Hausarztmedizin ist ANDERS als Spezialarztmedizin · 1 1 Dr. Stefan Sachtleben, Pirmasens Facharzt...

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Dr. Stefan Sachtleben, PirmasensFacharzt für Allgemeinmedizin

HausarztVorstandsmitglied des Hausärzteverbandes RLP

Lehrbereich Allgemeinmedizin der med. Fakultät der Universität des Saarlandes

Warum die ambulante ärztliche Versorgung gegliedert sein muss

Oder

Allgemeine Medizin ist anders als spezielle Medizin

HARTMANNBUND RLP LANDESDELEGIERTENVERSAMMLUNG MAINZ AM 7. Mai 2011

Das Manuskript dieses Referates finden Sie unter www.hausarzt-rlp.de

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Hausarztmedizin ist ANDERS als Spezialarztmedizin

• Patientenpopulation

• Niedrigausprägung

• Niedrigprävalenz

• Umfassende Kenntnis der Versorgungslandschaft

• Breite des Faches

• Erlebte Anamnese - gute Kenntnis der Patienten

• Therapie-Autonomie-Konflikt = Hohe Bedeutung der oft jahrzehntelangen Patient-Arzt-Beziehung

(Die Krankheiten kommen und gehen, der Mensch bleibt)

• Jahrelange Begleitung bei „austherapierter“ Multimorbidität, chronischer Krankheit und Alter – Multimorbidität ist vor

allem ein allgemeinmedizinisches Problem

• Medikamentennebenwirkungen – niemand verordnet so viel und über so lange Zeiträume

• Prävention

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1000 Menschen

800 haben Symptome

230 è niedergelassener Arzt/Hausarzt

8 è Krankenhaus = <1%!!

<1 è Universitätsklinik = < 1‰!!

PATIENTENPOPULATIION:Wo werden Menschen medizinisch versorgt?

Nach Green LA et al. (2001) N Eng J Med 344: 2021-5 (alle Altersgruppen / Monat)

Aus dem Heidelberger CONTENT-Projekt (www.content-info.org) : 100.000 Patienten in 3 Jahren

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Hausarztmedizin ist ein BREITES Fach = es gibt keine Nischen

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Hausarztmedizin ist ANDERS als Spezialarztmedizin

• Patientenpopulation

• Niedrigausprägung

• Niedrigprävalenz

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.

NIEDRIGAUSPRÄGUNG

8

1000 Menschen

800 haben Symptome

230 è niedergelassener Arzt/Hausarzt

8 è Krankenhaus = <1%!!

<1 è Universitätsklinik = < 1‰!!

PATIENTENPOPULATIION:Wo werden Menschen medizinisch versorgt?

Nach Green LA et al. (2001) N Eng J Med 344: 2021-5 (alle Altersgruppen / Monat)

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Das Verhältnis

Primärversorgungsbereich

zu

Sekundärversorgungsbereich

ist etwa:

20-30 : 1

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Das Verhältnis

Hausärzte : Spezialärzte beträgt in der ambulanten Versorgung in

RLP:

34:66 = 1:2!

Es gibt doppelt so viele Spezialisten wie Hausärzte –

die stationären Spezialisten sind hier nicht eingerechnet

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Hausarztmedizin ist ANDERS als Spezialarztmedizin

• Patientenpopulation

• Niedrigausprägung

• Niedrigprävalenz

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• Sensitivitätbeschreibt den Anteil positiver Testergebnisse bei einem Kollektiv, das zu 100% Kranke enthält. Sensitivität von 1 oder 100%: alle Kranken erkanntSensitivität von 0,5 oder 50%: 50% der Kranken erkannt.

• Spezifitätbeschreibt den Anteil negativer Testergebnisse bei einem Kollektiv, das zu 100% Gesunde enthält.Spezifität von 0,5 oder 50%: 50% der Gesunden wurden richtig erkannt.

Bewertung der Leistungsfähigkeit technischer Diagnostik

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Bewertung der Leistungsfähigkeit technischer Diagnostik

Sensitivität/Spezifität verlangen Kollektive mit Prävalenzen von 100% bzw. 0%.

In der Praxis sind Gesunde und Kranke jedoch gemischt. Die Prävalenz für die KHK beträgt in der Hausarztpraxis ca. 1%. Auf einer kardiologischen Spezialstation kann die Prävalenz für KHK dagegen 50% und mehr betragen.

NIEDRIGPRÄVALENZ - HOCHPRÄVALENZ

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Bewertung der Leistungsfähigkeit technischer Diagnostik

Die Prävalenz verändert die Leistungsfähigkeit eines Testes. Daher wird die Leistungsfähigkeit eines Testes in der Praxis beschrieben mit dem:

Positiven/negativen Vorhersagewert

Diese Werte werden nach dem Satz von BAYES berechnet – dasBAYES‘SCHE THEOREM

(Thomas Bayes 1702 - 1761 englischer Mathematiker und presbyterianischer Pfarrer)

odermit der Vierfelder-Tafel

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Bewertung der Leistungsfähigkeit technischer Diagnostik

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Bewertung der Leistungsfähigkeit technischer Diagnostik

Positiver/negativer VorhersagewertHängen wesentlich von der PRÄVALENZ ab.

Dies hat weit reichende Konsequenzen für die Wertigkeit technischer Tests.

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Beispiel EKG

Es sollen folgende Prävalenzen für KHK gelten:

Kardiologische Krankenhausstation: 50%

Hausarztpraxis: 1%

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EKG unter stationären Bedingungen der Hochprävalenz:Sensitivität 70 %Spezifität 90 %Prävalenz der KHK auf einer kardiologischen Station sei 50%

tatsächlich POSITIV

tatsächlich NEGATIV

Prävalenz 50 % 50 %

EKG positiv 35 % 5 %

EKG negativ 15 % 45 %

Positiver Vorhersagewert [35/(35+5)]: 88 % (9 von 10 positiven EKGs richtig positiv)

Negativer Vorhersagewert[45/(15+45)]: 75% (6 von 10 negativen EKG richtig negativ)

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EKG unter Hausarztbedingungen der Niedrigprävalenz:Sensitivität 70 %Spezifität 90 %Prävalenz der KHK in Praxis: ca. 1% (35 – 69 jährige)

tatsächlich POSITIV

tatsächlich NEGATIV

Prävalenz 1 % 99 %

EKG positiv 0,7 % 9,9 %

EKG negativ 0,3 % 89,1 %

Positiver Vorhersagewert: 6,5 % (1 von 15 EKGs richtig positiv)Negativer Vorhersagewert: 99,7% !!!!

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Universität ambulanter Kardiologe Hausarzt

Positive Vorhersagewerte des EKG‘s bei verschiedenen Prävalenzen in der Untersuchungspopulation

Prävalenz (%)

Pos.VW (%)

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Universität ambulanter Kardiologe Hausarzt

Negative Vorhersagewerte des EKG‘s unter verschiedenen Prävalenzen in der Untersuchungspopulation

Prävalenz (%)

Neg. VW (%)

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Bewertung der Leistungsfähigkeit technischer Diagnostik

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EKG unter stationären Bedingungen der Hochprävalenz:Sensitivität 70 %Spezifität 90 %Prävalenz der KHK auf einer kardiologischen Station sei 50%

tatsächlich POSITIV

tatsächlich NEGATIV

Prävalenz 50 % 50 %

EKG positiv 35 % 5 %EKG negativ 15 % 45 %

Falsch-Positiv-zu-Richtig-Positiv-Relation: 0,14

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EKG unter Hausarztbedingungen der Niedrigprävalenz:Sensitivität 70 %Spezifität 90 %Prävalenz der KHK in Praxis: ca. 1% (35 – 69 jährige)

tatsächlich POSITIV

tatsächlich NEGATIV

Prävalenz 1 % 99 %

EKG positiv 0,7 % 9,9 %EKG negativ 0,3 % 89,1 %

Falsch-Positiv-zu-Richtig-Positiv-Relation: 14 (100x höher als in der Hochprävalenzsituation!)

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Universität ambulanter Kardiologe Hausarzt

Falsch positive EKGs im Verhältnis zu den richtig positiven EKGs abhängig von der Prävalenz der KHK

in der Untersuchungspopulation

Explosion der Falsch-Positiv-zu-Richtig-Positiv-Relation(=Fehldiagnosen) im Niedrigprävalenzbereich bei nicht indizierter Diagnostik

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Krebsvorsorgeuntersuchungen:

Sensitivität 85%(liegt insgesamt eher niedriger; jedoch für einige

Tests, z.B. Koloskopie in entsprechenden Zentren, auch höher)Spezifität 90 %Prävalenz sei 0,1% ( = 1:1000)

tatsächlich POSITIV

tatsächlich NEGATIV

Prävalenz 0,1 % 99,9 %

Vorsorge positiv 0,085 % 9,9 %Vorsorge negativ 0,015% 90 %

Positiver Vorhersagewert: 0,85 %Falsch-Positiv-zu-Richtig-positiv-Relation: 116

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Cochrane 2006:

2000 Frauen müssen 10 Jahre lang mammographiert werden um 1 zu retten.

Jedoch werden bei 10 gesunden Frauen Krebs diagnostiziert und sie werden behandelt.

200 müssen sich der Abklärung eines Verdachtes unterziehen.

Falsch-Positiv-zu-Richtig-positiv-Relation: 200!!

Cochrane-Autor Gotsche rät von der Mammographie-Vorsorge ab.

Diagnostische UnschärfeJede Diagnostik ist mehr oder weniger unscharf.

Ihre Leistungsfähigkeit wird definiert von der Trias:

Sensitivität

Spezifität

Prävalenz

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Diese Gedanken lassen sich auf alle diagnostischen Tests

übertragen – auch auf das „Diagnostische System“ ARZT!

Die Arzt-Sensitivität beträgt beim

- Anfänger-Arzt 50-60%,

- hochspezialisierten Nischenarzt 80-85%

Etwa 17% der Bevölkerung werden pro Quartal vom „System Arzt“

untersucht – daraus lässt sich folgende Rechnung ableiten:

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Falsch Positive durch die diagnostische Unschärfe des medizinischen Systems

Sensitivität 80%Spezifität 85 % (geschätzt)

Prävalenz aller Kranken 8% (geschätzt)

Anzahl aller Patienten eines Quartals

13.600.000

Anzahl richtig Positiver 870.400 = 6,4%Anzahl falsch Positiver 1.876.800 = 14%

Überschlägig berechnet produziert ein unkritisch angewandtes System Arzt etwa doppelt so viel Gesunde-Patienten, wie tatsächliche Patienten

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Diagnostische Unschärfe in der ambulanten Versorgung hat Konsequenzen

• Die Anzahl der Patienten, die nicht sicher als gesund bezeichnet werden können, liegt um den Faktor 3-200 höher als die Anzahl derer, die sicher als krank bezeichnet werden können.

• Je mehr untersucht wird um letzte Sicherheit zu erhalten, desto höher wird die Zahl der Kontrollbedürftigen, Abklärungsbedürftigen, unklaren Fälle – alle die, die nicht krank sind, aber nicht SICHER als gesund bezeichnet werden können.

Der NICHT-KRANKE-DAUERPATIENT!

• Diagnostische Unschärfe, die Nicht-kranken-Dauerpatienten - dies ist der eigentliche wirtschaftliche Motor des Gesundheitswesens. Je mehr untersucht wird, mit desto höherer Drehzahl dreht der Motor und produziert immer höhere Zahlen Zur-Sicherheit-kontrollbedürftiger-Befunde = Falsch-Positive

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Anzahl der Wiederbehandlungspatienten in Spezialarztpraxen in Mecklenburg- Vorpommern

(Zahlen der KV M-V: hier städtische Neurologen)

Kreye, D.; Zeitschrift für Allgemeinmedizin 2008, 84: 286-288

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DIAGNOSTISCHE UNSCHÄRFE

Im Niedrigprävalenzbereich produziert unkritisch angewandte Diagnostik HOHE Zahlen von FLASCH POSITIVEN!!!

Die Anzahl der GESUNDEN-DAUERPATIENTEN nimmt mit jeder nicht indizierten Untersuchung um den Faktor 2-200 zu!!

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DIAGNOSTISCHE UNSCHÄRFE

Der unkritische Umgang mit der diagnostischen Unschärfe des

Systems Arzt und seiner technischen Diagnostik ist die eigentliche

Ursache für die ständig steigenden Patientenzahlen, die ständig

steigenden Untersuchungszahlen, den ständig steigenden

Arztbedarf und das ungesunde Übergewicht, das die spezialisierte

Medizin in Deutschland hat.

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DIAGNOSTISCHE UNSCHÄRFE

„Jede Untersuchung“ bedeutet genauer:

Jede Untersuchung ohne Indikation an asymptomatischen Patienten im ambulanten Versorgungsbereich.

(z.B. IGEL‘n,

Wunschdiagnostik,„Zur-Sicherheit“-Diagnostik, Zwang zur Gerätemedizin durch eine techniklastige Honorarabrechnung,die außerordentliche Technik-Gläubigkeit der Zeitgenossen;aber auch „ungefilterte“ Spezialarztkontakte)

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NOTWENDIGKEIT

DER

GEGLIEDERTEN

AMBULANTEN ÄRZTLICHEN VERSORGUNG

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Schneider et al., ZaeFQ 2006

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Effekt einer gut funktionierenden Primärmedizin ist die

Erhöhung der Prävalenz in der Spezialarzt-Patienten-Population.

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Das ist der Kern-Unterschied zwischen

Primärversorgung und Sekundärversorgung:

Hausarztmedizin hat seit Jahrzehnten gelernt mit dem

Problem der Breite der Probleme, der großen Patientenzahlen und der

diagnostischen Unschärfe im Niedrigprävalenzbereich umzugehen.

Unsere fachtypischen Konzepte der „symptomatischen Therapie“, des „Start

low, go slow“, des „Abwartenden Offenlassens“, des „abwendbar

gefährlichen Verlaufes“ und der „Wiedervorstellung“ sind Ausdruck dieser

Erfahrung.

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Es ist dieses Niedrigprävalenz-Know-How der Primärmedizin

und die damit verbundene Patienten-Selektion,

durch welches es der spezialärztlichen Sekundärmedizin möglich wird

ihre technische Diagnostik und ihr spezialärztliches Wissen effektiv

einzusetzen.

Jedes spezialärztliche Arbeiten an unselektierten Patientenpopulationen

ist primärversorgendes Arbeiten und schränkt die Möglichkeiten der

Spezialarztmedizin ein.

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So gehören allgemeine und spezielle

Medizin zusammen - KOMPLEMENTÄR

Erst in einer komplementär gegliederten Versorgung ist eine effektive

ärztliche Arbeit möglich!

Primärmedizin und Sekundärmedizin müssen getrennte

Versorgungsebenen werden.

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Besten Dank für Ihr Interesse und Ihre Geduld