
neuronale Nachahmung • Übernehmen der Haltung oder des
Ausdrucks eines beobachteten Person
• motor mimikry, Imitation
• facial empathy, oft kaum beobachtbar,
vocal empathy, posture empathy
• nachahmende neurale Repräsentation
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Imitation
• Menschen, die
nachgeahmt wurden,
helfen dem
Nachahmer mehr,
sind spendenbereiter
und hilfsbereiter (Van
Baaren)
• Wiederholen der
Bestellung erhöht das
Trinkgeld.
Konzept 3: distress –
egoistische Besorgtheit • egoistischer Altruismus
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• „Die Mutter, die die aversiven Laute ihres Nachwuchses
‚abstellt‘, indem sie sich deren Problemen annimmt, zeigt
Other-Orientation aus selbstzentrierten Gründen. Ich
nenne das selbstschützenden Altruismus, das heißt,
man hilft einander, um sich gegen aversive Gefühle
abzuschirmen. […] Könnte sich so die Anteilnahme
entwickelt haben? Begann sie mit selbstschützendem
Helfen?“ (de Waal 104)
• „Grauzone von Egoismus und Altruismus“
• „Warum sollten wir das Selbst gewaltsam vom anderen
zu trennen versuchen oder den anderen vom Selbst,
wenn die Verschmelzung beider das Geheimnis unserer
kooperativen Natur ist?“
• Thomas Hobbes auf die Frage, warum er
einem hinfälligen alten Mann einen halben
Schilling gegeben habe:
„Weil es mir wehe tat, den elenden Stand
des alten Mannes zu sehen; und itzo
erleichtert mein Almosen, das ihm Hülfe
bringt, auch mich.“ (John Aubrey: Thomas Hobbes, in: Brief Lives, 1669ff)
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Konzept 4:
imagine self perspective (Stotland)
• sich vorstellen, was man an des anderen
Stelle denken und fühlen würde
• role taking
• kognitive Empathie, Simulation
• Entwicklungspsychologie Piagets:
perspective taking, decentering
Tieraffen
• Wenn Pavianmütter einen Fluss
überqueren, begreifen sie offenbar nicht,
dass ihre Jungen das nicht können
• Pavianmütter, die in heißen Quellen
baden, verstehen nicht, dass ihr Kind, das
sich am Bauch festkrallt, ertrinken kann
• Makakenmutter beachtet gebrochenen
Arm des Kindes nicht
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• Paviane verändern ihr Verhalten
gegenüber Gruppenmitgliedern, die
Freunde oder Angehörige verloren haben,
nicht.
• Schimpansen dagegen bieten echten
Trost (Groomen)
Stellen Sie sich vor, Sie sind an
ihrer Stelle (self perspective):
hoch: distress, gering: concern aus Decety S.205
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Schopenhauer: Über das Mitleid
„Dies aber setzt
nothwendig voraus, daß
ich bei seinem Wehe als
solchem geradezu
mitleide, sein Wehe fühle,
wie sonst nur meines, und
deshalb sein Wohl
unmittelbar will, wie sonst
nur meines.“
Konzept 5:
imagine other perspective
• psychologische Empathie
• perspective taking
• empathisch aufmerksames therapeu-
tisches Setting, ohne das Bewusstsein
dafür zu verlieren, dass der andere ein
anderes Selbst ist.
• Sensitivität für die Art und Weise, wie der
andere von seiner Situation betroffen ist.
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Literatur und Empathie
Konzept 6: Theory of Mind
• Schimpanse lernt, dass ein Mensch zuverlässig auf den von zwei Kästen deutet, in dem Futter ist.
• Diese Person verlässt aber, nachdem sie gesehen hat, wo das Futter ist, den Raum und die beiden Kästen werden vertauscht.
• Als er nun wieder hereinkommt und auf den Kasten deutet, meint der Schimpanse, es sei der richtige.
• Ein Kind (5-6 jährig) erkennt, dass er im Irrtum sein muss.
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• aber: Schimpanse, der weiß, dass der
dominante Andere etwas nicht sehen
konnte, nimmt es geschickt an sich;
• er hat also eine Vorstellung vom
Unterschied der Perspektiven.
aus Robin Dunbar: The Human Story, S.46
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Persönlicher Glaube erfordert
ToM 3
• Ich glaube (1), dass es Götter gibt, die
bewogen werden können zu verstehen (2),
was ich erbitte (3), und entsprechend
handeln.
So Robin Dunbar: The Human Story S.185
Religion als soziales Phänomen
erfordert mindestens ToM 4
• Ich nehme an (1), dass du denkst (2),
dass ich glaube (3), dass es Götter gibt,
die mich bestrafen können (4).
die unsere Zukunft beeinflussen wollen (4)
… [weil sie unsere Wünsche verstehen
(5)?].
Vgl. Robin Dunbar: The Human Story S.185
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Dunbar: The Human Story, S.48
ToM höherer Stufe
• Polizistin will Dieb Hut zurückgeben, aber
der fühlt sich ertappt und gibt geraubten
Schmuck heraus:
• Sie merkt, dass er nicht erkannt hat, dass
sie noch nicht wusste, dass er…
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ToM höherer Stufe
• Ich will jemanden darauf aufmerksam
machen, dass sein Freund kommt: Ich will
gleichzeitig, dass er weiß, dass ich will, dass
er weiß, dass sein Freund kommt.
Empathie ist relativ …
• ist individuell unterschiedlich,
• ist von der Stimmung abhängig,
• kann geschult werden,
• kann durch OFC moduliert werden,
• ist vom vermuteten Kontext abhängig,
• ist vom Fokus der Aufmerksamkeit
abhängig.
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… und doch eine Universalie „Die Geister aller Menschen sind sich hinsichtlich
ihrer Gefühle … gleichartig. Niemand kann durch
eine Gemütsbewegung getrieben werden, ohne
daß zugleich alle anderen bis zu einem gewissen
Grade dafür empfänglich wären. Sind zwei Saiten
gleichgespannt, so teilt sich die Bewegung der
einen der anderen mit; in gleicher Weise gehen die
Gemütsbewegungen leicht von einer Person auf
die andere über und erzeugen korrespondierende
Bewegungen in allen menschlichen Wesen.“ (Hume: Traktat über die menschliche Natur, Teil III,
Abschnitt 1)
Warum homo sapiens mehr
Empathie und ToM höherer Stufe? Komplexere Sozialstruktur
• mehr Gruppenmitglieder
• statt Lausen Sprechen (über andere) (20%
der Zeit)
• Geburten in kürzeren Abständen (mothers
and others, z.B. Väter)
• verstärkte Kooperation
• verstärkte Notwendigkeit, Täuschung und
Betrug zu entlarven
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Wann reagiere ich empathisch?
1. Notsituation eines anderen
Wenn ich erlebe, wie sich jemand verletzt,
verunfallt, fühle ich spontan mit.
Evolutionärer Sinn: ich kann Verwandten
und Freunden helfen.
Wann reagiere ich empathisch?
2. Parteinahme (Dreierkonstellation)
Wenn ich einen Streit, Wettkampf beobachte
und für eine Seite parteilich bin, dann leide
ich mit, wenn diese unterliegt oder freue
mich mit, wenn sie siegt. Ich bin loyal. (Das erst macht ein Fußballspiel, einen Boxkampf
spannend.)
Evolutionärer Sinn: Stärkung des
Bündnisses, der Reziprozität, des
Familiensinnes, des Gruppenegoismus
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Wann versetze ich mich in den
anderen? 3. Interesse an seinem Beobachten, Tun
etc. (gilt auch für das Verhalten von Tieren)
evolutionärer Sinn:
Chance, etwas Bedeutsames zu erfassen,
wo Futter oder eine Gefahr ist.
Vielleicht gibt es die Möglichkeit, etwas zu
lernen.
Wann agiere ich empathisch?
4. Erwerb von strategischem Wissen für
Kooperation und Konkurrenz
Wer ist kooperativ? Wer wird von welchen
Motiven und Gefühlen geleitet?
Ich überlege mir, was der andere für Ziele
verfolgt, welche Mittel er einsetzt, über
welche Fähigkeiten er verfügt und welche
Unterstützer er hat.
Evolutionärer Sinn: Kooperation nutzen –
sich vor Ausbeutung schützen
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5. um einen Betrüger zu entlarven und zu
bestrafen, dazu ToM nötig
• Um einen „free-rider“ zu bestrafen, muss
ich seine Motive als egoistisch erfassen.
• Ich will, dass du weißt, dass er mich
ausnutzen will. (Tratsch zur Isolierung des
Betrügers)
• Ich teile die Empörung von x über die
Ausbeutung von y durch z und die
Empörung von x, dass y sich nicht wehrt.
• ..\..\Soziobiologie\AltruisticPunishmentQue
rvain2004.full.pdf
Wann agiere ich empathisch?
Wann agiere ich empathisch?
6. Abhängigkeit von einem anderen
Wenn ich von jemandem vollständig
abhängig bin, versuche ich zu erraten, was
in ihm vorgeht, um mich zu schützen.
(Verrückte oder despotische Eltern,
Entführer) (Stockholm-Syndrom)
Evolutionärer Sinn: Überlebensstrategie
../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf../../Soziobiologie/AltruisticPunishmentQuervain2004.full.pdf
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Wann sind wir wechselseitig
empathisch? 7. Geteilte Aufmerksamkeit
„Schönes Wetter heute.“ „Der
Sonnenuntergang!“
„Schau mal, was ich …“
„Stell dir vor, was mir/Peter passiert ist.“
Gemeinsam fernsehen.
Evolutionärer Sinn: Wir können eine
Aufgabe erfolgreich gemeinsam meistern.
Wechselseitige Empathie in der
Musik • Frauengesänge bei der Arbeit
• Tanzen und Singen
• Seemannslieder bei der Arbeit
• Marschlieder
• Gregorianische Gesänge
• Lieder in pfingstlerischen Kirchen
• Fußballfans
mit Endorphinausschüttung verbunden
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„Begleiter im Geiste“
• innerer Dialog (ToM 3. Stufe)
• Gewissen „daimonion“
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• Es sind vor allem die drei- bis siebenjährigen Kinder, die
mit den Phantasiefiguren leben, haben Psychologen
festgestellt. Meist sind die Begleiter Menschen, aber
auch Superhelden, Tiere oder Zauberer kommen vor.
Die Kinder sprechen und spielen mit ihnen.
• In der Forschung hat sich im vergangenen Jahrzehnt die
Position entwickelt, wonach imaginäre Kumpane eine
positive Entwicklungsphase im Leben von Kindern
markieren. Die Psychologin Marjorie Taylor von der
University of Oregon konnte in mehreren
Untersuchungen feststellen, dass die betroffenen Kinder
sich schneller als ihre "allein lebenden" Altersgenossen
eine Vorstellung von den Gefühlen und Gedanken ihrer
Mitmenschen bilden. Außerdem verfügen Kindern mit
imaginären Freunden über deutlich bessere
Kommunikationsfähigkeiten… (HUBERTUS BREUER
Süddeutsche Zeitung Nr.16, Mittwoch, den 21. Januar
2009 , Seite 16
Wann reagiere ich empathisch?
8. Hilfsintention eines anderen verstehen
Evolutionärer Sinn:
Kooperationsmöglichkeiten (wechselseitig)
nutzen
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Fürsorge/
Schaden
Fairness/
Unfairness
Loyalität/
Untreue
Autorität/
Subversion
Heiligkeit/
Entehrung
Freiheit/
Unterdrückung
Adaptive
Funktion
Schutz und
Fürsorge für
Kinder (und
Verwandte)
Vorteile
schöpfen aus
einer wechsel-
seitigen
Partnerschaft
Zusammen-
halt in
Koalitionen
schaffen
Nützliche
Beziehungen in
Hierarchien
knüpfen und
stabilisieren
Ver-
schmutzung
vermeiden
Schweren
Nachteil
vermeiden
Ur-
sprüng-
liche
Auslöser
Leiden und
Bedürftig-
keit der
eigenen
Kinder
Kooperation,
Täuschen,
Betrug
Bedrohung
oder Heraus-
forderung für
die Gruppe
Zeichen von
Dominanz oder
Unterwerfung
Verdorbene
Lebensmittel,
kontaminierte
Gegenstände,
kranke
Personen
Zeichen für
Machtan-
maßung
Aktuelle
Auslöser
Kindchen-
schema,
Hilfsbedürf-
tigkeit
marital fidelity,
broken
vending
machines
Teams im
Sport,
(Lokal-)
Patriotismus
Chefs,
Respekts-
personen
Tabus Ungerechtig-
keit, Machtmiss-
brauch
Typische
Gefühle
Mitleid Dankbarkeit,
Schuldgefühl,
Ärger-Wut
Gruppen-
stolz, Wut auf
Verräter
Respekt, Furcht Ekel Empörung,
Entrüstung
Tugen-
den
Fürsorge,
Freundlich-
keit
Fairness,
Gerechtigkeit,
Verlässlichkeit
Loyalität,
Patriotismus,
Opferbereit-
schaft
Gehorsam,
Ehrerbietung
Sittsamkeit,
Reinlichkeit,
Pietät, Scham-
gefühl
Brüderlichkeit,
“Zivilcourage”,
Mut
Stufen der Erweiterung
• Ich (Egozentrisch)
• Ich und Du (reziproker Altruismus)
• Wir (Kleingruppenmoral)
• Gesellschaft (Recht und Ordnung)
• Alle (Humanität)
• Alle, die leidensfähig sind (Pathozentrismus)
• Das Ganze (Holismus)
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