Jugendsprache in Forschung und Unterricht · erobert Jugendsprache“ , Tages-Anzeiger, Januar...

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Jugendsprache in Forschung und Unterricht

Prof. Dr. Christa Dürscheidduerscheid@access.unizh.ch

Universität ZürichDeutsches Seminar

Zur Definition von Jugendsprache

Jugendsprache

Sprechstile verschiedener Jugendgruppen und Jugendszenen

individueller Sprechstil

Gliederung des Vortrags

1. Jugendsprache als Forschungsgegenstand

2. Merkmale jugendlichen Sprechens und Schreibens

3. Jugendlicher Sprachgebrauch in der Deutschschweiz

4. Jugendsprache als Unterrichtsgegenstand

5. Fazit

Jugendsprache als Forschungsgegenstand

Uwe Pörksen/Heinz Weber (1984): Spricht die Jugend eine andere Sprache? Antworten auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr 1982.

Heidelberg: Verlag Lambert Schneider.

Tagungen1992: Jugendsprache - theoretische Standpunkte und methodische Zugriffe (Leipzig)

1997: Soziolinguistische und linguistische Aspekte von Jugendsprache (Heidelberg)

1998: Jugendsprache(n) - Jugendkulturen -Wertesysteme (Osnabrück)

2001: Jugendsprachen: Spiegel der Zeit (Wuppertal)

2005: Perspektiven der Jugendsprachforschung(Zürich/Boldern)

PublikationenJannis K. Androutsopoulos (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt/ M. u.a.: Verlag Peter Lang.

Christa Dürscheid/Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) (2006). Zwischentöne. Zur Sprache der Jugend in der Deutschschweiz. Zürich: NZZ Libro

Merkmale von Jugendsprache1) Wortbildung/Phraseologie

2) Syntaktische Muster

3) Entlehnungen aus dem Englischen

4) Kommunikationsverhalten

vgl. Jannis K. Androutsopoulos (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt/ M. u.a.: Verlag Peter Lang

produktive Wortbildungen: abhängen, abdüsen, abtanzen, rumchillen, rummotzen, rumgammeln

Phraseologismen: Vergiss es!, Ich denk, mein Schwein pfeift, Das haut rein.

Code-Switching: Tschuessli, see you! Was got up?

intensivierende Ausdrücke: fääd, deftig, gäch,huere guet

Verwendung von „Vagheitsmarkern“: irgendwie, einfach eigentlich, oder so

Wortbildung/Phraseologie

Wörterbücher zur JugendspracheAbgefahren – Eingefahren von Eike Schönfeld (1986)

Duden, Wörterbuch der Szenensprachen vom Duden Trendbüro (2000)

Affengeil (1992), Oberaffengeil (1996) und Voll konkret(2001) von Hermann Ehmann

PONS. Wörterbuch der Schweizer Jugendsprache (2002).

PONS. Wörterbuch der Jugendsprache. Deutsch –Englisch/Französisch/Spanisch (2005).

Wortfeld gut/ausgezeichnetSchönfeld 1986: abgefahren; astrein; zum Abspritzen; vom Feinsten; bockstark etc.

Ehmann 1992 (Affengeil): klasse; spitze, (ultraoberaffentitten-)geil; elefantös; galaktisch; kosmisch; wahnsinnig; ultrakrass; ultracool; (aller)erste Sahne etc.

Ehmann 1996 (Oberaffengeil): oberaffengeil; abgedreht; abgehoben; grell; bombog; hip; oberdoll; optimalo etc.

Duden Trendbüro 2000: galaktisch, phat

Ehmann 2001 (Voll konkret): endgeil; granatenmäßig; krokofantös; movemäßig; ultimativ etc.

PONS 2002: fääd, deftig, gäch, huere guet

PONS 2005: dick

Syntaktische Muster1) ethnolektales Deutsch (Gehn wir Disco?,

Was macht Fußball?, Hast du Wörterbuch mit?)

2) Intensivierungen (voll der Hammer, absolut die Wucht, echt der Oberhammer, total der Beschiss)

3) Nachträge: Ich war genervt, echt. Das kriegst du, logo. Das lohnt sich, ohne Scheiß.

Entlehnungen aus dem EnglischenBeispiele für Code-Switching:

(1) Nicht schlecht, but not good enough

(2) Bigge Party

(3) Meine Family

Beispiele für Nonstandardschreibungen:

(1) thx

(2) kul

Das Prinzip der Bricolage

• Zitate aus Medientexten

• Sprüche

• VerfremdungenBeispiele: (1) Es gibt viel zu packen, tun wir‘s Ihnen an.(2) Nur keine Panik auf der Titanic.(3) Hi - Wo?(4) Tue mi nid produziere!

Kommunikationsverhalten1. rituelle Begrüßungs- und

Verabschiedungsmuster (z.B. Handschlag, Faustschlag, Umarmung, Küsschen, beschimpfende Anrede, z.B. hey, du schwuler Bock, gahts guet?- Ja eh, du Obernutte)

2. Verwendung bestimmter Gesprächspartikeln und Routineformeln (z.B. ey, boah, wow!, würg, echt? Hammer!, ich mein)

3. Nonverbale Merkmale (Körperhaltung, Frisur, Kleidung)

Sprachgebrauch in der Deutschschweiz

• Mundart und Englisch

• Mundart und ethnolektales Deutsch

• Schreiben in Mundart

Mundart1. Verstärkungslexeme: uu, krass, huere, extrem, geil, mega, rüüdig, ätzend

2. Gesprächseröffnung: Bisch fit?

3. altes Wortgut: Er cha chäch Schiifahre, D Party isch gäch gsi

4. Code-Switching

• Wechsel vom St. Galler Deutsch ins Toggenburger Deutsch: a) Das isch asä toll! b) Gömmer go schiinä? c) Gosch no in gadähüt Nomitag?

• Wechsel vom St. Galler Deutsch ins Bündner Deutsch: a) Das chunnt mir aswiakomisch vor – di han i scho aswo gsee! b) Tschau, häsch guat, was machsch so?

Code-Switching

Mundart und Englisch

(1) Gömmer go foode?

(2) Exgüsi! – Easy!

(3) aber i ha meh knowledge alsmal aui vom chat zämä

(4) tschegge (checken), scheike (shaken), schutte (shooten)

Mundart und ethnolektalesDeutsch

(1) Hesch mer Zigarett?

(2) Hey, was redsch mer a? Benni Fernseh?

(3) Gischmer Ball!

(4) Gömmer Migros?

(5) Ey was god ab man?

" Ey, Mann, hasch du konkret neue Handy?" –

"Logo, isch konkret krass neue Handy!" –

"Wo kaufen? Was bessahlen?" –

"Hab isch konkret geklaut, weisch!"

Bsp. übernommen aus dem Artikel „Balkan-Slang erobert Jugendsprache“ , Tages-Anzeiger, Januar 2000

Mundart und ethnolektalesDeutsch

Auszüge aus einer schriftlichen Befragung zum ethnolektalen Deutsch, durchgeführt von Andrea Baumeler

In welchen Situationen verwendest du ‚Balkandeutsch‘?

Natascha, 16, Oberstufenschülerin: „Wenn ich auf Döddel Tripp bin!“

Dave, 19, Maturand: „mit gewissen Kollegen komme ich automatisch auch in diese Sprache, um zu blödeln ist diese Sprache wunderbar“

• Selbststilisierung zum 'coolen', 'aggressiven Macho’ als emotionaler Panzer

• Habitus, der sich mit den kulturellen Vorlieben der Jugendlichen verbindet: Hip-Hop, ursprünglich in amerikanischen Ghettos situiert (und mit dem 'Black English' assoziiert), lässt sich in der Schweiz nun mal am besten mit dem Stereotyp des ‚ghettoisierten Secondo‘, der Balkan-Slang spricht, verbinden

• Brechen von Normenvgl. Christa Dürscheid/Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) (2006). Zwischentöne. Zur Sprache der Jugend in der Deutschschweiz. Zürich: NZZ Libro.

Mundart und ethnolektalesDeutsch

„Längst reden nicht mehr nur die vom Volksmund ‚Jugos‘ gescholtenen Immigranten aus dem Balkan so, sondern all meine Kollegen, ob im Büro, im Fussballtraining, am Geburtstagsfest. Voll krass, Mann.“

Bänz Friedli: Konkret, Mann, hey! Pendlerregel Nummer neun vom 18. Mai 2000. In: Bänz, Friedli; Egger, Alexander (2003): Ich pendle, also bin ich. Kolumnen aus 20 Minuten und Bilder aus demNahverkehr mit einem Vorwort von Benedikt Weibel. Kriens

„Anschluss o.k., schnell daheim, Sie glücklich?“

„Bus dreckig, kein Sitzplatz, Sie verärgert?“

„Automat kaputt, Service mies, Sie sauer?“Werbekampagne der Offenbacher Verkehrsbetriebe

„Du müde? Wir Zimmer.“Werbung von IBIS, Zürich

„SMSlen“

Schreiben in Mundart

Hey, häsch du dir überleit, öbd mal mit mir redsch? Du chasch doch nöds gfühlha, dasd mit mir per sms schluss chaschmache, und meine, ichweli kei persönlichi erklärig!! Für dich ischs scho klar eifach, duliäbsch mi ja nüme, aber was isch mit mine gfühl?

Schlof guet und träum süess. I miss you and hdmmufkl, a big kiss for you!

Na habs ja gesagt... da KANN ja gar nix schief gehen *küss* Trink ma noch ein bierschen (man muss ja auch maln bierschen trinken...)

Hey bin grad bei nicole. Mir kucken grad fotos an. Ich hab j. Noch nicht gesehen nicowohnt nicht in sand wie lang fahrt ihr noch?

Zum Vergleich: SMS in Deutschland

Zettelnachrichten

A: Hurra kein Churztest!!! Aber isch trotzdem langwilig.

B: Njaaa! Aber Mann, wenn sie ein wür mache wär sie ä dummi chue, jetzt wo sie keine macht motzet mär au!

•E-Mail

•Chat

•Instant Messaging (z.B. ICQ)

Neue Kommunikationsformenim Internet

Is it joy or sorrow? sagt: wie war die latein-prüfung?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: scheisseIs it joy or sorrow? sagt: ☺Is it joy or sorrow? sagt : wieso?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: will ich en schiessdräck herä gschriebe handievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: de stoff han i scho chönne, aber die Prüefig nödIs it joy or sorrow? sagt: hast du sie verhauen?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: jaIs it joy or sorrow? sagt: shitIs it joy or sorrow? sagt: mit welcher note rechnest du?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!!: 3 oder4Is it joy or sorrow? sagt: kam nur der relativ-scheiss vor?

I. Verschriftungstechniken (in Auswahl):

• Verwendung von Kurzschreibungen (z.B. cu) und Smileys (z.B. ☺)

• konsequente Kleinschreibung (z.B. die schule ist voll easy)

• Wiederholung von Buchstaben und Satzzeichen (z.B. dievollhammerintelligänzbestie!!!!!!)

• normungebundenes Schreiben

Prototypische Merkmale der IM-Kommunikation

II. Ausdrucksmittel (in Auswahl):

• Reduktionsformen (z.B. ists)

• elliptische Sätze (z.B. Hab grad ein moment zeit)

• Inflektive (z.B. freu, stöhn, auf der Leitung steh)

• umgangssprachliche Ausdrücke (z.B. der relativ-scheiss)

• Mundartschreibung (z.B. de stoff han i scho chönne)

Prototypische Merkmale der IM-Kommunikation

1. Informeller Sprachgebrauch

2. Normungebundenes Schreiben

3. Verwendung jugendsprachlicher Ausdrucksmittel

Jugendlicher Sprachgebrauch in der Internetkommunikation

Merkmale jugendlichen Schreibens

1. Verwendung jugendsprachlicher Ausdrucksmittel

2. Informeller Sprachgebrauch

3. Normungebundenes Schreiben

Is it joy or sorrow? sagt: wie war die latein-prüfung?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: scheisseIs it joy or sorrow? sagt: ☺Is it joy or sorrow? sagt : wieso?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: will ich en schiessdräck herä gschriebe handievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: de stoff han i scho chönne, aber die Prüefig nödIs it joy or sorrow? sagt: hast du sie verhauen?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!! sagt: jaIs it joy or sorrow? sagt: shitIs it joy or sorrow? sagt: mit welcher note rechnest du?dievollhammerintelligänzbestie!!!!!!: 3 oder4Is it joy or sorrow? sagt: kam nur der relativ-scheiss vor?

• Wechsel vom St. Galler Deutsch ins Toggenburger Deutsch:

•a) Das isch asä toll! b) Gömmer go schiinä? c) Gosch no in gadä hüt Nomitag?

• Wechsel vom St. Galler Deutsch ins BündnerDeutsch:

•a) Das chunnt mir aswia komisch vor – di han i scho aswo gsee! b) Tschau, häsch guat, was machsch so?

Code-Switching

Jugendsprache als Unterrichtsgegenstand

Bildungsziel

[...]

Die deutsche Sprache wird in ihren Erscheinungsformen, in ihrer Entwicklung und in ihrer sozialen Vielfalt betrachtet und untersucht. Realgymnasium Rämibühl Zürich

Lehrplan, gültig ab Schuljahr 2005/06, S. 11

Jugendsprache als Unterrichtsgegenstand

Pro:

•Anknüpfen an die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen

•höhere Motivation als bei anderen Themen

•Entwicklung von Sprachbewusstsein

•Reflexion über Normen

•einfach zugängliches Datenmaterial, das sprachliche Varietät anschaulich dokumentiert

Jugendsprache als Unterrichtsgegenstand

Contra:

•mangelnde Distanz

•begrenzter Lernerfolg

•Modethema

•Abbau des Normenbewusstseins

LiteraturNeuland, E. (2003): „Jugendsprachen –

Perspektiven für den Unterricht Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache“, in: Neuland, E. (Hrsg.): Jugendsprachen –Spiegel der Zeit, Frankfurt/M.: Lang, 447-462.

Sprachwelt Deutsch. Sprachlehrmittel für den Deutschunterricht an der Sekundarstufe I. Sachbuch. Erarbeitet von Ann Peyer, Daniel Friedrich, Therese Grossmann und Franziska Bischofberger. Bern: schulverlag blmv 2003.

Mögliche Themen im Unterricht

• Jugendsprache in der Werbung

• Der öffentlicher Diskurs über Jugendsprache

• Jugendsprache als internationales Phänomen

• Jugendsprache früher und heute

• Soziale Aspekte von Jugendsprache

• Jugendsprache und Sprachwandel

• Jugendsprache im Spannungsfeld von Norm und Variation

Lernziele

Förderung von drei sprachlichen Teilkompetenzen:

•sprachanalytische Kompetenzen

•sprachproduktive Kompetenzen

•sprachreflexive Kompetenzen

vgl. Neuland, E. (2003: 457)

Jugendsprache im Spannungsfeld von

Identität und Alterität

Ohne Bewusstsein des Anderen gibt es kein Bewusstsein von sich selbst.Wolfgang Raible (1998): „Alterität und Identität“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, S. 15

Präsentation zum Vortrag (als pdf):

www.ds.unizh.ch/lehrstuhlduerscheid/