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Juristische Reihe TENEA/ Bd. 109
ARMIN ROCKINGER
Die rechtlichen und politischen Reformen in der Türkei auf dem Weg zu einer möglichen Mitgliedschaft in der Europäischen Unionunter Berücksichtigung der Machtkonstellationenim Nahen Osten
ISBN 3-86504-161-2 34 €
109
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Spätestens mit dem 03.10.2005 und damit dem Beginn der Beitritts-verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei,ist der bereits seit 1959 verfolgte Integrationsprozess der Türkei wie-der einer breiteren Öffentlichkeit bewusst geworden. Gerade die seit2001 vorgenommenen türkischen Rechtsänderungen in Verfassungund sonstiger Rechtsetzung gaben der EU Anlass dafür, den seit 1999offiziell anerkannten Beitrittskandidatenstatus der Türkischen Repu-blik nicht nur zu bekräftigen, sondern mit ihr den Weg zur Vollmit-gliedschaft zu vollziehen.
Dem stehen hingegen durchaus kräftige rechtliche, politische undökonomische Argumente entgegen mit der Folge, dass die Beitritts-fähigkeit der Türkei in der rechtspolitischen Diskussion nach wie vorsehr umstritten ist. Vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischenund ökonomischen Veränderungen in der nahöstlichen Region wer-den in dieser Arbeit daher die europäisch-türkischen Beziehungen indiesem Kontext europarechtlich untersucht. Dabei achtet der Autornicht nur auf eine rechtliche Bewertung des Integrationsprozesses,sondern auch auf die bilateralen Interessenlagen unter Berücksichti-gung der Geopolitik im Sinne der »Osterweiterung« der EU.
UmschlagJuraweltRockinger 02.03.2006 12:57 Uhr Seite 1
Juristische Reihe TENEA/ Bd. 109
TENEA
Tenea (‘η Τενεα), Dorf im Gebiet von Korinthan einem der Wege in die → Argolis, etwas s. desh. Chiliomodi. Sehr geringe Reste. Kult des Apol-lon Teneates. T. galt im Alt. sprichwörtl. als glück-lich, wohl wegen der Kleinheit […]Aus: K. Ziegler, W. Sontheimer u. H. Gärtner(eds.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike.Bd. 5, Sp. 585. München (Deutscher Taschen-buch Verlag), 1979.
ARMIN ROCKINGER
Die rechtlichen und politischen Reformen in der Türkeiauf dem Weg zu einer möglichen Mitgliedschaft
in der Europäischen Union unter Berücksichtigungder Machtkonstellationen im Nahen Osten
BRISTOL BERLIN
Armin Rockinger
Die rechtlichen und politischen Reformen in der Türkeiauf dem Weg zu einer möglichen Mitgliedschaft in der Europäischen Union unter Berücksichtigungder Machtkonstellationen im Nahen Osten
(Juristische Reihe TENEA/www.jurawelt.com; Bd. 109)
Zugleich Freie Universität BerlinDissertation 2005
(Originaltitel: »Die politischen Reformen in der Türkeiauf dem Weg zu einer möglichen Mitgliedschaft in der Europäischen Union unter Berücksichtigungder Machtkonstellationen im Nahen Osten«)
© TENEA Verlag Ltd., Bristol, Niederlassung DeutschlandBerlin 2006
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.Digitaldruck und Bindung:DDZ GmbH · 12103 Berlin
TENEA-Graphik: Walter Raabe, BerlinPrinted in Germany 2006
ISBN 3-86504-161-2
Gedruckt auf holzfreiem, säurefreiem,alterungsbeständigem Papier
D 188
Meiner Familie
VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2005 von der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Es ist mir ein Anliegen, mich an dieser Stelle bei allen zu bedanken, die mich bei der Anfertigung der Dissertation mit besten Ratschlägen und Anregungen unterstützt haben. Mein besonderer und ehrwürdiger Dank gilt dabei meinem Doktorvater Herrn Priv. – Doz. Dr. Dr. Ümit Yazicioğlu, der mich intensiv und umfassend betreute und mir stets nützliche sowie wertvolle Hilfestellungen gab. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Peter Grottian, Prof. Dr. Fritz Vilmar und Prof. Dr. Helgard Kramer. Besonderen Dank schulde ich meiner Familie, meinem Freund und Kollegen Dr. Gernot Brammer sowie Herrn Dr. Christoph Schmid für seine Unterstützung und Mühe bei der Korrektur des Manuskripts. Armin Rockinger
V
INHALTSVERZEICHNIS
Inhaltsverzeichnis.............................................................................................................. V
Abkürzungsverzeichnis..................................................................................................... X
Literaturverzeichnis.........................................................................................................237
KAPITEL 1: Prolog.............................................................................................. 1 KAPITEL 2: Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union im Kontext türkischer Verfassungsgeschichte…………............ 10
2.1 Historische Entwicklung der bilateralen Beziehungen.................... 10
2.2 Die Bewerbung der Türkei um eine Vollmitgliedschaft………….. 12
2.3 Die Zollunion als ökonomische Integrationsvorstufe.....…………. 13
2.4 Der türkische EU-Erweiterungsprozess ab 1995….……......…….. 14
2.5 Staatsrechtliche Grundentscheidungen in der türkischen
Verfassungs- und Rechtsordnung seit 1923.................…………… 18
2.6 Die Kopenhagener Kriterien von 1993 als manifester Integrations-
maßstab zur Einleitung politischer Reformen................................. 23
KAPITEL 3: Der Assoziationsprozess zwischen der Europäischen Union und der Türkei bis zur Errichtung der Zollunion…………….. 27
3.1 Westeuropäische Adaption als Staatszielbestimmung der Türkei... 27
3.2 Interessenkalküle der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft........ 30
3.3 Das Assoziationsabkommen vom 12. September 1963................... 32
3.4 Ratifizierung des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970
in die Übergangsphase zur Zollunion…………………………….. 35
3.5 Der weitere Assoziationsverlauf bis zur Errichtung der Zollunion. 37
VI
3.6 Errichtung der Zollunion zwischen der Türkei
und der Europäischen Union............................................................ 43
3.7 Bewertung des europäischen Integrationsansatzes.......................... 48
KAPITEL 4: Die rechtspolitischen Reformprozesse in der Türkei.................. 52
4.1 Militärstrukturen vor dem Hintergrund kemalistischer
Staatsideologie……………………………………………………. 52
4.2 Deinstitutionalisierung des Nationalen Sicherheitsrates.................. 56
4.3 Determination der politischen Willensbildung im türkischen
Parteiensystem………………………………………………….… 59
4.4 Schutz der Menschenrechte als gemeinschaftsrechtliche
Eingriffslegitimation für eine Integration........................................ 67
4.4.1 Die Todesstrafe als Strafmonopol des Staates................................. 68
4.4.2 Folter und Polizeigewahrsam als Mittel der Strafverfolgung.......... 69
4.4.3 Meinungsfreiheit als rechtsstaatliche Bestandsgarantie................... 72
4.4.4 Defizite innerstaatlicher Geschlechtergleichstellung....................... 75
4.4.5 Völkerrechtlicher Minderheitenschutz............................................. 81
4.4.6 Reformismus in der Kurdenfrage..................................................... 84
4.4.7 Akzeptanz multilateraler Menschenrechtsabkommen und
Institutionen..................................................................................... 89
4.4.8 Zusammenfassende Feststellungen zur Menschenrechtslage.......... 93
KAPITEL 5: Die Beitrittsverhandlungen auf Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union............................................................ 97
5.1 Bericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004
als Entscheidungsgrundlage............................................................. 97
5.2 Politische Bewertung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei............. 99
VII
KAPITEL 6: Zwischenergebnis………………………………………………... 103
KAPITEL 7: Die historische Entwicklung der Geopolitik des Nahen Ostens........................................................................... 113
7.1 Entstehung westlicher Mandatsgebiete im Nahen Osten
nach dem Niedergang des Osmanischen Reichs.............................. 114
7.2 Geopolitischer Strukturwandel in der Ära
zwischen den beiden Weltkriegen.................................................... 117
7.3 Der Nahe Osten als Frontregion
im Kalten Krieg (1945-1991)........................................................... 121
KAPITEL 8: Politökonomische Bedeutung des Nahen Ostens im Kontext neu strukturierter Machtkonstellationen nach dem Kalten Krieg....................................................................................125
8.1 „Die Neue Weltordnung“ – Machtpolitischer Strukturwandel
in der Region……………….......................................................... 129
8.2 Die Akteure der Nahostpolitik und ihr Machtpotenzial................... 131
8.3 Die Nahostpolitik der USA und ihre Auswirkungen
auf die zwischenstaatlichen Kräfteverhältnisse in der Region......... 133
8.3.1 Außenhandelspolitischer Ansatz...................................................... 133
8.3.2 Sicherheitspolitische Strategie…………......................................... 137
8.3.3 Militärische Interventionspolitik………………………………..… 138
KAPITEL 9: Richtlinienwandel türkischer Nahostpolitik......................... 143
9.1 Türkische außenpolitische Grundsatzentscheidungen
nach 1990…………………............................................................. 145
9.1.1 Expansion außenpolitischer Einflussbereiche……………….......... 147
VIII
9.1.2 Westadaptierte Nahostpolitik nach Turgut Özal.............................. 151
9.2 Parameterverschiebung in der Kurdenpolitik ..................................154
9.3 Außenbeziehungen zu Irak und Syrien............................................ 156
9.4 Türkisch-israelische Annäherung als
nahöstliches Konfliktpotenzial………………………………......... 160
9.5 Wasserpolitik als wachsendes Problem des Nahen Ostens.............. 165
9.6 Positionierung der Türkei im „Greater Middle East Project“
der USA ……………………………............................................... 168
KAPITEL 10: Der türkisch-kurdische Konflikt vor dem Hintergrund der EU-Integration......................................................................... 175
10.1 Die Lösungsrelevanz als Integrationsprämisse................................ 175
10.2 Die Perzeptionen des Konflikts........................................................ 177
10.2.1 Historische Einordnung.................................................................... 179
10.2.1.1 Friedensabkommen von Sèvres und Lausanne.................... 179
10.2.1.2 Kemalismus und türkisches Staatsverständnis..................... 180
10.2.2 Gesellschaftsstrukturen unter Berücksichtigung kurdischer
Identitätswahrnehmung.................................................................... 183
10.2.3 Türkische Staatspolitik gegen die kurdische Minderheit................. 186
10.2.4 Die Rolle des türkischen Militärs..................................................... 189
10.2.5 Die PKK........................................................................................... 191
10.2.6 Die transnationale Dimension des Kurdenkonflikts........................ 193
10.3 Konfliktwahrnehmung im europäischen Integrationsprozess.......... 195
10.3.1 Historischer Abriss der Beziehungen............................................... 196
10.3.2 Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien im Kontext der
Kurdenfrage..................................................................................... 199
10.4 Fazit.................................................................................................. 203
IX
KAPITEL 11: Die Europäisierung der Zypernfrage........................................... 205
11.1 Politische Ursachen des „Interkommunalen Konflikts“
auf Zypern........................................................................................ 207
11.2 Internationalisierung des Zypernkonflikts....................................... 210
11.3 Der Annan-Plan als zentraler Lösungsansatz der UN...................... 213
11.4 Die Positionen zum Annan-Plan bis März 2003.............................. 216
11.4.1 Die Position der TRNZ-Regierung zum Annan-Plan...................... 216
11.4.2 Die Position der griechisch-zypriotischen Regierung zum
Annan-Plan....................................................................................... 217
11.5 Wandlung und Hoffnung für Nordzypern ab März 2003.................218
11.6 Ablehnung und Skepsis der griechischen Zyprier........................... 220
11.7 Ergebnis........................................................................................... 223
KAPITEL 12: Zusammenfassung und Schlussfolgerungen................................ 226
12.1 Schlussfolgerungen…………………………………….................. 226
12.2 Ausblick…………………………………………………............... 233
X
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
AKP Adalet ve Kalkinma Partisi/ Gerechtigkeits- und
Entwicklungspartei
AOC Alcopor Owens Corning Holding
ARAMCO Saudi Arabian Oil Company
ANAP Anavatan Partisi/ Mutterlandspartei
BP British Petroleum
BSEC Black Sea Economic Cooperation
BTC Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline Project
BTE Baku-Tiflis-Erzurum Pipeline Project
CHP Cumhuriyetci Halk Partisi/ Republikanische Volkspartei
DEP Demokratik Emekci Partisi/ Demokratische Arbeiterpartei
DP Demokratische Partei
DSP Demokratik Sol Parti/ Demokratische Linkspartei
DYP Dogru Yol Partisi/ Partei des Rechten Weges
EG Europäische Gemeinschaft(en)
EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
ESVP Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
EU Europäische Union
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
GAP Güneydogu Anadolu Projesi- Südostanatolienprojekt
IEA Internationale Energieagentur
IPC Iraq Petroleum Company
IRCICA Zentrum für Islamische Geschichte, Kunst und Kultur
ISAF International Security Assistance Force
Kongra-Gel Volkskongress Kurdistans
MHP Milli Hareket Partisi/ Nationalistische Aktionspartei
NATO North Atlantic Treaty Organisation
NGO non governmental organisation
OIC Organization of Islamic Conference
XI
OPC Operation Provide Comfort (Multinationale Überwachungs-
mission im Nordirak)
OPEC Organization of Petroleum Exporting Countries
OSZE Organisation für Stabilität und Zusammenarbeit in Europa
NRO Nicht- Regierungs- Organisation
NSR Nationaler Sicherheitsrat
PKK Partiye Karkeren Kurdistan/ Arbeiterpartei Kurdistans
PLO Palästinensische Befreiungsorganisation
RCO Regional Cooperation Organization
RP Refah Partisi- Wohlfahrtspartei
RTÜK Radyo Televizyon Üst Kurulu/Oberster Funk- und
Fernsehrat
SECI South Eastern European Cooperation Initative
SEEB South Eastern Europe Brigade
SEECP South Eastern Europe Cooperation Process
SHP Sosyaldemokrat Halk Partisi/ Sozialdemokratische Volkspartei
TIPH Temporary International Presence Al-Khalil
TR Türkei
TRT Türk Radyo Televizyonu/ Türkische Funk- und Fernsehanstalt
TÜRK. StGB Türkisches Strafgesetzbuch
UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Sowjetunion)
UN United Nations
USA Vereinigte Staaten von Amerika
USD US-Dollar
Soweit Abkürzungen nicht aufgeführt oder besonders erläutert sind, wird verwiesen auf
Hildebert Kirchner / Cornelie Butz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Auflage
2003
1
„Die rechtlichen und politischen Reformen in der Türkei auf dem Weg zu
einer möglichen Mitgliedschaft in der Europäischen Union unter Berücksichtigung der Machtkonstellationen im Nahen Osten“
KAPITEL 1: Prolog
„Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern.“1 „Allein diejenigen, die jetzt auf einen Beitritt der Türkei drängen, sind Gegner der Europäischen Union.“2
Die Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union sind in dieser
Bestimmung und ähnlichen Formulierungen in früheren Verträgen enthalten, beginnend mit
dem Vertrag von Rom aus dem Jahr 1957. Ein Staat muss demnach als Prämisse für die
Zugehörigkeit zu dieser multilateralen Vereinigung „europäisch“ sein. Er hat sich den in Art.
2 des Verfassungsvertrages aufgezählten Werten zu verpflichten, nämlich der „Achtung der
Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der
Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“
Darüber hinaus hat der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen konkrete Kriterien aufgestellt,
die politische und institutionelle Aspekte betreffen, ebenso wie die Wirtschaft und Mitglied-
schaftsverpflichtungen, einschließlich der Ziele einer politischen, wirtschaftlichen und
Währungsunion.3
Mit dem Beschluss des Europäischen Rates von Kopenhagen vom 13. Dezember 2002 ist das
Thema des Türkeibeitritts zur Europäischen Union einer breiteren Öffentlichkeit bewusst
geworden und zugleich in die europäische Debatte geraten.4 Damals war beschlossen worden,
1 Art. 1 Abs. 2 des Vertrages über eine Verfassung für Europa. 2 Valéry Giscard d’Estaing, Präsident des EU-Verfassungskonvents und ehemaliger französischer Staats-präsident in der Süddeutschen Zeitung vom 09.11.2002 3 Zapf, Uta: Perspektiven des EU-Beitritts der Türkei, in: Südosteuropa Mitteilungen (München), 41 (2001) 4, S. 344; ausführlich dazu: Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 252 ff. 4 Die Politik der EU-Mitgliedsstaaten gegenüber der Türkei war durch eine starke Ambivalenz gekennzeichnet:
2
dass am 17. Dezember 2004 Verhandlungen mit der Türkei über den Beitritt zur Europäischen
Union aufgenommen werden, sofern sie bis dahin die politischen Kriterien von Kopenhagen
erfüllt.5 So hat der Europäische Rat am 16./17. Dezember 2004 wiederum entschieden, am 3.
Oktober 2005 Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zu eröffnen. Der Beitritt der Türkei
ist innerhalb der EU sehr umstritten, nicht zuletzt wegen der unternommenen Interventions-
versuche Österreichs durch seine Außenministerin Dr. Ursula Plassnik kurz vor dem 3.
Oktober 2005; ihm werden lange Verhandlungen vorausgehen, die vermutlich nicht vor 2014
abgeschlossen sein werden.
Der Europäische Rat hat aufgrund des Berichts und der Empfehlung der Kommission
festgestellt, dass die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen für die Eröffnung von
Beitrittsverhandlungen hinreichend6 erfüllt, sofern sie weitere reformorientierte und den
Maßstäben der EU entsprechende spezifische Gesetze in Kraft setzt. So wurde die
Kommission aufgefordert, dem Rat einen Vorschlag für einen konkreten Verhandlungs-
rahmen mit der Türkei zu unterbreiten.7
So stellt sich die Frage: Ist die Türkei ein europäisches Land?
Die Antwort auf diese komplexe Frage hängt bedingungsgemäß von verschiedensten Faktoren
ab: von Geographie, Kultur und Geschichte, von der Eigendefinition der Türkei selbst und
ihrer Anerkennung durch die anderen europäischen Länder, gleichsam auch von völker-
rechtlichen Gesichtspunkten. Doch steht unstreitig fest, dass eine Orientierung an Europa kein
neues Phänomen in der Türkei und ihrer Politik ist. Wie im Folgenden historisch näher
erläutert wird, gab es schon im Osmanischen Reich und besonders seit der Gründung der
Türkischen Republik Reformbewegungen, die eine klare Westanbindung zum Ziel hatten.8
zum einen durch das Bewusstsein, dass die Türkei ein bedeutender sicherheitspolitischer Partner ist, den es dauerhaft durch eine EU-Beitrittsperspektive politisch sowie wirtschaftlich einzubinden gilt. Zum anderen spielen aber Befürchtungen und kulturelle Vorurteile in Teilen der Bevölkerung und der Regierungen eine erhebliche Rolle, die einem türkischen EU-Beitritt skeptisch gegenüberstehen. 5 vgl.:http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/aktuelles/e_raete/kopenhagen_html 6 „Hinreichend“ bezieht sich dabei auf die Grundlage für die Entscheidung zur Aufnahme der Verhandlungen und wurde zugleich mit der Forderung weitreichender weiterer Reformen verbunden. 7 vgl.:http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/tuerkei_html 8 Der unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk 1923 gegründete türkische Staat orientierte sich einseitig an Europa. Mit radikalen Reformen im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereich führte Atatürk die Türkei auf den Weg nach Europa. Anstatt des Islam als tragende Ideologie, setzte Atatürk das Nationalbewusstsein an dessen Stelle als zentrales Element der Reformmaßnahmen; ausführlich dazu: Yesilyurt
3
Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches wurde das Territorium der Türkei so weit
reduziert, dass sich heute nur noch 3% auf dem europäischen Kontinent befinden.9 Allerdings
schließt dieses Gebiet 11% der türkischen Bevölkerung sowie Istanbul mit ein10, die
wirtschaftliche und kulturelle Hauptstadt der Türkei.11 Die Türkei liegt auf der Trennlinie
zwischen Europa und Asien. Ihr völkerrechtliches Staatsgebiet ist Teil beider Kontinente.
Während Europas Grenzen im Norden, Westen und Süden unbestritten sind, bleiben jene im
Süden und Südosten unklar und werden - je nach Gesichtspunkt – unterschiedlich festgelegt.
Es ist allzu offenkundig, dass eine Antwort auf die Frage des „Europäischen“ im Sinne des
Art. 1 Abs. 2 des Verfassungsvertrages nicht allein aufgrund der geographischen Lage
gegeben werden kann. Am Ende des Verhandlungsweges müssen die Mitgliedstaaten der EU
darüber entscheiden, ob die Aufnahme der Türkei und damit das Überschreiten der
geographischen Grenzen Europas die Europäische Union überfordert oder nicht und ob die
politischen Zielsetzungen erreicht wurden.
Unter historischen Gesichtspunkten können jedenfalls Anhaltspunkte für eine an Europa und
deren Mächten orientierte und teilweise auch auf Zusammenarbeit gerichtete Politik
festgestellt werden: Die Türken kamen im 11. Jahrhundert aus Mittelasien nach Anatolien und
errichteten allmählich das Osmanische Reich bis zur Eroberung Konstantinopels im Jahre
1453.12 Sie wurden nicht nur Erben von Byzanz und des oströmischen Reiches, sondern auch
der reichen griechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Kulturen in Anatolien.
Namen wie Herodot von Halikarnass, der „Vater der Geschichte“, Aesop, der La Fontaine zu
seinen Fabeln inspirierte, der Heilige Nikolaus, Bischof von Myra, sowie Krösus, der reichste
Zuhal: Die Türkei und die Europäische Union, Chancen und Grenzen der Integration, Osnabrück, Der Andere Verlag, 2000, S. 21 9 vgl. Akkaya, Cigdem: EU-Türkei-Beziehungen und die Rolle der Türkei als besonderer Faktor für die Außenbeziehungen der EU zu Zentralasien und zum Nahen Osten, ZfT-Aktuell Nr. 72, Zentrum für Türkeistudien - Institut der Universität Essen, 10/1999, S. 7 10 Die Türkei hat etwa 68,9 Millionen Einwohner (2005); dies entspricht einer Bevölkerungsdichte von 89 Einwohnern je Quadratkilometer. Die am dichtesten besiedelten Gebiete sind der Großraum Istanbul und die Küstenregionen. Die mittlere Lebenserwartung der Bevölkerung liegt bei 72,1 Jahren (2005). Die jährliche Bevölkerungszunahme beträgt rund 1,13 Prozent im Jahr (2005), ausführlich dazu vgl. Microsoft ® Encarta ® Enzyklopädie 2005 oder http://www.welt-in-zahlen.de/laenderinformation.phtml?country=215 11 vgl. Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, S. 224 12 vgl. Palmer, Alan: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, München 1992, S. 80 ff.
4
Mann seiner Zeit, sind nur einige von vielen bekannten historischen Persönlichkeiten, die mit
dieser Region verbunden sind. Die Orte Troja, Pergamon, Ephesus und der 5166 m hohe Berg
Ararat, an dem vermutlich Noahs Arche zerschellte, liegen auf dem heutigen Staatsgebiet der
Türkei. Der Heilige Petrus predigte zur christlichen Gemeinde in Antioch13. Tarsus war der
Geburtsort des Heiligen Paulus, der seine erste Missionsreise nach Anatolien machte. Er
verbreitete das Christentum damit über die Grenzen des Judaismus hinaus und schuf die
Grundlagen einer weltverbreiteten Religion. All dies zeugt davon, dass die Region, die heute
das Kernland der Türkei bildet, eine der Wiegen der europäischen Zivilisation war.
Während eines Großteils seiner Geschichte spielte das Osmanische Reich auch eine wichtige
Rolle in der europäischen Politik. Wie die meisten europäischen Mächte agierte es oft als
Eroberer, manchmal in enger Zusammenarbeit mit bedeutenden europäischen Ländern wie
Frankreich. Zu anderen Zeiten war das Reich eine Zufluchtsstätte für Europas Unterdrückte
und Verfolgte, wie im Jahr 1492, als Tausende von jüdischen Flüchtlingen aus Spanien in
Anatolien Schutz suchten und fanden. Das Osmanische Reich war so sehr Teil der
europäischen Geschichte, dass beispielsweise seine Vertreter 1856 am Ende des Krimkrieges
eingeladen wurden, um gemeinsam mit Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen,
Russland und Sardinien über die (Neu-)Ordnung Europas mit zu entscheiden. Diese
Anerkennung als europäische Macht fiel auch mit dem Bemühen fortschrittlicher Sultane
zusammen, ihr Reich westlichen Einflüssen zu öffnen, um dadurch seinen drohenden Abstieg
aufzuhalten.14
Die stark von Frankreich inspirierten Reformen führten zur Abschaffung typisch osmanischer
Institutionen wie der Modernisierung der Armee, einer Zentralisierung der Staatsgewalt, der
Schaffung eines Postdienstes und einer osmanischen Bank, die zum ersten Mal Papiergeld
druckte. Es mag kein Zufall sein, dass die Reformen nach der Niederlage Frankreichs im
Krieg gegen Preußen 1871 langsam im Sande verliefen und der islamische Charakter des
Reiches wieder verstärkt wurde. Die Zeit der Reformen hatte das Reich dennoch tiefgehend
verändert, auch wenn nicht alle angestrebten Ziele erreicht wurden.
13 Antioch ist der historische Name der heutigen Stadt Antakya im Süden der Türkei 14 vgl. Palmer, Alan: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, München, 1992, S. 47
5
In den darauf folgenden Jahren war es wiederum der Einfluss Europas, insbesondere von
Frankreich und England, welcher die Bewegung der „Jung-Ottomanen“ dazu inspirierte, eine
verfassungsmäßige Regierung vorzuschlagen. In dieser Zeit entstand die Idee einer Nation,
was die Loyalitäten spaltete, die traditionell dem Sultan alleine gehört hatten. Mit einer
energischen Reaktion des Herrschers konfrontiert, zogen sich die Jung-Ottomanen schließlich
vom politischen Schauplatz zurück und bildeten zum ersten Mal eine Art liberaler Oppo-
sition.15
Ihr Ideal der Freiheit überlebte und wurde von den „Jungtürken“ aufgegriffen, die sich mit der
Unterstützung der westlich orientierten Offizierselite für den Weg der Revolution ent-
schlossen. Auch sie - wie andere politische Bewegungen dieser Zeit - waren beeinflusst von
den europäischen Schulen der Philosophie und Soziologie. Die Jungtürken gaben den Anstoß
für das Entstehen einer nationalen türkischen Identität, verbunden mit einer konsequenten
Verankerung im Westen, die sie als unentbehrlich für das Überleben der Türkei ansahen.16
Dies war das konzeptuelle Fundament der Reformen, die von Mustafa Kemal Atatürk nach
dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem erfolgreichen Kampf für nationale
Unabhängigkeit in Angriff genommen wurden. Atatürk wollte sein Land zu einem modernen
und zivilisierten Land machen. Für ihn und die reformistischen Türken hieß Zivilisation
soviel wie „westliche“ Zivilisation.17
Die durchaus tief greifenden Reformen Atatürks führten zur Abschaffung des Sultanats und
des Kalifats, den Verzicht auf die Scharia, die Annahme eines neuen Zivilgesetzbuches (nach
dem Modell der Schweiz), den Austausch des arabischen gegen das lateinische Alphabet, die
Entfernung von Wörtern arabischen oder persischen Ursprungs aus dem Wort- und Schrift-
gebrauch, den Übergang vom Mond- zum Sonnenkalender, das Ersetzen des Freitags durch
den Sonntag als Ruhetag und das Gewähren politischer Rechte für Frauen. Diese Maßnahmen
sollten nicht dahingehend missverstanden werden, dass damit die vollständige Eliminierung
des Islam und islamischer Werte aus der türkischen Gesellschaft beabsichtigt gewesen wäre.
Atatürks Ziel war es lediglich, die politischen Funktionen des Islam und die Macht der
15 ausführlich dazu vgl. Axt, Heinz-Jürgen: Selbstbewusstere Türkei: Worauf sich die EU einstellen muss, in: Internationale Politik 57, Bielefeld 2002 16 ebd. 17 Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, S. 73
6
religiösen Institutionen in der türkischen Gesetzgebung und Justiz zu beenden und die
Religion zu einer Angelegenheit des persönlichen Gewissens zu machen, womit er erfolgreich
durchdrang. Mit seinen Reformen begann sich die Türkei zu einem modernen und säkularen
Staat zu entwickeln.
In dieser Arbeit werden in den Kapiteln 2 bis 6 die EU-Integrationsprozesse analysiert sowie
die rechtlichen und politischen Reformen der Türkei im Hinblick auf eine EU-Vollmit-
gliedschaft untersucht und dabei der Frage nachgegangen, ob unter rechtlichen und
politischen Gesichtspunkten von einer Beitrittsreife der Türkei ausgegangen werden kann.
Das 2. Kapitel spiegelt neben einem vorgeschalteten historischen Abriss der europäisch-
türkischen Beziehungen die Verfassungsgeschichte der Türkei sowie die maßgebenden
Kopenhagener Kriterien als europäisch deklarierte Grundlage für eine mögliche Mitglied-
schaft wider.
Im 3. Kapitel wird die Assoziation zwischen der EU und der Türkei bis zur Errichtung der
Zollunion untersucht.18 Es widmet sich neben den jeweiligen politischen und wirt-
schaftlichen Interessenlagen von EU und Türkei der Untersuchung der maßgeblichen Rechts-
grundlagen für eine völkerrechtliche Verbindung wie das Ankara-Abkommen von 1963 sowie
das Zusatzprotokoll von 1970. Darüber hinaus wird die nachfolgende Entwicklung auf der
Basis dieser Abkommen beleuchtet mit einer perspektivischen Aussicht, ob eine Mitglied-
schaft durch die vorgeschaltete Zollunion als Basis des zunächst rein ökonomischen Integra-
tionsansatzes erfolgversprechend ist.
Das 4. Kapitel beschäftigt sich mit den demokratischen und rechtsstaatlich wichtigsten
rechtspolitischen Reformen in der Türkei zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien.
Beginnend mit der Analyse vom verfassungsgemäß institutionalisierten Nationalen
Sicherheitsrat werden das Parteiensystem der Türkei und religiöse Einflussmöglichkeiten
behandelt. Es widmet sich weiterhin den angegangenen Reformen der Türkei in Bezug auf
18 In der Agenda 2000 gab die Europäische Kommission eine Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei seit Beginn der Zollunion ab. Die Zollunion funktioniere zufriedenstellend und biete eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU. Die Wirtschaft in der Türkei ist in den letzten zehn Jahren stark gewachsen. Die Zollunion hat gezeigt, dass die türkische Wirtschaft der wettbewerblichen Herausforderung des Freihandels gewachsen ist. Allerdings ist die makroökonomische Instabilität in den Augen der EU nach wie vor sehr problematisch.
7
Menschenrechte und Minderheitenschutz, wobei der Reformismus in der Kurdenfrage
besonders beleuchtet wird, wie auch denen auf innerstaatlicher Gesetzgebungsebene wie der
Todesstrafe, Polizeigewahrsam, Folter, Geschlechtergleichstellung und der Meinungsfreiheit.
Ziel ist es, der rechtspolitischen Frage nachzugehen, was diese Reformen in Bezug auf die
Vergangenheit der Türkei bedeuten und inwieweit sie ausreichend sind, um längerfristig die
Forderungen der EU für eine Mitgliedschaft zu erfüllen.
Im 5. Kapitel wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen analysiert. Untersucht wird
dabei insbesondere die Bewertung der Reformen durch die Europäische Kommission sowie
die politische Bedeutung der Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen am
03.10.2005 im Hinblick auf einen türkischen EU-Beitritt. Das 6. Kapitel stellt diesbezüglich
für den ersten Teil der Arbeit ein Zwischenergebnis dar.
Im zweiten Teil der Arbeit (Kapitel 7 bis 12) werden nach einem historischen Abriss der
Geopolitik die politischen Machtkonstellationen im Nahen Osten während des Kalten Krieges
und insbesondere in der Ära nach dem Kalten Krieg und gleichsam die Rolle und Bedeutung
der Türkei innerhalb dieser Machtverhältnisse untersucht. Die Arbeit erweitert damit ihre
Untersuchung vom rein bilateralen Aspekt der EU-Türkei-Beziehungen hin zur inter-
nationalen und weltpolitischen Relevanz der türkischen Politstrategie und ihrer EU-
Aufnahmefähigkeit. Kann die Türkei im Nahen Osten tatsächlich als „A reluctant neighbour“
(“Ein träger, unwilliger Nachbar”) definiert werden?19, wie es im Programm einer vom „US
Institute of Peace“ im Juni 1994 in Washington D.C. organisierten Konferenz geschah?
Im Kontext einer durch die Türkei seit Jahrzehnten angestrebten EU-Integration wird
analysiert, worin die Nahostpolitik der Türkei, die seit 1990 im Kaukasus, im Nahen Osten
und in Zentralasien wichtige wirtschaftliche und politische Beziehungen geknüpft hat, besteht
und in welchem Maße sie ihre Nahostpolitik umsetzen kann. Zugleich wird geklärt, inwieweit
sich die praktizierte Politik im Zusammenhang mit der besonders innerstaatlich wie inter-
national problematisierten Kurdenfrage und des Zypernkonflikts20 auf die Westanbindung an
die Europäische Union auswirkt.
19 Barkey, Henry J. (Hrsg.): Reluctant Neighbor: Turkey's Role in the Middle East; US Institute of Peace Press, Washington 1996, S. 112 20 Gerade die aktuelle türkische Zypernpolitik und die gegenwärtigen politischen Terroranschläge von vermeintlich kurdischen Extremisten stellen die türkische Integrationspolitik insgesamt auf den europäischen Prüfstand.
8
Im 7. Kapitel werden die Hintergründe der Entstehung der nahöstlichen Geopolitik dargestellt
und untersucht. Die osmanische Ära, die neuen politischen Gebilde, die während und nach
dem 1. Weltkrieg entstanden sind, sowie die Schatten, welche die Machtkonstellationen des
Kalten Krieges auf den Nahen Osten warfen, werden hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung
historisch eingeordnet und beschrieben.
Das 8. Kapitel ist der Geopolitik des Nahen Ostens mit dem Zerfall der Sowjetunion nach
dem Kalten Krieg, ihren maßgeblichen Akteuren und Machtpotenzialen sowie dem Platz
gewidmet, den die Türkei in diesem Machtgefüge einnimmt. Dabei kommt den Beziehungen
der Türkei zu den verschiedenen Akteuren im Nahen Osten eine besondere Bedeutung zu. Im
selben Abschnitt werden die Hauptspannungsfelder untersucht, die die Politik im Nahen
Osten bestimmen, gleichsam die Frontbildung entlang diesen Spannungsfeldern. Somit wird
die regionale Politik des Nahen Ostens in ihrer ganzen Tragweite analysiert.
Das 9. Kapitel behandelt spezifiziert die ökonomischen und politischen Entwicklungen im
Nahen Osten nach 1990 mit Blick auf ihre Auswirkungen auf die türkische Außenpolitik. Die
veränderte geopolitische Bedeutung der Türkei nach 1990, ihre Eigenschaften, das veränderte
weltpolitische Klima, die Zäsur des 11. September 2001, die Besetzung des Irak durch die
Koalitionskräfte unter der Leitung der USA, das Szenario eines Kurdenstaates im Nordirak
sowie das Projekt des „Größeren Nahen Ostens“ (Greater Middle East Project) der USA
bilden die Schwerpunkte dieser Analyse. In diesem Abschnitt werden auch die allgemeinen
Parameter des türkischen Außenministeriums für ihre nahöstliche Politik dargestellt, vor
allem wie sie sich in der Ära des verstorbenen Minister- und späteren Staatspräsidenten
Turgut Özal entwickelte. Die Beziehungen zum Irak und zu Syrien sowie die türkisch-
israelische Annäherung und ihre Problemfelder werden ebenso untersucht wie die
Entwicklungen nach dem 2. Golfkrieg, um den veränderten Strukturwandel türkischer
Außenpolitik in dieser Region in erschöpfender Weise darlegen zu können.
Im 10. Kapitel folgt eine intensive politische Analyse des bestehenden türkisch-kurdischen
Konflikts. Vor dem Hintergrund und der Darstellung der historischen Entwicklung des
Konflikts und deren Ursachen wird konkretisierend die Rolle sowie die ändernden Hand-
lungsweisen der maßgeblichen Träger des Prozesses, namentlich das türkische Militär und die
9
PKK, beleuchtet. In einem weitreichenderen Kontext schließt die Analyse ebenso die
Begutachtung der internationalen und vor allem „europäisierenden“ Tragweite des
Kurdenkonflikts mit ein. Damit soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit dieser
Konflikt bzw. dessen Lösung eine Beeinflussung europäischer Integrations- und auch
Außenpolitik darstellt.
Das 11. Kapitel widmet sich der für eine EU-Integration nicht wegzudenkenden Lösung des
Zypernkonflikts zwischen der Türkei und Griechenland. Dabei wird neben den bilateralen
politischen Ursachen und der internationalen Tragweite des Konflikts vor allem auf den
derzeit – die weltpolitische Diskussion prägenden - vorherrschenden Lösungsansatz des
„Annan-Plans“ Bezug genommen. Nach einer Darstellung der vom UN-Sicherheitsrat in
seinen wesentlichen Bestimmungen präferierten Konfliktlösung werden die gegensätzlichen
Positionen der Konfliktparteien und deren Wandel analysiert. Dabei wird der Frage
nachgegangen, welche Rolle hier der Europäischen Union zukommt und in welchem
Zusammenhang der Konflikt mit einer türkischen EU-Mitgliedschaft steht.
Das Schlusskapitel (Kapitel 12) fasst die Ergebnisse der Arbeit in beiden Teilen zusammen,
wodurch rechtliche und politische Schlussfolgerungen getroffen werden können, die sich auf
den geamten (weiteren) Prozess der EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, ihre Beitrittsreife
sowie ihre Stellung und Rolle aufgrund der geänderten geostrategischen Verhältnisse im
Nahen Osten beziehen. Die Würdigung der bestehenden Sachverhalte und Ergebnisse
erstreckt sich dabei auf die zentralen Punkte der „Europäisierung“ unter gleichzeitiger
Berücksichtigung der neu hervorgerufenen aktiven nahostpolitischen Rolle der Türkei mit
einer Bewertung und einem Ausblick dahingehend, ob dadurch bisher formulierte europäische
Standpunkte den aktuellen politischen Gegebenheiten standhalten können.
10
KAPITEL 2: Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union im Kontext türkischer Verfassungsgeschichte
2.1 Historische Entwicklung der bilateralen Beziehungen
Kurz nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1958, dem
Vorläufer der heutigen Europäischen Union21, nahm die Türkei22, die seit 1949 Mitglied des
Europarats und seit 1952 Mitglied der NATO23 ist, eine enge Zusammenarbeit mit der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf.24
Am 31. Juli 1959, zwei Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge, stellte die Türkei
einen Antrag auf Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.25 Neben dem
außen- und sicherheitspolitischen Aspekt hatte die Türkei beachtliche wirtschaftliche sowie
politische Interessen, dem Assoziationsabkommen beizutreten. Die nachfolgenden Verhand-
lungen führten aufgrund des Militärputsches im Jahre 1960 jedoch erst am 12. September
1963 unter dem türkischen Ministerpräsidenten Đsmet Đnönü zur Unterzeichnung des
21 Der EU gehören 25 Staaten mit einer Gesamtfläche von rund vier Millionen Quadratkilometern und einer Gesamtbevölkerung von etwa 450 Millionen Menschen an: die zwölf Gründerstaaten Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien sowie seit dem 1. Januar 1995 Finnland, Österreich und Schweden und seit dem 1. Mai 2004 Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakische Republik, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. 22 Dembinski, Matthias: Bedingt handlungsfähig?: Eine Studie zur Türkeipolitik der Europäischen Union, in: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2001, II, S. 47 – (HSFK-Report 5/2001); die lange Geschichte des auf Vollmitgliedschaft der Türkei in der heutigen Europäischen Union zielenden Prozesses begann – vor nunmehr über 45 Jahren – mit dem Antrag der Türkei auf assoziierte Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 20. September 1959 23 NATO (engl.): North Atlantic Treaty Organization: Nordatlantikpakt, politisches und militärisches Bündnis von europäischen und nordamerikanischen Staaten mit Sitz in Brüssel (Belgien). Seit 2004 gehören 26 Staaten der NATO an; vgl. Leggewie, Claus (Hrsg.): Die Türkei und Europa. Die Positionen; Frankfurt a.M. 2004, S. 326 24 Die Türkei begehrt nun seit über 46 Jahren, westlich in `Europa` mit anderen Nationen gleichgestellt integriert zu werden. Im Gegensatz zu osteuropäischen Beitrittskandidaten der EU ist die Türkei schon seit 1952 fester Bestandteil des transatlantischen Militärbündnisses, der NATO. 25 Die Grundintention der Türkei war und ist das handfeste politische Motiv der Westorientierung des Landes. Daher reagiert die türkische Politik bis heute recht empfindlich, wenn es um scheinbare oder tatsächliche Abweisungen von Seiten der westeuropäischen Regierungen und Medien geht.
11
Assoziierungsvertrages, der bis heute die Grundlage der Beziehungen zwischen der Türkei
und der Europäischen Union bildet.26
Diese als „Abkommen von Ankara“27 bekannt gewordene Assoziierungsvereinbarung sah in
erster Linie die schrittweise Errichtung einer Zollunion28 vor, die die beiden Parteien in
Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten einander näher bringen sollte. Zudem wurde bereits
als Fernziel ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft ins Auge gefasst. In dem
Vertrag heißt es: „Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen
gestattet, daß die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der
Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines
Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“29
Die Dynamik der europäischen Wirtschafts- und Integrationspolitik konnte die Türkei als
Anrainerstaat zu Europa und als ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Asien und Europa
nicht unberührt lassen.
Ein am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnetes Zusatzprotokoll zum Abkommen von
Ankara regelte die Einzelheiten für die Etablierung der Zollunion. Demnach sollte die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bei Inkrafttreten des Protokolls im Januar 1973 Zölle
und mengenmäßige Beschränkungen für Einfuhren aus der Türkei – mit einigen Ausnahmen –
abschaffen. Ferner sah das Protokoll vor, innerhalb der darauffolgenden 12 bis 22 Jahre
zwischen den Parteien Freizügigkeit im Personenverkehr herbeizuführen.30
26 vgl. Bacia, Horst: Vier Jahrzehnte nur leere Versprechen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2004, Nr. 294, S. 6 27 Türkische Botschaft Berlin: Die Türkei auf dem Weg in die EU - Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union, www.tcberlinbe.de/de/eu/geschichte.htm; seit dieser Unterzeichnung erlangte die Türkei den Status eines lediglich potenziellen Beitrittskandidaten der Europäischen Gemeinschaft. Die Türkei wertete dieses Ankara-Abkommen als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Vollmitgliedschaft in der EWG 28 Der Beitritt der Türkei zur europäischen Zollunion und deren Inkrafttreten am 31.12.1995 stellen nur eine logische Konsequenz der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der Vergangenheit dar 29 Bacia, Horst, a.a.O., S. 6 30 vgl. Türkische Botschaft Berlin, a.a.O.
12
2.2 Die Bewerbung der Türkei um eine Vollmitgliedschaft
Zu Beginn des Jahres 1980 gelang es Turgut Özal, dem damaligen Regierungschef und
späteren Staatspräsidenten, die Türkei durch Verlagerung der Schwerpunkte in der Wirt-
schaftspolitik mit eingehenden Reformen wirtschaftlich zu liberalisieren. Aufgrund dieser
Veränderungen sowie der Wahlen im Jahre 1983 begannen die seit dem Putsch von 1971, der
Intervention auf Zypern im Jahre 1974 und der dritten, diesmal besonders gründlichen und
durchgreifenden Machtübernahme durch den türkischen Generalstab am 12. September
198031 praktisch zum Stillstand gekommenen Beziehungen zwischen der Türkei und der
Gemeinschaft, sich allmählich zu normalisieren.
Vor dem Hintergrund der Wiederbelebung des Assoziierungsprozesses durch den
Assoziierungsrat Türkei-EWG im September 1986 sowie auf der Grundlage von Art. 237 des
EWG-Vertrages, welches jedem europäischen Land das Recht zubilligt, sich um eine
Mitgliedschaft zu bewerben, beantragte die Türkei unter der Regierung Özal am 14. April
1987 die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft.32 Die Kommission der
Europäischen Gemeinschaft brauchte indessen 32 Monate, bis sie am 18. Dezember 1989 zu
dem Urteil kam, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen „nicht zweckmäßig”33 sei,
weil zunächst die Einheitliche Akte und der Binnenmarkt verwirklicht werden müssten.
Außerdem sprächen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei, die
„negativen Folgen”34 ihres Streits mit Griechenland und die Lage auf Zypern gegen eine
Mitgliedschaft. Zugleich bekundete die Kommission aber ein „fundamentales Interesse”35 an
der Unterstützung der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung der Türkei, „ohne
deren Mitgliedsfähigkeit in der Gemeinschaft in Zweifel zu ziehen”36.
31 Das Verhältnis zwischen der Türkei und der EWG kam durch den Militärputsch 1980 zum Erliegen. Zwar entschieden sich die EG-Außenminister, die Kooperation mit der Türkei nicht vollständig aufzulösen, doch erst mit der 1983 an die Macht gelangten Zivilregierung tauten die Beziehungen langsam wieder auf. Insbesondere nach den Kommunalwahlen von 1984 setzten sich die meisten politischen und wirtschaftlichen Gruppierungen in der Türkei für eine Intensivierung der Beziehungen ein 32 vgl. www.euractiv.com/Article?_lang=DE&tcmuri=tcm:31-130598-16&type=LinksDossier 33 Bacia, Horst, a.a.O., S. 6 34 Die von der Kommission angegebenen Gründe für die Ablehnung waren sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Art; vgl. Bacia, Horst, a.a.O., S. 6 35 Bacia, Horst, a.a.O., S. 6 36 Bacia, Horst, a.a.O., S. 6
13
Eine ebenfalls 1987 eingegangene Bewerbung Marokkos war umgehend mit der Begründung
abgewiesen worden, dass Marokko kein europäisches Land sei.37 Obwohl die Bewerbung der
Türkei nicht das für sie gewünschte Ziel erreichte, führte sie zu einer Wiederbelebung der
Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Gemeinschaft. Auf beiden Seiten
wurden die Bemühungen zur Herausbildung einer Beziehung verstärkt, und die Maßnahmen
für die Realisierung einer Zollunion innerhalb des Zeitplans wurden wieder aufgenommen.
2.3 Die Zollunion als ökonomische Integrationsvorstufe
Die im Jahre 1994 aufgenommenen Gespräche für die Fertigstellung der Zollunion fanden
ihren Abschluss auf dem Treffen des Assoziationsrates Türkei-EU am 06. März 1995. Der
Assoziationsrat, der sich aus den Außenministern der damals fünfzehn Länder der
Europäischen Union und dem Außenminister der Türkei zusammensetzte, verabschiedete den
Beschluss über die Durchführung der Zollunion38 zwischen der Türkei und der Europäischen
Union für Industriewaren und landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte zum 31. Dezember
1995.
Mit dem Inkrafttreten der Zollunion schaffte die Türkei sämtliche Zölle und Abgaben gleicher
Wirkung auf Einfuhren von Industriegütern aus der Europäischen Union ab. Ferner glich sie
ihre Zölle und Abgaben gleicher Wirkung auf die Einfuhr von Industriewaren aus
Drittländern den für Drittlandswaren geltenden zollrechtlichen Bestimmungen der
Europäischen Union an. Seitdem übernimmt die Türkei zunehmend die allgemeine Handels-
politik der Europäischen Union sowie die Präferenzabkommen mit bestimmten Drittländern.
Darüber hinaus wurde die Kooperation zwischen der Türkei und der Europäischen Union in
denjenigen Bereichen intensiviert, die nicht von der Zollunion abgedeckt waren. Dazu
37 vgl. Türkische Botschaft Berlin, a.a.O. 38 Aus türkischer Sicht war die Ratifizierung ein politischer Sieg und zugleich eine offizielle Anbindung an Europa. Aus dem europäischen Blickwinkel wurde die Ratifizierung im Hinblick auf die menschenrechtliche Situation und die neugewählte türkische Regierung mit Skepsis betrachtet. Von Bedeutung ist die Zollunion insbesondere innerhalb des deutsch-türkischen Handels- und Wirtschaftsverkehrs. Zur Bewältigung des angestrebten gemeinsamen Wirtschaftsraums zwischen der EU, ihren Mitgliedstaaten und der Türkei wurde der größte Teil der Zölle aufgehoben. Gleichzeitig wurde die Vereinbarung eines gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten getroffen.
14
gehörten unter anderem industrielle Zusammenarbeit, transeuropäische Netzwerke, Energie,
Transport, Telekommunikation, Landwirtschaft, Umwelt, Wissenschaft, Verbraucherschutz,
Kultur sowie rechtliche und innenpolitische Angelegenheiten.39
2.4 Der türkische EU-Erweiterungsprozess ab 1995
Nimmt man das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland wörtlich, so waren mit der
Zollunion alle Versprechungen des Assoziierungsabkommens zwischen der Türkei und der
Europäischen Union abgegolten. Denn „Ziel dieser früheren Abkommen war jeweils eine
Zollunion mit der EU, die mit der Türkei durch ein Zollunionsabkommen 1995 erreicht
wurde“40. Seit dem bestätigen die europäischen Staats- und Regierungschefs gegenüber der
Türkei jedoch immer wieder, dass ihrer Mitgliedschaft grundsätzlich nichts im Wege stehe
und nichts gegen ihren Beitritt spreche, wenn sie die am 22. Juni 1993 vom Europäischen Rat
von Kopenhagen aufgestellten politischen und wirtschaftlichen Kriterien erfülle.41 Auf dem
Gipfel von Luxemburg im Dezember 1997 lehnten es die EU-Regierungschefs allerdings ab,
der Türkei den Status eines offiziellen Beitrittskandidatenlandes zu gewähren. Gleichzeitig
wurde aber „bekräftigt, dass die Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage
kommt“42.
Auf dem europäischen Gipfeltreffen in Köln vom 3. bis 4. Juni 1999 ergriff die deutsche
Präsidentschaft unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, der im Vergleich zur Bundes-
regierung unter Helmut Kohl eine positivere Linie im Hinblick auf die Beitrittsbestrebungen
der Türkei zu vertreten scheint, eine neue Initiative, um die Anerkennung der türkischen
Kandidatur sicherzustellen. So veröffentlichte die Europäische Kommission am 13. Oktober
1999 einen Bericht, in dem vorgeschlagen wurde, die Türkei als EU-Kandidat in Betracht zu
ziehen. Im Dezember 1999 schließlich erkannte der Europäische Rat von Helsinki der Türkei
offiziell den Status als Beitrittskandidat zu und beschloss, dass sie „ein beitrittswilliges Land
39 vgl. Türkische Botschaft Berlin, a.a.O. 40 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 41 vgl. http://europa.eu.int/abc/12lessons/index3_de.htm 42 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html
15
[sei], das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen
Länder gelten, Mitglied der Union werden“43 solle.
Als Folge dieses Beschlusses verabschiedete die türkische Regierung im März 2001 das
Nationale Programm für die Übernahme von Gesetzen der Europäischen Union. Im
September desselben Jahres nahm das türkische Parlament über 30 Änderungsvorschläge zur
Verfassung an, um die politischen Kriterien von Kopenhagen für die EU-Mitgliedschaft zu
erfüllen. Im August 2002 beschloss es umfassende Reformen, um die Menschenrechts-
kriterien der Europäischen Union zu erfüllen, so dass der Europäische Rat von Kopenhagen
am 13. Dezember 2002 auf Grundlage eines Berichts und einer Empfehlung der Kommission
folgende Entscheidung traf: „Entscheidet der Europäische Rat im Dezember 2004 auf der
Grundlage eines Berichtes und einer Empfehlung der Kommission, dass die Türkei die
politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt44, so wird die Europäische Union die Beitritts-
verhandlungen mit der Türkei unverzüglich eröffnen.“45
Unterdessen einigten sich die Regierungschefs der Europäischen Union darauf, die
Zusammenarbeit innerhalb der Zollunion auszudehnen und zu vertiefen und die finanzielle
Hilfe für die Türkei zur Vorbereitung auf den Beitritt aufzustocken. Im Mai 2002 verständigte
sich der EU-Ministerrat auf die Grundsätze, Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen der
Beitrittspartnerschaft mit der Türkei.46
Am 16./17. Dezember 2004 beschloss der Europäische Rat schließlich, die Verhandlungen
über den Beitritt der Türkei zu eröffnen. In seiner Erklärung begrüßte er „die entscheidenden
Fortschritte, die die Türkei in ihrem weit reichenden Reformprozess erzielt“47 habe.
Gleichzeitig erwarte er aber, dass „die Türkei diesen Reformprozess weiterverfolgen wird“.48
43 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 44 Die türkische Regierung erklärte im Vorfeld des Beschlusses des Europäischen Rates über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Hinblick auf die Einlösung der Kopenhagener
Kriterien erfüllt habe. Seitdem hat sie sich kategorisch geweigert, "neue Forderungen" zuzulassen. 45 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 46 vgl. www.euractiv.com/Article?_lang=DE&tcmuri=tcm:31-130598-16&type=LinksDossier 47 www.euractiv.com/Article?_lang=DE&tcmuri=tcm:31-130598-16&type=LinksDossier 48 www.euractiv.com/Article?_lang=DE&tcmuri=tcm:31-130598-16&type=LinksDossier
16
Mit der Festlegung des 3. Oktober 2005 für den Verhandlungsbeginn wurde schlussendlich
der Forderung der türkischen Regierung nachgekommen, welche angesichts des auf dem
Gipfel in Kopenhagen eingegangenen Versprechens, die Verhandlungen mit der Türkei ohne
Verzug zu eröffnen, sobald diese die erforderlichen Reformen durchgeführt habe, ein
konkretes Datum für die Einleitung der Beitrittsverhandlungen beansprucht hatte.
Gemäß der Entscheidung des Europäischen Rates arbeitete die Europäische Kommission
einen Verhandlungsrahmen aus, den sie am 29. Juni 2005 vorstellte. Demnach wird der
Verhandlungsrahmen auf den folgenden Elementen basieren: Das gemeinsame Ziel der
Verhandlungen sei der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, jedoch könne „ihr
Ergebnis nicht von vornherein garantiert werden“.49 Sollte es sich am Ende der Verhand-
lungen herausstellen, dass die Türkei nicht in der Lage sei, alle mit einer Mitgliedschaft
verbundenen Verpflichtungen einzuhalten, müssten die Mitgliedsstaaten der Europäischen
Union nichtsdestoweniger gewährleisten, dass die Türkei „durch eine möglichst starke
Bindung vollständig in den europäischen Strukturen verankert wird“.50
Die Beitrittsverhandlungen sollen im Rahmen einer Regierungskonferenz, an der die Türkei
und sämtliche EU-Mitgliedsstaaten teilnehmen, durchgeführt werden. Die verschiedenen
politischen Bereiche – „Verhandlungs-Materie“51 – sollen in 35 Kapitel unterteilt werden, und
alle Entscheidungen sind einstimmig durch den Rat zu treffen. Die Europäische Union kann
erwägen, ob sie lange Übergangszeiten, Ausnahmeregelungen, spezifische Vereinbarungen
oder dauerhafte Schutzklauseln in ihre Vorschläge für die einzelnen Verhandlungsrahmen für
Bereiche wie den freien Personenverkehr, Strukturpolitik und Agrarpolitik aufnehmen will.
Die Beitrittsverhandlungen können – „im Falle schwerwiegender und anhaltender
Verletzungen der Werte, auf die sich die Union gründet, namentlich Freiheit, Demokratie,
Wahrung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit“52 –
ausgesetzt werden. Hierzu wäre eine Initiative der Kommission oder eine Empfehlung von
einem Drittel der Mitgliedsstaaten nötig. Die endgültige Entscheidung würde jedoch vom Rat
49 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 50 www.euractiv.com/Article?_lang=DE&tcmuri=tcm:31-130598-16&type=LinksDossier 51 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 52 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html
17
mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. Das Europäische Parlament würde lediglich
unterrichtet werden.
Im Rahmen eines Kompromisses, auf den sich der Europäische Rat im Dezember 2004
einigte, muss die Türkei vor dem 3. Oktober 2005 ein Zusatzprotokoll des Abkommens von
Ankara unterzeichnen. Die auf dessen Grundlage begründete Zollunion muss nun auf die zehn
neuen Mitgliedsstaaten ausgeweitet werden.53 „Um die Unumkehrbarkeit der politischen
Reformen und ihre vollständige und tatsächliche Durchführung, insbesondere hinsichtlich der
uneingeschränkten Achtung der Menschenrechte, sicherzustellen, wird die Europäische
Kommission dem Rat jährlich berichten. Termin für den nächsten Bericht, verbunden mit dem
Entwurf für die überarbeitete Beitrittspartnerschaft, ist voraussichtlich der November 2005,
also nach Eröffnung der Verhandlungen. Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik
Deutschland rechnet mit langen und schwierigen Verhandlungen und hält einen Zeitrahmen
von 10 bis 15 Jahren für realistisch.“54 Mit den offiziellen Beitrittsverhandlungen ab 3.
Oktober 2005 beginnt eine entscheidende Ära der wechselseitigen Zusammenführung.55
Beim ersten in Richtung `Europa` gehenden politisch maßgeblichen Schritt, nämlich der
Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) am 12. September 1963, machte Walter Hallstein (CDU), der damalige Präsident der
EWG-Kommission, in seiner Rede die Bedeutung dieses ersten Vertrages mit der Türkei
deutlich: „Und eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll
vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, dass wir in
ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer
Gemeinsamkeit.“ 56 Zu der heute noch heftig umstrittenen Frage, ob die Türkei überhaupt ein
europäisches Land sei, fand Walter Hallstein in seiner Rede anlässlich der Unterzeichnung
des Ankara Vertrages deutliche Worte: „Wir sind heute Zeuge eines Ereignisses von großer
politischer Bedeutung. Die Türkei gehört zu Europa. Das ist der tiefste Sinn dieses Vorgangs: 53 vgl. www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 54 www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/erweiterung_html 55 Die wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union für ein so großes Land wie die Türkei mit einer schnell wachsenden Bevölkerung und beachtlichen politischen und wirtschaftlichen Problemen ist fraglich und umstritten. Österreich hat sich deshalb am 03.10.2005 dahin gehend durchgesetzt, dass die Aufnahme-fähigkeit der EU zum Entscheidungskriterium am Ende des Verhandlungsweges zu machen ist. 56 zit. nach: Kyaw, Dietrich von: Nach dem Gipfel von Kopenhagen – wo sind die Grenzen Europas? Vortrag des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland bei der EU a.D. anlässlich eines Roundtable der Konrad-Adenauer-Stiftung am 18. März 2003 in Brüssel
18
Er ist, in denkbar zeitgemäßer Form, die Bestätigung einer Wahrheit, die mehr ist als ein
abgekürzter Ausdruck einer geographischen Aussage oder einer geschichtlichen Feststellung,
die für einige Jahrhunderte Geltung hat..“57
2.5 Staatsrechtliche Grundentscheidungen in der türkischen Verfassungs- und
Rechtsordnung seit 1923
Der mehrfach geltend gemachte Anspruch der Türkei, aus dem Stadium des Beitritts-
kandidaten herauszugelangen und vollberechtigtes Mitglied der EU zu werden, macht es
erforderlich, die Entwicklung der souveränitätsbegründenden Rechtsgrundlagen, nämlich die
Verfassungen der Türkei, im staatlichen Selbstverständnis sowie das innerstaatliche Recht zu
betrachten und vor allem ihre wesentlichen Änderungen in Bezug auf eine EU-Integration zu
untersuchen:
Eine erste republikanische Verfassung nach europäischem Muster verabschiedete die Türkei
im Jahr 1923, mit der zugleich die letzten Institutionen islamischen Rechts fielen. Es erfolgte
eine fundamentale Umwälzung der türkischen Verfassungs- und Rechtsordnung, in welcher
alle im islamischen Recht begründeten Strukturen aufgelöst wurden. Aus der Schweiz wurden
das Zivilgesetzbuch, das Konkurs- und Zwangsvollstreckungsrecht sowie das Handelsrecht
übernommen. Die Strafprozessordnung ging auf Deutschland und das Strafgesetzbuch auf
Italien zurück. Das ohnehin bereits an französischen Vorbildern orientierte öffentliche
Verwaltungsrecht wurde mit zahlreichen Gesetzen modernisiert. Festzuhalten ist damit, dass
schon zu diesem Zeitpunkt das Zivilrecht wie auch das öffentliche Recht seine Ursprünge in
westlichen europäischen Staaten fand, die sich selbst wiederum an römischem Recht
orientierten. Dadurch etablierte sich eine nach westlichen Maßstäben moderne, wirtschaftlich
und politisch aufstrebende Türkei.
Das von der „Republikanischen Volkspartei“ von Mustafa Kemal Atatürk beherrschte
politische System fand im Jahr 1946 erstmals seinen Weg zur Mehrparteiendemokratie.
57 Kyaw, Dietrich von: Nach dem Gipfel von Kopenhagen – wo sind die Grenzen Europas?, Brüssel 2003, S. 43
19
Nachdem sich unter diesen neuen politischen Bedingungen bei den Wahlen 1950 die
„Demokratische Partei“ durchsetzte, war die Türkei bereits als einer der ersten Staaten den
1946 gegründeten Vereinten Nationen und 1949 dem Europarat beigetreten. Während bei der
Gründung der Montan-Union 1951 noch die späteren Gründerstaaten der EWG unter sich
blieben, ratifizierte die Türkei 1954 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und
trat der NATO bei. Schon anlässlich der Errichtung der EWG am 1.1.1958 meldete die Türkei
ihren Anspruch an, eines Tages ebenfalls dazuzugehören. Wegen des ersten großen Eingriffs
des türkischen Militärs in die Politik stürzte 1960 die Regierung von Adnan Menderes
(Demokratische Partei) über ihre Versuche, die Opposition auszuschalten. Der Putsch,
unterstützt von wichtigen Teilen einer reformistischen akademischen Elite, bedeutete das
Ende der ersten republikanischen Verfassung, die somit immerhin 36 Jahre überdauert hatte.
Als die Türkei 1963 das Assoziationsabkommen mit der EWG ratifizierte, war nicht lange
zuvor die Verfassung von 1961 in Kraft getreten. Diese kann grundsätzlich vor allem im
Hinblick auf den Schutz der Grundrechte und rechtsstaatliche wie auch demokratische
Garantien als die fortschrittlichste aller türkischen Verfassungen - bis auf die jetzige
reformierte Verfassung - bezeichnet werden. Verfassungsrechtlich versuchte man darin durch
ein Zweikammer-System (Nationalversammlung und Senat), die Gefahr einer „Diktatur der
Mehrheit“ zu bannen. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde verfassungsrechtlich abgesichert,
ein umfangreicher Grundrechtskatalog sollte ein Höchstmaß an individueller Freiheit
garantieren. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, das in erster Linie der politischen
und sozialen Kanalisierung des Islam als Religion der Bevölkerungsmehrheit dienen sollte,
wurde in die Verfassung ebenso aufgenommen wie der Nationale Sicherheitsrat, der die
Regierung in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit beraten sollte und sich später zu einer
maßgeblichen Institution der türkischen Verfassungspraxis entwickelte. Neu war zudem das
Verfassungsgericht, womit die Türkei den Vorbildern Deutschlands und Italiens folgte, wo
sich die Verfassungsgerichte als effektive Instrumente zum Schutz vor politischen Angriffen
auf das bestehende System einer freiheitlichen Grundordnung entwickelt hatten.
Das Jahr 1971 markierte einen erneuten Rückschlag in Richtung EU-Integration, als das
türkische Militär wie schon elf Jahre zuvor putschte58. Damit folgten in rechtlicher Hinsicht
58 Wobei der Rücktritt von Ministerpräsident Demirel erzwungen wurde und eine überparteiliche Regierung
20
tief greifende Änderungen der Verfassung, die viele liberale Grundrechte wieder relativierten,
die Staatsmacht stärkte und die Institution der so genannten Staatssicherheitsgerichte
einführten, welche allerdings infolge einer Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts
auf dem Papier stehen blieben und keine weiteren juristischen oder politischen Auswirkungen
erzielten.
1973 kehrte die Türkei wieder zur politischen `Normalität` zurück, ohne allerdings zur Ruhe
zu kommen.59 Soeben war das Zusatzprotokoll mit der EG in Kraft getreten, als sich die
politische Situation mit dem griechischen Putsch am 15. Juli 1974 und dem anschließenden
Einmarsch der türkischen Truppen auf Zypern radikal änderte. Wechselnde Koalitions-
regierungen erwiesen sich als politisch unfähig, das System zu stabilisieren. Bürger-
kriegsähnliche Zustände und ein Patt zwischen den beiden Parlamentskammern, die sich in
der Gesetzgebung mit ihren unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen gegenseitig blockierten,
führten zum Putsch am 12. September 1980.
Auch in diesem Fall versuchten die politischen Kräfte im Land, möglichst schnell zu
demokratischen Verhältnissen zurückzukehren. Schon im November 1982 wurde eine neue
türkische Verfassung60 verabschiedet, die sich juristisch in weiten Teilen an der Verfassung
aus dem Jahr 1961 orientierte, im politischen System jedoch einer starken staatlichen
Autorität den Vorrang gab. Der damit verbundene erneute Rückschlag im Hinblick auf die
Akzeptanz der türkischen Verfassungsordnung durch die EG und ihre Mitgliedsstaaten war
deshalb nur schwer wieder aufzuholen. Die Türkei erkannte völkerrechtlich erst 1987 die
Rechtsprechung der EG und 1990 diejenige des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte (EGMR) an. Ferner trat sie den Konventionen der Vereinten Nationen und des
Europarats gegen die Folter bei.
unter Nihat Erim eingesetzt wurde. 59 Wechselnde Koalitionsregierungen zwischen der Gerechtigkeitspartei unter Demirel und der Republi-kanischen Volkspartei unter Bülent Ecevit destabilisierten das politische System der Türkei. Süleyman Demirel wurde nach dem Tod von Turgut Özal 1993 zum neuen Staatspräsidenten der Türkei gewählt. 60 Diese Verfassung wurde in einem Referendum mit über 90% der abgegebenen Stimmen und einer Wahlbeteiligung von ebenfalls über 90% angenommen. Grund für die hohe Wahlbeteiligung war die Wahlpflicht, die mit Androhung einer Geldstrafe geahndet wurde. Die hohe Zustimmung zur Verfassung resultierte nach Meinung eines führenden sozialdemokratischen Politikers, Abdulbaki Yazicioglu, Alt- Bürgermeister von Tekman, aus Angst vor bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, wie sie vor dem Militärputsch bestanden, und aus Furcht vor Repressalien bei oppositionellem Verhalten.
21
An dieser Stelle scheint daher eine nähere Erläuterung der türkischen Verfassung von 1982
angebracht, da diese Verfassung bis zu den neuesten Verfassungsänderungen - im Rahmen
der Reformen - für die Staatsstrukturen der Türkei maßgeblichen Einfluss hatte:
Bereits die Präambel in der Verfassung von 1982 spiegelt eine starke ideologische
Orientierung an den kemalistischen Prinzipien wider. Wie 1961 enthält auch diese Verfassung
einen sehr umfangreichen Teil über die Grundrechte, wobei zwischen Freiheitsrechten,
sozialen und wirtschaftlichen Rechten sowie politischen Teilhaberechten differenziert wird.
Das Parlament bestand jetzt aus einer einzigen Kammer. Ihm gegenüber war der Ministerrat
verantwortlich, der seinesgleichen vom Präsidenten der Republik ernannt wurde. Dem
Präsidenten wurde eine Fülle von Befugnissen zuteil, darunter auch diejenige der Ernennung
der Verfassungsrichter. Dies ermöglichte ihm eine durchaus nennenswerte Einflussnahme auf
die Judikatur, ohne dass es jedoch schon gerechtfertigt wäre, von einem autoritären
Präsidialsystem zu sprechen.
Die Justiz war verfassungsrechtlich unabhängig; rechtsstaatliche Prinzipien wurden vielseitig
und ausführlich geregelt. Ein abgestuftes System verschiedener denkbarer Kategorien von
Notstandsfällen waren in dieser Verfassung ebenso verankert wie Vorschriften, die eine auf
marktwirtschaftlichen Grundsätzen basierende und mit bestimmten staatlichen Aufsichts-
elementen versehene Wirtschaftsordnung erkennen lassen.61
Das Bekenntnis zu einer EU-Mitgliedschaft erforderte für alle Beitrittskandidaten eine
Anpassung und gegebenenfalls Kompromisse auf der Verfassungsebene, um die Politik der
EU rechtlich konsequent umsetzen zu können. Dies bedeutete auch, dass die
Verfassungsordnung des jeweiligen Landes so aufzubereiten ist, dass der Beitritt auch
verfassungsrechtlich ohne Hindernisse verlaufen kann. Die Anforderungen der EU an die
Voraussetzungen für einen Beitritt der Türkei sind in verschiedenen Dokumenten festgelegt
worden, unter anderem in dem Ministerratsbeschluss der EU vom 08.03.2001. Allerdings
hatten die „Kopenhagener Kriterien“ von 1993 bisher in der Praxis das maßgebliche Gewicht.
Sie verliehen den europäischen Interessen, unter welchen Bedingungen die EU überhaupt
bereit ist, eine Erweiterung bzw. Integration anderer Staaten vorzunehmen, den entscheiden- 61 vgl. Heper, Metin; Evin, Ahmet: State, Democracy and the Military - Turkey in the 1980s, Berlin, New York 1988, S. 47-53
22
den Ausdruck. Hiernach ist der Beitrittskandidat gehalten, stabile Institutionen zur
Gewährleistung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und des Schutzes von
Minderheiten zu schaffen sowie eine funktionstüchtige Marktwirtschaft zu installieren, die
sich im Wettbewerb innerhalb der EU behaupten kann. Als drittes Kriterium wird gefordert,
dass der Beitrittskandidat die Fähigkeit nachweist, dass er seine Verpflichtungen als Mitglied
übernehmen kann, insbesondere in Bezug auf die Ziele der politischen, wirtschaftlichen und
monetären Einheit.
Hieraus wird deutlich, dass der „acquis communautaire“ nicht nur in wirtschaftlicher und
wirtschaftsrechtlicher, sondern auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht in die türkische
Rechtsordnung einzubeziehen ist. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Einzelheiten aus
dem oben genannten Ministerratsbeschluss aufzuführen. Um diesen in seinen Inhalten jedoch
gerecht zu werden, verabschiedete die Türkei am 19.03.2001 das so genannte „Nationale
Programm“. Dieses Programm zeigt ausführlich den Stand der Übernahme des acquis
communautaire62 und die noch verbleibenden Aufgaben der Türkei für eine bedingungs-
gemäße Mitgliedschaft. Es enthält Vorschläge für 90 neue Gesetze und 89 Gesetzes-
änderungen mit kurz- und mittelfristigen Prioritäten zur Umsetzung. Dazu gehören neben
„Großprojekten“ wie einem neuen Zivilgesetzbuch und dem soeben verabschiedeten
Strafgesetzbuch auch Änderungen im Bereich der politischen Parteien, der Anti-
terrorgesetzgebung, der Justiz und vielen anderen mehr.
Der erste Schritt zu grundlegenden neuen Änderungen der türkischen Verfassung fand im
Spätherbst 2001 statt. Mit diesem Schritt zeichnete sich eine Abkehr von jenem
Verfassungssystem ab, das nach dem Militärregime in der Übergangszeit zwischen 1980 und
1983 entwickelt worden war. Nicht zu vergessen ist indessen die fundamentale
Verfassungsänderung von 1995, ohne die das Inkrafttreten der Zollunion nicht möglich
gewesen wäre und welche insbesondere den Gewerkschaften mehr Freiheiten zugestanden
hatte.63 Eine ausführliche Analyse der seit dem Jahr 2001 wichtigsten und fundamental von
der EU geforderten rechtspolitischen Änderungen, die ihre Grundlage in der türkischen
Rechtsordnung auf dem Weg zur Europäischen Union gefunden haben, folgt in Kapitel 4
62 Acquis communautaire: gemeinschaftlicher Besitzstand der Europäischen Union 63 Eine detaillierte Bewertung der Verfassungsänderung vom Juli 1995 liefert Rumpf, Christian: Die Verfassungsänderung vom Juli 1995, hrsg. v. d. Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Ebenhausen 1995
23
dieser Arbeit. Zuvor aber sollen die Kopenhagener Kriterien, die letztendlich den
Reformprozess mobilisiert haben, näher beleuchtet werden.
2.6 Die Kopenhagener Kriterien von 1993 als manifester Integrationsmaßstab
zur Einleitung politischer Reformen
Die Kopenhagener Kriterien gehen zurück auf die Tagung des Europäischen Rates in
Kopenhagen vom 21. und 22. Juni 1993, wo die Beitrittskriterien für eine Mitgliedschaft in
der Europäischen Union festgelegt und im Dezember 1995 erneut bestätigt wurden. Für die
Kandidaten stellen sie den fundamentalen Integrationsmaßstab – spezifiziert durch
nachfolgende Berichte und Grundsatzdekrete der EU - dar, an welchem sie sich messen lassen
müssen. Sie umfassen sowohl juristische, politische als auch wirtschaftliche Bedingungen, die
an drei zentralen Punkten für den potenziellen Mitgliedsstaat festzumachen sind:
� Der Beitrittskandidat hat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische
und rechtsstaatliche Ordnung vorzuweisen und außerdem die Menschenrechte zu
wahren sowie den Schutz von Minderheiten zu gewährleisten. Diese Kriterien
beziehen sich auf die politische Ordnung eines Staates und erfordern bei Bedarf
politische Reformen. Sie müssen jedenfalls vor Beginn von Beitrittsverhandlungen
erfüllt sein. Diese politischen Kriterien haben in der Türkei zur Einleitung der
Reformen geführt und sind somit Bezugspunkt dieser Arbeit.
� Der Beitrittskandidat muss im Besitz einer funktionsfähigen Marktwirtschaft sein
sowie die Fähigkeit besitzen, dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standzu-
halten.64
� Der Beitrittskandidat unterliegt der Pflicht, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden
Verpflichtungen bzw. das gesamte Recht der EU (sog. „Acquis communautaire“ oder
„Acquis-Kriterium“) zu übernehmen.
64 vgl. Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäischen Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 189
24
Zusammengefasst bedeutet dies die Verfolgung des Zieles einer politischen Union sowie die
Realisierung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Es ist jedoch wichtig zu bemerken, dass
diese wirtschaftlichen Kriterien und die Übernahme des „Acquis communautaire“ erst zum
Zeitpunkt des Beitritts erfüllt sein müssen, während die politischen Kriterien schon vor
Beginn der Verhandlungen verwirklicht sein müssen.
Des Weiteren wird noch dahingehend differenziert, dass ein Beitritt nur dann erfolgen darf,
wenn zu erwarten ist, dass der Beitritt nicht zu deutlichen Defiziten im EU-Integrations-
prozess führt. Damit waren nach außen für jedes beitrittswillige Land, wie eben auch für die
Türkei, die Aufnahmebedingungen vorgegeben worden.
Die EU-Kommission legte dem Europäischen Rat am 4. März 1998 ihre Mitteilung über eine
Europäische Strategie für die Türkei vor. Zentrale Themen der Vorlage waren die
Rechtsangleichung und die Übernahme des Besitzstandes der Gemeinschaft im Rahmen der
Heranführungsstrategie. Im November 1998 wurde sodann der “Regelmäßige Bericht der
Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt” veröffentlicht,65 was
von da an jährlich erfolgen sollte. Die Kommission stellte dabei “gewisse Anomalien in der
Funktionsweise der öffentlichen Hand, das Anhalten der Menschenrechtsverletzungen und
wichtige Mängel in der Behandlung der Minderheiten” fest. Das Fehlen einer zivilen
Kontrolle über die Armee sei beunruhigend.66 Die Türkei weise aber weitgehend die
Merkmale einer Marktwirtschaft durch weit entwickelte Rechts- und Verwaltungsvorschriften
und –strukturen auf, so dass ihr ein großes Wachstumspotenzial und eine hohe
Anpassungsfähigkeit im Rahmen der Zollunion zuerkannt wurde. Sie habe bewiesen, die
meisten in dem Zollunionsbeschluss vorgesehenen Rechtsvorschriften fristgerecht zu
verabschieden und durchzuführen. Innerhalb der von der Europäischen Strategie aufgezeigten
Bereiche habe die Türkei bereits mit der Annäherung an das Gemeinschaftsrecht begonnen.67
Auf dem EU-Gipfel von Helsinki vom 10./11. Dezember 1999 wurde der Türkei der offizielle
Kandidatenstatus zuerkannt. Damit wurde die Türkei formell in die Runde der anderen zwölf
Beitrittskandidaten aufgenommen. Für die Türkei gelten die gleichen Bedingungen zur
65 vgl. http://www.europa.eu.int/comm/enlargement/report_11_98/pdf/de/turkey_de.pdf 66 Regelmäßiger Bericht der Kommission über die Fortschritte der Türkei, 1998, S. 63 67 ebd. S. 63-64
25
Aufnahme von Verhandlungen wie für die anderen Beitrittskandi-daten, nämlich die
Erfüllung der politischen Kriterien des Europäischen Rates von Kopenhagen vom Juni 1993.
Dieser Beschluss ist für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei als Wendepunkt zu
sehen, da die Türkei bis dahin formal aus dem Erweiterungsprozess ausgeschlossen war. Zwar
blieb sie das einzige Land der insgesamt 13 Kandidaten, das nicht zur Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen eingeladen wurde, dennoch fühlte sich die Türkei mit ihrem Ziel, EU-
Vollmitglied zu werden, bekräftigt und bestätigt. Das nächste Etappenziel auf diesem Weg ist
die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.68
Zugleich wurden auf der Ratssitzung weitere Maßnahmen beschlossen, um den Beitritt zu
fördern, insbesondere Konzeption und Verabschiedung einer Beitrittspartnerschaft, die
Schaffung von Überwachungsmechanismen, die es der EU ermöglichen sollen, die Einhaltung
der türkischen Verpflichtungen aus der Beitrittspartnerschaft zu kontrollieren (u.a. der
jährliche Fortschrittsbericht der EU-Kommission, welcher aber bereits seit 1998 vorgelegt
wird), Finanzhilfen für die Türkei sowie die Schaffung von Beitrittsmöglichkeiten an
Gemeinschaftsprogrammen der EU.69
Am 8. März 2001 bestätigte der Europarat diesen Beschluss und formulierte konkrete
„Grundsätze, Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft für die
Türkische Republik“, was die erste Beitrittspartnerschaft bedeutete.70 Im Rahmen einer
Heranführungsstrategie wurde der Türkei ein konkreter Reformkatalog mit kurz- und
mittelfristigen Prioritäten/Zielen vorgelegt, den sie auf ihrem Weg zur EU zu erfüllen hätte,
was allerings kritisch betrachtet werden muss.
Es ist nicht klar erkennbar, ob auch die mittelfristigen Ziele schon bei Beginn der
Beitrittsverhandlungen erreicht sein müssen. Gleichsam mangelt es an konkreten Auflagen
gegenüber der Türkischen Republik zur Ratifizierung bestimmter Konventionen des
Europarates.71 Unmittelbar nach dem Ratsbeschluss erarbeitete die Türkei im Frühjahr 2001
68 vgl. Yazicioglu, Ümit: Die Türkeipolitik der Europäischen Union, Der Andere Verlag, Osnabrück 2004, S. 41 69 Cremer, Jan: Die Europoäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 6 70 Beschluss des Rates (2001/235/EG) vom 08.03.2001, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L85/13 vom 24.03.2001 71 vgl. Kramer, Heinz: Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien, SWP-Studie, Berlin 2002, S. 9 ff.
26
das sog. „Nationale Programm“. Damit wurden umfassende Reformen und Prozesse in Gang
gesetzt mit dem Ziel der Angleichung an das EU-Recht und die Europäische Werte-
gemeinschaft. Die EU-Kommission wertete dieses Dokument als großen Fortschritt in den
beiderseitigen Beziehungen.
Mit Spannung wurden sodann die Ergebnisse der vorgezogenen Parlamentswahlen in der
Türkei Anfang November 2002 erwartet. Als Sieger ging die Gerechtigkeits- und
Entwicklungspartei (AKP) unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan hervor. Trotz
einiger anfänglicher Befürchtungen seitens der EU setzt sich Erdogan für einen schnellen EU-
Beitritt der Türkei ein.72
Auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen im Dezember 2002 hatten die EU-Regierungschefs
letztlich auf der Grundlage der Kopenhagener Kriterien von 1993 sowie den nachträglichen
Regelmäßigen Berichten und Empfehlungen der Kommission beschlossen, Ende 2004 erneut
über die Beitrittsreife der Türkei zu entscheiden. In dem am 6. Oktober 2004 veröffentlichten
Fortschrittsbericht der Kommission, in welchem die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
empfohlen wird, kommt diese zu dem Schluss, dass die Türkei die politischen Kriterien von
Kopenhagen im gesetzgeberischen Bereich weitgehend erfüllt hat, während bezüglich der
Umsetzung in die Praxis nach wie vor gravierende Mängel konstatiert werden.73
Gleichwohl kam es in der Sitzung des Europäischen Rats vom 16./17. Dezember 2004 zu der
Entscheidung, am 3. Oktober 2005 mit den Beitrittsverhandlungen zu beginnen.74 Da die
vollständige Überprüfung der grundlegenden Gesetzbücher (Strafgesetzbuch, Pressegesetz,
Vereinsgesetz, Parteiengesetz) ein langwieriger gesetzgeberischer Prozess war, der Jahre hätte
benötigen können, zog es die Türkei vor, die für eine Mitgliedschaft festgestellten Unzuläng-
lichkeiten gegenüber den politischen Kriterien so schnell wie möglich durch sog.
„Harmonisierungspakete“75 zu beseitigen. Die Revision der Gesetze ist ein fortlaufender
Prozess, der während der laufenden Beitrittsverhandlungen andauern wird.
72 Obwohl in der Türkei seit Jahrzehnten eine regelrechte Europäisierung angestrebt wird, haben die häufigen Regierungswechsel und die damit verbundenen Veränderungen die Erfüllung der Kriterien erschwert. 73 vgl. Cremer, Jan: Die Europoäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 8 74 http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/vertiefung/tuerkei_html 75 Im Laufe des Reformprozesses wurde „Harmonisierungspaket“ der Referenzbegriff für einen Gesetzes-entwurf, der aus einer Sammlung von Änderungen zu verschiedenen Gesetzen besteht. In einem solchen Harmonisierungspaket sind Änderungen für jeweils mehr als ein Gesetzbuch oder Gesetz zusammengefasst, die im Parlament in einer einzigen Abstimmung angenommen oder verworfen werden können.
27
KAPITEL 3: Der Assoziationsprozess zwischen der Europäischen Union und der Türkei bis zur Errichtung der Zollunion
Die Türkei ist nun seit über 30 Jahren assoziiertes Mitglied der EU und die überwiegende
Anzahl der Türken verbinden eine Vielzahl von Hoffnungen mit einem möglichen Beitritt,
wobei sie weitläufig die Errichtung einer Zollunion als ersten Schritt betrachten. Zwar wurden
von der Europäischen Kommission Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei aufgenommen,
doch erscheint die künftige Auswirkung der Zollunion auf die Volkswirtschaft der Türkei
derzeit noch intransparent. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob unter den diktierten
Bedingungen der EU und denen des Freihandels innerhalb des Integrationsgebietes mit einer
positiven wirtschaftlichen Entwicklung im Sinne der Türkei gerechnet werden kann oder ob
die bestehenden Probleme sich nur noch verschärfen, und zwar ungeachtet der politischen
Frage, ob die Menschenrechtslage wie auch der weitere „Demokratisierungsprozess“ eine EU-
Annäherung erfährt.
Dieses Kapitel der Arbeit widmet sich nun dem Assoziationsprozess bis zur avisierten
Vorstufe zur Mitgliedschaft, nämlich der Zollunion zwischen der Europäischen Union und der
Türkei. Nach der Darlegung des weiteren Weges der Assoziation zwischen der Türkei und der
Gemeinschaft wird der Vertrag über die Zollunion in seinen Grundlagen dargestellt und der
Frage nachgegangen, wie der eingeschlagene europäisch-türkische Weg bilateral vereinbar ist
und ob er geeignet ist, das beiderseitig erklärte Ziel der Vollintegration zu verwirklichen.
3.1 Westeuropäische Adaption als Staatszielbestimmung der Türkei
Zunächst ist der Frage nachzugehen, auf welchen Ursachen eine Westausrichtung der Türkei
beruht und von welchen politischen Motiven sie dabei geleitet wird.
Die Türkei ist derzeit die einzige pluralistische säkulare Gesellschaft in der muslimischen
Welt. Verglichen mit anderen islamischen Ländern ist sie die für westliche Maßstäbe
28
progressivste. Sie hat der Entwicklung ihrer Beziehungen mit anderen europäischen Staaten
stets eine große Bedeutung beigemessen. Die türkische Kultur hinterließ im Laufe der
Geschichte einen nachhaltigen Einfluss auf einen großen Teil Ost- und Südeuropas.
Im 19. Jahrhundert begann die Türkei bereits, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen
Strukturen des Landes zu „westernisieren“. Nach dem 1. Weltkrieg und der Verkündung der
Republik im Jahre 1923 wurde Westeuropa als Vorzeigemodell für die neuen weltlichen
Strukturen genommen. Dieser wichtige Wendepunkt der türkischen Orientierung nach Europa
wurde von Mustafa Kemal Atatürk eingeleitet und verfolgte zwei Staatsziele: die Errichtung
eines souveränen, unabhängigen türkischen Staates auf dem türkischen Kerngebiet und die
Modernisierung dieses Staates.76 Daher kam es noch während des Unabhängigkeitskrieges
1919 zum Bruch mit dem Sultan und zur Abschaffung des Sultanats. 1924 wurde auch das
Kalifat abgeschafft. Somit versuchte Atatürk, einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu
realisieren und die Türkei dem arabisch-asiatischen Einfluss auf Kultur und Tradition zu
entziehen, um sie zu einem modernen westlichen Staat zu machen. Seine Reformen stellten
eine konsequente und umfassende Ausrichtung nach Europa dar77 und bezweckten die
Annäherung an den kulturellen, industriellen und wirtschaftlichen Stand der europäischen
Staaten. Mit Mustafa Kemal Atatürk wurden die ersten Steine in das Gebäude der „adaption
of life along European lines“ eingefügt und auch nach seinem Tod im Jahr 1938 wird heute
noch versucht, Resistenz und Stabilität in diesen Komplex zu integrieren.
Die Türkei gehört zu den Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen und ist Mitglied der
NATO, des Europarates und der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung sowie ein assoziiertes Mitglied der Westeuropäischen Union. Diese Bündnisse
verhalfen der Türkei zu einer weitest gehenden Westausrichtung. Während des Kalten
Krieges entschied sie sich für die westliche Allianz und unterstützte mit ihren Mitteln
nachhaltig die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen der westlichen Welt.
Bei der Verteidigung des europäischen Kontinents hat die Türkei in dieser Hinsicht eine
wichtige Rolle gespielt, die sie heute in anderen Zusammenhängen noch weiterhin spielt. Die
76 vgl. Peters, Richard: Die Geschichte der Türken, Stuttgart 1961, S. 135; zur Westorientierung der Türkei in den Ideen Atatürks siehe die umfassende Analyse von Gönlübal, Mehmet: Atatürk´s Foreign Policy: Goals and Principles, in: Feyzioglu, Turhan (Hrsg.): Atatürk´s Way, Istanbul 1982, S. 255-302 77 vgl. Rüstow, A. Dankwart: Kemalism, in: Grothusen, Klaus Detlev (Hrsg.): Südosteuropa-Handbuch, Band IV: Türkei, Göttingen 1985, S. 237-248
29
wichtigsten Grundsätze der türkischen Außenpolitik konvergieren mit denen der europäischen
Partner der Türkei. Aus diesem Grund nahm die Türkei im Jahr 1959 eine enge Zusammen-
arbeit mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem rechtlichen Vorläufer der
EU, auf.
Der ökonomische Staatsentschluss der Türkei, eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen
Grundlagen in der Ausrichtung an den EU-Binnenmarkt zu suchen, ist deshalb bereits
grundlegend in der laizistischen Politik Atatürks zu erkennen. Es ist daher im Selbstver-
ständnis der Türkei politökonomisch nur folgerichtig, dass sie die enge Zusammenarbeit mit
Westeuropa im politischen Bereich mit einer Kooperation im Wirtschaftsbereich abzurunden
versucht, sei es auch mit diversen Nachteilen verbunden. Es darf nämlich dadurch nicht
verkannt werden, dass mit dieser Grundentscheidung gleichfalls auch die Weichen dafür
gestellt sind, dass die türkische Wirtschaft von den Konjunkturen der Ökonomie der
Gemeinschaft wesentlich bestimmt wird.
Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Gründe, die die Türkei veranlassten, den
EWG-Assoziationsantrag zu stellen, auf politischer, sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher
Ebene liegen.78 Eines der gewichtigsten Motive für den Antrag war insbesondere das
„Streben der Türkei, durch die Zugehörigkeit zur Familie der westeuropäischen Demokratien
und Industrienationen, den Status der Türkei als moderne, westliche Gesellschaft zu
bestätigen und bestätigt zu bekommen“.79 Dieses politisch-psychologische Motiv macht die
türkische Politik bis heute noch empfindlich gegenüber tatsächlichen oder scheinbaren
Abweisungen seitens der westeuropäischen Regierungen oder Medien. Vor allem aber die
ökonomischen Tiefpunkte, die Mitte der 50er Jahre als Ergebnis der neu eingeführten freien
Wirtschaftspolitik der Demokratischen Partei auftraten, waren ein weiterer Grund für den
Antrag auf Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Wirtschafts-
politik bekräftigte die Türkei mit Krediten aus den USA und internationalen Finanzinstituten,
was in eine zunehmende ökonomische Abhängigkeit der Türkei von westlichen Krediten und
78 Die Türkei wiederum hatte neben dem sicherheitspolitischen Aspekt wirtschaftliche sowie politische Interessen, dem Assoziationsabkommen beizutreten. Auf der wirtschaftlichen Ebene erhoffte sich die Türkei mit der Assoziierung verbesserte Handelsbeziehungen zum EWG-Markt, Finanzhilfen, eine Minderung der Arbeitslosigkeit und einen allgemeinen positiven Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei. 79 zit. nach Kramer, Heinz: Der türkische EG-Beitrittsantrag und der „griechische Faktor“, in: Gumpel, Werner (Hrsg.): Die Türkei und die Europäische Gemeinschaft, Südosteuropa Aktuell Heft 3, München 1988, S. 22
30
zu einer fatalen Kumulation ihrer Schulden führte. Die Regierung sah sich im Jahre 1958
gezwungen, ein Stabilisierungsprogramm des IWF zu adaptieren, welches jedoch die
Bevölkerung mit einer Abwertung und einem Inflationsbekämpfungsprogramm trotzdem
unzufrieden stellte. In diesem schwierigen Klima benötigte die Demokratische Partei eine
politische Alternative zu der bisweilen sehr engen Bindung an die USA, um die eigene
politische Inkompetenz zu decken und gleichzeitig neue wie nicht ausgeschöpfte Quellen für
Kredite und Hilfen zu schaffen. In der Assoziierung mit der EWG erhoffte sich die Demokr-
tische Partei deshalb eine Verbesserung ihrer politischen Stellung, gleichwohl zudem die
ökonomischen Interessen des Landes als vordergründig betrachtet werden müssen.
3.2 Interessenkalküle der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Spiegelbildlich ist zu klären, welche maßgeblichen Intentionen in dem Jahrzehnte
andauernden Integrationsprozess durch die Europäische Union, respektive die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft, verfolgt wurden und werden.
Die Basis für die Zustimmung der EWG zum Assoziationsantrag der Türkei war vornehmlich
von sicherheitspolitischen Erwägungen geprägt. Dadurch, dass die Türkei in ihrer
geostrategischen Lage eine Brückenfunktion zwischen Orient und Okzident einnimmt und
gleichzeitig als Bindeglied zweier Kontinente dient, wurde sie seit ihrer Mitgliedschaft in der
NATO als unabdingbarer Partner des Westens vernommen. Die Türkei wurde als
Südostpfeiler der NATO gegen den real praktizierten Ost-Kommunismus eingesetzt. Sie
fungierte wie eine Art Riegel gegen einen möglichen Vorstoß der Sowjetunion nach Süden
und als Knautschzone für einen möglichen Übergriff auf Europa. Die Assoziation der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte eine wichtige Ergänzung der türkischen
Anbindung an die NATO ermöglichen. Außerdem konnte nur die Einbeziehung der Türkei in
das westliche System ihre mögliche Kooperation mit den Ostblockstaaten verhindern.80
80 vgl. Kramer, Heinz: Die Europäische Gemeinschaft und die Türkei. Baden-Baden, Nomos-Verlag, 1988, S. 24 ff.
31
Ein weiterer Grund für die positive Entscheidung Westeuropas stellt der Zeitpunkt der
Anträge dar. Sowohl der griechische als auch der türkische Antrag kamen zu einer Zeit, in der
sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in ihrer Aufbauphase befand und mit der
Rivalität der EFTA (European Free Trade Association) rang. Assoziationsbeziehungen
bedeuteten internationale Anerkennung der Gemeinschaft und waren somit eine Frage des
Prestige.81
Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei wurden und werden von den meisten EG-
Ländern vor allem als Mittel der Anbindung der Türkei an den Westen verstanden. Sie
beruhen weniger auf wirtschaftlichem Kalkül als politischen Interessen, die sich vornehmlich
aus der geostrategischen Lage der Türkei erklären.82 Auf wirtschaftlicher Ebene wurden die
Erschließung des expandierenden türkischen Marktes und die sich ergebenden neuen
Investitionsmöglichkeiten als vorteilhafte, aber nicht sehr relevante Faktoren angesehen.83
Diese gewichtende Auffassung mag durchaus umstritten sein, zumal nicht vergessen werden
darf, dass durch eine ökonomische Intergration der Türkei nicht nur erheblich neue
Geschäftsfelder mit Anbindung an den nahöstlichen und asiatischen Raum eröffnet werden,
sondern zugleich eine gewisse politische Hegemonie auf dem europäischen Kontinent
geschaffen wird. Im wirtschaftlich-globalen Konkurrenzkampf steigert die Gemeinschaft
damit entscheidend ihren Einflussbereich.
Mit der Eingliederung der Türkei in das westeuropäische Bündnissystem wollte die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auch zeigen, dass sie kein „Christenclub“, sondern
offen und sensibel gegenüber anderen Staaten war. Aus diesen Gründen bot die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft auch der Türkei die ausdrückliche Perspektive der Mitgliedschaft an,
wobei, wie schon oben erwähnt, in ihren Beziehungen zur Türkei überwiegend die sicher-
heitspolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen dominierten.
81 a.a.O, S. 25 82 Kramer, Heinz: Für und Wider einer türkischen EG-Mitgliedschaft, in: Integration 10 (1987) 4, S. 152 83 hierzu Bozkurt, Mahmut: Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union, Europäische Hoch-schulschriften: Reihe 31, Politikwissenschaft, Band 282, Frankfurt am Main 1995, S. 11
32
3.3 Das Assoziationsabkommen vom 12. September 1963
Die Verhandlungen über das türkische EWG-Assoziierungsabkommen begannen am 28.
September 1959 und endeten nach zehn mehrtägigen Runden am 25. Juni 1963.84 Die
Schwierigkeiten und Verzögerungen, die dabei auftraten und den Assoziationsprozess
schleppend werden ließen, beruhten auf mehreren Gründen: Zum einen befürchteten die
Europäer eine Einfuhrflut türkischer landwirtschaftlicher Produkte in den EWG-Raum,
woraus sich Nachteile für die französischen und italienischen mediterranen Erzeuger
entwickeln könnten;85 zum anderen bestanden Bedenken gegenüber der Bewältigung der
Pflichten einer Assoziierung aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit der Türkei.86
Ein weiterer Grund für das mühsame Vorankommen der beiden Parteien war die
Niederschlagung der Regierung der Demokratischen Partei unter Ministerpräsident Adnan
Menderes mit der ersten türkischen Militärintervention vom 27. Mai 1960, die die
parlamentarische Arbeit für 18 Monate stilllegte. Mit der Übernahme der Macht deklarierte
das Militärregime die Weiterführung der türkischen Europapolitik und übte nach dem
Abschluss des Assoziationsvertrages mit Griechenland87 vom 9. Juli 1961 enormen Druck auf
die Gremien aus. In weiteren Verhandlungen fanden die Vertragsparteien schließlich eine
Einigung dahingehend, dass zwischen der Türkei und der Europäischen Wirtschafts-
gemeinschaft stufenweise eine Zollunion eingeführt werden sollte. Zuvor kam es zu einer
zivilen Regierung der Republikanischen Volkspartei unter Ismet Inönü aus den Parlaments-
wahlen vom 14. Oktober 1961. Mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens
zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei am 12. September 1963
in Ankara übernahmen beide Vertragspartner wichtige außenpolitische Verantwortung.
84 Erste Runde: 28.- 30. September 1959, Zweite Runde: 02.- 04. Dezember 1959; Dritte Runde: 07.- 09. Januar 1960; Vierte Runde: 14.- 21. Oktober 1960; Fünfte Runde: 19.-22. Juni 1962; Sechste Runde: 08.- 12. Oktober 1962; Siebente Runde: 14.- 24. Januar 1963; Achte Runde: Weiterführung der Siebenten Runde; Neunte Runde: 23. - 24. April 1963; Zehnte und letzte Runde: 16. Mai - 25. Juni 1963. 85 vgl. Kramer, Heinz: Die Europäische Gemeinschaft und die Türkei. Baden-Baden, Nomos-Verlag, 1988, S. 33 86 vgl. Eski, Hasan: Wirtschaftliche Probleme der Assoziierung der Türkei an die Europäische Wirt-schaftsgemeinschaft, Diss., Köln 1977, S. 77 87 zum Assoziationsvertrag mit Griechenland siehe: Europäische Gemeinschaften (Hrsg.), Sammlung der von den Europäischen Gemeinschaften geschlossenen Übereinkünfte, Band 3: Bilaterale Abkommen EWG- Europa 1958-1975, Luxemburg 1978, S. 391-434
33
Für die Türkei bedeutete dies nun, dieselben Anpassungsleistungen zu erbringen wie die
EWG-Staaten untereinander. Doch da die wirtschaftliche Öffnung nach außen für die Türkei
ungleich schwieriger war als für die Staaten der EWG, waren auch die zukünftigen
Anforderungen für Ankara höher als für die EWG-Partner.88 Mit dieser Unterzeichnung
wurde die Türkei nicht nur politisch, sondern auch geographisch als „europäisch“ anerkannt.
Bemerkenswert ist auch, dass kein Mitglied der EWG Ein-wände aufgrund der Römischen
Verträge von 1957 erhob, in denen ausdrücklich bestimmt worden war, dass nur europäische
Länder Mitglied der EWG werden könnten.
Hierzu äußerte Walter Hallstein (CDU), der Präsident der Kommission: „Turkey is part of
Europe. That is really the ultimate meaning of what we are doing today. It confirms in
incomparably topical form a truth which is more than the summary expression of a
geographical concept or of a historical fact that holds good for several centuries. Turkey is
part of Europe: and here we think first and fore most of the stupendous personality of Atatürk
whose work meets us at every turn in this country, and of the radical way in which he recast
every aspect of life in Turkey along European lines. Turkey is part of Europe: today this
means that Turkey is establishing a constitutional relationship with the European Community.
Like the Community itself, that relationship is imbued with the concept of evolution”.89
Mit dieser Äußerung machte der damalige Präsident der Kommission deutlich, dass
diesbezügliche politische Spekulationen und Überlegungen nicht gerechtfertigt wären, und die
Frage, ob die Türkei eigentlich ein europäisches Land sei, war damit politisch positiv
entschieden.
Rechtlich betrachtet stellt das Ankara-Abkommen ein Gerüst juristisch nicht sanktionierbarer
Absichtserklärungen dar, das im Laufe des Prozesses regelmäßig ergänzt, vertieft und
spezifiziert wurde. Es trat zum 1. Dezember 1964 in Kraft und beinhaltete in den Artikeln 2 –
5 insgesamt drei Phasen der gegenseitigen Annäherung:
88 siehe Kramer, Heinz: Die Europäische Gemeinschaft und die Türkei; Nomos-Verlag, Baden-Baden 1988, S. 40 89 siehe Váli, Ferenc A.: Bridge Across The Bosporus, The Foreign Policy of Turkey, Baltimore, London 1971, S. 371
34
Eine so genannte Vorbereitungsphase (Art. 3), gefolgt von der Übergangsphase (Art. 4), die in
die sog. Endphase (Art. 5) überführen sollte. Die Vorbereitungsphase war zeitlich bis 1973
vorgesehen und diente der Förderung der türkischen Wirtschaft, die so auf die in weiteren
Phasen zu erfüllenden Verpflichtungen vorbereitet werden sollte.
Vertraglich festgelegt, sollten in den Kernbereichen folgende Ziele in dieser Vorberei-
tungsphase erreicht werden:
� die Schaffung „immer engerer Bande“ zwischen dem türkischen Volk und den
Völkern der EWG (Präambel),
� die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Förderung der wirt-
schaftlichen und sozialen Entwicklung der Türkei (Art. 2),
� Zollpräferenzen für türkische landwirtschaftliche Exportprodukte (Tabak, Rosinen,
getrocknete Feigen und Haselnüsse),
� die Abschaffung aller Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen,
� die Anpassung an den Gemeinsamen Zolltarif (GZT) (Art. 11),
� die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit für Personen, Dienstleistungen und
Kapital (Art. 12 bis 14 und Art. 20) sowie
� ein Kredit der Europäischen Investitionsbank in Höhe von 175 Mio. US-Dollar.
Diese Vorbereitungsphase endete Ende 1972 ohne nennenswerte feststellbare Kompli-
kationen. Die beiden für die Türkei wichtigsten Aspekte dieses Abkommens waren die
Bestätigung eines europäischen Staates und das Manifest von Bedingungen für ihre
zukünftige Mitgliedschaft.90 Unglücklicherweise erweckte dieses Assoziationsabkommen in
der Türkei „hohe politische Erwartungen und (...) übertriebene Hoffnung“.91
90 vgl. Cankorel, Bilge: Turkey - EC Relations, in: Gumpel, Werner (Hrsg.): Europa und die Türkei in den Neunziger Jahren, Südosteuropa Aktuell 11, München 1991, S. 39-41 91 siehe Kramer, Heinz: Die Assoziationsabkommen der EU: Die Türkei und Mittelosteuropa in einem Boot?, Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Eurokolleg 3 (1995), S. 4
35
3.4 Ratifizierung des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 in die Über-
gangsphase zur Zollunion
Bereits im Mai 1967 drängte der damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel auf den
Beginn der Verhandlungen für den Eintritt in die - dem Ankara-Abkommen von 1963
entstammende - Übergangsphase. Gründe für dieses Begehren lagen vornehmlich auf
politischer und sozioökonomischer Ebene. Die Regierung rechnete mit größeren Kon-
zessionen von der EWG, wenn sie dem Beitritt Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und
Norwegens zuvorkommen würde. Außerdem könnten noch mehr Arbeitnehmer in die EWG
entsandt werden, um die innerstaatliche Arbeitslosigkeit zu kompensieren und um einen Teil
des türkischen Außenhandelsdefizits mit den Überweisungen der türkischen Arbeitnehmer
auszugleichen. Ein zusätzlicher Grund war die Aussicht auf die Verbesserung der
unzureichenden Konzessionen für Agrarprodukte, auf den Export von Industrieprodukten und
auf die Sicherung höherer Kredite.92 Wegen des erklärten türkischen Ziels der Anbindung an
den Westen und der Bemühungen einer gleichgewichtigen Behandlung der Türkei und
Griechenland entschied sich der Assoziationsrat am 9. Dezember 1968 vorzeitig dazu, die
Verhandlungen über den Einstieg in die Übergangsphase aufzunehmen.
Zwar traten dabei aufgrund der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte und Zielsetzungen
sowie der nicht stetig gegebenen inneren Harmonie der beiden Verhandlungspartner kleinere
Schwierigkeiten auf, wie bereits oben dargestellt wurde. Trotzdem wurde nach langwierigen
Verhandlungen am 23. November 1970 das so genannte Zusatzprotokoll unterzeichnet. Die
Ratifizierung des Zusatzprotokolls zog sich wegen des Memorandums vom 12. März 1971
hin, mit dem das türkische Militär den Rücktritt von Ministerpräsident Demirel erzwang,
nachdem die zunehmende Polarisierung der äußersten Rechten und der äußersten Linken zur
offenen Gewaltanwendung zwischen diesen Gruppierungen in der Türkei geführt hatte.93 Das
Zusatzprotokoll konnte wegen dieser Umstände erst am 1. Januar 1973 in Kraft treten.
92 vgl. Ilkin, Selim: A Short History of Turkey´s Association with the European Community, in: Evin, Ahmet; Denton, Geoffrey: Turkey und the European Community, Opladen 1990, S. 40 93 zur Militärintervention vom 12. März 1971 siehe Kazancigil, Ali: Die Türkei zwischen Demokratie und Militärherrschaft, in: Europa-Archiv, Folge 14/ 1972, S. 501-510
36
Mit seiner Ratifizierung begann jedoch die für die Türkei mehrheitlich und lang ersehnte
Übergangsphase, die 12 bis 22 Jahre dauern und mit der Einführung der Zollunion als so
genannte Endphase enden sollte. Im Kern beinhaltete das Zusatzprotokoll den stufenweisen
Abbau der gegenseitigen Zölle, wobei folgende Ziele anvisiert wurden:
� die schrittweise Errichtung einer Zollunion zum 01.Januar 1995,
� die Annäherung der türkischen und gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik (Art. 4 und
5 des Assoziierungsabkommens),
� Bestimmungen für die Herstellung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern (Art. 12)
sowie
� die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien
Dienstleistungsverkehrs (Art. 13 und 14).
Diese weitest gehend auf die Ökonomie beschränkte Übergangsphase ermöglichte es damit
der Türkei, mit ihren Industriewaren - ausgenommen Textilprodukte und Erdölerzeugnisse -
in den gemeinschaftlichen Binnenmarkt einzusteigen und diese auf dem EWG-Markt feil-
zubieten, ohne zollähnliche Steuern oder Abgaben leisten zu müssen und zugleich mengen-
mäßig nicht eingeschränkt zu werden (Art. 9 und 24 ff. des Zusatzprotokolls). Die Art. 36 - 42
des Zusatzprotokolls normierten die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in der
Gemeinschaft zwischen dem zwölften (01. Dezember 1976) und dem zweiundzwanzigsten
(01. Dezember 1986) Jahr. Art. 60 des Zusatzprotokolls berechtigte beide Vertragspartner
dazu, im Falle besonderer wirtschaftlicher Schwierigkeiten die notwendigen Schutzmaß-
nahmen zu treffen.
Weiterer Bestandteil des Protokolls waren Finanzhilfen der EWG zugunsten der Türkei, mit
denen sie auf die bevorstehende Konkurrenz im Güterverkehr vorbereitet werden sollte. Die
türkischen Verpflichtungen hingegen waren die Senkung der Zölle für Industriewaren aus der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einerseits, so dass jene nach 12 bzw. 22 Jahren
gänzlich zollfrei werden sollten. Andererseits sollte die stufenweise Anpassung ihrer Zoll-
tarife an den gemeinsamen EWG-Außenzoll, auch gegenüber Drittländern, verwirklicht
werden.
37
Im Ergebnis waren damit zum einen die rechtspolitischen Grundlagen für einen vergrößerten
Wirtschaftsraum der EWG geschaffen worden, zum anderen auch die vermeintliche Chance
der Türkei, ihre Westanbindung ebenso ökonomisch zu intensivieren, um ihre erklärten Ziele
zu erreichen.
3.5 Der weitere Assoziationsverlauf bis zur Errichtung der Zollunion
Die Folgeprozesse in den europäisch-türkischen Bemühungen im Rahmen der Übergangs-
phase erwiesen sich als durchwachsen. Im weiteren Verlauf der 70er Jahre verschlechterten
sich die Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei erneut.
Hierfür waren sowohl internationale Ereignisse als auch die innertürkische Entwicklung
ausschlaggebend. Selbst nach der Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie im Jahre 1973
konnten die gesellschaftlichen und politischen Unruhen in der Türkei nicht beseitigt werden.
Es kam zu rasch wechselnden Koalitionsregierungen, weil in den Wahlen der 70er Jahre keine
ausreichenden Mehrheiten für eine Alleinregierung erreicht werden konnten. Die Regierungen
waren auf Koalitionen mit der extremen Rechten (Nationalistische Aktionspartei unter
Alparslan Türkes) oder der extremen Religiösen (Nationale Heilspartei unter Necmettin
Erbakan) angewiesen, die die Regierungen zu Zugeständnissen zwangen und die Realisierung
beschlossener Programme erschwerten bzw. gänzlich verhinderten.94
Darüber hinaus litt die türkische Republik an einem zunehmenden Handelsbilanzdefizit
gegenüber der EG. Dies war den Teilassoziierungsabkommen mit Marokko und Tunesien
(1969), den Assoziierungsabkommen mit Malta (1971) und Zypern (1973), den Abkommen
mit AKP-Staaten (Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks), den Handelsverträgen mit
Spanien und Israel (1970) sowie den Handelsverträgen mit Ägypten und Libanon (1972) zu
verdanken.95 Auch der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks im Jahre 1973 hatte
negative Auswirkungen für die Türkei. Die Europäische Gemeinschaft unterzeichnete neue
94 siehe hierzu Bozkurt, Mahmut: Die Beziehung der Türkei zur Europäischen Union, Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1995, S. 55 ff. 95 zu den Arten und Formen der EG-Assoziierungen siehe ausführlich Can, Haci: Das Assoziationsverhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei, Peter Lang, 2002, zugl.: Heidelberg Univ. Diss. 2002, S. 45 ff.
38
Vereinbarungen mit Vergünstigungen für die Beitrittsländer.96 Infolge der Ölkrise 1973 setzte
in Westeuropa zudem eine konjunkturelle Abschwungphase ein, die das Importwachstum
beendete und zur Zunahme der Arbeitslosigkeit führte. Am bundesrepublikanischen Beispiel
orientierend, reagierten die meisten EG-Staaten mit einem Anwerbestopp und einer
restriktiven Migrationspolitik. Dies bedeutete für die Türkei, dass viele türkische Migranten
in ihre Heimat rückgeführt wurden, die türkische Arbeitslosenrate anstieg und die Über-
weisungen der in der EG tätigen türkischen Arbeitnehmer, die zur Verminderung des
türkischen Zahlungsbilanzdefizits und zur Schaffung von Devisenreserven diente, ausblieben.
Als weiterer Aspekt trug der Eintritt der EG in die Freihandelszone mit den Staaten der EFTA
(damals: Island, Lichtenstein, Norwegen, Schweiz, Portugal, Österreich, Finnland und
Schweden) ab dem 01. Juli 1977 der defizitären Handelsbilanz der Türkei gegenüber der
Europäischen Gemeinschaft bei. Die 70er Jahre waren für die Türkei folglich Jahre der
Desillusionierung, denn „Turkey`s Western friends were perceived as being slow to provide
aid in the hour of economic need“ 97.
Nachdem die Türkei 1973 und 1976 die ersten beiden Zollsenkungen von je 10 %
rechtswirksam erfüllte, konnte sie aufgrund der oben dargelegten Gründe die für den 1. Januar
1978 geplante Zollsenkung hingegen nicht realisieren. Sie bat um die Stilllegung des
türkischen Zollabbaus auf dem derzeitigen Stand und um Kredite in Höhe von 4 Milliarden
US-Dollar. Sie berief sich hierbei auf die Schutzklausel des Art. 60 des Assoziierungs-
abkommens.98
Eine kurzzeitige Verbesserung der Beziehungen zur EG verbuchte die neue Minderheiten-
regierung unter der Gerechtigkeitspartei (DYP = Dogru-Yol-Partisi) von Süleyman Demirel,
als sie mit dem Stabilisierungsprogramm vom 24. Januar 1980 eine wirtschaftliche Öffnung
der Türkei nach außen einleitete. Zudem schienen die weltpolitischen Instabilitäten nach der
sowjetischen Invasion in Afghanistan und der islamischen Revolution im Iran eine Vertiefung
96 hierzu Bourguignon, Roswitha, in: Evin, Ahmet; Denton, Geoffrey (Hrsg): Turkey and the European Community, Opladen, 1990, S. 55 ff. 97 so Penrose, Trevor: Is Turkish Membership Economically Feasible? in: Rüstow, Dankwart A.; Penrose, Trevor: Turkey and the Community, The Mediterranean Challenge, Sussex European Paper No. 10, Sussex 1981, S. 64 98 siehe Eralp, Atila: Turkey und the European Community in the changing post-war international system, in: Balkir, Canan; Williams, Allan M: Turkey and Europe, London, New York 1993, S. 29 f.
39
der türkischen Beziehungen zum Westen notwendig zu machen. Doch einmal mehr scheiterte
die Integration der Türkei an der eigenen innenpolitischen Lage. Es kam am 12. September
1980 zur dritten und bisher letzten Militärintervention; eine Reaktion auf die politischen und
sozialen Spannungen sowie auf die verstärkte Reislamisierungstendenz,99 die zu einem
bürgerkriegsähnlichen Zustand eskaliert war. Dieser Putsch sollte die europäisch-türkischen
Beziehungen für ungewisse Zeit stilllegen und in ungeahntem Maße verkomplizieren.
Erst am 6. November 1983 normalisierte sich der Ausnahmezustand der Türkei und es
konnten die ersten Parlamentswahlen stattfinden. Als Sieger ging die Mutterlandspartei
(ANAP = Anavatan Partisi) unter Turgut Özal hervor. Die neue Regierung unter Özal
bemühte sich um die Wiederbelebung der Beziehungen zur EG, woraufhin die westlichen
Führungen zunächst abwartende Stellungen einnahmen.100
Im Europäischen Parlament wurde erst einmal die Entsendung einer Delegation in die Türkei
beschlossen, die die dortige Menschenrechtslage erkunden und berichten sollte. Auf den
zugeleiteten Balfe-Bericht101 vom 01. Oktober 1985 folgte eine „für das türkische Volk
unbegreifbare, ja feindselige Haltung“102 der EG. Für die zweite Hälfte der 80er Jahre war
eine weiterführende Normalisierungsbestrebung der Beziehungen zur EG, angesichts
zahlreicher anderer Probleme neben der Frage der Menschenrechte kein leichtes Unterfangen
für die Türkei. Hierzu zählten mit der Wiederaufnahme der finanziellen Hilfen und der
Freizügigkeitsfrage auch die Quoten der türkischen Textilexporte in die EG,103 die bis zum
Ende der 80er Jahre keine Lösung brachten. Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen
99 Nur sechs Tage vor der Militärintervention fand am 06. September 1980 in Konya eine der bis dahin größten islamischen Demonstrationen mit der Forderung nach der Beendigung der Republik und der Einführung der Scharia statt; siehe hierzu Kramer, Heinz:, Die Europäische Gemeinschaft und die Türkei; Nomos-Verlag, Baden-Baden 1988, S. 248; Adanir Fikret bewertet diese Militärintervention als „den Tiefpunkt der Entwicklung der Demokratie in der Türkei seit 1945“; Adanir, Fikret: Geschichte der Republik Türkei, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1995, S. 106; zur Militärintervention siehe genauer: Hottinger, Arnold: Die Türkei unter der Herrschaft der Militärs, in: Europa- Archiv, Folge 7/1982 100 zum Verhalten der EG siehe Eralp, Atila: Turkey und the European Community in the changing post-war international system, in: Balkir, Canan; Williams, Allan M: Turkey and Europe, London, New York 1993, S. 32 101 Richard Balfe war Abgeordneter der britischen Labour-Partei und wurde im Namen des politischen Ausschusses am 25. Januar 1985 zum Berichterstatter über die Situation der Menschenrechte in der Türkei ernannt. 102 zitiert nach Kramer, Heinz: Die Europäische Gemeinschaft und die Türkei; Nomos-Verlag, Baden-Baden 1988, S. 110 103 vgl. Eralp, Atila: Turkey und the European Community in the changing post-war international system, in: Balkir, Canan; Williams, Allan M: Turkey and Europe, London, New York 1993, S. 33 und Özkale, Lerzan: International Competitiveness of Turkey and the Problem of EC Entry, Istanbul 1992, S. 31
40
Sowjetunion im Jahre 1991 und dem Ende des Ost-West-Konfliktes „drohte die Türkei in der
außenpolitischen Bedeutungslosigkeit zu versinken.“104 Da sich dramatische Änderungen im
Osten Europas bereits in den Jahren 1989 und 1990 anbahnten, ersuchte die damalige
Regierung unter Turgut Özal neue Wirtschaftskooperationen zu schaffen, zumal auch die
Ablehnung des türkischen Beitrittsantrages von 1987 bekannt gegeben worden war.
Mit der Gründung der BSEC - Black Sea Economic Cooperation Zone (Schwarzmeer-
wirtschafts- und Kooperationszone) im Dezember 1990 bezweckte die Türkei weniger die
Errichtung einer politischen Union wie im Falle der Europäischen Union, sondern vielmehr
die Beweisführung der Kompetenz einer Übernahme von Führungsposition innerhalb eines
internationalen Zusammenschlusses. Auch hofften die Türken mit ihren Bestrebungen
hiermit, auf längere Sicht ihre Chancen auf eine EU-Mitgliedschaft zu verbessern,105 weil sie
auf der einen Seite ihre Vulnerabilität und ihre Abhängigkeit von der EU reduzierten106 und
auf der anderen Seite eine Diversifizierung ihres Außen-handels illustrierten.
Eine Art Führungsrolle und Modellfunktion wollte die Türkei auch im Jahre 1991 nach den
Unabhängigkeitserklärungen der Turkrepubliken - Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan,
Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan -,107 mit denen sie sich sprachlich, kulturell und
religiös verbunden sah, übernehmen. Die Türkei sah ihre Rolle in der zentralasiatischen
Region als „duty and responsibility, as well as an opportunity and a matter of interest.“108
Das Hauptaugenmerk richtete sich dem „Export des Kemalismus“109 in die Turkrepubliken -
Laizismus, Verwestlichung und Errichtung von politischen Systemen auf der Grundlage von
Demokratie und Pluralismus. Sie machten hierbei deutlich, dass kein pantürkischer oder
panislamischer Expansionismus angestrebt werde, sondern vielmehr für die Bewahrung des
104 so Krech, Hans: Die Türkei auf dem Weg zur Regionalmacht im Nahen Osten und in Mittelasien, in: Zeitschrift für Türkeistudien, 5(1992)2, S. 241 105 siehe Brown, Bess; Fuller, Elizabeth: Die Türkei und die Muslimischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.); Interne Studien Nr. 84/1994 Sankt Augustin 1994, S.16 106 siehe hierzu Gumpel, Werner: An der Nahtstelle von Europa und Asien. Die Mittlerrolle der türkischen Regionalmacht, in: Internationale Politik 1/ 1998, S. 18 107 Aserbaidschan liegt im Kaukasus, die anderen Turkrepubliken liegen in Zentralasien, wobei Tadschikistan eine mehrheitlich persische Bevölkerung hat 108 zit. nach Ataöv, Türkkaya: Turkey, the CIS and Eastern Europe, in: Balkir, Canan; Williams, Allan M. (Hrsg.): Turkey and Europe, London, New York 1993, S. 198 109 zit. nach Steinbach, Udo: Die modellpolitische Konkurrenz zwischen der Türkei und dem Iran um die Zukunft der islamischen Welt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/ 1992, S. 826
41
Status quo eingetreten würde.110 Dieser enthusiastische Einsatz für die Turkrepubliken sollte
dem Westen demonstrieren, wie europäisch die Türkei in politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Kontakten agieren könne. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs verzichtete die Türkei
auf eine aktive Politik in der nah- und mittelöstlichen Region.111
Im 2. Golfkrieg bekam sie aber die Möglichkeit, ihre mit dem Ende des Ost-West-Konflikts
verringerte strategische Bedeutung wiederzuerlangen. Mit ihrem Eintreten für die
Golfkriegsallianz, in Form der Ermöglichung des Angriffs auf den Irak über türkischem
Boden, hatte sie dem Westen ihre Verlässlichkeit unter Beweis gestellt, obwohl sie mit dieser
Entscheidung gegen ihren wichtigsten Wirtschaftspartner Verluste in Höhe von über 35
Milliarden US-Dollar erlitten.112
Mit diesem unpragmatischen Verhalten wollte die Türkei Spontaneität und Flexibilität in der
Diversifizierung ihrer außenpolitischen Orientierung zeigen, nachdem sie jahrelang eine
politische Neutralität und Äquidistanz für die Nahostpolitik anstrebte. Die einzige Ausnahme
stellte die Gründung der ECO - Economic Cooperativ Organisation - mit dem Iran und
Pakistan im Jahre 1985 dar, die die RCD - Regional Cooperation for Development - ablöste
und eine regionale Zusammenarbeit im wirtschaftlichen und sozialen Bereich bezweckte. Das
türkische Außenministerium betonte, die ECO „serves as an instrument for development of
economic, social and technical cooperation among the member states. (...) Turkey assesses
Economic Cooperation Organisation as a Reliable platform for the multilateral cooperation
among the member states, as an active and comprehensive network for more widespread
communication and as a strong touchstone for the economic stability”.113
Heute umfasst die ECO neben den Gründungsmitgliedern Türkei, Iran und Pakistan noch
Usbekistan, Aserbaidschan, Kirgistan, Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Nord-
zypern. Das reibungslose Funktionieren der ECO ermutigte den damaligen Minister-
präsidenten Necmettin Erbakan im Juni 1997 zur Gründung der Developing-8-States (D-8-
110 siehe Ataöv, Türkkaya, in: Balkir, Canan; Williams, Allan M. a.a.O., S. 198 und S. 215 111 zum Verhältnis der Türkei zum Nahen und Mittleren Osten siehe: Bakis, Mehmet Ata: Türkische Nahostpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur türkischen Außenpolitik (1945-1991), Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1993, S. 27 112 hierzu z.B. Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 187-193
113 zitiert aus der Website des türkischen Außenministeriums im Internet: http://www.mfa.gov.tr/ GRUPF/ eco.htm
42
Staaten) mit dem Ziel der Erschließung von Marktlücken und der Erweiterung der sektoralen
Produktions- und Exportstruktur der Volkswirtschaft der Türkei.
Zwar wurden die D-8-Staaten den Industriestaaten G-7 entgegengesetzt, bedeutete jedoch
keineswegs eine Neuorientierung in der Außenpolitik Ankaras.
Dies spiegelt sich im Beitrittsantrag auf Mitgliedschaft in der Westeuropäischen Union
parallel zum Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft wider. Sein
Begehren bekräftigte das türkische Außenministerium:
„1. If European Nations require arrangements in security and defence matters, it is a choice
that Turkey would only respect. On the other hand, such an approach should not be an
alternative to NATO (...) What Turkey would urge is that the idea of European Security and
Defence Identity (ESDI) should not be contemplated solely on the logic of integration and
institution-building, but as a genuine and realistic response to the strategic facts and
requirements of an uncertain security environment.
2. We believe that security is indivisible. (...) Turkey has at the highest levels confirmed its
readiness to support ESDI in operational as well as technical terms. (...)
6. (...) Our membership to WEU is in line with the logic of the ‚European Pillar (of NATO)‘,
and should also be viewed in the perspective of our relations with EU which is also aimed at
full membership and which has entered a new phase with the Customs Union.“ Da aber die
Türkei kein EU-Mitglied war und heute immer noch nicht ist, konnte sie damals nur als
assoziiertes Mitglied in die WEU aufgenommen werden, weswegen sich die Türkei auch
weiterhin verschiedenen Gemeinschaften und Blöcken zuwendet und gute Beziehungen zu
diesen aufbaut und weiterentwickelt, obwohl ihr ganz bewusst ist, dass weder der Nahe und
Mittlere Osten, noch die Turkrepubliken, noch die Schwarzmeerregion, noch die anderen
genannten Optionen eine realistische Alternative zum langfristig erklärten Ziel, nämlich dem
Beitritt in die Europäische Union darstellen.
43
3.6 Errichtung der Zollunion zwischen der Türkei und der Europäischen
Union
Als am 30. September 1991 der Assoziationsrat EG - Türkei in Brüssel zusammentraf,
betonte der niederländische Außenminister und Ratspräsident Hans van den Broek, dass die
Achtung der Menschenrechte die Basis der Beziehungen der Gemeinschaft zu anderen Staaten
bildeten. Doch in den folgenden zwei Jahren gab es außer einer demonstrativen Tätigkeit wie
der vorläufigen Schließung des berüchtigten Gefängnisses von Eskisehir kaum Verbesse-
rungen in der Demokratisierung der Türkei. Aber die neue weltpolitische Lage im Nahen und
Mittleren Osten, in Zentralasien und auf dem Balkan erhöhte nach Ansicht der Gemein-
schaftsgremien die strategische Bedeutung der Türkei und erforderte nach ihrer Einschätzung
eine Einbindung in die zukünftige europäische Architektur. Deshalb tagte der Europäische
Assoziationsrat am 08. November 1993 abermals in Brüssel mit dem zentralen Thema der
geplanten Zollunion. Man beschloss ein Arbeitsprogramm für die Verwirklichung der
Zollunion bis 1995.
Die nächste Sitzung des Assoziationsrates fand am 19. Dezember 1994 statt, bei welcher der
Vertrag über die Zollunion laut Zusatzprotokoll hätte unterzeichnet werden sollen, so dass
diese am 01. Januar 1995 hätte beginnen können. Aufgrund des griechi-schen Vetos wurde
die Entscheidung indessen auf die kommende Sitzung am 06. März 1995 verschoben. Die
EU-Kommission teilte mit, „dass die meisten Verhandlungspunkte hinsichtlich der Errichtung
einer Zollunion zwischen der Gemeinschaft und der Türkei geregelt seien, insbesondere die
Fragen in Zusammenhang mit dem freien Verkehr gewerblicher Waren und den nichttarifären
Handelshemmnissen.“
Die Türkei akzeptiere den gemeinschaftlichen Besitzstand. Außerdem wolle sie sich den
Gemeinschaftsregeln über den Wettbewerb und das geistige Eigentum, den Handel und das
System allgemeiner Präferenzen, insbesondere im Textilbereich, halten. Wegen des
griechischen Widerstandes konnte der Assoziationsrat jedoch zu keiner endgültigen Einigung
über die Zollunion gelangen. Am 16. Februar 1995 stellte das Europäische Parlament fest,
dass „in Anbetracht der ernsten Menschenrechtslage in der Türkei eine Zollunion zwischen
44
diesem Land und der EU gegenwärtig nicht ins Auge gefasst werden kann“. Es konstatierte
also nicht Probleme wirtschaftlicher Art, sondern diejenigen in der Rechtsangleichung an
Gemeinschaftsrecht. Das Parlament ersuchte daher die türkische große Nationalversammlung
und die türkische Regierung, „eine grundlegende Verfassungsreform einzuleiten, um die
Achtung der Demokratie und der Menschenrechte besser zu gewährleisten.“ Das Parlament
forderte die Kommission auf, ihm Berichte über die laufenden Verfassungsänderungen in der
Türkei vorzulegen, „damit es auf der Grundlage dieser Berichte zu dem geplanten Abkommen
über die Zollunion Stellung nehmen kann.“114
Dieses in türkischen Regierungskreisen empfundene erneute Diktat der EU führte zu
diplomatischen Missstimmungen. Gleichwohl stimmte das Europäische Parlament noch im
gleichen Jahr, nämlich am 13. Dezember 1995, mit einer kurz zuvor nicht für möglich
gehaltenen Mehrheit von 343 Ja-Stimmen gegen 149 Nein-Stimmen bei 36 Enthaltungen dem
Abkommen zur Errichtung einer Zollunion nach dem 01. Januar 1996 zwischen der EU und
der Türkei zu.115
Die Rechtsgrundlagen der Zollunion zwischen der EU und der Türkei stellen das
Assoziationsabkommen vom 12. September 1963 sowie das Zusatzprotokoll vom 23.11.1970
dar, welches am 01.01.1973 in Kraft trat.116 Ziele des Assoziationsabkommens sind einerseits
die „Wahrung von Frieden und Freiheit“117 und andererseits „eine beständige und ausgewo-
gene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehung zwischen den Vertragsparteien
unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, das hierbei der beschleunigte
Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der
Lebensbedingungen des Türkischen Volkes gewährleistet werden“118.
Für die Zollunion regelte das Zusatzprotokoll die maßgeblichen präzisierenden Einzelheiten.
Die Europäische Gemeinschaft verpflichtete sich darin, alle Zölle und Abgaben gleicher
114 zu den Forderungen siehe: European Commission: Interim Report concerning the reform process, the human rights situation and the consolidation of democracy in Turkey, Brussels, 05 July 1995 115 zur Abstimmung über die Zollunion: Europäisches Parlament: Info Memo 208: EU/ Turkey Customs Union; Info Memo 208, Strasbourg, 13th December 1995 116 vgl. Amtsblatt der EG Amtsbl., Nr. 217, 29.12.1964, sowie Amtsbl., Nr. L293/1, 29.12.1972 117 Präambel des Ankara-Abkommens 118 Art. 2 Abs. 1 des Ankara-Abkommens
45
Wirkung auf Einfuhren von Industrieprodukten aus der Türkei sofort abzuschaffen (vgl.
Kapitel 3.4). Dies tat sie bereits 1971.119
Es ist allerdings festzustellen, dass die EG von Anfang an verschiedene Ausnahme-
regelungen nutzte.120 Insbesondere im Textilsektor führte sie Quoten ein bzw. reduzierte nur
sehr langsam die Abgaben, da die Produzenten in der EG „we are feeling the pinch of third-
world competition“121 aufgrund der Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Firmen. In der
Regel wurde der Marktzugang für die türkischen Textil- und Bekleidungsproduzenten seit
1982 über so genannte Selbstbeschränkungsabkommen geregelt, die zwischen der
Vereinigung der Türkischen Textil- und Bekleidungsexporteure (ITKIB) und der
Europäischen Kommission ausgehandelt wurden.122
Seit dem 1. Januar 1987 hat die EU die Zölle auf sämtliche Industrie- und verarbeiteten
Agrarprodukte aus der Türkei abgeschafft. Für die Türkei wurden eine schrittweise
Beseitigung der Zölle bis zum Ende der Übergangszeit sowie die Übernahme des
gemeinsamen Zolltarifs innerhalb von 22 Jahren festgelegt. Für Gütereinfuhren aus der
Gemeinschaft in die Türkei wurde ein Zeitplan für Zollsenkungen erstellt: Güter, die auf der
sogenannten 12-Jahres-Liste aufgeführt waren, wurden als durchschnittlich schutzbedürftig
angesehen und umfassten u.a. Düngemittel, Gummiwaren, Produkte der elektronischen
Industrie und Metallwaren. Für diese Güter wurde der zollfreie Warenverkehr in die Türkei
bis zum Januar 1985 geplant.
119 vgl. GATT, Trade Policy Review, 1994 120 vgl, Hale, William: Turkish Foreign Policy: 1774-2000/ Turkish Industry, London 1990, Cass. 2000, S. 156 121 ebd. 122 vgl. GATT, Trade Policy Review, 1994
46
Die 22-Jahres-Liste betraf die eher als protektionsbedürftig angesehenen Güter wie:
� Zucker und Zuckerwaren
� Kakao- und Kakaozubereitungen
� Backwaren
� Lebensmittelzubereitungen
� Tabak und verarbeitete Tabakersatzstoffe
� Chemische und pharmazeutische Erzeugnisse
� Leder- und Pelzwaren
� Seidengarne und –gewebe
� Bekleidung und Bekleidungszubehör
� Verschiedene Waren aus Eisen und Stahl, Kautschuk, Kupfer, Nickel und Aluminium
� Verschiedene Waren aus unedlen Metallen
� Elektrische Maschinen, Geräte und elektrotechnische Waren
� Schienenfahrzeuge, Zugmaschinen, Kraftwagen, Wasserzeuge
� Optische, photographische und kinematographische Geräte
� Medizinische und chirurgische Instrumente
� Möbel
� Spielzeuge, Unterhaltungsartikel
Wie ersichtlich ist, umfasst diese Liste fast alle relevanten türkischen Industriezweige. Für
diese Güter wurde damals Zollfreiheit innerhalb der Zollunion und Übernahme des
gemeinsamen Zolltarifs bis 1995 vorgesehen. Für die erforderlichen schrittweisen
Zollsenkungen wurde ein Zeitplan aufgestellt. Die Türkei machte auch deutlich, dass sie sich
anstrengen würde, diesen im Zusatzprotokoll von 1970 vorgesehenen Zeitplan einzuhalten.123
Dieser Zeitplan erwies sich allerdings schon in den späten 70er Jahren als Makulatur, da die
Türkei nicht in der Lage war, sich an die entsprechenden Zollsenkungen zu halten. Teilweise
wurde das Abkommen ausgesetzt bzw. es wurden sogar neue Abgaben eingeführt. In den 70er
Jahren kam es nur zu zwei Zollsenkungen von jeweils 10% (vgl. 3.5). Im Jahr 1978 forderte
die damalige Regierung ein fünfjähriges Moratorium der Zollanpassung.124
123 siehe Bulletin der EG 11-1992, Ziffer 1.4.1.26 124 vgl. Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 403-406
47
Bis in die späten 80er Jahre stagnierte diese Situation. Erst mit dem türkischen Beitrittsantrag
von 1987 kam es zu schrittweisen Zollsenkungen sowohl der EG gegenüber als auch in Bezug
auf Anpassungen an den EG-Außenzoll. In den frühen 90er Jahren wurden dafür besondere
Anstrengungen in Bezug auf eine schnelle Anpassung vorgenommen, da die Zollunion zur
Mitte des Jahrzehnts unbedingt verwirklicht werden sollte. Zum 1. Januar 1993 wurden die
für die EU geltenden Zollbestimmungen auf Importe aus EFTA-Ländern (Österreich,
Schweiz, Schweden, Finnland, Norwegen, Island und Lichtenstein) ausgeweitet.125
Nicht zuletzt sind die deutlichen Zollreduktionen in den 90er Jahren eine Folge des immer
stärker werdenden innenpolitischen Drucks durch eine äußerst angespannte binnen-
wirtschaftliche Situation mit enormen Inflationsraten und der Verarmung weiter Bevölke-
rungsschichten sowie immer heftiger werdenden Konfrontationen mit der antiwestlichen RP
(Refah-Partisi = Wohlfahrts-Partei). In diesem Sinne kann man das Festhalten an dem
Abkommen und sein Vorantreiben von Seiten der damaligen konservativen Regierungspartei
DYP (Dogru-Yol-Partisi = Partei des Rechten Weges) als politische Überlebensstrategie
bezeichnen, wenn auch die ökonomischen Voraussetzungen für eine Zollunion nicht die
besten sind. Zur damaligen Zeit bildeten RP und DYP eine Koalition unter Ministerpräsident
Erbakan (RP).
Neben den Bestimmungen über den freien Verkehr von Industriegütern enthielt das
Assoziationsabkommen auch Vereinbarungen über die schrittweise Herstellung der
Freizügigkeit von Arbeitskräften (Art. 36 - 40), über die Beseitigung von Beschränkungen bei
der Niederlassungsfreiheit und des Dienstleistungsverkehrs (Art. 41 – 42) sowie zur Erleich-
terung des freien Kapitalverkehrs (Art. 50 – 52). Weiterhin waren Bestimmungen über die
Angleichung der Steuersysteme, des Wettbewerbsrechts und auch anderer Rechtsbereiche
enthalten.
125 vgl. GATT, Trade Policy Review, 1994
48
3.7 Bewertung des europäischen Integrationsansatzes
Rückblickend kann festgestellt werden, dass die Bestimmungen des Assoziationsabkommens
für die Vorbereitung der Türkei auf eine engere Integration in die EU nicht geeignet waren.126
Die Doppelstrategie von Handelspräferenzen und finanzieller Hilfe beeindruckt zwar auf den
ersten Blick, doch angesichts der enormen Disparitäten zwischen den Vertragspartnern zeigen
sich die Unzulänglichkeiten des eingeschlagenen Weges: Was die Zollbefreiung für
industrielle Produkte anging, hatte die Türkei nur eine äußerst geringe Basis, um diese auch
ausreichend zu nutzen.
Im Ergebnis war der europäische Nutzen bislang größer als für die Türkei. Die türkische
Regierung sieht in ihrer verfolgten Politik, nämlich der Schaffung einer wettbewerbsfähigen
Wirtschaft (auch zur Erholung des Staatshaushalts), keine Alternativen, da bei einem
Ausschluss aus dem sich erweiternden Binnenmarkt den inländischen Industriebetrieben
jegliche Chance auf Verbesserung ihrer Wirtschaft verwehrt bliebe.
Dazu kam, dass die EU auch anderen Entwicklungsländern Präferenzen eingeräumt hatte. Ein
besonderer Aspekt kommt auch der Reaktion der EU auf Exporterfolge der türkischen
Produzenten zu: „Even when Turkey did succeed in developing its export to the Community,
the EC´s response in some cases was to bring in measures to restrain them, as with
introduction of import quotas an restrictions in 1977 (especially on cotton yarn and T-
Shirts)“. 127
Die Türkei hat den größten Teil des Anpassungszeitraums im europäischen Sinn nicht
genutzt, um sich auf die weitere Integration vorzubereiten. Dies zeigt sich besonders daran,
dass die Türkei noch in den 70er Jahren eine Importsubstitutionsstrategie verfolgte, obwohl
insbesondere durch das Assoziationsabkommen die Außenöffnung die notwendige Strategie
gewesen wäre. Erst ab 1980 zeigte sich eine Umorientierung, doch kann diese nicht darüber
hinwegtäuschen, dass von einer wirklichen Vorbereitung auf den Wettbewerb innerhalb der
EU keine Rede sein kann, da die heimische Industrie weiterhin hoch protektioniert war.
126 vgl. Hine, R.: Turkey and the EC, 1995, S. 65 127 Hine, R.: Turkey and the EC, 1995, S. 144
49
Das Abkommen selbst enthält zudem nicht das Versprechen einer Aufnahme der Türkei in die
EU, lediglich die Prüfung der Möglichkeit eines Beitritts, „sobald das Funktionieren des
Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem
Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt“.128 Diese vage Absichts-
erklärung wird allerdings von Seiten der Türkei als Beitrittsversprechen verstanden, so dass
die Zollunion als Zwischenstufe angesehen wird. Den fehlenden und dennoch erwarteten
Ertrag für die Türkei aus der Zollunion leitet sie politisch aber auch an dieser bisherigen
Nichtanerkennung als Vollmitglied ab.
Der im April 1987 gestellte Beitrittsantrag der Türkei wurde von der EG 1989 „auf Eis
gelegt“.129
Für die Ablehnung sprachen nach Ansicht der Kommission verschiedene Gründe:
1. Gemäß der Einheitlichen Akte sollte zunächst 1992 der Europäische Binnenmarkt
verwirklicht werden. Beitrittsverhandlungen mit neuen Mitgliedern sollten frühestens
1993 aufgenommen werden.
2. Die ökonomischen Probleme der Türkei wurden als zu groß erachtet, als dass sie
mittelfristig die Anpassungsschwierigkeiten eines Beitritts hätte meistern können. Im
Einzelnen sah die Kommission Handlungsbedarf wegen der großen strukturellen
Disparitäten zwischen der EG und der Türkei im industriellen und agrarwirt-
schaftlichen Bereich, makroökonomischer Instabilitäten, eines zu hohen Protektions-
niveaus der Industrie und eines zu niedrigen Sozialstandards in der Türkei. „As long
as these disparities continue to exist, there will be reason to fear that Turkey would
experience serious difficulties in taking on the obligations resulting from the
Community´s economic and social policies.“ 130
3. Nach Ansicht der Kommission hätte der Beitritt der Türkei zum damaligen Zeitpunkt
auch für die EG erhebliche finanzielle Belastungen bedeutet. Weiterhin wurde ein
Zustrom an türkischen Arbeitskräften auf den bereits angespannten europäischen
Arbeitsmarkt befürchtet.
128 Art. 28 des Assoziationsabkommens 129 Yazicioglu, Ümit, a.a.O, S. 19 130 Commission of the EC, Commission opinion, 1989, S. 6
50
Der Türkei wurde deshalb empfohlen, zunächst einmal in die Zollunion einzutreten, und dann
zu einem unbestimmten Zeitpunkt wieder Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
Dies birgt aufgrund der hohen Erwartungen der Türkei bezüglich einer Mitgliedschaft für das
Verhältnis der beiden Partner erhebliche Probleme.
Es wurde deutlich an den großen Erfolgen der islamisch-fundamentalistischen Refah-Partei
im Jahre 1996, die ihren Erfolg zum Teil aus den Misserfolgen der westlich orientierten
Wirtschaftspolitik von ANAP und DYP bezog. Eine Verschlechterung der wirtschaftlichen
Lage, zusammen mit vagen Aussagen über eine zukünftige Mitgliedschaft, könnte wieder
einmal das soziale und politische Klima im Lande zugunsten der Islamisten verändern, die
eine Abkehr vom Westen verfolgen. Das wiederum dürfte nicht im eigentlichen Interesse der
EU sein. Aber es wird eine offensichtliche Doppelmoral der EU erkennbar, wenn sie trotz der
bekannten Verletzung von Menschenrechten und demokratischer Rechte durch Militär-
diktaturen, insbesondere in Fernost, keine Bedenken haben, enge Beziehungen mit der Türkei
einzugehen. “This makes us think that the Community needs to provide herself all kind of
pretexts to reject the Turkish demand for access“.131 „Auch die Gemeinschaft kennt in ihren
Außenbeziehungen, ebenso wie Staaten, keine Freunde, sondern nur Interessen“.132
Mit Eingehung der Zollunion, verbunden mit der präsenten Nichtanerkennung als voll-
wertiges Beitrittsland, hat die Türkei einen Souveränitätsverlust erlitten.
Kramer sieht darin eine doppelte Benachteiligung: „Die herrschende Praxis der
Assoziationsbeziehungen benachteiligt die Partnerländer in zweifacher Weise: Restriktive
Handelspraktiken der EU schränken ihren Machtzugang bei Industriewaren und landwirt-
schaftlichen Produkten ein und versagen ihnen so mögliche hohe Exporterlöse. Der fehlende
Zugang zu den EU-Strukturfonds sowie die relativ geringen Finanzhilfen im Rahmen der
Assoziation belassen die Hauptlast des sich aus Freihandel und Zollunion ergebenden
wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels auf den Schultern der Assoziierten.“133
131 Özkale, Lerzan: International Competitiveness of Turkey and the Problem of EC Entry, Istanbul, 1992, S. 33 132 Kramer, Heinz: Der türkische EG-Beitrittsantrag, und der „griechische Faktor“, in: Gumpel Werner (Hrsg.): Die Türkei und die Europäische Gemeinschaft; Südosteuropa Aktuell Heft 3, München 1988, S. 141 133 Kramer, Heinz: Die Assoziierungsabkommen der EU - Die Türkei und Mittelosteuropa in einem Boot?, Eurokolleg, 1995, S. 32 ff.
51
Festgehalten werden kann, dass die seitens der Gemeinschaft vorerst geforderten wirtschaft-
lichen Kraftakte, die Heranführungsstrategie und Anpassungserfordernisse im Rahmen der
Zollunion und ihrer praktischen Ausgestaltung bis heute nicht die gewünschten Ergebnisse
erzielten. Die weiter vorausgesetzten rechtspolitischen Reformen, auf welche in Kapitel 4
eingegangen wird, haben den Integrationsprozess zusätzlich erschwert. Der europäische
Integrationsansatz, der von der Türkei nach wie vor vehement verfolgt wird, ist deshalb
ökonomisch und politisch als sehr zweifelhaft zu beurteilen.
Abrundend lautet meine These: Die Türkei krankt noch heute an einer Vielzahl ungelöster
Probleme wie der hohen Inflationsrate, dem Handelsbilanzdefizit und einer enormen
Verschuldung, deren Abbau durch die Zollunion keineswegs gefördert wurde. Solange die
Türkei ihre Politik der EU-Integration weiterverfolgt, sind weitere Anpassungen vorzu-
nehmen, denen bisher keine politische Kompensation seitens der EU gegenübersteht.
Zusätzlich sind die europäischen Forderungen im politischen Bereich in Bezug auf die
Menschenrechts- und Minderheitensituation gleichsam vorgegeben, die sich selbst durch das
Funktionieren der Zollunion nicht verbessern, sondern verschärfen werden.
52
KAPITEL 4: Die rechtspolitischen Reformprozesse in der Türkei
Die Kopenhagener Kriterien von 1993 waren bisherige Grundlage dafür, die in Aussicht
gestellte Aufnahme als Mitgliedsstaat in die Europäische Union nicht stattfinden zu lassen,
sondern vielmehr eine beiderseitige Annäherung über die Zollunion zu vollziehen, was in
Kapitel 3 dargestellt wurde. Die Türkei kann neben dem Status der Beitrittsperspektive über
die offizielle Anerkennung als Beitrittskandidat nur hinaus, wenn sie europäisch definierte
nationalökonomische sowie politische Grundlagen herstellt, die gemäß aktueller Beschluss-
lage eine für sie vollberechtigende EU-Erweiterung erlauben kann. Es ist daher insbesondere
zu prüfen, in wie weit die Türkei die Übernahme des Gemeinschaftsrechts innerstaatlich
verwirklicht und welche rechtspolitischen Reformprozesse sie in Gang gesetzt hat, was im
Nachfolgenden analysiert wird.
4.1 Militärstrukturen vor dem Hintergrund kemalistischer Staatsideologie
Einen zentralen Punkt im Vergleich zu den rechtlichen und politischen Gegebenheiten der
EU-Mitgliedsstaaten stellt in der Türkei die Rolle des Militärs dar. Das türkische Militär, das
sich in seinem Selbstverständnis als Hüter der von Mustafa Kemal Atatürk geschaffenen
Republik und ihrer Grundsätze sieht, beanspruchte seit 1960 in allen für die nationale
Sicherheit relevanten innen- und außenpolitischen Fragen ein Mitentscheidungs- und
Handlungsrecht. Deutlichster Ausdruck waren die drei Militärputsche von 1960, 1971 und
1980.
Ihren politischen Einfluss übte die Militärführung stets vor allem über den Nationalen
Sicherheitsrat (NSR) aus, der 1961 neu als verfassungsgebundenes Organ geschaffen wurde.
Er spielte vor allem in den 90er Jahren eine zunehmend wichtige Rolle, als sich die Türkei
nach allgemein geteilter Ansicht im Kampf gegen eine doppelte sicherheitspolitische
Herausforderung sah: den kurdischen Separatismus der PKK einerseits und das Anwachsen
des antilaizistischen politischen Islam andererseits. In beiden Zusammenhängen bestimmte
53
das Militär über den NSR die Leitlinien der Politik.134 Dieser Anspruch des Militärs wird von
einer Mehrheit der Bevölkerung als legitim angesehen. Gleichzeitig haben die Wähler immer
wieder deutlich gemacht, dass sie sich ihre Entscheidung nicht vom Militär diktieren lassen
wollen und nicht bereit sind, eine uneingeschränkte Militärherrschaft zu akzeptieren. So
haben sie zum Beispiel nach den durchaus auch von öffentlicher Zustimmung getragenen
Putschen von 1960 und 1980 mit Süleyman Demirel bzw. Turgut Özal jeweils Politiker
gewählt, die nicht gerade als Favoriten der Militärführung angesehen werden konnten. Eine
dauerhafte Militärherrschaft hat im Übrigen auch die Militärführung der Türkei zu keinem
Zeitpunkt angestrebt. Ihr ist der effektive Einfluss auf politische Entscheidungen allemal
wichtiger als die Übernahme von Regierungsfunktionen.
Die Akzeptanz des Militärs als eines selbständigen und legitimen politischen Akteurs im
System der Republik geht einerseits auf die Gründung der modernen Türkei zurück, hat aber
andererseits darüber hinausgehende historische Wurzeln. Das osmanische Erbe der Republik
macht sich in der türkischen Politik nämlich weniger im Wirken der islamischen Religion
bemerkbar, sondern im Fortdauern einer bestimmten Staatstradition, die im imperialen
Charakter dieses Reiches begründet war.135 In dieser Tradition wird der Staat als ein
eigenständiges Organ angesehen, das Gesellschaft und Politik vor- und übergeordnet ist. Er ist
als Legitimation politischer Existenz omnipotent und unangreifbar.136 Dafür erfüllt er
gegenüber den Untertanen/Bürgern die umfassende Aufgabe der Daseinssicherung. An ihn
richten sich letzten Endes die Erwartungen und Ansprüche der Untertanen/Bürger. In der
politisch-gesellschaftlichen Realität spiegelt sich dieses Staatsverständnis in dem Begriff
„devlet baba“ (Vater Staat). Im Osmanischen Staat verkörperte der Sultan mit seinem Hof
diese Idee vom Staat, in der kemalistischen Republik wird sie durch den Staatsapparat, d.h.
die Spitzen der Verwaltung, der Justiz und des Militärs, verkörpert. In jedem Fall ist dieses
Staatsverständnis vordemokratisch und autoritär, denn in ihm ist der Staat nicht ein
Instrument der Politik, sondern die Politik steht im Dienste des Staates - eine Idee, die im
134 Spanik, Stefan Werner D.: Die Türkei und die Europäische Union: Machtstrukturen im Wandel?, in: Österreichische militärische Zeitschrift (Wien), 40 (Mai-Juni 2002) 3, S. 308-312 135 vgl. ausführlich dazu Heper, Metin: The State Tradition in Turkey, Walkington 1985 136 so bemerkt der frühere Istanbuler Korrespondent der New York Times: „Devlet is an omnipotent entity that stands above every citizen and every institution. Loyalty to it is held to be every Turk’s most fundamental obligation, and questioning it is considered treasonous.”; Kinzer, Stephan: „Crescent and Star. Turkey between TwoWorlds”, New York, 2001, S. 26 f.
54
Übrigen den nicht-republikanischen Teilen der Staatenwelt Europas bis zum Beginn des 20.
Jahrhunderts auch nicht fremd war.
Konkret hat das in der Republik Türkei dazu geführt, dass bestimmte Bereiche der Politik als
„Staatspolitik“ angesehen werden, die in ihrer konkreten Gestaltung dem Wirken politischer
Akteure weitgehend entzogen und staatlichen Apparaten anvertraut sind. Das gilt
hauptsächlich für Fragen der Sicherheit der Republik und ihrer dafür notwendigen Außen-
und Sicherheitspolitik. Diese Felder sind im öffentlichen Bewusstsein in erster Linie nicht
eine Domäne demokratisch legitimierter politischer Akteure – und damit eine öffentliche
Angelegenheit - sondern Aufgaben des Militärs und der Bürokraten des Außen-
ministeriums.137
Die Forderung der EU nach einer Zivilisierung der Rolle des türkischen Militärs ist vor dem
Hintergrund dieses Staatsverständnisses zu sehen, das nur langsam an Wirkung verliert. Doch
kann die weitere Eingrenzung des politischen Einflusses der Militärführung durch die
Regierung und das Parlament gefördert werden, indem alle öffentlichen Repräsentationen des
Militärs jenseits seines eigentlichen Aufgabenbereichs beseitigt werden, wie zum Beispiel die
Vertretung im Hochschulrat oder im Medienrat.138
Nunmehr wurden die türkischen Militärvertreter im Zuge der von der EU geforderten
Reformen gesetzlich ihrer Aufgaben im Hohen Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) sowie dem
Hohen Bildungsrat (YÖK), dem Aufsichtsgremium über das Hochschulwesen, entbunden.
In politischer Hinsicht wiegt die Einschränkung der Rolle des Militärs besonders schwer,
erfolgt damit doch ein Eingriff in ein Strukturelement des türkischen Staatsverständnisses.
Das Militär sieht sich traditionell nicht nur als Garant der äußeren Sicherheit, sondern
gleichermaßen als Hüter kemalistischer Grundsätze der Republik. Hierunter versteht die
Militärführung vor allem die Erhaltung des Staatsgebietes, sowie die Einheit der türkischen
Nation und des Volkes und die laizistische Ordnung des Staates. In diesen Funktionen wurde
137 Spanik, Stefan Werner D.: Die Türkei und die Europäische Union: Machtstrukturen im Wandel?, in: Österreichische militärische Zeitschrift (Wien), 40 (Mai-Juni 2002) S. 3 138 Der formelle Einfluss des Militärs auf das Justizwesen ist schon im Jahr 2000 mit der Abberufung aller militärischen Mitglieder aus den Kammern der Staatssicherheitsgerichte während des Prozesses gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan beendet worden.
55
und wird das türkische Militär von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und der
politischen Öffentlichkeit akzeptiert. Diesem Machtverständnis soll mit den Reformmaß-
nahmen, die im Folgenden näher dargestellt werden, ein Ende bereitet werden.
Im Juli 2003 wurden Reformen mit Bezug auf die Stellung des türkischen Militärs von der
gegenwärtigen AKP-Regierung im Zuge der Vorbereitung auf einen türkischen EU-Beitritt
mit großer Mehrheit durch das Parlament gebracht. Diese Reformen waren Bestandteil des 7.
Harmonisierungspakets.
Das 7. Harmonisierungspaket, das am 7. August 2003 in Kraft trat, hat durch eine Reihe von
Änderungen des Strafgesetzbuches, des Antiterrorgesetzes, der Strafprozessordnung, des
Gesetzes über die Errichtung und die Prozessordnung von Militärgerichten, und des Gesetzes
über den Nationalen Sicherheitsrat sowie das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheits-
rates wichtige Änderungen in den Beziehungen zwischen Zivilisten und dem Militär und der
Funktionsweise der Exekutive vorgenommen. Dabei wurden auch Änderungen in der
sachlichen Zuständigkeit der Gerichte vorgenommen. Wenn Zivilisten in Friedenszeiten
Straftaten begehen, indem sie beispielsweise Soldaten zur Meuterei und zum Ungehorsam
anstiften, öffentlich vom Militärdienst abraten und zur Unterwerfung der nationalen
Wehrkraft auffordern, werden sie in Zukunft nicht mehr, wie das vorher der Fall war, vor
Militärgerichte gestellt.139 Die sachliche Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit erfuhr damit
eine erste spürbare Einschränkung.
Unter Berücksichtigung dieser im bisherigen politischen Selbstverständnis grundlegenden
Gesetzesänderung ist festzustellen, dass mit diesen Schritten ein weitreichender Einstieg in
eine Zivilisierung der türkischen Demokratie getan wurde, der bei konsequenter Fortführung
zu einer tatsächlichen „Europäisierung“ des zivil-militärischen Verhältnisses in der Türkei
führen kann. Dazu sind weitere Maßnahmen nötig, die zu einer stärkeren Bindung des
Militärs an den Vorrang der gewählten zivilen Politiker führen und das nach wie vor
gegebene starke Eigenleben des Generalstabs und seiner nachgeordneten Dienststellen
beenden. Voraussetzung dafür ist ein grundlegendes Umdenken in der politischen
Öffentlichkeit und bei einem großen Teil der gewählten Politiker, die nach wie vor dazu 139 Die Gesetzesänderungen und Reformen sind umfassend nachzulesen in: „Politische Reformen in der Türkei“, hrsg. v. d. Türkischen Botschaft in Berlin, 2004, S. 14-43
56
tendieren, die Haltung der Militärführung zu nicht sicherheitsbezogenen politischen
Problemen für relevant zu erachten bzw. den weiten Sicherheitsbegriff der Militärführung zu
akzeptieren. Die juristisch vollzogene Einschränkung der Macht des türkischen Militärs steht
aber gerade in engem Zusammenhang mit den Reformen, die den Nationalen Sicherheitsrat
betreffen. Nachfolgend wird deshalb auf die diesbezüglichen Änderungen eingegangen.
4.2 Deinstitutionalisierung des Nationalen Sicherheitsrats
Die Reform des Nationalen Sicherheitsrates sieht eine eindeutige Begrenzung seines
Einflusses auf eine beratende Rolle ebenso vor wie die künftige Führung des NSR durch
einen Angehörigen der zivilen Bürokratie und die Verkleinerung seines Sekretariats. Die
radikalsten Reformen des 35 Punkte umfassenden Paketes betreffen ohne Zweifel den
Nationalen Sicherheitsrat und den Generalsekretär dieses Gremiums. Es tagt unter dem
Vorsitz des Staatspräsidenten und ist des Weiteren mit dem Generalstabschef und den Führern
der einzelnen Waffengattungen sowie von Vertretern von Schlüsselministerien besetzt. Die
inhaltliche Auseinandersetzung besteht in sicherheits- und innenpolitischen Aspekten, sofern
das Militär sicherheitsrelevante Fragen berührt sieht. Die Funktionen und die Zuständigkeit
dieses bisher äußerst starken und mächtigen Gremiums wurden stark beschnitten. Die EU-
Harmonisierungskommission des türkischen Parlaments wies in ihrem Vorbericht zu den
Verfassungsänderungen darauf hin, dass in keinem anderen EU-Mitgliedstaat und den EU-
Kandidatenländern ein Nationaler Sicherheitsrat mit so weit reichenden Kompetenzen wie in
der Türkei existiere. Dies sei auch immer ein Hauptkritikpunkt der Europäer gewesen,
weshalb man sich zu einer grundlegenden Neuregelung des Nationalen Sicherheitsrates ent-
schlossen habe.140
Durch zwei Gesetzesänderungen hat der Nationale Sicherheitsrat künftig de facto nur noch
eine beratende Funktion in Bezug auf Aspekte der nationalen Sicherheitspolitik erhalten. Die
Koordination zwischen Nationalem Sicherheitsrat und dem Ministerpräsidenten kann einem
stellvertretenden Ministerpräsidenten überantwortet werden. Bisher sprach der Nationale
140 vgl. ebd.
57
Sicherheitsrat Empfehlungen in allen politischen Bereichen aus. Man formulierte hier bisher
nationale Ziele, bestimmte geeignete Maßnahmen hinsichtlich der Wahrung der nationalen
Integrität und traf als Hüter der verfassungsrechtlichen Ordnung viele Entscheidungen, die
auch von der Politik befolgt wurden.141
Im Rahmen des 7. Harmonisierungspakets sind folgende maßgeblichen Gesetzesänderungen
im Gesetzbuch zum Nationalen Sicherheitsrat vorgenommen worden. Mit Art. 4 ist eine
grundlegende Revision der Aufgaben und Kompetenzen des Nationalen Sicherheitsrats
eingeleitet worden. Des Weiteren wurde in Art. 5 festgelegt, dass der Nationale Sicherheitsrat
nur noch regelmäßig alle zwei Monate zusammentrifft und nun auch auf Vorschlag des
Ministerpräsidenten einberufen oder direkt zu einem Treffen beim Präsidenten gerufen
werden kann. Schließlich wurde mit der Abschaffung der Art. 9 und 14, welche die
exekutiven Befugnisse dieser Einrichtung sicherten, der Nationale Sicherheitsrat auf ein rein
beratendes Gremium mit keinerlei exekutiven Befugnissen reduziert. Dadurch wird der
direkte Einfluss des Militärs auf die Politik entscheidend begrenzt, sofern die Reform
vollständig und effektiv umgesetzt wird.
Dem Generalsekretär wurden bisher förmlich exekutive Befugnisse zuteil, da er die
Empfehlungen des NSR eigenständig weiterverfolgen konnte und berechtigt war, “nationale
Sicherheitsermittlungen” durchzuführen. Mit den gesetzlichen Änderungen im Juli 2003
(Gesetz Nr. 4963) wurden die Kompetenzen des Generalsekretärs auf reine Zuarbeit und die
Festsetzung der Tagesordnung des NSR reduziert. Der Generalsekretär des NSR, bisher ein
vom Militär bestimmter Vier-Sterne-General, wurde im August 2004 auch erstmals durch
einen zivilen Beamten und damit Zivilisten ersetzt. Die Zivilisierung des Nationalen
Sicherheitsrates vollzog sich damit nicht nur in funktionell inhaltlicher Hinsicht, sondern auch
personell, da auch das Ernennungsverfahren für den Generalsekretär geändert wurde. Nun
wird auf Vorschlag des Ministerpräsidenten und mit Genehmigung des Staatspräsidenten
dieser Posten besetzt. Dies kann nach wie vor auch ein Offizier sein, dazu wäre dann
zusätzlich ein positiver Bescheid des Generalstabschefs nötig. Dieses Zugeständnis der
Regierung an das Militär bedeutet jedoch nicht unbedingt eine Aushöhlung der Reform. Es ist
141 vgl. ebd.
58
eine realistische Einschätzung der Regierung, weil eine solch grundlegende Reform nicht
abrupt durchzuführen ist.142
Auch hier wird sich erst in der Zukunft zeigen, ob wichtige Entscheidungen des Parlaments
auch eins zu eins umgesetzt oder die Reformvorhaben nicht durch interpretationsabhängige
Formulierungen oder Verschleppungstaktik aufgeweicht werden.143 Das Reformpaket wurde
nach nur einer Woche Bedenkzeit von Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer unterzeichnet und
mit dem Erscheinen im Türkischen Amtsblatt rechtskräftig. Die Bedenken einiger politischer
Beobachter, der Staatspräsident könnte sein Veto einlegen, waren also unbegründet. Die
indirekte Einflussnahme des Militärs, sei es durch eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit,
sei es durch ein Wirken hinter den Kulissen, wird schwerer zu begrenzen sein.
Die Unterstellung des Generalstabs und des Nationalen Sicherheitsrats unter eine effektive
zivile und politische Führung und Kontrolle, sei es durch den Ministerpräsidenten oder den
Verteidigungsminister, muss längerfristig das Ziel weiterer Reformbemühungen sein. Dazu
gehört dann auch, dass das öffentliche Auftreten von hohen Militärs durch von zivilen
politischen Instanzen ergehende Weisungen geregelt wird. Mit den oben erklärten Reformen
und der Stärkung des parlamentarischen Einflusses auf die Gestaltung des Verteidigungs-
haushaltes durch den Rechnungshof sind Schritte in diese Richtung gemacht worden. Diese
waren von grundlegender Bedeutung, um das zuvor vorhandene Defizit an liberaler
Demokratie in der Türkei zu beseitigen.
142 ebd. 143 In fast pathetischer Weise feierten die türkischen Medien die Verabschiedung des sog. 7. EU-An-passungspaketes durch das türkische Parlament vom 31.07.2003. Tatsächlich müssen die Reformen, insbesondere zum Nationalen Sicherheitsrat, als weitere radikale Schritte und Meilensteine der Türkei auf dem Weg zur EU betrachtet werden. Klar ist aber auch, dass in jedem Fall die Ausführungen, praktischen Anwendungen und Umsetzungen abzuwarten sind, bevor man abschließend über die Bedeutung dieser Reformen urteilen kann.
59
4.3 Determination der politischen Willensbildung im türkischen Parteien-
system
Ein anderer institutioneller Faktor, der die Entwicklung einer liberalen Demokratie nach
westlichen Maßstäben in der Türkei hemmt, ist der Zustand des Parteiwesens. Man kann die
These vertreten, dass es in der Türkei seit Mitte der 90er Jahre im Wesentlichen Protest-
wahlen gegeben hat, aber nicht Entscheidungen der Wähler zwischen alternativen pro-
grammatischen Angeboten.144
Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die kurzlebigen Regierungen in der Türkei in
den 90er Jahren gegeben werden, ohne dabei ins Detail zu gehen, da dieser Überblick nur
dazu dienen soll, den oben angesprochenen Mangel an alternativen programmatischen
Angeboten zu verdeutlichen.
1991 wurde die von Mesut Yilmaz geführte Mutterlandspartei (ANAP) für den zunehmenden
Autoritätsverfall Turgut Özals, seines Vorgängers als Partei- und Regierungschef, damit
bestraft, dass die Rivalen in der rechten und linken Mitte des politischen Spektrums, die Partei
des Rechten Weges (DYP) unter Führung des langjährigen Politikers Süleyman Demirel und
die Sozialdemokratische Volkspartei (SHP) unter Führung von Erdal Inönü, eine Koalition
bildeten.
Nach dem Übergang der Parteiführung in der DYP auf die politisch bis dahin kaum in
Erscheinung getretene Wirtschaftsprofessorin Tansu Ciller, die unter Staatspräsident
Süleyman Demirel das Amt der Ministerpräsidentin inne gehabt hatte, kam es infolge des
wirtschaftlichen Abstiegs und der von ihr begünstigten Korruption bei den Wahlen von 1995
zu einem erneuten Vertrauensentzug der Wähler gegenüber den Regierenden. Die mittlerweile
offenkundig gewordene Verquickung hoher politischer und bürokratischer Kreise mit dem
organisierten Verbrechen kam als verstärkender Faktor hinzu, sodass sich die Wähler in einer
deutlichen Mehrheit für die proislamische Wohlfahrtspartei (RP) unter Führung von
Necmettin Erbakan entschieden.145 Dessen mit öffentlicher Billigung des Militärs
144 Einen guten Überblick über die parteipolitische Entwicklung der 90er Jahre in der Türkei geben Sayari, Sabri; Esmer, Yilmaz (Hrsg.): Politics, Parties, and Elections in Turkey, Boulder/London, 2002, S. 22-37 145 vgl. Kramer, Heinz: Die türkischen Wahlen vom 24.12.1995, in: KAS Auslandsinformationen, 2/1996, S. 3-26
60
erzwungener Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten im Juni 1997 eröffnete der ANAP
unter Yilmaz nochmals die Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Doch konnte er
diese nicht nutzen, weil er weder in der Innen- noch in der Wirtschaftspolitik eine klare Linie
zeigte. Zudem musste er sich immer wieder mit Korruptionsvorwürfen aus den Reihen seiner
Gegner herumschlagen und versagte bei seinem Versuch, die Türkei in die Europäische Union
zu bringen.
Somit entschied sich der Wähler im April 1999 unter dem Eindruck des im Februar
verhafteten Abdullah Öcalan, dem Führer der kurdischen Separatistenorganisation PKK, für
eine nationalistische Wende: Die national-sozialistische Demokratische Linkspartei (DSP) des
seit Mitte der 70er Jahre in der türkischen Linken dominanten Bülent Ecevit errang vor der
Nationalistischen Aktionspartei (MHP) von Devlet Bahceli die Mehrheit der Stimmen und
bildete zusammen mit dieser eine Koalition, in die auch die ANAP unter Yilmaz eintrat.146
Diese Koalition der Gegensätze konnte sich erstaunlich lange an der Macht halten und
überstand sogar eine schwere Wirtschaftskrise im Herbst 2000. Ihr Erfolg war allerdings
ebenso sehr ein Ergebnis der Unfähigkeit ihrer Gegner, eine überzeugende Opposition zu
organisieren, wie der eigenen politischen Bemühungen. Sie scheiterte letztlich im Sommer
2002 an den unüberbrückbaren internen Differenzen über die „richtige“ EU-Politik der Türkei
und an der politischen Inflexibilität von Ministerpräsident Bülent Ecevit. Damit hatte sich im
Laufe eines Jahrzehnts keine der politischen Parteien zu einer grundlegenden Reform und
politischen Neubesinnung in der Lage gezeigt.
Konsequenterweise errang daher bei den Wahlen am 3. November 2002 der frühere Istanbuler
Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdogan mit der von ihm erst im August 2001 aus dem
Nachlass der vom Verfassungsgericht verbotenen pro-islamischen Tugendpartei (Fazilet
Partisi) gegründeten Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) einen überzeugenden
Wahlsieg. Es sind nur zwei der 18 angetretenen Parteien in der Großen Nationalversammlung
vertreten, nämlich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkinma Partisi,
AKP) und die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP). Die AKP erhielt
über ein Drittel der Stimmen und 363 Sitze. Ferner wurden 9 unabhängige Abgeordnete
146ausführlich dazu Lange, Jörg: Die Türkei hat gewählt. Ergebnisse, Hintergründe und Perspektiven, Istanbul 1999
61
gewählt. So groß war der Unmut der Wähler über die etablierten Parteien und Politiker, dass
sie diese mit Hilfe der 10-Prozent-Klausel vollständig aus dem Parlament verbannten.147
Seitdem arbeitet Erdogan konsequent darauf hin, seine AKP vom Ruch des Islamismus zu
befreien und dauerhaft als führende Kraft der politischen Mitte zu etablieren. Dabei kommt
ihm bisher nicht nur sein eigenes taktisches Geschick zugute, sondern auch die Unfähigkeit
aller oppositionellen Parteien, aus der verheerenden Wahlniederlage konstruktive Konse-
quenzen zu ziehen. Sowohl auf der rechten wie auf der linken politischen Mitte sind keine
Bemühungen um einen überzeugenden Neuanfang zu erkennen. Erdogans größeres Problem
sind zur Zeit nicht die politischen Gegner, sondern es ist das weitgehend ungebrochene
Misstrauen der kemalistischen Kräfte im Militär, in der Verwaltung, den Medien und den
Hochschulen.148 Die desolate Lage der meisten türkischen Parteien ist das Ergebnis eines
schon länger andauernden Prozesses, der mit den Schlagworten Fragmentierung, Polari-
sierung, Entinstitutionalisierung und Vertrauensverlust gekennzeichnet werden kann.149
Als eine Konsequenz der verschiedenen Militärputsche kam es, vor allem in Folge der damit
verbundenen Parteiverbote, zu einer fortschreitenden Zersplitterung des ursprünglich recht
soliden türkischen Zweiparteiensystems – sowohl durch die Entstehung konkurrierender
Parteien in den Ideologien der rechten und linken Mitte als auch durch das Aufkommen neuer
Parteien mit ideologischen Inhalten religiöser, ethnischer oder nationalistisch-chauvinistischer
Tendenz. Die verschiedenen Änderungen des türkischen Wahlrechts, mit dem die jeweils
herrschenden Parteien ihre Regierungsmacht absichern wollten, trugen ebenfalls zur
Fragmentierung und Polarisierung bei. Immer mehr Parteien, die sich häufig weniger durch
programmatische Unterschiede als mehr durch persönliche Rivalitäten ihrer Führungsfiguren
auszeichneten, konkurrierten um die Wählergunst. Hierzu trug die zunehmende Wandlung der
Parteien von Mitgliederorganisationen zu Führerorganisationen bei. Bezeichnenderweise
nutzt keine der bei den letzten Wahlen ins politische Abseits beförderten Parteien diese Lage
zu einer grundlegenden Organisationsreform mit der Schaffung stärkerer demokratischer
147 Seufert, Günter: Laizismus in der Türkei - Trennung von Staat und Religion?, in: Südosteuropa Mitteilungen (München) , 44 (2004) 1, S. 16-29 148 vgl. zur AKP: Seufert, Günter: Die neuen pro-islamischen Parteien in der Türkei, Berlin, 2002, (SWP-Studie 6/2002), S. 3-9 149 vgl. dazu Özbudun, Ergün: Die Parteien und das Parteiensystem in der Türkei, in: KAS Auslandsinfor-mationen 5/02, S. 46-62
62
Strukturen und zu einer Schärfung des politischen Profils. Sie konzentrieren ihr Bemühen
darauf, eine neue überzeugende Führungsfigur für die Spitze der Partei zu finden - bisher
ohne großen Erfolg.150
Bei der Bewertung dieses determinierten Zustands in der türkischen Parteienlandschaft
kommt beispielsweise Heinz Kramer zu folgender Schlussfolgerung: „Unter diesen
Bedingungen spielt Parteimitgliedschaft keine besondere Rolle mehr. Sie ist kaum mehr als
eine grundlegende Sympathieerklärung für die Partei und ihre jeweilige Führung oder aber
Ausdruck kühler Nutzenkalküle, die das Hauptmotiv für den häufig zu beobachtenden Partei-
und/oder Fraktionswechsel aktiver Politiker bilden. Nicht das Bemühen um überzeugende
politische Positionen steht im Vordergrund, sondern der Kampf um die Gunst des
Vorsitzenden.“ 151
Auch stellt Kramer fest, dass sich dementsprechend die Einbindung der Parteien in die
Bevölkerung gelockert hat und die Parteiidentifikation der Wähler konstant zurückgeht. Das
gilt auch in einem erheblichen Maß für die Regierungspartei AKP, deren Führung nach außen
das Bild der „anderen“, einer „neuen“ Partei verbreiten möchte. Der Verlauf ihres ersten
Parteitages im Herbst 2003 war in dieser Hinsicht genau so ernüchternd wie die darauf
folgenden Vorbereitungen für die Kommunalwahlen im März 2004: Erdogan wurde als
unantastbare Führungsperson präsentiert, die Diskussionen politischer Fragen wurden
konsequent vermieden, und die endgültigen Kandidatenlisten für die wesentlichen
Bürgermeisterposten wurden erst nach der Rückkehr des Ministerpräsidenten von einer USA-
Reise Ende Januar 2004 festgelegt.152 Die immer noch hohen Zustimmungsraten in der
Bevölkerung dürfen - so Kramer - nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies neben der
Wirkung seines erheblichen Charismas auch Ausdruck der fehlenden personellen,
organisatorischen und inhaltlichen Alternativen im politischen Spektrum der Türkei sei.
Zusammenfassend ist zum türkischen Parteiensystem festzuhalten, dass es durchaus Defizite
aufweist und Reformen benötigt, um eine langfristige institutionelle Grundlage für eine
stabile Demokratie bilden zu können. Die Türkei teilt dieses Problem allerdings mit
150 ebd. 151 Kramer, Heinz: Demokratieverständnis und Demokratisierungsprozesse in der Türkei“, in: Südosteuropa Mitteilungen, Nr. 1, 44. Jhrg., 2004 , S. 10 152 vgl. ebd., S.11
63
zahlreichen anderen europäischen Staaten, nicht zuletzt mit einer Reihe mittel- und
osteuropäischer Beitrittskandidaten.
Diese Schwäche des Parteiensystems ist unter anderem die Folge der zunehmenden
Medialisierung der Politik, wodurch klassische Politikinstrumente wie die Parteien an
Einfluss und Bedeutung verlieren. In dieser Hinsicht folgt auch die Entwicklung des
türkischen Parteiensystems modernen europäischen Trends und weniger irgendwelchen
islamischen Wurzeln oder Einflüssen.153
Die Wahlen im November 2002 wurden von Mitgliedern des Europäischen Parlaments und -
in einigen Provinzen - von der parlamentarischen Versammlung des Europarates beobachtet.
Vertreter der OSZE, welche die Türkei vom 29. Oktober bis zum 4. November 2002
besuchten, vertraten die Auffassung, dass der Ablauf der Wahlen den internationalen
Standards entsprach und dass erhebliche Verfassungsreformen und Rechtsreformen in den
letzten Jahren den gesamten Rechtsrahmen für die Wahlen weiter verbessert haben, was
positiv zu bemerken ist.154
Wenn auch die genannten Defizite in der türkischen Parteienlandschaft gegenwärtig bleiben,
sollen dennoch an dieser Stelle die im Rahmen der Harmonisierungspakete vollzogenen
Änderungen des Parteiengesetzbuchs nicht unerwähnt bleiben. Parteienverbote gab es in der
Türkei sehr oft. Unberührt von den Entwicklungen in anderen Europaratsländern, in denen
mit Parteiverboten mit größter Zurückhaltung umgegangen wird, hat die Strenge des
türkischen Parteienverbotsverfahrens dazu geführt, dass die Vielfalt der Parteienlandschaft
erhebliche Einschränkungen erfahren hat. Dies hatte eine Reihe von Urteilen des EGMR
(Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) zur Folge, die - bis auf eine Ausnahme im
Falle der Wohlfahrtspartei - die Ergebnisse der Parteiverbotsverfahren als Verstöße der Türkei
gegen die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) feststellten. Der türkische
Verfassungsgeber hat hierauf durch Änderung des Art. 69 der Verfassung reagiert.
153 vgl. ebd. 154 vgl. Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel 2003, in: http://www.europa.eu.int/comm/enlargement/report2003/tu_de.pdf
64
Der Verfassungsgeber hat zunächst versucht, den in der Verfassung verwendeten Begriff
„Brennpunkt der Aktivitäten“ zu definieren. Denn eine Partei konnte schon seit 1995 nur dann
verboten werden, wenn sich in der Partei ein „Brennpunkt verfassungswidriger Aktivitäten“
gebildet hatte. Jedoch war bis dahin juristisch nicht klargestellt worden, was unter
„Brennpunkt“ zu verstehen war. Wörtlich heißt es in der türkischen Verfassung in Art. 69
Abs. 6 jetzt: „Eine politische Partei wird zum Brennpunkt solcher Aktivitäten, wenn
entsprechende Taten von Parteimitgliedern in großem Umfang begangen werden und dies
vom Großen Kongress oder dem Vorsitzenden oder von Entscheidungs- und
Verwaltungsorganen der Parteizentrale oder der Hauptversammlung oder der Führung der
Parlamentsfraktion stillschweigend oder ausdrücklich gebilligt oder solche Taten von den
genannten Parteiorganen selbst bewusst und gewollt begangen werden.“ 155
Im 2. Harmonisierungspaket wurden im Parteiengesetzbuch die Art. 101 und 102 neu
eingefügt. Gemäß dieser Artikel soll Parteien, denen Gesetzeswidrigkeiten vorgeworfen
werden, als Alternative zu einem Verbot der Partei, künftig nur die staatliche Hilfe (ganz oder
teilweise) entzogen werden. Außerdem ist mit dem Art. 98 des Parteiengesetzbuchs festgelegt
worden, dass bei der Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Schließung einer Partei
nunmehr eine Mehrheit von 3/5 notwendig ist. Vorher war eine einfache Mehrheit
ausreichend.
Das Recht auf Wahlen wurde nur geringfügig geändert. Immerhin ist verurteilten Straftätern,
die wegen Fahrlässigkeitsdelikten verurteilt wurden, der Weg zur Wahlurne eröffnet worden.
Es bleiben jedoch weiterhin nicht nur sonstige Straftäter, sondern bezeichnenderweise auch
Soldaten von der Ausübung des aktiven Wahlrechts ausgeschlossen.
Unklar bleibt auch das Schicksal der landesweiten 10-Prozent-Hürde, die auf gesetzlicher
Ebene den Zugang kleiner und regionaler Parteien zum Parlament verhindern soll. Der
Verfassungsgeber ist dabei geblieben, dazu keine neuen verfassungsrechtlichen Vorgaben zu
formulieren. Hin und wieder wird diskutiert, diese Hürde herabzusetzen.
Eine grundlegende Reform, etwa durch eine entsprechende Änderung des Parteiengesetzes
und/oder des Wahlrechts, scheitert jedoch daran, dass die aktuellen Machthaber, die ihre 155 zit. aus Rumpf, Christian: Die türkische Verfassungsentwicklung auf dem Weg zu einer EU-Mitgliedschaft, in: Zippel, Wulfdiether (Hrsg.): Spezifika einer Südost-Erweiterung der EU, Baden-Baden 2003, S. 110
65
jetzige Position ja teilweise gerade diesen Systemschwächen verdanken, wenig Interesse
zeigen, die Basis ihrer Macht zu gefährden. Diskussionen über Änderungen wurden und
werden daher in der Regel bei der Opposition und in wissenschaftlich-intellektuellen Kreisen
geführt, kaum aber unter denen, die über die reale Möglichkeit zu Veränderungen verfügen.
Am 3. November 2002 fanden in der Türkei – vgl. oben - vorgezogene Parlamentswahlen
statt. Hieraus ging die AKP mit einem klaren Sieg hervor. Die religiös-konservativ orientierte
Partei errang 34,27 % der gültigen Stimmen, damit zog sie mit 363 von insgesamt 550
Abgeordneten ins Parlament. Beeinflusst hat das Wahlverhalten das geänderte Profil dieser
Partei. Sie schaffte es weitgehend, sich von dem Image einer islamistischen Partei zu lösen.
Erdogan konnte dieses Image umso leichter aufrechterhalten, weil er sorgfältig darauf achtete,
seinen politischen Widersachern im Lager der kemalistischen Hardliner keine Angriffspunkte
in Sachen „Islamisierung“ zu bieten. Dennoch liegt hier nach wie vor die wesentliche
innenpolitische Schwachstelle für eine anhaltende Konsolidierung der AKP-Machtposition.
Immer noch gibt es, auch bis weit in die Kreise liberaler Intellektueller und Meinungsführer
hinein, die Sorge, in der AKP könnte irgendwann die islamistische Herkunft vieler ihrer
Führungspersonen durchbrechen und der Marsch in eine „islamische Republik Türkei“
beginnen, nach dem mit Hilfe der „Europäisierungspolitik“ wesentliche innenpolitische
Hindernisse und Widerstandskreise aus dem Weg geräumt wurden. Nur langsam wächst die
Bereitschaft, Erdogan und seiner politischen Mannschaft ihre Absage an den politischen
Gebrauch der Religion und ihr Bekenntnis zu den Werten einer konservativen europäischen
Politikorientierung zu glauben.156
Ende Juni 2003 hatte die Haushaltskommission des Parlaments der so genannten
Religionsbehörde 15.000 neue Stellen zugeteilt. Die Opposition beschuldigte die Regierung
daraufhin, sie betreibe die Unterwanderung der Bürokratie mit religiösen Kadern und
beabsichtige einen Bruch des Laizismus. Es lässt sich die Frage stellen, warum der personelle
Ausbau eines staatlichen Amtes die Grundlagen des nach seiner Verfassung konsequent
laizistischen Staates ins Wanken bringen sollte. Warum leistet sich der laizistische Staat eine
Institution, deren Stärkung seinen Umsturz einleiten könnte? Und ist es umgekehrt so, dass
156 Doch hat die AKP ihre Position in den Kommunalwahlen vom 28. März 2004 deutlich festigen können, als sie landesweit 41,6 Prozent der Stimmen erhielt
66
der laizistische Staat umso sicherer ist, je kleiner, schwächer und unbedeutender das
Präsidium für Religionsangelegenheiten ist?
Die Religionsbehörde ist seit 1961 in der Verfassung verankert. Seit 1971 sind ihre
Mitarbeiter Staatsbeamte. Ihre Existenz ist zusätzlich durch das Parteiengesetz rechtlich
abgesichert, das den politischen Parteien verbietet, ihre Abschaffung zu fordern. Heute ist die
Religionsbehörde eine der größten und reichsten Behörden im Lande. Sollten die neuen
Stellen besetzt werden, wäre die Behörde mit dann etwa 100.000 Mitarbeitern die fünftgrößte
Institution. Ihr Budget ist höher als das von fünf kleineren Ministerien zusammen und wird
nur von den Haushalten des Verteidigungs- und des Innenministeriums übertroffen.157 Diese
privilegierte Stellung der Behörde im Staatsgefüge ist sicherlich nicht das Werk der heutigen
Regierungspartei. Das zu Beginn der Republik gelegte Fundament der Behörde wurde in den
darauf folgenden Jahren stetig ausgebaut, und es fällt auf, dass jede Machtergreifung der
Militärs zu einer Festigung des Status der Religionsbehörde führte: so 1961, 1971 und 1982.
Gerade die Militärs, die sich als Garanten des Laizismus in der Türkei verstehen, haben sich
um die verstärkte rechtliche Absicherung der Behörde bemüht.
Zur Aufgabe dieses Präsidiums für Religionsangelegenheiten heißt es in Art. 136 der
türkischen Verfassung, es sei in seiner Arbeit „dem Laizismus verpflichtet“ und habe im
Geiste „nationaler Solidarität und nationalen Zusammenwachsens“ zu wirken. Mit dem
Vorwurf konfrontiert, über die Zuteilung neuer Stellen den politischen Islam zu fördern,
rechtfertigte sich der stellvertretende Ministerpräsident Mehmet Ali Sahin wie folgt: Er sagte,
man müsse verhindern, dass nichtstaatliche Kreise den Islam zur politischen Mobilisierung
gegen den Staat nutzen könnten. „Die Stärkung der Religionsbehörde dient der Sicherung des
laizistischen Regimes“, meinte Sahin und stellte sich damit in einen klassischen Diskurs der
Republik. Nach dieser Logik bietet nur eine zentral formulierte und durchgesetzte einheitliche
Version des Islam Schutz vor ihrer Instrumentalisierung durch Fundamentalisten. In einer
freien Auseinandersetzung würden sich, so die Befürchtung, gemäßigte Töne nicht
durchsetzen können.158
157 vgl. Bozkurt, Askim: Demokratisierung in der Türkei: Entwicklungen seit dem Rat von Helsinki 1999, Duisburg 2002, S. 34 158 ebd.
67
4.4 Schutz der Menschenrechte als gemeinschaftsrechtliche
Eingriffslegitimation für eine Integration
Die aus der Naturrechtslehre entstammenden Menschenrechte, die ihre ersten Mani-
festierungen bereits im Jahr 1215 in der Magna Charta Libertatum erfuhren (später in der
Petition of Rights 1628, dem Habeas-Corpus-Act 1679, der Bill of Rights 1689, der Virginia
Bill of Rights von 1776 sowie im Bill of Rights-Amendment zur US-amerikanischen
Verfassung von 1776), sind allgemein die dem Individuum zustehenden Rechte auf Schutz
vor Eingriffen des Staates, die dem einzelnen erhalten bleiben müssen und die nicht durch den
Staat beschränkt werden können. Sie bestehen insbesondere aus dem Recht auf Leben,
Freiheit und Sicherheit, Achtung des Privat- und Familienlebens, Verbot der Folter, Sklaverei
und Zwangsarbeit, Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichberechtigung, Religions- und
Gewissensfreiheit, Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, Versammlungs- und Vereini-
gungsfreiheit sowie Freizügigkeit und dgl.159
Sie sind „unveräußerliche Rechte“ und wurden im Laufe der Zeitgeschichte als staatliche
Gewährungen anerkannt. Außer einer verfassungsrechtlichen Sicherung in der jeweiligen
Nation sind völkerrechtlich vereinbarte Garantien der Menschenrechte vorhanden. Die
Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete hierzu am 10.12.1948 eine
Deklaration der Menschenrechte. Wegen der Gegenstimmen der USA und der Sowjetunion
konnte diese hingegen keine rechtliche Verbindlichkeit entfalten. Dagegen haben die
Europarats-Staaten mit Ausnahme Frankreichs am 04.11.1950 die Europäische Konvention
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten unter-zeichnet und überwiegend in das
innerstaatliche Recht übernommen. Zur Durchsetzung dieser Vorschriften wurde ein
Europäischer Gerichtshof zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten eingerichtet,
bei dem Bürgern gegen ihren eigenen Staat wegen Menschenrechtsverletzung ein Klagerecht
eingeräumt wurde.160
159 Ein umfassender Überblick ist nachzulesen unter http://www.staatsvertraege.de/emrk.htm 160 vgl. ebd.
68
Seit Beginn der Beitrittsbemühungen und insbesondere in den letzten Jahren sind die Themen
Menschenrechte und Minderheitenschutz in der politischen Diskussion, die über einen EU-
Beitritt der Türkei geführt wurden, immer von besonderer Brisanz und Bedeutung gewesen.
Auch in der Medienberichterstattung ist in dieser Debatte den Verstößen gegen die
Menschenrechte in der Türkei der größte Raum gegeben worden.
Die Europäische Union legte deren Achtung und Wahrung als Grundvoraussetzung für einen
Beitritt fest. Das Dokument über die Beitrittspartnerschaft des Europäischen Rates vom
08.03.2001, auf welches die türkische Regierung mit seinem „Nationalen Programm“
reagierte, legte im Bereich der Menschenrechte kurz- und mittelfristige Ziele fest, die von der
Türkei zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien verwirklicht werden müssen. Sie sind
gekennzeichnet in einer dem Gemeinschaftsrecht angepassten rechtlichen Verbesserung von
Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Abschaffung der Todesstrafe sowie
Maßnahmen zur Bekämpfung der Folter. Darüber hinaus sind alle rechtlichen Hindernisse für
den Gebrauch anderer Muttersprachen türkischer Staatsbürger in Rundfunk und Fernsehen zu
beseitigen sowie Schulungen von Vollzugsbeamten, Richtern und Staatsanwälten über
menschenrechtliche Prinzipien durchzuführen.161 Aufgrund dessen sind die Entwicklungen in
diesem Bereich besonders wichtig für den weiteren Prozess der Beitrittsverhandlungen. Zu
klären ist daher, welche konkreten spezialgesetzlichen Reformen und innerstaatliche
Rechtsänderungen die Türkei vorgenommen hat, um den europäischen Vorgaben im Hinblick
auf den Schutz und die Wahrung der Menschenrechte gerecht zu werden.
4.4.1 Die Todesstrafe als Strafmonopol des Staates
Um eine grundlegende Forderung der Europäischen Union zu erfüllen, hat die Türkei in
seinem Strafrechtssystem schrittweise die bisher national verankerte Todesstrafe abgeschafft.
Zunächst erging im August 2002 mit dem 3. Harmonisierungspaket (Gesetz Nr. 4771) eine
Abschaffung der Todesstrafe außerhalb von Kriegszeiten oder Zeiten unmittelbarer
161 vgl. Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 9
69
Kriegsgefahr, entsprechend dem 6. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechts-
konvention.162 Die vollständige Abschaffung der Todesstrafe folgte im Januar 2004 mit der
Unterzeichnung des 13. Zusatzprotokolls zur EMRK. Alle verbleibenden nationalen Verweise
auf die Todesstrafe wurden im Rahmen der Verfassungsänderungen vom Mai 2004 aus dem
türkischen Recht entfernt. Dieser Reformschritt führte unter anderem dazu, dass die
Todesstrafe163 des PKK-Führers Abdullah Öcalan in lebenslange Haft umgewandelt wurde.
Auch in weiteren Punkten wurde das Rechtssystem an europäische Standards angenähert, die
im Nachfolgenden untersucht werden. Die Regierung unter Ministerpräsident Erdogan hat
sich zu einer „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Fällen von systematischer Folter
verpflichtet.164 Die Neuordnung des Gefängnissystems wurde fortgesetzt und Häftlingen
werden umfangreichere Rechte zugestanden. Zahlreiche Einschränkungen in Bezug auf
Meinungs-freiheit wurden auch aufgehoben, wie im Kapitel 4.4.3 näher erläutert wird.
4.4.2 Folter und Polizeigewahrsam als Mittel der Strafverfolgung
Gerade im Bereich des staatlichen Umgangs mit seinen Bürgern zur Durchsetzung seines
Strafanspruchs war die Türkei stets in der politischen Diskussion geblieben. Die nachhaltigen
Zielsetzungen der EU zur Bekämpfung der Folter und den rechtsstaatlichen Bedingungen des
Polizeigewahrsams sind daher im Hinblick auf ihre Umsetzung zu untersuchen.
� Strafrecht:
Ein entscheidender rechtlicher Schritt der Türkei in Bezug auf die Folter ist darin zu
erkennen, dass das neue Strafgesetzbuch mit in Kraft Treten am 01.04.2005 den Begriff der
Folter in seiner Legaldefinition erheblich ausweitete. Gemäß Art. 94 Abs. 1 Türk. StGB ist
Folter eine „Behandlung, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, körperliche oder
162 Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 10 163 Die Todesstrafe war seit 1984 nicht mehr vollstreckt worden. 164 Der oben erwähnte Slogan hat die Reformpolitik in Bezug auf die Abschaffung der Folter erheblich geprägt. Als Ergebnis dieser Politik hat sich die Zahl der Folterfälle erheblich vermindert.
70
seelische Schmerzen verursacht, die Wahrnehmungsfähigkeit oder die Ausübung des freien
Willens beeinträchtigt und eine Entwürdigung beinhaltet.“165
Zugleich wurde die Strafandrohung auf mindestens drei bis zu zwölf Jahren Haft erhöht.
Strafschärfende Merkmale wie Folter an Kindern, körperlich oder geistig Behinderten,
schwangeren Frauen sowie durch sexuelle Misshandlung erhöhen das zu erkennende
Strafmaß auf mindestens 8 bis 15 Jahre Haft, während bei Gesundheitsschäden oder gar
Tötung unter Folter lebenslange Haft vorgesehen ist.166 Damit wurden die Rechtsgrundlagen
an europäische Mindeststandards angeglichen, was allerdings nicht die Frage beantwortet, in
wie weit dadurch im Zusammenhang mit den Exekutivorganen eine effiziente strafrechtliche
Verfolgung nach diesen neuen Maßstäben verwirklicht wird.
� Strafprozessrecht und Strafverfolgung:
Bereits mit der Verfassungsänderung vom Oktober 2001 begann die Türkei, die Folter durch
Verabschiedung diverser nationaler Gesetze zu bekämpfen.
Die Polizeihaft wurde nun auf höchstens 48 Stunden verkürzt. Eine Änderung des
Militärstrafrechts und des Gesetzes über die Errichtung und das Gerichtsverfahren an
Militärgerichten wurde zum Zweck der Angleichung an die Verfassungsänderungen von 2001
am 22. Januar 2004 vom Parlament angenommen und trat am 29. Januar 2004 in Kraft.
Konnten bisher Personen, die gemeinschaftlicher Straftaten verdächtigt wurden, ohne
richterlichen Beschluss für 7 Tage in Polizeigewahrsam genommen werden, so wurde jetzt die
Gewahrsamsdauer in Gebieten unter dem Ausnahmezustand auf 4 Tage reduziert.167 So soll
gewährleistet werden, dass der Beschuldigte oder Gefangene von seinen Rechten Gebrauch
machen kann. Um die Haftbedingungen in Regionen unter einem Ausnahmezustand zu
verbessern und um sicherzustellen, dass die Gesundheit des Verhafteten oder Gefangenen
unangetastet bleibt, muss jedes Mal, wenn dieser aus dem oder in das Gefängnis oder eine
165 Art. 94 Abs. 1 Türk.StGB, Nr. 5237 166 vgl. Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 11 167 Bericht über den Antrag der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union (KOM(2002) 700-C5-0104/2003-2000/2014(COS)), Berichterstatter: Arie M. Oostlander. Europäisches Parlament, Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, Menschenrechte, gemeinsame Sicherheit und Verteidigungspolitik – Brüssel 2003, S. 21 (Sitzungsdokumente / Europäisches Parlament)
71
Haftanstalt kommt, ein ärztliches Attest ausgefertigt werden. Ergebnisse, die durch illegale
Verhörmethoden erzielt wurden, sollen nicht als Beweismittel anerkannt werden.168
Eine Änderung des Art. 107 der Strafprozessordnung sieht außerdem vor, dass „ein
Verwandter oder eine Person, die vom Verhafteten bestimmt wurde, über die Haft und jede
Entscheidung über die Ausweitung der Haft nach Anordnung durch den Richter informiert
werden soll. Das 1. Harmonisierungspaket, das am 19. Februar 2002 in Kraft trat (Gesetz Nr.
4744), verfügte weiter eine Reihe von Änderungen des Strafgesetzbuches, des
Antiterrorgesetzes, des Gesetzes über die Errichtung und die Verfahren an Staatssicherheits-
gerichten und der Strafprozessordnung in Zusammenhang mit der Ausweitung der
Meinungsfreiheit, der Verringerung der Gewahrsamsdauer und der Schutzbestimmungen für
Strafgefangene.169
Soll der Polizeigewahrsam verlängert werden, muss der Verdächtigte einem Richter
vorgeführt werden, der eine Verlängerung bis zu maximal 10 Tagen verfügen kann.
Außerdem muss dem Verdächtigten auch im Polizeigewahrsam voller Zugang zu seinem
Rechtsanwalt gewährt werden. Dabei ist indessen kritisch anzumerken, dass das Recht auf
angemessene Verteidigung und sofortigen Anwaltszugang in der Praxis oft unterlaufen wird.
Mit dem 4. Harmonisierungspaket (Gesetz Nr. 4778) vom 11.01.2003 wurde der Anwalts-
zugang nur unter Einschränkungen zugelassen. In der Regel aus politischen Gründen
festgenommene Personen, die in die Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte fielen, waren
davon nämlich ausgenommen.170 Zwar endete diese Beschränkung im Juli 2003, eine
Rechtsgrundlage dahingehend, dass der Rechtsanwalt ein Anwesenheitsrecht während der
Vernehmung selbst hat, fehlt aber bis heute.171
Das türkische Justizministerium gab am 20. Oktober 2003 ein Rundschreiben heraus, in
welchem es alle Staatsanwälte anwies, die Untersuchungen in Bezug auf den Verdacht von
Folter und grober Misshandlung selbst durchzuführen und die Untersuchung dieser Fälle als
168 ebd. 169 Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 14; Art. 82 Türk. StGB, Nr. 5237 170 vgl. Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 10 f. 171 vgl. ebd.
72
dringend zu betrachten, die ohne Verzögerung mit Vorrang behandelt werden. Das Gesetz
über Festnahme, Haft und Vernehmung wurde am 3. Januar 2004 mit Blick auf die weitere
Stärkung des Schutzes vor Folter und grober Misshandlung geändert. Die Änderung zielt des
Weiteren darauf ab, das Gesetz in Einklang mit den europäischen Normen zu bringen und
Probleme auszuschließen, die aus der Umsetzung erwachsen könnten.
Zahlreiche Änderungen sollen die Kontrolle in Bezug auf Folter und Misshandlung
verstärken. Art. 2 des Gesetzes über die Strafverfolgung von Beamten und Angestellten des
öffentlichen Dienstes wurde geändert, um das Verwaltungsgenehmigungsverfahren für die
Strafverfolgung von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes aufgrund von
Vorwürfen der Folter und Misshandlung abzuschaffen. Bisher konnten im Falle von im
Dienst begangenen Straftaten staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren nur eingeleitet
werden, wenn der jeweils zuständige Dienstvorgesetzte seine Zustimmung erteilte. Mit dem
im Januar 2003 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 4778 werden nunmehr Anklagen wegen Folter
und Misshandlungen ausdrücklich ausgenommen.172
Die Änderung des Art. 245 Türk. StGB sieht vor, dass Urteile bezüglich Folter und
Misshandlung nicht in Geldstrafen oder andere Maßnahmen umgewandelt oder außer Kraft
gesetzt werden können. Art. 316 der Strafprozessordnung wurde geändert, um das Recht auf
Verteidigung zu stärken und sicherzustellen, dass die schriftliche Stellungnahme des
Generalstaatsanwaltes des Kassationsgerichtes den Beamten oder Angestellten, die der Folter
verdächtigt werden oder seinem Anwalt zur Kenntnis gebracht wird.173
4.4.3 Meinungsfreiheit als rechtsstaatliche Bestandsgarantie
Die Beitrittspartnerschaft sieht als kurzfristige Priorität vor, entsprechend Art. 10 der
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) das Recht auf Meinungsfreiheit zu stärken
und die Situation von gewaltfreien politischen Gefangenen zu verbessern. Vorab ist zu
172 vgl. ebd., S. 11 173 vgl. Bericht über den Antrag der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union (KOM(2002) 700-C5-0104/2003-2000/2014(COS)), Berichterstatter: Arie M. Oostlander. Europäisches Parlament, Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, Menschenrechte, gemeinsame Sicherheit und Verteidigungspolitik – Brüssel 2003, S. 21 (Sitzungsdokumente / Europäisches Parlament)
73
konstatieren, dass die bisher normierten Gesetzesschranken zur Meinungsfreiheit zwar eine
enorme Liberalisierung erfahren haben, andererseits aber eine europarechtskonforme
Angleichung nicht erfolgte, wie es beispielsweise im Grundgesetz der BRD verankert ist.
Danach unterliegt das Grundrecht der Meinungsfreiheit den sog. Schranken-Schranken, also
der Kollisionsprüfung mit anderen Grundrechten des Grundgesetzes.
Dennoch sollen die grundlegenden Rechtsänderungen untersucht werden, die der Erfüllung
der europäischen Kriterien dienen sollen:
Der in der Rechtspraxis häufig angewandte Art. 159 Türk. StGB stellte in seiner
Strafandrohung Haftstrafen von 1 bis 6 Jahren in Aussicht, wenn „das Türkentum, die
Republik, die Große Nationalversammlung, das moralische Wesen der Regierung, die
Ministerien, das Militär und die Sicherheitskräfte des Staates oder das moralische Wesen der
Richterschaft“ beleidigt, herabgesetzt oder verspottet werden.174 Dieser Tatbestand war
deshalb wegen Beleidigung von Sicherheitskräften leicht erfüllt, wenn man Polizeikräfte der
Durchführung diverser Folterpraktiken bezichtigte; ein staatliches Instrument, unliebsame und
kritische Meinungsäußerungen von Bürgern strafrechtlich zu sanktionieren.
Die Regierung reagierte hier im 2. Harmonisierungspaket vom Februar 2002 (Gesetz Nr.
4744) mit einer Reduzierung der Obergrenze des Strafmaßes von 1 bis 3 Jahre, nicht jedoch
mit einer engeren und klareren Definition des Tatbestandes. Erst mit dem 3. Harmo-
nisierungspaket vom August 2002 (Gesetz Nr. 4771) folgte ein inhaltlicher Kurswechsel
dergestalt, dass bloße Kritik, die die Grenzen der Beleidigung nicht überschreite, straffrei
sei.175 Zuletzt wurde mit dem 7. Harmonisierungspaket vom Juli 2003 (Gesetz Nr. 4963) die
Mindeststrafe von einem Jahr auf 6 Monate gesenkt.176
Eine zweite Änderung zum Strafgesetzbuch schaffte in Art. 312 Türk. StGB die Geldstrafen
ab, die für das Rühmen einer strafbaren Handlung, den Aufruf zum Gesetzesverstoß oder das
Anstacheln von Feindschaft und Hass aufgrund von Gesellschaftsschicht, Rasse, Religion,
oder regionaler Herkunft festgelegt wurden. Diese Änderung beschränkt die Strafbarkeit auf
Äußerungen oder Aktivitäten, die geeignet sind, die „öffentliche Ordnung“ zu gefährden.177
174 zit. nach Yilmaz, Mesut: Die Türkei und EU, Berlin 2004 , S. 48-57 175 vgl. Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 12 176 vgl. ebd. 177 vgl. ebd.
74
Die überfällige Abschaffung des berüchtigten Art. 8 des Antiterrorgesetzes (ATG) bezüglich
„Propaganda gegen die unteilbare Einheit des Staates und der Nation“ erfolgte im 6.
Reformpaket (Gesetz Nr. 4928) im Juni 2003, was am 19.07.2003 in Kraft trat. Selbst
Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und die Militärführung, die sich gegen die Streichung
dieses Artikels aussprachen, konnten die Abschaffung nicht verhindern. Sezer sah diese
Streichung in Bezug auf die unteilbare Einheit des Staatsgebietes und Staatsvolkes als
bedenklich an und schlug stattdessen eine engere Fassung von Art. 8 vor, damit kein
Widerspruch zu Art. 10 der EMRK entstehe. Die Regierung bekräftigte aber, dass durch die
Streichung dieser Vorschrift keine Gesetzeslücke entstehen wird, da der Sache nach dieses
Delikt gemäß Art. 312 Türk. StGB („Volksverhetzung, Gefährdung der öffentlichen
Ordnung“) und Art. 196 Türk. StGB (Unterstützung und Begünstigung terroristischer Organi-
sationen“) weiterhin geahndet werden könne.
In der Tat wurden in den letzten Jahren Prozesse gegen Meinungsäußerungen zur
Kurdenfrage überwiegend nicht nach Art. 8 ATG, sondern nach Art. 312 Türk. StGB
geführt.178 Mit dem 7. Reformpaket (Gesetz Nr. 4963) wurde in Art. 169 Türk. StGB die
Bestimmung gestrichen, wonach „Handlungen, die die Machenschaften terroristischer
Organisationen in irgendeiner Weise erleichtern“, strafbar sind. Art. 7 ATG wurde in der
Weise eingeschränkt, dass seine Anwendung auf bloße Meinungsäußerung bei korrekter
Anwendung ausgeschlossen sein dürfte.179 Der Art. 7 ATG wurde geändert, um den Rahmen
zu beschränken, in dem Propaganda als strafbares Vergehen verfolgt werden kann, wobei dies
im Sinn von „Propaganda, die zu Terrorismus ermutigt“ neu definiert wurde. 180 Schließlich
ist zu betonen, dass das Parteiengesetz jegliche Propaganda gegen die unteilbare Einheit von
Staatsvolk und Staatsgebiet verbietet und dass auch Parteien verboten werden, wenn sie eine
solche Propaganda in ihr Programm aufnehmen.
178 vgl. EU-Kommissionsbericht 2004, Brüssel, S. 53 179 vgl. Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 12 180 Yilmaz, Mesut: Die Türkei und EU, Berlin 2004, S. 33
75
4.4.4 Defizite innerstaatlicher Geschlechtergleichstellung
Mit der Ausrufung der Türkischen Republik durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1923
wurden elementare Änderungen in der Rechtsordnung vorgenommen. Mit der Einführung des
Türkischen Zivilgesetzbuchs im Jahre 1926 wurde auch die formale zivilrechtliche
Gleichstellung der Frau vollzogen, sowie im Jahre 1934 das Wahlrecht für Frauen und ihre
Wählbarkeit festgeschrieben.181
� Staatliche Trennung vom islamischen Recht:
Im Zusammenhang mit der wichtigsten Änderung, der Einführung des Laizismus, kam es zu
einer umfassenden Rezeption europäischer Rechtsordnungen, wodurch der bis dahin
untrennbaren Verschmelzung zwischen staatlichem, wirtschaftlichem und religiösem Handeln
Einhalt geboten wurde. Entsprechend diesem säkularen Gedanken wurde als besonders
einschneidende Veränderung die Geltung der Scharia abgeschafft. Die bis dahin primär
islamisch geprägte und wenig wirtschaftlich denkende Gesellschaft wurde nunmehr mit
marktwirtschaftlichen und säkularen Grundsätzen konfrontiert. Diese Reform und die auf ihr
beruhenden grundlegenden Änderungen von Gesellschaft und Politik fanden allerdings ganz
ohne eine Form von humanistischer Aufklärung statt, wie sie im 18. Jahrhundert in Europa
stattgefunden hatte. Die Reformen wurden in erster Linie von der dünnen Oberschicht von
Offizieren getragen, während das Leben und das Denken der bis dahin nur als „Untertanen“
existierenden Bevölkerung nach wie vor durch alte Traditionen geprägt war.182
� Familienrecht:
Das Problem der möglichst schnellen „Europäisierung“ durch die Übernahme fremden Rechts
und des damit einhergehenden Aufeinandertreffens verschiedener (Rechts-) Kulturen wird
insbesondere im Bereich des Familien-, Scheidungs- und Kindschaftsrechts deutlich, das
teilweise auch heute noch stark traditionell geprägt ist. Denn gerade in diesem immer wieder
181 vgl. Ögüt, Pelin: Die Beitrittsoption zur Europäischen Union, Baden-Baden 2003, S. 49 182 ebd., S. 77
76
als ein Beispiel für die Gleichberechtigung der Frau in der Türkischen Republik
herangezogenen Bereich zeigt sich die Diskrepanz zwischen dem rechtlichen und dem
faktischen Wirken von Gesetzen.
Wo die Menschen noch stark in den alten Traditionen verwurzelt sind, insbesondere in den
dörflichen Regionen der ost- und südostanatolischen Gebiete, gilt zwar die gleiche
Rechtsordnung wie im gesamten Staatsgebiet der Türkischen Republik, welche Bigamie
verbietet und die Eheschließung durch einen offiziellen Staatsbeamten vorschreibt. Trotzdem
existieren insbesondere bei der Landbevölkerung nach wie vor viele Partnerschaften, die
entweder auch oder sogar ausschließlich vor dem Imam geschlossen werden. Entsprechend
der islamischen Tradition hat der Mann danach das Recht, sich noch weitere Frauen zu
nehmen. Auf diese Weise wird das aus der Schweiz übernommene Familienrecht der
türkischen Rechtsordnung unterlaufen.183 Denn eine ausschließlich durch den Imam bestätigte
Ehe wird offiziell nicht anerkannt und fällt somit grundsätzlich nicht in den Geltungsbereich
des türkischen Familien- und Scheidungsrechts.
Der staatliche Umgang mit dem faktischen Einfluss islamischer Tradition und Sitte in
speziellen Regionen ist ein Stück weit als unsystematisch zu bezeichnen. Von ihren
Grundprinzipien her ignoriert die türkische Rechtsordnung größtenteils das Vorhandensein
einer „islamischen Subkultur“ und geht nur von offiziell standesamtlich beurkundeten Ehen
aus. Nur diese können auch den Schutz des Gesetzes und aus diesem bestehende Ansprüche
gerichtlich durchsetzen. Einen Schutz der „islamisch geschiedenen“ Frau kennt die
Rechtsordnung nur dann, wenn Kinder aus der Vereinigung hervorgegangen sind. Die
Tradition der Imam-Ehe prägt jedoch, wenn auch eine nicht unbedeutende Zahl von
Bürgerinnen und Bürgern davon betroffen sind, nicht den Großteil des Landes.
Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach eine gleichberechtigte Teilung
der während der Ehe erworbener Güter besteht (unter der Voraussetzung einer besonderen
Erklärung bei nach Januar 2002 geschlossenen Ehen), wurden nur in sehr begrenztem Umfang
angewandt. Mit der Verfassungsänderung vom Oktober 2001 (Gesetz Nr. 4709) wurde als
Ergänzung zu Art. 41 die Gleichberechtigung der Ehepartner in der Familie festgelegt und mit
183 ebd.
77
der Verfassungsänderung vom Mai 2004 (Gesetz Nr. 5170) die Verpflichtung des Staates, für
die praktische Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter zu sorgen, Art. 10 der
Verfassung.184
Die Praxis lehrt indessen noch das Bestehen diesbezüglicher Defizite. In gewählten Gremien
und in der Regierung sind Frauen nach wie vor wenig vertreten. Von den 550
Parlamentsabgeordneten sind 24 Frauen. Um zu gewährleisten, dass Frauen in der
Gesellschaft eine gleichberechtigte Stellung einnehmen, werden nachhaltige Anstrengungen
in der praktischen Umsetzung erforder-lich sein.
� Strafrecht und Gewaltschutz:
Ebenso verbesserte das neu verabschiedete Strafrecht (Gesetz Nr. 5237) den Schutz der
Frauen vor Gewalt. Viele Frauen sehen sich im Familienkreis verschiedenen Formen
physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Darunter fallen sexueller Missbrauch,
erzwungene und häufig frühe Eheschließungen, inoffizielle religiöse Eheschließungen,
Polygamie, Menschenhandel und „Ehrenmorde“. Sexuelle Gewalt ist nun rechtsdogma-tisch
nicht mehr unter `Verbrechen gegen die öffentliche Sitte und Ordnung und die Familie` zu
finden, sondern unter der Rubrik `Verletzung der sexuellen Unverletzlichkeit`, womit der
Schutzzweck der Frau als Individuum hervorgehoben wird.185
Der Rechtsbegriff der Vergewaltigung wurde in seiner Legaldefinition ausgeweitet. Das alte
Recht begrenzte die Strafbarkeit auf eine „vaginale Vergewaltigung mit männlichen
Geschlechtsorganen in den Körper“. Art. 102 des Türkischen StGB (Gesetz Nr. 5237)
normiert nun eine Strafbarkeit analog internationaler Konventionen mit der „Einführung eines
Organs oder eines Gegenstandes in den Körper“. Gleichsam wurden andere Formen
sexueller Übergriffe oder Belästigungen erstmals unter Strafe gestellt.186 Vergewaltigung in
der Ehe kann zu gerichtlichen Ermittlungen führen und strafrechtlich verfolgt werden, wenn
184 Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 14 185 vgl. ebd. 186 vgl. ebd.; Art. 102 Türk. StGB, Nr. 5237
78
das Opfer klagt. Die Möglichkeit der Straffreiheit des Täters für den Fall der Heirat des
Opfers wurde abgeschafft.
In der Türkei als „Jungfräulichkeitstests“ bezeichnete genitale Untersuchungen bedürfen
nach Art. 287 Türk. StGB prozessual einer richterlichen Anordnung.187 Entgegen den
Forderungen von Frauenorganisationen ist die Einwilligung der Frau, an der der Test
durchgeführt wird, aber immer noch nicht erforderlich.188
Auch bei den Tötungsdelikten (insbesondere Mord) wurden strafschärfende Tatbe-
standsmerkmale in Art. 82 des Türkischen StGB aufgenommen, wenn es sich um sog.
„Ehrenmorde“, also Angriffe auf das Leben, welche durch „Tradition und Brauchtum“
motiviert sind, handelt. Das Vorliegen dieser Merkmale führt in seiner Rechtsfolge zu
schwerer lebenslanger Haft.189 In Bezug darauf wurde im Rahmen des 6. Harmo-
nisierungspakets das Türkische Strafgesetzbuch geändert, um Bedenken in Bezug auf
„Ehrenmorde“ auszuräumen. Art. 462 Türk. StGB, der für so genannte „Ehrenmorde“
verringerte Strafen vorsah, wurde abgeschafft.
Eine rechtspraktische Umsetzung dieser Normen ist bereits feststellbar: Im März 2004
verurteilte ein Richter einen Angeklagten wegen eines „Ehrenmordes“ in Sanilurfa zu einer
lebenslangen Haftstrafe und die beteiligten Familienmitglieder erhielten gleichsam lange
Gefängnisstrafen. Im Februar 2004 wies die staatliche Religionsbehörde Imams und Prediger
an, während der Freitagsgebete „Ehrenmorde“ zu verurteilen. Zuvor hatte diese im Januar
2004 die Anweisung erteilt, keine inoffiziellen Ehen ohne vorherige Zivilehe zu schließen.
Ferner versucht die Religionsbehörde, die Rolle der Frauen im Islam aktiv zu fördern und
ernennt Frauen als Muftis. Darüber hinaus wird die Innengestaltung der Moscheen geändert,
um die Teilnahme der Frauen an religiösen Zeremonien zu erleichtern.
Das Türkische StGB sieht nun auch eine leichte Verschärfung des Strafmaßes für Polygamie
und die Nichteintragung religiös geschlossener Ehen vor. Das Familienschutzgesetz aus dem
187 vgl. ebd.; Art. 287 Türk. StGB, Nr. 5237 188 vgl. Yilmaz, Mesut: Die Türkei und EU, 2002, S. 85 ff. 189 Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 14; Art. 82 Türk. StGB, Nr. 5237
79
Jahr 1998 hat lediglich eine juristisch begrenzte Reichweite und wurde nicht angemessen
umgesetzt. Klagen von Frauen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt gehen die
Sicherheitskräfte häufig nicht nach. Frauenorganisationen haben die Notwendigkeit
hervorgehoben, für Frauen Unterkünfte und Beratungszentren einzurichten, da die derzeitige
Bereitstellung durch den Staat für unzureichend erachtet wird (derzeit gibt es nur 9 Zentren).
Das im Juli 2004 vom Parlament verabschiedete Gemeindegesetz fordert, dass Gemeinden
mit über 50 000 Einwohnern Frauen- und Kinderunterkünfte bereitstellen.
� Staatsangehörigkeitsrecht:
Mit den Reformen änderte sich auf der Verfassungsebene auch das Staatsangehörigkeitsrecht
im Sinne einer Gleichstellung von Mann und Frau. „Jeder, den mit dem türkischen Staat das
Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke“.190 Diesem ersten Absatz des Art. 66
folgte früher der Absatz 2, wonach Kinder aus gemischtnationalen Ehen unmittelbar die
türkische Staatsangehörigkeit erhielten, wenn der Vater Türke war. Für die Kinder aus
gemischtnationalen Ehen mit einer türkischen Mutter galt das jedoch nur, wenn es gesetzlich
bestimmt war. Dieser offenkundige Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz wurde jetzt auf
Verfassungsebene bereinigt, nachdem Art. 1 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes dies
ohnehin bereits im Jahre 1981 getan hatte. Bei gemischtnationalen Ehen genügt in jedem
Falle die türkische Staatsangehörigkeit eines Elternteils, auch dem Abkömmling die türkische
Staatsangehörigkeit zuzusprechen.
� Arbeitsrecht:
Im neuen Beschäftigungsgesetz vom Mai 2003 wird in Beschäftigungsfragen der Grundsatz
der Gleichbehandlung zwischen Personen unabhängig von deren Geschlecht, Rasse und
ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung anerkannt. Festzustellen ist hingegen,
dass das effektive Verbot von Diskriminierung am Arbeitsplatz durch die Rechtsvorschriften
noch nicht garantiert wird und es weiterer Fortschritte bedarf, um die Gleichstellung der
Geschlechter zu fördern, wie sie im EU-Recht festgelegt und in den Art. 1 und 20 der
Europäischen Sozialcharta niedergelegt ist. Im Juli 2004 wurde eine Verordnung erlassen, mit
190 Ögüt, Pelin: Die Beitrittsoption zur Europäischen Union, Baden-Baden 2003
80
der der Mutterschaftsurlaub für Staatsbedienstete (in Einklang mit dem Beschäftigungsgesetz
von 2003) auf 16 Wochen verlängert wird. Die Türkei hat jedoch Art. 8 der Europäischen
Sozialcharta über das Recht weiblicher Arbeitnehmer auf Mutterschutz noch nicht
übernommen.
� Öffentliches Recht:
Im Januar 2004 veröffentlichte das Amt des Premierministers ein Rundschreiben, um
sicherzustellen, dass die Gleichbehandlung der Geschlechter bei der Einstellung in den
öffentlichen Dienst gewährleistet ist. Die Verabschiedung der Rechtsvorschriften für die
Gewährleistung des tatsächlichen Verbots von Diskriminierung am Arbeitsplatz jedoch ist bis
heute nur begrenzt vorangekommen.
Dass Frauen weiterhin diskriminierenden Praktiken unterworfen bleiben, hängt weitgehend an
ihrer mangelnden Bildung und an der hohen Analphabetenrate.191 In einigen Provinzen im
Südosten besuchen angeblich 62 % der Mädchen die Primarstufe und 50% die Sekundarstufe.
Die in einigen Teilen der Südosttürkei weit verbreitete Gewohnheit, Mädchen nicht offiziell
zu melden, verschärft diese Lage. Darüber hinaus werde die Diskriminierung durch das in
Schulbüchern vermittelte Frauenbild verstärkt, so die Bewertung im aktuellen EU-
Kommissionsbericht.
Konstatiert werden muss weiterhin, dass nach wie vor kein Gesetz über die Einrichtung des
Generaldirektorats für die Stellung und Probleme der Frauen verabschiedet worden ist, das
seit knapp zehn Jahren erwartet wird. Folglich wird die Funktionsweise dieser Dienststelle
erheblich behindert, die beispielsweise nicht in der Lage ist, ständige Mitarbeiter einzustellen
oder an internationalen Aktivitäten teilzunehmen.
191 19 % der Frauen in der Türkei sind Analphabeten und im Südosten liegt diese Zahl erheblich höher; Quelle: EU-Kommissionsbericht 2004
81
4.4.5 Völkerrechtlicher Minderheitenschutz
Im Januar 2003 wurde es dem Hohen Kommissar der OSZE für nationale Minderheiten
erstmals gestattet, die Türkei zu besuchen, um einen Dialog über die nationalen Minderheiten
einzuleiten. Die Minderheiten sahen sich bisweilen gewissen diskriminierenden Praktiken
seitens der Behörden ausgesetzt. So wurde beklagt, dass der Inhalt, der vom Staat
herausgegebenen Geschichtsschulbücher Feindseligkeiten gegen Minderheitengruppen
schüre. Daraufhin veröffentlichte das Bildungsministerium im April 2003 ein Rundschreiben,
mit dem Schulen verpflichtet wurden, Vorträge und Aufsatzwettbewerbe über interpretierte
historische Ereignisse im Zusammenhang mit Armeniern, Pontusgriechen und Assyrern zu
organisieren. Den Berichten von Beobachtern der Europäischen Kommission zufolge werden
in den Geschichtsbüchern für das Schuljahr 2003-2004 die Minderheiten immer noch als
vertrauensunwürdig, verräterisch und staatsschädlich dargestellt. Die Behörden haben jedoch
begonnen, die Schulbücher auf diskriminierenden Sprachgebrauch hin zu prüfen. Im März
2004 wurde eine Verordnung erlassen, in der es heißt, dass Schulbücher keine
Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht, Sprache, Volksgruppen-
zugehörigkeit oder Weltanschauung enthalten sollen. Religiöse Minderheiten, die gewöhnlich
nicht mit dem Vertrag von Lausanne in Verbindung gebracht werden (also andere als Juden,
Armenier und Griechen), wie zum Beispiel Assyrer, dürfen immer noch keine eigenständigen
Schulen eröffnen.
Das 3. Harmonisierungspaket vom August 2002 (Gesetz Nr. 4771) brachte eine Lockerung in
der restriktiven Politik des türkischen Staates gegenüber Minderheiten. Radio- und
Fernsehsendern wurde die Erlaubnis erteilt, Sendungen in „Sprachen und Dialekte, die von
türkischen Staatsbürgern traditionell in ihrem täglichen Leben gesprochen werden“
auszustrahlen. Diese Sprachen dürfen seitdem in privaten Sprachkursen unterrichtet werden,
obwohl festzuhalten ist, dass diese legislativen Öffnungen erheblichen Einschränkungen
unterliegen, was näher unter Kapitel 4.4.6 behandelt wird.192 Die mit den neuen
Bestimmungen verbundene offizielle Anerkennung der Existenz von Minderheitensprachen
192 vgl. Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 12 f.
82
stellt zwar für türkische Verhältnisse einen Tabubruch dar, eine zufrieden stellende Ge-
währung kultureller Minderheitenrechte jedoch nicht.193
Im Januar 2004 löste die Regierung den 1962 per Geheimdekret geschaffenen
„Nachgeordneten Ausschuss für Minderheiten“ auf, dessen Aufgabe die Sicherheits-
überwachung der Minderheiten war. Zur Lösung der Probleme nichtmuslimischer
Minderheiten wurde als neue Institution ein „Bewertungsgremium für Minderheitenfragen“
eingerichtet. Dem Gremium gehören Vertreter des Innen-, des Bildungs- und des Außen-
ministeriums sowie des für die Generaldirektion für das Stiftungswesen zuständigen
Staatsministeriums an. Die Abteilung für Minderheiten in der Sicherheitsdirektion des
Innenministeriums ist jedoch nach wie vor für die Beziehungen zu den Minderheiten
zuständig. Die Minderheiten sind in feststellbarer Weise weiterhin gewissen
diskriminierenden Praktiken ausgesetzt. Dem EU-Kommissionsbericht 2004 zufolge stoßen
Angehörige von Minderheiten auf Schwierigkeiten beim Zugang zu hohen Verwaltungs- und
Militärposten.194
Der Dialog mit den Behörden über die Frage der doppelten Verwaltungsspitze in jüdischen,
griechischen und armenischen Schulen195 dauert an. Im Mai 2004 entschied das
Bildungsministerium, dass auch Kinder, deren Mütter der Minderheit angehören, diese
Schulen besuchen dürfen; zuvor war dies nur denen gestattet, deren Vater der Minderheit
angehörte. Allerdings wird die Erklärung der Eltern über ihre Minderheitenzugehörigkeit vom
Bildungsministerium geprüft.
Die griechische Volksgruppe hatte Probleme bei der Genehmigung neuen Lehrmaterials und
der Anerkennung im Ausland ausgebildeter Lehrer. Darüber hinaus dürfen Lehrer der
griechischen Minderheit entgegen dem Beschäftigungsgesetz von 2003 im Unterschied zu
ihren Kollegen türkischer Abstammung nur in einer Schule unterrichten. Die armenische
193 zitiert nach Cremer, Jan: Die Europäische Union und die Türkei. Eine politische Bestandsaufnahme, in: Deutsches Orient-Institut Hamburg, DOI-Focus Nr. 17, November 2004, S. 13 194ausführlich dazu vgl. EU-Kommissionsbericht, Brüssel, 2004 195 Der stellvertretende Leiter dieser Schulen ist Muslim und Vertreter des Bildungsministeriums und hat weitergehende Befugnisse als der Schulleiter selbst.
83
Volksgruppe äußerte sich besorgt über die Unangemessenheit des armenischen Sprach-
unterrichts.196
Mehr Toleranz herrscht mittlerweile gegenüber dem Gebrauch der kurdischen Sprache und
dem Ausdruck verschiedener Formen der kurdischen Kultur. Die Newroz-Feiern197
(Frühjahrsbeginn) wurden genehmigt und nur kleinere Zwischenfälle vermeldet. Im
Dezember 2003 hob das Kassationsgericht ein Urteil des Amtsgerichts in Van auf, das den
Gebrauch von Postern in kurdischer Sprache verboten hatte. Das Kassationsgericht vertrat die
Auffassung, dass das Verbot zuvor verabschiedeten Gesetzesänderungen zuwiderlief.
Keine Änderungen gab es am Wahlrecht, das es Minderheiten wegen der 10 %-Hürde für
politische Parteien erschwert, eine Vertretung im Parlament zu erhalten.198 Für politische
Parteien herrschen nach wie vor Auflagen hinsichtlich des Gebrauchs anderer Sprachen als
Türkisch. NRO199 weisen darauf hin, dass im Wahlkampf für die Kommunalwahlen im März
2004 zahlreiche Personen verfolgt wurden, weil sie Kurdisch sprachen und dass in jüngerer
Zeit kurdische Politiker verurteilt wurden. Im Juli 2004 jedoch hob das Kassationsgericht ein
Urteil gegen einen Politiker auf, der wegen des Gebrauchs der kurdischen Sprache während
einer Pressekonferenz zu sechs Monaten Haft verurteilt worden war.200
Da die kurdische Bevölkerung aufgrund ihrer hohen Bevölkerungszahl und der politischen
Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren die wichtigste ethnische Minderheit in der
Türkei bildet, sind diesbezügliche Reformprozesse, die in Folgendem behandelt werden, von
besonderer Bedeutung für den weiteren Beitrittsprozess der Türkei.
196 ausführlich dazu vgl. EU- Kommissionsbericht 2004 197 Frühjahrsfeiern: Dieses jährliche Fest geht in seinem Ursprung auf die kurdische Kultur zurück. 198 So scheiterte bei den Wahlen vom November 2002 beispielsweise die Demokratische Volkspartei (DEHAP), die überwiegend die Interessen von kurdischen Intellektuellen vertritt, an der 10%-Hürde, obwohl sie in 5 der 81 türkischen Provinzen über 45% erzielt hatte. 199 NRO: Nicht-Regierungs-Organisationen 200 ausführlich dazu vgl. EU-Kommissionsbericht 2004
84
4.4.6 Reformismus in der Kurdenfrage
� Politische Ausrichtung:
Die EU betrachtet die Kurdenthematik in der Türkei in erster Linie im Rahmen der
allgemeinen Menschenrechte und der Demokratisierung des Landes. Dementsprechend
fordert sie Maßnahmen, die nicht auf die Gewährung von Gruppenrechten zielen, sondern nur
die Durchsetzung der Menschenrechte und die Demokratisierung fördern. Dazu gehört aus
Sicht der EU die Gewährung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte sowie kultureller
Rechte und die Besserung der sozialen Lage im Südosten. So wird in der Beitritts-
partnerschaft gefordert, dass die „Erarbeitung eines umfassenden Konzepts für den Abbau des
Regionalgefälles und insbesondere zur Verbesserung der Lage im Südosten im Hinblick auf
die Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten aller Bürger,
unabhängig von ihrer Abstammung“ und die Abschaffung „alle(r) Rechtsvorschriften, die
die Wahrnehmung dieser Rechte behindern, einschließlich im Bildungsbereich“201. In diesen
Formulierungen verbergen sich keine weitergehenden Forderungen, wie z.B. die Gewährung
politischer Rechte oder politischer Autonomie für die kurdische Bevölkerung. Auch wenn die
Kurden in der Beitrittspartnerschaft nicht explizit genannt werden, muss aber betont werden,
dass die genannten Forderungen auch die Situation der kurdischen Bevölkerung umfassen.
Aus türkischer Sicht war es von zentraler Bedeutung, in der Beitrittspartnerschaft eine
explizite Benennung der Kurden und der Gewährung von kulturellen und politischen Rechten
für diese Bevölkerungsgruppe zu vermeiden. Ankara konnte zwar dieses Ziel erfolgreich
durchsetzen, dennoch bedeutet die Erfüllung des politischen Beitritt-kriteriums von
Kopenhagen „Achtung und Schutz von Minderheiten“ für die türkischen Entscheidungsträger
eine Zerreißprobe. Die Existenz von Minderheiten wird heutzutage nicht mehr bestritten, sie
werden jedoch als staatsrechtlich zu schützende Minderheit offiziell nicht anerkannt. Aus
türkischer Sicht gilt es in erster Linie, die Regelungen im Rahmen der Anpassungspakete
bezüglich „Achtung und Schutz von Minderheiten“ möglichst restriktiv zu gestalten, um
201 vgl. Gürbey, Gülistan: Die türkische Kurdenpolitik im Kontext des EU-Beitrittsprozesses und der Kopenhagener Kriterien, München 2004, S. 46
85
erstens die Grundlagen des Staats- und Nationenverständnisses nicht zu gefährden und
zweitens die kulturelle Eigenständigkeit der Kurden als Gruppe nicht anzuerkennen. Weil
man befürchtet, eine institutionelle Anerkennung könnte zu Spaltungstendenzen führen, sollen
die Reformen so gestaltet werden, dass sie eine Deutung als kurdenspezifische Regelung
ausschließen.
� Kurdische Sprache, Unterricht und Medien:
Generell gilt in der Schlussfolgerung obiger Ausführungen, dass in türkischen Gesetzes-
texten das Kurdische bzw. die kurdische Sprache oder das Recht auf Bildung und
Veröffentlichungen in kurdischer Sprache nicht erwähnt wird. Dennoch liegt es auf der Hand,
dass es bei den Änderungen in Bezug auf die Erfüllung der politischen Beitrittskriterien
„Achtung und Schutz von Minderheiten“ vorrangig um die Zulassung der kurdischen Sprache
und Kultur geht.202
Während in der Beitrittspartnerschaft die Aufhebung von Verboten muttersprachlicher
Sendungen vorgesehen ist, schreibt das „Nationale Programm für die Übernahme des
Gemeinschaftlichen Besitzstands“ die gängige Praxis fort, dass das Türkische die offizielle
Sprache und die Unterrichtssprache ist, dass dies aber nicht verbietet, im Alltag
unterschiedliche Sprachen, Dialekte und Mundarten zu benutzen, dass diese Freiheit jedoch
nicht zu separatistischen Zwecken genutzt werden darf.
Insgesamt wird damit der Gebrauch des Kurdischen im Alltag erlaubt, ohne das Kurdische
explizit zu erwähnen. Mit der türkischen Verfassungsreform vom Oktober 2001 wurden
Änderungen in den Art. 26 (Meinungsfreiheit) und Art. 28 (Pressefreiheit) vorgenommen.
Dabei wurden die Formulierungen gestrichen: „Bei der Meinungsäußerung darf keine
Sprache verwendet werden, die per Gesetz verboten ist“ (Artikel 26 Absatz 3) und
„Veröffentlichungen dürfen nicht in einer Sprache erfolgen, die per Gesetz verboten sind“
(Artikel 28 Absatz 2).203
202 ebd. 203 dazu vgl. Botschaft der Republik Türkei: Politische Reformen in der Türkei, März 2004, S. 2
86
Art. 42 der türkischen Verfassung legt das Türkische als Mutter- und grundlegende
Unterrichtssprache in Erziehungs- und Unterrichtsanstalten fest. Art. 2 c des Gesetzes Nr.
2932 zu Erziehung und Unterricht in Fremdsprachen von 1983 sah bislang vor, dass der
Ministerrat unter Berücksichtigung der Meinung des Nationalen Sicherheitsrates die
Unterrichtung von Fremdsprachen in der Türkei festlegt. Mit dem 6. Reformpaket wurden die
Rechtsvorschriften über den Fremdsprachenunterricht und das Erlernen verschiedener
Sprachen und Dialekte dahingehend geändert, dass künftig der Ministerrat allein ohne die
Genehmigung des Nationalen Sicherheitsrates beschließt, welche Sprachen zu unterrichten
sind.
Doch zeigt die in dieser Sache etwas schleppende Umsetzung der rechtlichen Änderungen,
dass der politische Widerstand gegen alles, was auf eine auch nur implizite Anerkennung
einer politischen Sonderstellung des kurdischen Bevölkerungsteils hindeuten könnte, in
weiten Teilen der Staatsbürokratie ungebrochen ist. So dauerte es bis Anfang Juni 2004, bis
die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt (Türk Radyo Televizyonu / Türkische Fernseh-
und Rundfunkanstalt) bzw. deren Aufsichtsbehörde ihren Widerstand gegen die Umsetzung
des Parlamentsbeschlusses vom 2. August 2002 aufgab und erste Sendungen in Kurdisch
ausstrahlte. Private Rundfunk- oder Fernsehprogramme gibt es immer noch nicht, was auch
mit der geringen wirtschaftlichen Attraktivität solcher Sendungen zu tun haben mag.
Schließlich sieht die entsprechende Verordnung des nationalen Rundfunk- und Fernsehrates
für den TRT vor, dass Rundfunksendungen in Kurdisch auf fünf Stunden pro Woche und 60
Minuten täglich zu beschränken sind und Fernsehsendungen auf maximal vier Stunden pro
Woche und 45 Minuten pro Tag.204
Ähnliche Schwierigkeiten waren mit der Einrichtung von privaten Sprachkursen an privaten
Lehranstalten verbunden, deren Eröffnung sich infolge kleinlicher bürokratischer
Behinderungen fast ebenso lange hinzog, wie die Einführung staatlicher Rundfunk- und
Fernsehprogramme. Im Dezember 2003 trat die „Verordnung über den Unterricht in
verschiedenen Sprachen und traditionell von türkischen Bürgern in ihrem Alltag gesprochene
Dialekte“ in Kraft.205 Im April 2004 haben sechs Privatschulen in Van, Batman und Şanilurfa,
204 Kramer, Heinz: Demokratieverständnis und Demokratisierung in der Türkei, Berlin 2004, S. 31 205 vgl. Gürbey, Gülistan: Die türkische Kurdenpolitik im Kontext des EU-Beitrittsprozesses und der Kopenhagener Kriterien, München 2004, S. 50
87
im August 2004 in Diyarbakır und Adana und im Oktober 2004 in Istanbul begonnen,
Kurdisch (Kirmanci-Dialekt) zu unterrichten. Bei den zuständigen Behörden wurden weitere
Anträge auf Eröffnung kurdischer Sprachschulen eingereicht. Diese Schulen erhalten vom
Staat keine finanzielle Hilfe und es bestehen Auflagen insbesondere für den Lehrplan, die
Ernennung der Lehrer, den Stundenplan und die Schulbesucher. Insbesondere müssen die
Schüler die Grundbildung abgeschlossen haben und daher über 15 Jahre alt sein.206
� Soziale Wiedereingliederung:
Am 30. November 2002 wurde der Ausnahmezustand in den Provinzen Diyarbakir und
Sirnak im Südosten der Türkei aufgehoben, der über 15 Jahre angedauert hatte. Trotz der
verschärften Sicherheitslage durch die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg und
dem Einsatz von Militäreinheiten, sowie den Sorgen über das mögliche Wiederaufflammen
des Terrorismus, hatte die Aufhebung des Ausnahmezustandes positive psychologische
Auswirkungen auf die Region. Wenngleich sich die Sicherheitslage weiter verbessert hat,
kommt es immer noch zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen dem türkischen Militär und
kurdischen Separatisten, die Opfer und auch Tote fordern. Im gesamten Gebiet gibt es immer
noch Kontrollpunkte, doch sind es weniger geworden als in der Vergangenheit, und die
Militärpräsenz ist weniger sichtbar.
Als Beitrag zur Förderung des sozialen Friedens in der Region verabschiedete das Parlament
ein Gesetz über „soziale Wiedereingliederung“, das am 6. August 2003 in Kraft trat. Das
Gesetz sieht eine Teilamnestie und eine Strafmilderung für Personen vor, die in Tätigkeiten
einer illegalen Organisation verwickelt waren. Ausgeschlossen sind nach dem Gesetz die
Anführer der Organisation, sowie diejenigen, die Verbrechen begangen haben. Mit dem
Gesetz wurden keine nennenswerten Ergebnisse erzielt. Offiziellen Quellen zufolge wurden
bis zum Jahr 2004 insgesamt 4101 Anträge gestellt, davon 2800 von bereits inhaftierten
Personen. Nur 1301 Personen stellten spontane Anträge an die Behörden. Insgesamt 1300
Personen kamen bislang in den Genuss des Gesetzes und wurden entlassen oder erhielten ein
vermindertes Strafmaß.207
206 ebd., S. 53-55 207 vgl. Gürbey, Gülistan: Die türkische Kurdenpolitik im Kontext des EU-Beitrittsprozesses und der Kopenhagener Kriterien, München 2004, S. 53-55
88
� Entschädigungsrecht und Vertriebenenrückkehr:
Im Juli 2004 wurde ein Gesetz über die Entschädigung für Verluste infolge von
Terroranschlägen verabschiedet. Damit wird die Notwendigkeit anerkannt, Personen im
Südosten zu entschädigen, die seit Beginn des Ausnahmezustands (19. Juli 1987) materiellen
Schaden erlitten haben.
Insgesamt hat sich die Lage im Osten und Südosten des Landes, wo die meisten Menschen
kurdischer Herkunft leben, sowohl was die Sicherheit als auch die Grundfreiheiten betrifft,
seit 1999 allmählich verbessert. Neben der Aufhebung des Ausnahmezustands setzte sich die
Rückkehr der Binnenvertriebenen fort. Allerdings ist festzustellen, dass die Sicherheits-
bedrohung aktuell wieder gestiegen ist, seit Kongra-Gel (die ehemalige PKK) im Juni 2004
das Ende des Waffenstillstands angekündigt hat. Es wurde von terroristischen Aktivitäten und
Zusammenstößen zwischen Kongra-Gel-Kämpfern und dem türkischen Militär berichtet.
Die Lage der Binnenvertriebenen ist nach wie vor kritisch und viele leben unter prekären
Bedingungen. Die Türkei hat mit internationalen Organisationen einen Dialog aufgenommen,
um den Schwächen des „Programms zur Rückkehr in die Dörfer und zur Rehabilitation“ zu
begegnen, die vom Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Vertriebene nach seinem
Türkeibesuch 2002 hervorgehoben worden waren. Um diese Empfehlungen weiterzuver-
folgen, bereitet die türkische Regierung als ersten Schritt eine Umfrage vor.208
Zu diesem Thema wurden an den EGMR rund 1500 Anträge gestellt. Im Juni 2004 entschied
der EGMR, dass die Türkei gegen Art. 1 des EMRK-Protokolls Nr. 1 („Eigentumsschutz“),
Art. 8 („Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“) sowie Art. 13 („Recht auf
wirksame Beschwerde“) im Falle der türkischen Bürger, die in der Region Tunceli (Südosten)
in ihre Dörfer zurückzukehren versuchten, verstoßen hatte.209 Offiziellen Quellen zufolge sind
seit Januar 2003 insgesamt 124218 Binnenvertriebene (rund ein Drittel der offiziell mit
350000 Personen angegebenen Zahl) in ihre Dörfer zurückgekehrt. NRO verweisen jedoch
208 ausführlich dazu vgl. EU- Kommissionsbericht 2004 209 ebd.
89
darauf, dass die Zahl der Binnenvertriebenen diese offiziellen Statistiken weit übersteigt (die
Gesamtzahl liegt schätzungsweise bei 3 Mio.).
Gegenwärtig kann festgestellt werden, dass mit der Beendigung des Ausnahmezustandes ab
November 2002, dem Beginn einer sozialen Eingliederung, dem Entschädigungsrecht, dem
stetigen Anwachsen der Vertriebenenrückkehr sowie den Neuerungen in Bezug auf die
Kurdische Sprache in Unterricht und den Medien wichtige Schritte zur Normalisierung der
Lage in den kurdischen Provinzen im Osten und Südosten der Türkei in Gang gesetzt wurden.
Diese Reformen zeigen sowohl im täglichen Leben ihre Wirkung, als auch „in der
weitgehend ungehinderten Durchführung einiger kultureller Veranstaltungen in kurdischer
Sprache, wie eines allkurdischen Literaturkongresses in Diyarbakir im November 2003.“, so
Kramer. 210 Gleichwohl muss die Entwicklung im Hinblick auf die zu erfüllenden
Kopenhagener Kriterien weiterhin kritisch begutachtet werden.
4.4.7 Akzeptanz multilateraler Menschenrechtsabkommen und Institutionen
Außerhalb innerstaatlicher Anstrengungen der Türkei, die Kopenhagener Kriterien zu
erfüllen, bleibt zu prüfen, inwieweit eine Außenöffnung der türkischen Politik feststellbar ist,
um in Fragen der Wahrung der Menschenrechte zumindest westliche internationale Bündnisse
und Institutionen zu akzeptieren, sie als eigenen Maßstab anzuerkennen und rechtspolitisch zu
integrieren.
Die Türkei ist seit 1999 sowohl innerhalb des UN-Rahmens als auch im Rahmen des
Europarates, dem das Land seit 1999 angehört, zahlreichen internationalen Menschen-
rechtsinstrumenten beigetreten: Dem Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und
politische Rechte sowie dem Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte (allerdings mit Vorbehalten); dem Protokoll Nr. 6 der Europäischen
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) über die
210 Kramer, Heinz: Demokratieverständnis und Demokratisierung in der Türkei, Berlin 2004, S. 31
90
Abschaffung der Todesstrafe und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und dem Übereinkommen der Vereinten
Nationen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau.211
Im Februar 2000 wurde das erste Fakultativprotokoll des Internationalen Paktes über
bürgerliche und politische Rechte unterzeichnet, das Berufungsverfahren vorsieht, mit denen
das Petitionsrecht des Einzelnen ausgeweitet wird. Im Januar 2004 wurde das Protokoll Nr.
13 zur EMRK, welches die vollständige Abschaffung der Todesstrafe betrifft, unterzeichnet.
Im April 2004 unterzeichnete die Türkei das zweite Fakultativprotokoll über die Abschaffung
der Todesstrafe.212
Die bisweilen stattgefundene Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) führte dazu, dass in der Türkei durch Gesetz eine
Menschenrechtsuntersuchungskommission zum Schutz der Menschenrechte insti-
tutionalisiert wurde. Auch dabei feilte die türkische Regierung an legislativen Ver-
besserungen im Hinblick auf Verfahrensbeschleunigungen. Art. 7 des Gesetzes über die
Menschenrechtsuntersuchungskommission wurde geändert, in dem der maximale Zeitraum, in
dem eine Antwort auf eine Anfrage an die Kommission bezüglich Menschenrechtsver-
letzungen zu erfolgen hat, von 3 Monaten auf 60 Tage reduziert wurde.213
Das 2. Harmonisierungspaket schloss sowohl Änderungen im Rahmen der Urteile des EGMR
als auch der Rechte der Strafgefangenen und Verhafteten ein. Art. 13 des Beamtengesetzes
wurde geändert, um den Rückgriff auf die Kompensation, die in Übereinstimmung mit den
Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom Staat für grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung unter persönlicher Verantwortung bezahlt
werden, zu verhindern.
Festzuhalten ist ebenso, dass die türkische Gerichtsbarkeit im Hinblick auf den Vollzug von
Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) seit 1999 wegweisende
211 Yilmaz, Mesut: Die Türkei und EU - Die Suche nach einer ehrlichen Partnerschaft, Berliner Wissen-schaftsverlag, 2004, S. 59-66 212 ebd., siehe auch Kapitel 4.4.1 213 vgl. ebd.
91
Positionen eingenommen hat. So konnte der Fall von Leyla Zana und einigen anderen
ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Partei (DEP), namentlich Sadak, Dicle und
Dogan, wieder aufgenommen werden. In seinem Urteil vom 14. Juli 2004 über die
Wiederaufnahme des Verfahrens hob das Kassationsgericht das Urteil des Staatssicher-
heitsgerichts vom 30. März 2004 auf, das die ursprüngliche Verurteilung aufrechterhalten
hatte. Zuvor hatte das Kassationsgericht im Juni 2004 den Vollzug der Verurteilung der
Antragsteller ausgesetzt und auf Antrag des Generalstaatsanwalts ihre Freilassung angeordnet.
Dessen ungeachtet hat die Türkei allerdings noch zahlreiche andere Entscheidungen des
EGMR umzusetzen. Seit Oktober 2003 hat der EGMR 161 Urteile zur Türkei gefällt. In 132
Fällen stellte der Gerichtshof einen Verstoß der Türkei gegen die EMRK fest und 23 Fälle
wurden einvernehmlich beigelegt. In zwei Fällen wurde kein Verstoß der Türkei gegen die
EMRK festgestellt. In diesem Zeitraum wurden an den EGMR 2934 neue Anträge zur Türkei
gestellt.214
Um einen Vergleich anstellen zu können, soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass im
gleichen Zeitraum aus den größeren EU-Mitgliedstaaten zwischen 547 und 3054 Anträge
gestellt wurden; die Anzahl der Urteile bewegte sich zwischen 7 und 98 und die Anzahl der
Verstöße lag zwischen 7 und 73. Der mit der Verfassungsänderung vom Mai 2004 verankerte
Vorrang internationaler Übereinkommen im Bereich der Menschenrechte stärkt die türkische
Justiz darin, die EMRK unmittelbar umzusetzen. Es bleibt mittelfristig zu prüfen, wie sich
diese Änderungen auf die Justiz längerfristig auswirken.
Neben der Anerkennung der internationalen Menschenrechtsabkommen und des EGMR hat
die Türkei seit 1999 zur Förderung und Durchsetzung der Menschenrechte zahlreiche
Gremien eingerichtet, so etwa die Reformüberwachungsgruppe, die Menschenrechts-
präsidentschaft, die Menschenrechtsausschüsse auf und unterhalb der Provinzebene, den
Beratenden Ausschuss für Menschenrechte und mehrere Ermittlungsgremien. Darin zeigt sich
ein neues Konzept für den Aufbau einer konstruktiven Beziehung zwischen Menschen-
rechtsorganisationen und dem türkischen Staat, wenngleich die Wirksamkeit dieser Gremien
bislang noch sehr begrenzt wird.
214 vgl. ebd.
92
Seit Januar 2004 hat die Menschenrechtspräsidentschaft ihre Sensibilisierungsarbeit zu
Menschenrechtsfragen, die Bearbeitung von Klagen und die Lösung konkreter Fälle
intensiviert. Einzelpersonen können nun in Beschwerdebriefkästen ein Formblatt mit einer
Fragenliste in Anlehnung an die EMRK einwerfen und so offiziell Klagen über
Menschenrechtsverletzungen einreichen. Auf lokaler Ebene stieg die Anzahl an
Menschenrechtsausschüssen auf und unterhalb der Provinzebene von 859 auf 931. Gemäß
einer im November 2003 erlassenen Verordnung werden Vertreter der Sicherheitskräfte aus
diesen Ausschüssen entlassen und die stärkere Beteiligung von Vertretern der
Zivilgesellschaft wird erleichtert.215
Die Menschenrechtspräsidentschaft konnte ihre Wirkung jedoch noch nicht im gesamten
Land entfalten. Bei einigen der neu konstituierten Ausschüsse sind keine Anträge
eingegangen und manche haben niemals Zusammenkünfte abgehalten. Offiziellen Statistiken
zufolge reichten 388 Einzelpersonen von Januar bis Juni 2004 Klagen wegen Menschen-
rechtsverletzungen ein. Ihre Klagen bezogen sich unter anderem auf Folter und Misshandlung
sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit. In manchen Fällen wurde die Unabhängigkeit der
Ausschüsse in Frage gestellt, weil in ihnen die Gouverneure den Vorsitz führen und die
Gouverneursverwaltung beteiligt ist.
Seit ihrer Einrichtung im September 2003 hat die Reformüberwachungsgruppe zahlreiche
Menschenrechtsverletzungen geprüft und Einfluss ausgeübt, um konkrete Probleme zu lösen,
die ausländische Botschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen zur Sprache gebracht
haben. Ein weiteres Überwachungsgremium, der Beratende Ausschuss für Menschenrechte,
der sich aus Vertretern der Behörden und der Zivilgesellschaft zusammensetzt, kam häufig
zum Meinungsaustausch zusammen, spielte in der Praxis jedoch nur eine untergeordnete
Rolle.
Der parlamentarische Untersuchungsausschuss für Menschenrechte hat Klagen über
Menschenrechtsverletzungen gesammelt und die zuständigen Behörden aufgefordert, ihnen
nachzugehen und gegebenenfalls Abhilfe zu schaffen. Zwischen Oktober 2003 und Juni 2004
erhielt er 791 Klagen, von denen 322 behandelt wurden. Ferner berät der Ausschuss Bürger, 215ausführlich dazu vgl. Quaisser,Wolfgang; Reppegather, Alexandra: EU-Beitrittsreife der Türkei und Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft, Osteuropa-Institut München, 2004
93
die sich nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs an den EGMR wenden wollen, in
Verfahrensfragen. Der Ausschuss hat zwei Berichte über Fragen im Zusammenhang mit der
Menschenrechtslage abgefasst.
Das Zentrum für die Ermittlung und Bewertung von Menschenrechtsverletzungen bei der
Gendarmerie hat im August 2004 seine Arbeit aufgenommen und 339 Anträge erhalten. Im
Februar 2004 hat das Innenministerium ein Ermittlungsbüro für Menschenrechte eingerichtet,
das unter anderem mit der Kontrolle der Polizeireviere betraut werden soll. Im Hinblick auf
Schulungsmaßnahmen zum Thema Menschenrechte haben die türkischen Behörden
zahlreiche Programme für das entsprechende Personal des Innenministeriums, des
Justizministeriums, der Gendarmerie und der Polizei durchgeführt. Durch die Umsetzung der
gemeinsamen Initiative der Europäischen Kommission und des Europarates konnten 225
Ausbilder geschult werden, die für die Ausbildung von über 9000 Richtern und
Staatsanwälten zuständig sind. Die Menschenrechtspräsidentschaft kam in den Genuss von
Schulungsmaßnahmen zur Förderung des Menschenrechtsbewusstseins.216
In Anerkennung der von der Türkei seit 2001 im Bereich der verfassungs- und
allgemeinrechtlichen Reformen erzielten Fortschritte beendete die Parlamentarische
Versammlung des Europarates das seit 1996 laufende Monitoring-Verfahren über die Türkei.
Die Türkei wird nun einem Post-Monitoring-Verfahren unterzogen, das sich auf einige
Bereiche konzentriert, die unter die Verpflichtungen der Türkei im Rahmen der EMRK fallen.
4.4.8 Zusammenfassende Feststellungen zur Menschenrechtslage
Aufgrund der umfangreichen Reformen seit der Erlangung des offiziellen Status eines
“Beitrittskandidaten” und der entschiedenen Absicht der türkischen Regierung, diese
Reformen auch durchzusetzen, kann man - ohne die Defizite außer Acht lassen zu wollen -
von einer positiven Entwicklung in der Menschenrechtslage in der Türkei sprechen. Zu dieser
positiven Entwicklung hat auch die neue Dynamik beigetragen, die aus dem bestehenden
Prozess in den Türkei-EU-Beziehungen entstanden ist.
216 ebd.
94
Es ist jedoch festzuhalten, dass die Türkei im Bereich der Menschenrechte immer noch
gewisse Defizite aufweist, die behoben werden müssen, um europarechtskonformen
Anforderungen zu genügen. Es ist richtig, dass trotz einer Reihe von beschlossenen Gesetzes-
und Verwaltungsmaßnahmen von Zeit zu Zeit Behauptungen von Folter erhoben werden.
Man muss in diesem Zusammenhang allerdings in Betracht ziehen, dass die am 3. November
2002 gewählte neue türkische Regierung erklärt hat, dass allen Foltervorwürfen mit “Null-
Toleranz” nachgegangen wird. Parallel zu dieser entschiedenen Haltung werden inzwischen
weit weniger Folterbehauptungen registriert als in den Jahren davor.217 Andererseits stimmen
auch Befürworter der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in ihren Analysen mit den
Gegnern einer Vollmitgliedschaft darin überein, dass die Türkei zum gegenwärtigen
Zeitpunkt noch nicht als in jeder Weise funktionierende liberale Demokratie bezeichnet
werden kann. Besonders gravierende Probleme werden übereinstimmend auf folgenden
Feldern gesehen:
� In den fortbestehenden Defiziten in der Gesetzgebung: Noch immer lasse das
vorherrschende Verständnis von ‚nationaler Sicherheit’ gesetzliche Regelungen im
Bereich der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheitsrechte zu, die demokratischen
Mindeststandards nicht entsprächen.
� In eben diesem Verständnis von ‚nationaler Sicherheit’ als Ursache für die nach wie
vor unverhältnismäßig gewichtige Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft.
� Bei der Bekämpfung von ‚separatistischem Terror’ und ‚islamischem Reaktionismus’
werde der als legitim angesehene Aktionsraum des Militärs überaus weit definiert.
Dabei wird aber gleichzeitig konzediert, dass die eingeleiteten Reformen, insbe-
sondere das sogenannte 7. Reformpaket vom Juli 2003, geeignet seien, eine zivile
Kontrolle des Militärs durchzusetzen.
� In der nach wie vor beträchtlichen Kluft zwischen den legislativen Anstrengungen zur
Verbesserung des Menschenrechts- und Minderheitenschutzes und der geübten
Rechtspraxis: Richter und Staatsanwälte ließen sich in der Rechtspflege häufig noch
von den überkommenen Vorstellungen des absoluten Staatsschutzes leiten. Die
fortdauernde Praxis von Folter und unmenschlicher Behandlung im Polizeigewahrsam 217 Eine Tatsache, auf die in den aktuellen Berichten der Menschenrechtsorganisationen und –institutionen, u. a. des Anti-Folter-Komitees des Europarates, hingewiesen wird.
95
sei für die Aktivitäten der Sicherheitsorgane noch immer charakteristisch. Die Türkei
habe zwar bereits im Jahre 1934, früher als viele andere europäische Staaten, das
Frauenwahlrecht eingeführt, dennoch entspräche die rechtliche und gesellschaftliche
Stellung der türkischen Frau noch nicht dem EU-Standard.218
Aus der Sicht des Forum Menschenrechte ist die Menschenrechtslage in der Türkei nach
wie vor sehr besorgniserregend: „In der Türkei wurden in den vergangenen Jahren wichtige
Gesetzesänderungen im Menschenrechtsbereich vorgenommen, so zum Beispiel die Ab-
schaffung der Todesstrafe und die Verkürzung der Polizeihaft. Gleichwohl gibt es nach wie
vor immer wieder Folterungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen. Es fehlen
wirksame Schritte um das Folterverbot in der Praxis durchzusetzen und folternde Polizisten
zur Verantwortung zu ziehen. Auch Gesetzesänderungen, die den Spielraum für politische
Meinungsäußerungen und die Akzeptanz anderer als der türkischen Sprache in der
Gesellschaft erweitern sollen, sind bisher unzureichend geblieben. Vor allem Menschen-
rechtler und Angehörige kurdischer Parteien und Organisationen sind nach wie vor in
großem Umfang mit politischen Prozessen konfrontiert und von Haftstrafen bedroht. Solange
sich die Türkei nicht vom Verfassungsprinzip des Nationalismus verabschiedet, der in der
Praxis alle Staatsbürger ausgrenzt, die nicht türkischer Muttersprache und sunnitisch-
islamischer Religionszugehörigkeit sind, kann in der Türkei von einer Gleichbehandlung aller
Staatsbürger nicht ausgegangen werden. Jüngste Gesetzesänderungen im Hinblick auf die
Verbesserung der Lage der nichtmuslimischen Minderheiten haben bislang keine praktische
Umsetzung erfahren und insbesondere keine Antwort auf die Frage der rechtlichen
Anerkennung dieser Religionsgemeinschaften gegeben. Als noch weitaus kritischer ist die
Lage der muslimischen Aleviten – der größten religiösen Minderheit der Türkei – zu sehen,
der weiterhin jegliche Anerkennung versagt bleibt.“219
Auch amnesty international weist in seinem jüngsten Memorandum an den türkischen
Ministerpräsidenten anlässlich des Besuches einer Delegation der Organisation im Februar
2004 auf die noch immer bestehende Kluft zwischen Reformgesetzgebung und Rechtspraxis
hin und führt aus, dass wirklicher und grundlegender Fortschritt beim Schutz der Menschen-
218 Menschenrechte sind die Messlatte - Stellungnahme des FORUM MENSCHENRECHTE zur Diskussion um die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vom 11. März 2004 219 ebd.
96
rechte in der Türkei unverzichtbar voraussetze, „dass der gegenwärtige Elan von allen
staatlichen Akteuren und allen Teilen der Gesellschaft verinnerlicht wird; es muss wesentlich
mehr werden als die Erfüllung von außen auferlegter Kriterien. Die bisherigen Reformen
waren ermutigend, aber tatsächlicher Wandel wird sich nur einstellen, wenn sie vollständig
und nachhaltig eingesetzt werden.“220
Die Schlüsse, die Gegner und Befürworter aus dieser Situationsbeschreibung ziehen, sind
diametral. Die Befürworter der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen weisen darauf hin, dass
sich in der Türkei seit Herbst 2001 im innenpolitischen Kampf die reformbereiten Kräfte, die
hinter dem EU-Beitritt ihres Landes stehen, immer wieder eindeutig gegen die Bewahrer des
Status quo durchgesetzt hätten. Sie halten es für wichtig, diesen Trend durch die Eröffnung
einer konkreten Beitrittsperspektive weiter zu stützen. Es steht zu erwarten, dass sich im
Verlauf der stabilen Weiterentwicklung der Türkei-EU-Beziehungen hin zu einer möglichen
Vollmitgliedschaft die Lage im Bereich der Menschenrechte sowohl rechtlich als auch
tatsächlich weiter verbessern wird.
220ausführlich dazu vgl. amnesty international – Türkei: Memorandum an den türkischen Minister-präsidenten anlässlich des Besuchs einer Delegation unter Leitung von Irene Khan, Generalsekretärin von amnesty international, Februar 2004 (AI Index: 44/001/2004). Deutsche Übersetzung durch die Türkei-Koordinationsgruppe.
97
KAPITEL 5: Die Beitrittsverhandlungen auf Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union
Mit den insbesondere seit dem Jahr 2001 durch die türkische Regierung angegangenen
rechtspolitischen Reformen, deren zentrale Inhalte in Kapitel 4 untersucht wurden,
untermauerte die Türkische Republik die Ernsthaftigkeit ihres jahrzehntelangen politischen
Bestrebens, vollberechtigtes Mitglied der Europäischen Union zu werden. Auch aufgrund der
weitgehenden Erfüllung der ökonomischen Vorgaben der Gemeinschaft soll der aus
türkischer Sicht bestehende Anspruch auf Vollmitgliedschaft mit der reformistischen Politik
zügig realisiert werden. Dieses Kapitel widmet sich der Untersuchung der aktuellen
Beitrittsreife im Rahmen europäischer Prioritäten und der Frage der politischen Bedeutung
eines Türkeibeitritts, und zwar nicht nur in bilateraler, sondern auch internationaler Hinsicht.
5.1 Bericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004 als
Entscheidungsgrundlage
Der Europarat als legislatives Gremium der Gemeinschaft hat mit Einstimmigkeit aller
Mitgliedsstaaten über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu entscheiden. Dem
vorgeschaltet war die Beitrittspartnerschaft mit der Türkei, die von den regelmäßigen
jährlichen Berichten der EU-Kommission begleitet waren, um die Reformfortschritte unter
politischen, rechtlichen und ökonomischen Gesichtspunkten zu dokumentieren. Die EU-
Kommission hat deshalb am 6. Oktober 2004221 ihren mit Spannung erwarteten Bericht zum
Reformprozess der Türkei vorgelegt. Sie stellte darin im Wesentlichen fest, dass Ankara die
politischen Kriterien von Kopenhagen in ausreichendem Maße erfüllt und empfiehlt ihrerseits
die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, allerdings unter strikten Auflagen. Die Gründe für
diese Bewertung der Kommission mit Blick auf die Erfolge und Defizite, die bei der
Umsetzung der rechtlichen und politischen Reformen in der vergangenen Periode zu Tage
traten, sind daher zu untersuchen.
221 Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt 2004, Brüssel, 06.10.2004, siehe unter http://www.europa.eu.int/comm/enlargement/report_2004/pdf/tr_recommandation_de.pdf
98
Die Kommission bescheinigt der Türkei in der Empfehlung wesentliche Fortschritte bei den
politischen Reformen: So etwa bei der Rede- und Meinungsfreiheit, den Frauen- und
Minderheitenrechten, der Rechtstaatlichkeit oder der zivilen Kontrolle des Militärs. Zugleich
betont der Bericht aber auch, dass – trotz aller Verbesserungen – gerade in der Praxis weiter
Defizite bestünden. Entsprechend unterstreicht die EU-Kommission: „Die Unumkehrbarkeit
des Reformprozesses, seine Umsetzung, insbesondere im Hinblick auf die Grundfreiheiten,
müssen sich über einen längeren Zeitraum bestätigen.“ 222
Zugleich macht der Bericht deutlich, dass es keinen Beitrittsautomatismus gebe. Eine
Aufnahme der Türkei in die EU sei das Ziel, aber prinzipiell sei der Ausgang eventueller
Verhandlungen offen. Für das weitere Vorgehen schlägt die Kommission eine Drei-Säulen-
Strategie vor. Diese beinhaltet zum einen eine verstärke Zusammenarbeit, um den
Reformprozess in der Türkei zu unterstützen – vor allem hinsichtlich der politischen Kriterien
von Kopenhagen 1993. Zum zweiten eine spezifische Herangehensweise an die Verhand-
lungen, die sich an den besonderen Herausforderungen eines möglichen Türkei-Beitritts
orientieren soll. Konkret gemeint sind damit etwa lange Übergangsfristen, Sonderregelungen
bei der Agrar- und Strukturpolitik oder Schutzklauseln bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Als
dritte Säule sieht die Kommission einen „wesentlich verstärkten politischen und kulturellen
Dialog vor, der Menschen aus der EU und der Türkei zusammenbringt“.223
Der Bericht über den Fortschritt der türkischen Reformbemühungen wurde von EU-
Erweiterungskommissar Günter Verheugen und Kommissionspräsident Romano Prodi in
Brüssel vorgelegt. Verheugen hatte bereits grundsätzlich seine Zustimmung zu Beitrittsver-
handlungen mit der Regierung in Ankara signalisiert. Festzuhalten ist, dass die Kommission
mit ihrer Empfehlung anerkennt, dass die Türkei angesichts des Fortschritts bei ihren
Reformen "den politischen Kriterien ausreichend genügt", so dass Beitrittsverhandlungen
aufgenommen werden können. Die endgültige Entscheidung über die Aufnahme von
Beitrittsgesprächen mit der Türkei wurde sodann am 17.12.2004 im Europäischen Rat gefällt.
Entsprechend den Empfehlungen der EU-Kommission wurde beschlossen, am 3. Oktober
2005 mit den Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Für die Türkei wird dies – trotz der 222 vgl. Kommissionsbericht 2004, S. 18 ff. 223 vgl. ebd.
99
österreichischen Interventionsversuche - als ein weiterer Meilenstein im EU-
Integrationsprozess gesehen, obwohl seitens der EU ausdrücklich darauf hingewiesen wurde,
dass damit keine Garantie für eine Vollmitgliedschaft verbunden sei.
5.2 Politische Bewertung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei
Nach den sozioökonomischen und politischen Unternehmungen der Türkischen Republik im
Verlauf der letzten vierzig Jahre stellt sich die Frage, wie ein Beitritt der Türkei als
vollberechtigtes Mitglied der Europäischen Union politisch zu bewerten ist.
Festgestellt werden kann jedenfalls, dass ein Beitritt der Türkei sowohl für die Union als auch
für die Türkei selbst mit ernsthaften Herausforderungen, aber auch mit beachtlichen
Möglichkeiten und Vorteilen verbunden wäre. Überdies müssen die Kosten einer
Verweigerung des türkischen Beitrittswunsches und andere negative Folgen in Betracht
gezogen werden.
Die Aufnahme der Türkei in die EU würde unstreitig den unleugbaren Beweis erbringen, dass
Europa kein exklusiver „christlicher Club“ ist. Sie würde gesellschaftlich bestätigen, dass es
sich bei der Union um eine tolerante Gesellschaft handelt, die ihre Stärke aus der Vielfalt
bezieht und die mit gemeinsamen westlichen Werten von Freiheit, Demokratie, Rechts-
staatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte verbunden ist. In der großen kulturellen
Debatte des 21. Jahrhunderts, welche allzu oft von Ignoranz und Vorurteilen geprägt ist und
von kriminellen Phänomenen wie dem internationalem Terrorismus attackiert wird, könnte
ein multiethnisches, multikulturelles und multireligiöses Europa die kraftvolle Botschaft an
den Rest der Welt senden, dass der „Kampf der Kulturen“ nicht das unentrinnbare Schicksal
der Menschheit ist. Europa könnte zum Alternativmodell zu der von radikalen Islamisten
propagierten exklusiven Rolle in den Beziehungen zwischen dem „Westen“ und der
islamischen Welt werden. Die Union würde viel Respekt und Glaubwürdigkeit in der Welt
gewinnen und ihren Einfluss stärken.
100
Die vorrangig stehenden wirtschaftlichen Interessen Europas an einer Erweiterung bleiben
dabei sicherlich nicht unbeachtet, gleichwohl kann für Europa auch außerhalb dieser Sphären
ein weltpolitischer Vorteil konstatiert werden.
Es ist zwar richtig, dass die Erfahrungen der Türkei einmalig sind, aufgebaut auf ver-
schiedensten kulturellen Wurzeln, auf Jahrzehnte andauernder westlicher Orientierung und
Atatürks revolutionärer Transformation des Landes in eine säkulare Demokratie; dies kann
nicht einfach auf andere islamisch geprägte Länder übertragen werden. Die erfolgreiche
Einbeziehung der Türkei in den europäischen Integrationsprozess würde der islamischen Welt
jedoch zeigen, dass es in der Tat möglich ist, Antworten auf das Dilemma der Vereinbarkeit
religiöser Überzeugungen und Traditionen mit den univer-sell akzeptierten Prinzipien
moderner Gesellschaften zu finden.
Zu einer Zeit, in der die Europäische Union es fortwährend anstrebt, größeren Einfluss in der
Weltpolitik zu übernehmen, würde der Beitritt der Türkei die Fähigkeiten der Union als
außenpolitischer Akteur erheblich stärken. Sowohl die Sicherheitsstrategie der EU, „Ein
sicheres Europa in einer besseren Welt“ (verabschiedet im Dezember 2003) als auch das
Konzept einer „Neuen Nachbarschaftspolitik“, welches von der Europäischen Kommission
und dem Europäischen Parlament entwickelt wurde, betonen die Bedeutung der südlichen
Peripherie für die europäische Sicherheit und unterstreichen die Notwendigkeit, politische
Stabilität in die Nachbarstaaten des Kontinents zu projizieren.
Sie stellt die Grundlage dafür dar, der Europäischen Union sukzessive neue Warenmärkte
nach bereits im Westen praktiziertem Leitbild zu eröffnen und deren Regeleinhaltung von
potenziellen Neukandidaten zu fordern. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage würde die
Türkei den außenpolitischen Bemühungen der Union in so wichtigen Regionen wie dem
Mittleren Osten, dem Mittelmeerraum, Zentralasien und dem Kaukasus neue wirtschaftliche
Dimensionen verleihen.
Im Mittleren Osten, einer Gegend von besonderem Interesse für Europa, sowohl aus
historischen Gründen, als auch aufgrund seines Einflusses auf die europäische Sicherheit, hat
die Union viel an Profil und Status zu gewinnen. Obwohl sie der wichtigste Lieferant von
Hilfe für die Palästinenser ist und kommerzielle Beziehungen mit Israel und den arabischen
101
Staaten unterhält, hat die Union bisher nur eine bescheidene Rolle in der Suche nach einer
Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts gespielt. Die Türkei pflegt gute
Beziehungen mit beiden Seiten und genießt Glaubwürdigkeit sowohl in Israel wie auch in der
arabischen Welt. Ihre Mitgliedschaft würde ohne Zweifel das Gewicht der Union im Mittleren
Osten stärken, was den gemeinsamen Bemühungen um Frieden und Stabilität in dieser
kritischen Region nutzen könnte.
Ähnliche Möglichkeiten erhöhter europäischer Einflussnahme bieten sich im Schwarz-
meergebiet, im Kaukasus und in Zentralasien, wo die Europäische Union in der Ver-
gangenheit Zurückhaltung geübt hat, während die Türkei aufgrund ihrer geographischen
Lage, ihrer Kultur, Religion und Sprache aktiv aufgetreten ist.
Generell ist zu erwarten, dass ein türkischer Beitritt für die langfristig angestrebten
ökonomischen Ziele zu einer Stärkung der EU-Politik gegenüber dem Süden führen würde.
Dies sollte nicht unbedingt nur mit Gefahren und Risiken assoziiert werden. Dies kann auch
eine Chance bedeuten. Das manchmal geäußerte Argument, eine türkische Mitgliedschaft
würde Europa in die Konflikte des Mittleren Ostens hineinziehen, ist unter keinem
Blickwinkel überzeugend. Die Entwicklungen in dieser turbulenten Region haben in jedem
Fall tief greifende Auswirkungen auf Europas Stabilität und Sicherheit, gleichgültig, ob die
EU direkte Grenzen mit Ländern wie dem Irak, Iran oder Syrien hat oder nicht. Die Türkei, in
der Mitte der eurasischen Region gelegen und als westlicher Pfeiler im größeren Mittleren
Osten, kann von bedeutendem Vorteil für die europäische Außenpolitik in dieser Region sein,
um Hegemonialansprüche abzuleiten und – um es vorsichtig auszudrücken – einen Gegenpol
zur Stellung der USA in dieser Region aufzubauen.
Für die im Aufbau befindliche Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)
wären die beträchtlichen militärischen Kapazitäten der Türkei und das Potenzial des Landes
als Stützpunkt wichtige und dringend benötigte Vorteile. Über die Jahre hinweg hat die
Türkei Beiträge zu internationalen Friedensoperationen geleistet, einschließlich jenen in
Kroatien, Bosnien-Herzegowina sowie im Kosovo, und nahm an Militär- und Polizei-
missionen unter EU-Führung in Mazedonien teil. Bis Dezember 2002 führte sie die
internationale Schutztruppe für Afghanistan.
102
Darüber hinaus hat sich die Türkei aktiv an den Arbeiten des Konvents für die Zukunft
Europas beteiligt und ist hierbei im Besonderen für eine Steigerung der Effizienz der ESVP
und ihrer Fähigkeit eingetreten, mit den heutigen Herausforderungen im Bereich der
internationalen Sicherheit fertig zu werden. Als einer der stärksten NATO–Partner, mit einer
klaren Orientierung zur ESVP, dürfte die Türkei von großem Wert für das europäische
Verteidigungssystem sein. Für die Union kann deshalb festgestellt werden, dass eine
Integration ihren Einflussraum nach den vorangegangenen und von der Türkei im
Wesentlichen verwirklichten Prämissen erheblich erweitert, und zwar in ökonomischer,
politischer, geostrategischer und militärischer Weise.
Für die Türkei würde eine Integration sicherlich eine vollständige Unterordnung in die
politische Ökonomie der Gemeinschaftsstaaten bedeuten, woraus sie sich eine Steigerung
nationalen Reichtums und weltpolitischer Anerkennung erhofft. Seitdem feststeht, dass sich
die Grenzen der EU auf Osteuropa ausdehnen, haben ausländische Unternehmen die Türkei
zunehmend als lukrativen Investitionsstandort entdeckt. Letztendlich würde die Aufnahme die
Zielerreichung jahrzehntelanger türkischer Politik in die Gemeinschaft westlicher Staaten
bedeuten, mit der sie sich neuen wirtschaftlichen, politischen und strategischen Heraus-
forderungen stellt. Es bleibt gleichwohl abzuwarten, wer schlussendlich Nutznießer dieser
Vereinigung ist.
103
KAPITEL 6: ZWISCHENERGEBNIS
In der Türkei ging es seit dem Gipfel von Helsinki 1999 vor allem darum, die relevanten
politischen Akteure und die türkische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die
Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union so realistisch ist, dass sie die Kosten
rechtfertigt, die mit der Erfüllung der politischen Kriterien von Kopenhagen, verbunden mit
fundamentalen Veränderungen im türkischen Staatsverständnis und in der Machtkonstellation
der wesentlichen Akteure, zusammenhängen. Für zahlreiche Anhänger eines türkisch-national
und staatszentristisch verstandenen Kemalismus stellen gerade die mit dem Beitritt
verbundenen politischen Bedingungen der EU nicht akzeptable Veränderungen im politischen
Selbstverständnis der kemalistischen Republik dar. Der in den Kopenhagener Kriterien zum
Ausdruck kommende liberal-demokratische Grundsatz vom Vorrang des Bürgers und seiner
Interessen vor dem Staat und der Gemeinschaft stößt sich an der herrschenden türkischen
Doktrin vom Vorrang der Einheit der eigenen Nation vor den Interessen des Individuums und
seiner gesellschaftlichen Organisationen.
Dieses Dilemma der scheinbar schwierigen Vereinbarkeit von EU-Orientierung einereits und
Staatsdoktrin andererseits spiegelte sich auch bisher in der Politik der türkischen Führung
nach dem Gipfel von Helsinki wider. Mit Ausnahme der Mutterlandspartei (ANAP) von
Mesut Yilmaz gab es in allen Parteien der regierenden 3-Parteien-Koalition Kräfte, die einem
bedingungslosen Eingehen auf die Forderungen der EU mit erheblicher Skepsis gegen-
überstanden. Sie hatten außerhalb des Parlaments Verbündete in Kreisen der Militärführung,
der hohen Staatsbürokratie einschließlich der Justiz, und in einigen Fällen auch in
Staatspräsident Ahmet N. Sezer. Dieser wies mehrfach Reformgesetze, die aus seiner Sicht
nicht im Einklang mit den kemalistischen Grundsätzen der Verfassung standen, zur erneuten
Beratung an das Parlament zurück.
Der endgültige Durchbruch für die „Europäisierung“ der Türkei im Sinne der EU-
Konditionalität kam - nach Heinz Kramer - mit den Neuwahlen vom 2. November 2002, die
zu einer völligen Umgestaltung der politischen Landschaft führten. Gegenwärtig sind im
Parlament nur noch Parteien vertreten, welche die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien
104
uneingeschränkt befürworten. Skeptiker aus der Militärführung und im Staatsapparat haben
somit ihren parlamentarischen Einfluss weitestgehend verloren.
Der Widerstand gegen die Politik der „Europäisierung“, wie sie von der AKP-Regierung seit
ihrem Amtsantritt betrieben wird, wird zudem dadurch erschwert, dass eine konstante
Mehrheit von weit über 50 Prozent der Bevölkerung einen türkischen EU-Beitritt und die
darauf gerichtete Politik befürwortet. Seit Anfang 2002 hat sich gleichfalls eine breite Allianz
von 175 Nichtregierungsorganisationen (NGO) formiert, die innerhalb wie außerhalb der
Türkei für die Beitrittspolitik wirbt. In ihr sind sowohl Menschenrechtsorganisationen als
auch Industrieverbände vertreten. Auf dieser Basis konnte die AKP-Regierung die bereits
Anfang August 2002 unter eher turbulenten innenpolitischen Verhältnissen mit der
Verabschiedung des 3. Harmonisierungsaketes eingeleitete Verstärkung der „Euro-
päisierungspolitik“ uneingeschränkt fortsetzen. Dies zeigte sich vor allem im überarbeiteten
„Nationalen Programm“ vom Juli 2003, das als Reaktion auf die Fortschreibung des
Dokuments über die Beitrittspartnerschaft seitens der EU alle wesentlichen Vorbehalte der
EU aufgriff und zu von der Türkei zu erledigenden Aufgaben erklärte.
Der mit dem Erfolg der AKP eingeleitete politische Strukturwandel im konservativen Lager
durch eine dauerhafte Versöhnung der islamischen Tradition der breiten Massen mit den
Werten, Prozessen und Institutionen europäisch-liberaler Demokratie ist an den langfristigen
Erfolg der „Europäisierung“ geknüpft. Klargestellt werden muss aber, dass die Türkische
Republik noch erhebliche Anstrengungen unternehmen muss, um die Forderungen der
Beitrittspartnerschaft tatsächlich erfüllen zu können, im Kern die Einhaltung der
Menschenrechte und die europäischen Grundfreiheiten ohne jede Art von Diskriminierung
und unabhängig von der Sprache der Bürger in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu
vollziehen. Dazu gehört nach Auffassung der EU unter anderem die Verbesserung der Lage
im Südosten der Türkei bezüglich einer Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Chancen aller Bürger. Es ist notwendig, dass die AKP-Regierung in allen Fragen,
welche die kurdische Bevölkerung betreffen, eine ähnlich hartnäckige und eindeutige
öffentliche Position bezieht, wie sie es mit Blick auf die Folterproblematik tut.
Was die Beziehungen zwischen der Zivilgewalt und dem Militär betrifft, so hat die Regierung
ihre Kontrolle über das Militär auch nach den Feststellungen der Kommission zunehmend
105
behauptet. Im Interesse einer transparenteren Haushaltsführung wurde dem Rechnungshof
gestattet, Militär- und Verteidigungsausgaben zu prüfen. Außerbudgetäre Fonds wurden in
den allgemeinen Haushalt eingegliedert, so dass nun eine uneingeschränkte parlamentarische
Kontrolle möglich ist. Im August 2004 wurde erstmals ein Zivilist zum Generalsekretär des
Nationalen Sicherheitsrats mit zugleich geringeren Kompetenzen bestellt, was ein Novum in
der türkischen Geschichte ist und den politischen Einfluss des Militärs verringerte. Der
Prozess der vollständigen Angleichung der Beziehungen zwischen Zivilsphäre und Militär an
die Praxis der EU ist feststellbar im Gange; dennoch darf nicht verkannt werden, dass die
Streitkräfte in der Türkei nach wie vor über eine Reihe informeller Mechanismen Einfluss
ausüben.
Auch die Unabhängigkeit und Effizienz der Justiz wurden gestärkt, die Staats-
sicherheitsgerichte schlussendlich abgeschafft und einige ihrer Zuständigkeiten den neu
geschaffenen Gerichten für schwere Straftaten übertragen. Unlängst wurden die
Rechtsgrundlagen für die Einrichtung von Berufungsgerichten geschaffen, doch der Entwurf
einer grundlegend neuen Strafprozessordnung und die Gesetzentwürfe bezüglich der
Einrichtung der Kriminalpolizei und des Strafvollzugs mit fundamentalen Änderungen warten
noch auf ihre Verabschiedung.
Der politische Wandel und die Änderungen im Rechtssystem der Türkei in den letzten drei
Jahren sind Teil eines längeren Prozesses und es wird einige Zeit dauern, bis sich der Geist
der Reformen in der Haltung der Exekutive und der Justizbehörden auf allen Ebenen
landesweit widerspiegelt. Um die offenen Herausforderungen anzugehen und die
bürokratischen Hürden zu nehmen, bedarf es ungebrochener Entschlossenheit. Was den
allgemeinen Rahmen für die Einhaltung der Menschenrechte und die Wahrnehmung der
Grundfreiheiten betrifft, so ist die Türkei den wichtigsten internationalen und europäischen
Übereinkommen beigetreten und hat das Prinzip des Vorrangs dieser internationalen
Menschenrechtsübereinkommen vor dem nationalen Recht in seiner Verfassung verankert.
Seit 2002 bemüht sich die Türkei verstärkt um den Vollzug von Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Höhere Justizinstanzen wie das
Kassationsgericht haben in einigen Entscheidungen die Reformen entsprechend den Standards
106
des Europäischen Gerichtshofs ausgelegt, darunter Fälle im Zusammenhang mit dem
Gebrauch der kurdischen Sprache, mit Folter und Meinungsfreiheit.
Gleichwohl kann noch nicht davon gesprochen werden, dass sich die Reformen bereits auf
breiter Front im Bewusstsein der Ordnungsbehörden und der Justiz niedergeschlagen hätten.
Ein besonders hervorstechendes Beispiel der herrschenden Unklarheit bot das Wieder-
aufnahmeverfahren gegen Leyla Zana und drei weitere frühere Abgeordnete der
prokurdischen Demokratiepartei (DEP). Sie waren 1994 wegen Unterstützung einer
separatistischen Organisation zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das
Prozessverfahren wie auch das Urteil wurden vom EGMR als nicht mit den Normen der
EMRK im Einklang stehend gerügt. Die durch die türkischen Reformgesetze ermöglichte
Wiederaufnahme führte im April 2004 zur Bestätigung des Urteils durch das zuständige
Staatssicherheitsgericht. Doch wurde dieses Urteil vom Kassationshof am 14. Juli 2004 mit
der Begründung aufgehoben, dass auch das neue Verfahren nicht den vom EGMR gesetzten
Normen und der neuen türkischen Rechtslage entsprochen hätte mit der Folge, dass die
Angeklagten auf freien Fuß gesetzt wurden.
Es bleibt abzuwarten, ob die mit den Verfassungsänderungen vom Mai 2004 beschlossene
Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte und ihre Ersetzung durch besondere Strafkammern
zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung auf der Grundlage der beschlossenen
Reformen führt. Das dürfte umso eher der Fall sein, wenn das neu verabschiedete
Strafgesetzbuch in seinem Wortlaut möglichst wenig Anklänge an die umstrittenen Para-
graphen des alten Textes aufweist. Auch die seit Beginn 2004 deutlich verstärkte Menschen-
rechtsschulung von nahezu 10000 Richtern und Staatsanwälten durch das Justizministerium
im Rahmen eines von der EU unterstützten Programms zeigt den Willen der AKP-Regierung,
die Reformen nicht nur auf dem Papier zu belassen.
Als der Europäische Rat im Dezember 1999 beschloss, die Türkei als Beitrittskandidaten
einzustufen, vertrat er die Auffassung, dass die Türkei über die Grundmerkmale eines
demokratischen Systems verfügt, zugleich aber ernsthafte Defizite bei den Menschenrechten
und beim Minderheitenschutz aufweist. Im Jahr 2002 stellte die Kommission in ihrem
Regelmäßigen Bericht fest, dass der Status als Kandidatenland die Türkei ermuntert hat,
107
merkliche Fortschritte bei der Annahme einer Reihe grundlegender, doch nach wie vor
begrenzter Reformen zu machen. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die meisten Maßnahmen
noch umgesetzt werden mussten und dass viele andere Fragen, die zur Einhaltung der
politischen Kriterien von Kopenhagen erforderlich sind, erst noch angegangen werden
mussten. Auf dieser Grundlage beschloss der Europäische Rat im Dezember 2002, Ende 2004
erneut zu prüfen, ob die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt, was
bekanntermaßen zur Entscheidung über die Aufnahme zu Beitrittsverhandlungen ab
03.10.2005 führte. Im Zuge einer Reihe verfassungs- und allgemeinrechtlicher Änderungen
wurden über drei Jahre hinweg (2001-2004) rechtspolitische Reformen im Einklang mit der
Beitrittspartnerschaft durchgeführt. Es gab zwei große Verfassungsreformen 2001 und 2004
sowie acht Legislativpakete, die das Parlament zwischen Februar 2002 und Juli 2004
verabschiedet hat.
Ferner wurden neue Gesetzbücher verabschiedet, darunter ein Zivilgesetzbuch und ein neues
Strafgesetzbuch. Durchführungsbestimmungen zu diesen Reformen wurden in Form
zahlreicher anderer Gesetze, Verordnungen, Dekrete und Rundschreiben erlassen. Vor Ort
ergriff die Regierung Maßnahmen, um die Reformen besser umsetzen zu können. Die
Reformüberwachungsgruppe, ein Gremium unter Vorsitz des für Menschenrechte zuständigen
Vizepremierministers, wurde eingerichtet, um die Reformen auf breiter Ebene zu überwachen
und praktische Probleme zu lösen. Auch vor Ort kam es zu bedeutenden Fortschritten,
wenngleich die Umsetzung der Reformen immer noch uneinheitlich verläuft.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Türkei auf vielen Gebieten mit weiteren
Reformpaketen, Verfassungsänderungen und der Verabschiedung eines neuen Strafgesetz-
buchs bei der Rechtsetzung deutlich in Richtung EU vorangekommen ist. Trotz großer
Fortschritte bei der Umsetzung der politischen Reformen bedarf es zur Einhaltung der
europäischen Konditionalität weiterer Konsolidierung und Ausweitung. Das gilt für die
Stärkung und vollständige Umsetzung der Bestimmungen über die Achtung der
Grundfreiheiten und den Schutz der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Frau,
Minderheitenrechte und die Probleme der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften.
108
Andererseits zeigen die Aufhebung der ermäßigten Strafvorschriften für so genannten
„Ehrenmorde“ im 6. Harmonisierungspaket vom Juni 2003 sowie der jüngste Bericht von
Amnesty International über Gewalt gegen Frauen in der Türkei, dass gerade in den kurdischen
Provinzen des Landes immer noch Gesellschaftsstrukturen und Wertesysteme eine große
Rolle spielen, die mit den Notwendigkeiten der "Europäisierung" nicht im Einklang stehen
und die nicht als Folge einer verfehlten Kurdenpolitik Ankaras anzusehen sind. Das zum
01.04.2005 in Kraft getretene neue Türkische Strafgesetzbuch kann hier wesentliche
rechtliche Voraussetzungen für eine nachhaltige Änderung schaffen, indem jegliche
Zugeständnisse an unzeitgemäße gesellschaftliche Traditionen unterbleiben und die schon bei
der Verabschiedung des neuen Zivilrechts 2001 betonte rechtliche Gleichstellung der
Geschlechter auch im Strafrecht ihren Niederschlag findet. Dann kommt es "nur noch" darauf
an, dass der Staat die ihm mit der jüngsten Verfassungsänderung vom Mai 2004 auferlegte
Verpflichtung ernst nimmt, diese Gleichstellung auch in der Praxis durchzusetzen.
Was die bürgerlichen und politischen Rechte der Bevölkerung betrifft, so wurde der
Grundsatz der Geschlechtergleichheit zivil- und verfassungsrechtlich jedenfalls gestärkt. Im
Rahmen des neuen Strafgesetzbuchs können Personen, die „Ehrenmorde“ verüben, zu
lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt werden, Jungfräulichkeitstests ohne gerichtliche
Anordnung wurden untersagt und sexuelle Gewalt in der Ehe wurde zum Straftatbestand
deklariert. Dennoch ist die Lage der Frauen unbefriedigend; Diskriminierungen und Gewalt
gegen Frauen und auch „Ehrenmorde“ bleiben nach wie vor ein großes Problem. Was den
Minderheitenschutz und die Ausübung der kulturellen Rechte anbelangt, so wurde die
Verfassung geändert, um das Verbot des Gebrauchs des Kurdischen und anderer Sprachen
aufzuheben. Unlängst haben im Südosten der Türkei mehrerer kurdische Sprachschulen
eröffnet. Rundfunk in Kurdisch und anderen Sprachen und Dialekten ist inzwischen gestattet
und es wurden bereits, wenngleich in begrenzt zugelassenem Ausmaß, Sendungen
ausgestrahlt. Der Ausdruck der kurdischen Kultur in allen ihren Formen stößt mittlerweile auf
mehr Toleranz. Die im Bereich der kulturellen Rechte eingeleiteten Maßnahmen stellen
deshalb lediglich einen Beginn dar. Nach wie vor gibt es insbesondere im Bereich des
Rundfunks und der Ausbildung in Minderheitensprachen erhebliche Einschränkungen.
109
Der über 15 Jahre in einigen Provinzen im Südosten geltende Ausnahmezustand wurde 2002
vollständig aufgehoben. Bestimmungen, die während des Ausnahmezustands zur
Einschränkung der Rechte während der Untersuchungshaft herangezogen wurden, wurden
geändert. Die Türkei hat mit vielen internationalen Organisationen und auch mit der
Europäischen Kommission einen Dialog über die Frage der Binnenvertriebenen aufge-
nommen. Ein Gesetz über den Ausgleich der Verluste aus Terroranschlägen wurde verab-
schiedet. Obwohl Arbeiten zur Formulierung eines systematischen Konzepts für die Region
im Gange sind, wurde noch keine integrierte Strategie im Hinblick auf den Abbau der
regionalen Disparitäten und die Deckung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Bedürfnisse der Lokalbevölkerung angenommen. Die Rückkehr der Binnenvertriebenen in
den Südosten hielt sich in Grenzen und wurde durch das System der Dorfschützer sowie
durch mangelnde materielle Unterstützung behindert. Weitere Maßnahmen sollten gezielt die
Empfehlungen des Sonderbeauftragten für Vertriebene des UN-Generalsekretärs aufgreifen.
Die Europäische Kommission bescheinigte der Türkischen Republik gleichfalls Fortschritte in
der Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung im Polizeigewahrsam oder
durch andere staatliche Sicherheitsorgane. Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Gül,
der einem interministeriellen Ausschuss zur Überwachung der Reformumsetzung vorsteht,
werden nicht müde zu betonen, dass die AKP "Null Toleranz" gegen Folter und Folterer übe.
Diese deutliche Sprache ist notwendig, denn dieses Vergehen war bisher einer der häufigsten
und deutlichsten Kritikpunkte an der Menschenrechtslage in der Türkei. Weitere
Anstrengungen, darunter auch Bestimmungen im neuen Strafgesetzbuch, wurden unter-
nommen, um stärker gegen Folter und Misshandlung vorzugehen. Die Folter wurde legal neu
definiert und mit hohen Strafandrohungen bewährt. Die Verfahren für die Untersuchungshaft
wurden an europäische Standards angeglichen; allerdings werden Häftlinge von den
Vollzugsbeamten nicht immer über ihre Rechte aufgeklärt, was westlichen Rechtsstandards
entspricht. Folter findet nicht mehr systematisch statt, doch es treten noch häufig Fälle von
Misshandlungen einschließlich Folter auf. Schon die Verfassungsänderung von 2001 leitete
die vollständige Abschaffung der Todesstrafe ein, die in mehreren Schritten im Frühjahr 2004
mit der Unterzeichnung des 13. Zusatzprotokolls zur EMRK erfolgte. Die jüngsten
Verfassungsänderungen gingen darauf ein, indem sie nunmehr sämtliche Bezüge auf die
Todesstrafe aus dem Gesetzestext entfernten.
110
Enorme Verbesserungen hat es seit 2001 in der Rechtslage für den einzelnen Bürger
hinsichtlich der Meinungsfreiheit und der Vereinsbildung gegeben. Sowohl in der Verfassung
als auch in den entsprechenden Untergesetzen zum Straf-, Presse- oder Vereinsrecht wurde
der vorherrschende Grundgedanke des Staatsschutzes zugunsten des Grundsatzes bürgerlicher
Freiheiten aufgeweicht. Das Bestreben insbesondere der AKP-Regierung ist darauf gerichtet,
die türkische Rechtslage in diesen Bereichen in volle Übereinstimmung mit den Vorschriften
der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu bringen und auch die Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Leitlinie für die
türkischen Gerichte zu machen.
Die Meinungsfreiheit wurde insbesondere durch die Abschaffung von Art. 8 ATG
(Antiterrorgesetz) und Änderungen in den Art. 159 und 312 Türk. StGB gefördert. Diese
Maßnahmen zielen darauf, das Gesinnungsstrafrecht der Vergangenheit zu beseitigen, indem
z.B. der Terrorbegriff an die Anwendung von Gewalt geknüpft wird und strafbarer Aufruf
zum Terror mit dem Aufruf zur Gewalt verbunden sein muss. Die Verunglimpfung von
staatlichen Institutionen muss in tatsächlich beleidigender Absicht erfolgen und nicht bloß
Ausdruck von Kritik sein. Der Grundsatz der Demonstrationsfreiheit wurde betont, seine
Anwendung durch verschiedene Maßnahmen wie die Verringerung der Anmeldefrist von
Kundgebungen und die Einschränkung der Verbotsgründe erleichtert. Dennoch kam es immer
wieder zu Anzeigen, Festnahmen und Verurteilungen von Journalisten, Demonstranten und
Menschenrechtsaktivisten, bei denen entweder die gesetzlichen Änderungen gar nicht
berücksichtigt oder aber der neue Wortlaut im alten Geist ausgelegt wurde. Das war
besonders häufig im Zusammenhang mit Vorwürfen der Unterstützung von Separatismus oder
"Islamismus" der Fall, wie zum Beispiel das konzertierte Vorgehen der Polizei gegen
kurdische Zeitungen im Vorfeld des Istanbuler NATO-Gipfels am 8. Juni 2004 zeigte, bei
dem 25 Journalisten festgenommen wurden. Allerdings häufen sich auch die Fälle, in denen
entweder von den Gerichten keine Verfahren eröffnet werden oder aber in der
Berufungsinstanz Urteile unter Verweis auf die neue Rechtslage aufgehoben werden.
Es ist insgesamt festzuhalten, dass sich die Lage in Bezug auf die freie Meinungsäußerung
zwar erheblich verbessert hat, doch mehrere Probleme bestehen bleiben. Inzwischen
111
beschäftigt man sich mit der Lage von Personen, die wegen friedlicher Meinungsäußerungen
verurteilt wurden, und mehrere aufgrund der alten Rechtslage verurteilte Personen wurden
freigesprochen oder freigelassen. Verfassungsänderungen und ein neues Pressegesetz haben
die Pressefreiheit erhöht. Mit dem neuen Gesetz werden Sanktionen, wie z.B. das Verbot von
Veröffentlichungen, die Unterbindung des Vertriebs und die Beschlagnahme von
Druckmaschinen, abgeschafft. Jedoch werden noch immer in zahlreichen Fällen Journalisten
und andere Bürger, die ihre Meinung friedlich äußern, rechtlich verfolgt. Das neue
Strafgesetzbuch stellt im Ergebnis im Hinblick auf die Meinungsfreiheit auch nur einen
beschränkten Fortschritt dar.
Trotz der verfassungsrechtlichen Garantie der Religionsfreiheit und obwohl die freie
Religionsausübung weitgehend ungestört verläuft, stoßen nichtmuslimische Religions-
gemeinschaften nach wie vor auf Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Rechts-
persönlichkeit, den Eigentumsrechten, der Ausbildung der Geistlichen, mit Schulen und ihrer
internen Verwaltung. Mit geeigneten Rechtsvorschriften könnten diese Schwierigkeiten
überwunden werden. Die Aleviten sind nach wie vor nicht als muslimische Minderheit
anerkannt. Diesbezügliche Defizite im Handeln der türkischen Regierung sind daher nicht von
der Hand zu weisen.
Die Europäischen Staaten erkennen sowohl die wirtschaftliche als auch die geostrategische
Relevanz der Türkei für Europa, messen aber den politischen und kulturellen Fragen höhere
Bedeutung als die Vereinigten Staaten bei. Allerdings gibt es bei der Bewertung dieser Fragen
innerhalb der EU große Unterschiede, woraus verschiedene Auseinandersetzungen
resultieren. Die politischen Reformen werden weiterhin genau beobachtet werden. Man kann
mit Sicherheit sagen, dass sich die Türkei auf ihrem Weg zu einer möglichen Mitgliedschaft
in der Europäischen Union sehr gewandelt hat und nicht mehr das Land ist, welches es vor
Beginn des politischen Reformprozesses gewesen war.
Nach einer langen und heißen Debatte, in der die europäische Unzufriedenheit mit der EU-
Mitgliedschaft der Türkei zum Ausdruck kam, hat die Europäische Kommission bestätigt,
dass Ankara die Beitrittsverhandlungen mit der EU am 3. Oktober 2005 beginnt. Die EU hat
jedoch betont, „dass die Verhandlungen ein harter Prozess werden und keine Garantie für die
112
endgültige Mitgliedschaft enthalten“. „Die Europäische Union hat sich der Türkei gegenüber
verpflichtet. Wir halten unser Wort“, sagte Erweiterungskommissar Olli Rehn. Es werde eine
Debatte über Alternativen zur Vollmitgliedschaft in den nächsten Jahren geben. Der
Verhandlungsrahmen fordert, dass die Türkei bessere Beziehungen mit ihren Nachbarn
aufbaut und die bilateralen Beziehungen mit dem griechischen Zypern „normalisiert“.
Dieses Zwischenergebnis ist vor allem im Kontext mit den nachfolgenden Unter-suchungen
zur veränderten Rolle der Türkei in ihren außenpolitischen Handlungen gerade in der Region
des Nahen Ostens zu sehen, wobei insbesondere eine Fokusierung auf die „Europäisierung“
dieser neuen Türkei stattfinden soll.
113
KAPITEL 7: Die historische Entwicklung der Geopolitik
des Nahen Ostens
Vor dem Hintergrund eines möglichen Beitritts der Türkei in den Staatenbund der
Europäischen Union und unter besonderer Berücksichtigung der geostrategischen Lage wird
in den nachfolgenden Kapiteln untersucht, welche Machtkonstellationen sich während und
nach dem Kalten Krieg in der Region des Nahen Ostens herausgebildet haben. Dabei wird
analysiert, welche Rolle und Bedeutung der Türkei in ihrer jeweiligen politischen
Ausrichtung zukommt und welche Konsequenzen sich für westliche Bündnissysteme ergeben.
Kann die Türkei im Nahen Osten tatsächlich als „A reluctant neighbour“ (“Ein träger,
unwilliger Nachbar”) definiert werden?224, wie es im Programm einer vom „US Institute of
Peace“ im Juni 1994 in Washington D.C. organisierten Konferenz geschah? Wäre damit ein
Scheitern der EU-Integration politisch und völkerrechtlich verbunden? Zu untersuchen ist
daher die Nahostpolitik der Türkei, die seit 1990 im Kaukasus, im Nahen Osten und in
Zentralasien wichtige wirtschaftliche und politische Beziehungen geknüpft hat. Zugleich
muss geklärt werden, in welchem Maße sie ihre Nahostpolitik umsetzen kann. Es ist daher
unerlässlich, die Entwicklungsgeschichte der Geopolitik des Nahen Ostens darzustellen, um
objektive Erkenntnisse über die Stellung der Türkei innerhalb der entwickelten
Machtkonstellationen zu erlangen.
224 Barkey, Henry J. (Hrsg.): Reluctant Neighbor: Turkey's Role in the Middle East, US Institute of Peace Press, Washington 1996, S. 33
114
7.1 Entstehung westlicher Mandatsgebiete im Nahen Osten nach dem Nieder-
gang des Osmanischen Reichs
Der Nahe Osten und insbesondere Mesopotamien sowie die Region um Palästina haben im
Laufe der Geschichte auf ihrem Boden unzählige Zivilisationen beherbergt. Die ersten
Stadtstaaten der Geschichte, die ersten Staatsgebilde und Imperien sind hier entstanden. Das
älteste schriftliche Abkommen in der Menschheitsgeschichte wurde im Nahen Osten
unterzeichnet: Das Abkommen von Kadesch zwischen Ägypten und den hethitischen König-
tümern Anatoliens beendete ihre kriegerischen Auseinandersetzungen über die Nutzungs-
rechte der syrisch-palästinensischen Ressourcen und ging als das erste schriftliche Friedens-
abkommen der Menschheit in die Geschichte ein.
Neben fruchtbarer Erde und üppigen Ressourcen darf aber auch soziokulturell im Nahen
Osten nicht unerwähnt bleiben, dass er die Heimat der drei großen Weltreligionen ist.
Judentum, Christentum und Islam wurden von nahöstlichen Propheten verkündet und
breiteten sich vom Nahen Osten aus. In Jerusalem werden heute über zweihundert Orte
gezählt, die für alle drei Religionen heilig sind. Auch wenn der Nahe Osten Ausgangspunkt
von drei Weltreligionen ist, wird er seit fünfzehn Jahrhunderten vom Islam geprägt. Die
Region wurde in dieser Zeit nacheinander von verschiedenen islamischen Reichen regiert,
zuletzt vom Osmanischen Reich. Es umfasste den ganzen Nahen Osten mit Ausnahme
Persiens. Das Osmanische Reich entstand 1517 und überdauerte ziemlich genau vierhundert
Jahre.
Der heutige Nahe Osten entstand durch Interventionen der modernen westlichen Mächte.
Nachdem das Osmanische Reich seine Macht eingebüßt hatte und nicht mehr über den Nahen
Osten herrschte, strebten vor allem Großbritannien und Frankreich nach einem besseren
Zugriff auf die vielfältigen Ressourcen der Region. Schon in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts hatte das Osmanische Reich einen Großteil seiner Gebiete im Westen verloren.
Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer klarer wurde, dass das Reich seine
Herrschaft über sein Gebiet nicht würde aufrechterhalten können, begannen die europäischen
Mächte, ihre Pläne bezüglich der Zukunft der arabischen Gebiete des Reiches in die Tat
115
umzusetzen. Frankreich baute seine Macht über Jerusalem, Ägypten, Algerien und
schliesslich auch über Tunesien aus. Der für Frankreich strategisch sehr wichtige Suez-Kanal
(erbaut zwischen 1859 und 1869) musste an Großbritannien übergehen, da er die britischen
Interessen bezüglich der Kontrolle der asiatischen Land- und Seewege tangierte.
Großbritannien und Frankreich hatten zwar divergierende Interessen im Nahen Osten, gingen
jedoch gegen Russland ein Zweckbündnis ein, um Russlands Expansion in den Süden zu
verhindern (Krim-Krieg 1854 -1856). Nach mehreren bewaffneten Konflikten versuchten die
westlichen Groß-mächte, das Machtgleichgewicht untereinander vorteilhaft zu gestalten,
während das Osmanische Reich unaufhaltsam seine Gebiete verlor. Das Osmanische Reich
versuchte in dieser letzten Periode seines Niedergangs wie alle abhängigen Staaten, Kredite
bei Großmächten wie Frankreich, Großbritannien, Österreich, Deutschland oder Russland
aufzunehmen, um gegen seine Entwicklungsrückstände zu kämpfen und das Land zu
modernisieren. Der europäische Kapitalismus war auf dem Gipfel seiner Macht angelangt und
die Grenzen seiner Möglichkeiten im Osten waren in der Tat sehr weit gesteckt.225
Die zuerst auf dem Gebiet des Militärs eingeleiteten und im wirtschaftlichen und politischen
Bereich fortgeführten Reformen des Osmanischen Reiches halfen zwar bei der Moder-
nisierung des Staates, reichten aber nicht aus, um den ökonomischen und sicherheits-
politischen Abstand zu den Industrienationen zu verringern.226 Zudem übte die Französische
Revolution einen großen Einfluss auf die Völker des Osmanischen Imperiums aus. Serben,
Griechen und Bulgaren gründeten auf dem Balkan nacheinander ihre eigenen Nationalstaaten.
Diese Entwicklungen zogen, wenn auch mit einiger Verspätung, schliesslich auch die Nahost-
Eliten in ihren Bann. Am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts
musste das Osmanische Reich deshalb auch gegen den arabischen Nationalismus kämpfen.
Seine wirtschaftliche Schwäche und der Umstand, dass nahezu seine gesamten Finanzen von
ausländischen Mächten kontrolliert wurden, schränkten dabei die Handlungsfähigkeit des
Osmanischen Reiches erheblich ein.227 Die Gebietsabtrennungen vom Reich, die die Geburt
neuer Staaten und somit die Genese der modernen nahöstlichen Geopolitik markierten,
vollzogen sich unter diesen Vorzeichen. Als erste Länder trennten sich Algerien und Tunesien
225 ebd., S. 304-309 226 Für eine detaillierte Analyse über den Niedergang des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert siehe Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 42 227 vgl.ebd.
116
vom Reich (1830 und 1881). Das von Frankreich kontrollierte Ägypten gelangte 1881 direkt
unter britische Kontrolle, auch wenn es offiziell noch als osmanisches Gebiet galt. Und 1911
besetzte Italien das letzte osmanische Territorium in Nordafrika, nämlich Lybien.228
Angesichts dieser Entwicklungen paktierte die osmanische Regierung mit Deutschland, um
ihre letzten verbliebenen nahöstlichen Territorien zu retten. Berlin offerierte dem Reich
großzügig Hilfe, was sich symbolisch in dem Bauauftrag für die „Bagdadbahn“ von Berlin
nach Bagdad ausdrückte.229 Die Eisenbahn sollte bis zum Hedschas verlängert werden. Doch
da Europa offensichtlich auf eine große kriegerische Aus-einandersetzung zusteuerte, nämlich
den 1. Weltkrieg, erschien es zwecklos, den Nahen Osten stärker an Istanbul, die Zentrale des
Osmanischen Reiches, koppeln zu wollen. Zusätzlich erscherte die Allianz mit Deutschland
die Lage im Osmanischen Reich, weil das Deutsche Reich nicht stark genug war, um aus dem
harten Kampf um die Neuaufteilung der Kolonien als Sieger hervorzugehen. Noch vor dem
Krieg, im Jahre 1904, hatten sich Großbritannien und Frankreich untereinander über die
Einverleibung Marokkos und Ägyptens geeinigt. Gegen Deutschland hatte sich ein neuer
Machtblock gebildet. Das koppelte das Schicksal des Osmanischen Reiches noch stärker an
Deutschland.230 Als der 1. Weltkrieg ausbrach, nahmen die Osmanen wie erwartet ihren Platz
neben dem Dreibund ein. Mit der Niederlage gingen auch die Gebiete im Nahen Osten an
Großbritannien und Frankreich über. Beide Staaten hatten schon vor Kriegsende die Gebiete
untereinander aufgeteilt.
228 vgl. Benoist-Mechin, Jaques: The End of The Ottoman Empire, (ISBN 3-89434-008-8) 229 für eine anschauliche Geschichte der Bagdadbahn siehe Pohl, Manfred: Von Istanbul nach Bagdad; Piper Verlag 1999, S. 21 230 vgl. ebd.
117
7.2 Geopolitischer Strukturwandel in der Ära zwischen den beiden Welt-
kriegen
Den arabischen Aufständischen, die im Nahen Osten zusammen mit den britischen und
französischen Armeen gegen die Osmanen gekämpft hatten, wurde die ihnen versprochene
Unabhängigkeit nicht sofort verliehen. Großbritannien und Frankreich hatten die arabischen
Gebiete gemäß ihres Bedarfs an Rohstoffen und um ein Machtgleichgewicht untereinander
herzustellen, in Einflussphären aufgeteilt. Dennoch sollte es beiden Staaten nicht gelingen,
sich als Besatzungsmächte in der Region zu halten.
Nach dem 1. Weltkrieg wurde gemäß dem 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson und
dem Leninschen Prinzip über die Selbstbestimmung der Völker beschlossen, direkte
Kolonialherrschaft durch sogenannte Mandate zu ersetzen. Diese Länder sollten unter der
Obhut des Völkerbundes als Vorläufer der Vereinten Nationen auf ihre künftige
Unabhängigkeit vorbereitet werden. So verwandelten sich der Irak, Palästina und der
Transjordan in britische Mandate, während Libanon und Syrien unter französisches Mandat
kamen. In Ägypten wurde eine Monarchie unter britischer Kontrolle errichtet. Gleichzeitig
blieben die arabisch sprechenden Regionen Nordafrikas (oder des westlichen Nahen Ostens)
als Kolonien bestehen (Algerien, Marokko und Tunesien französisch, Lybien italienisch).
Kuweit behielt seinen Charakter als englische Kolonie.231
Bei der Auswahl der Regierenden dieser nach dem 1. Weltkrieg gebildeten politischen
Einheiten hatten Großbritannien und Frankreich zunächst das letzte Wort. So wurde in
Jordanien ein Herrscher aus Saudi-Arabien zum König ernannt. Auf der San-Remo-Konferenz
am 27. April 1920 teilten Großbritannien und Frankreich auch die Ölressourcen des Nahen
Ostens unter sich auf, was für die Zukunft der Region von verhängnisvoller Bedeutung
war.232 Wie von Kedourie dargelegt, haben diese beiden Staaten - nach vorangegangener
interner Aufteilung des Öls - Staatsverträge mit denjenigen Marionettenregierungen unter-
zeichnet, die sie selbst eingesetzt hatten. So entwickelten sich nach und nach in der Region
231 vgl. Kedourie, Elie: England and the Middle East, Bowes and Bowes, London 1956, S. 29 232 vgl. ebd.
118
die reichen Eliten, die mit den Großmächten kollaborierten, während die Massen mehr oder
weniger in Armut versanken.Die Mandatsregimes blieben auf diese Weise bis zum Ende des
2. Weltkriegs bestehen. Danach wurde ihnen sukzessive ihre jeweilige Unabhängigkeit zuteil,
was zu wichtigen Veränderungen in der Geopolitik des Nahen Ostens führte. Mit dem
Rückzug der Briten 1970 aus dem Oman als letztem Kolonial- bzw. Mandatsgebiet wurde
dieser Prozess abgeschlossen.
Als die neue Türkische Republik 1923 gegründet wurde, fand sie sich in direkter Nach-
barschaft mit den Großmächten ihrer Zeit. Deshalb ging sie in ihrer Außenpolitik besonders
behutsam vor, zumal ihre finanziellen Ressourcen durch den 1. Weltkrieg und dem
darauffolgenden Befreiungskrieg völlig erschöpft waren. In den 20er Jahren hatte die Türkei
im Norden die UdSSR, im Süden durch die noch bestehenden Mandatsregimes
Großbritannien (im Irak) und Frankreich (in Syrien) als Nachbarn. Im Westen hatte sie wegen
der italienischen Herrschaft über die 12 Inseln der Ägäis mit Italien eine gemeinsame Grenze.
Mit dem Friedensabkommen von Lausanne 1923 war die Türkei in der Lage, außenpolitische
Spannungen mit diesen Staaten abzubauen. Ihr Hauptanliegen war es nun, ihre wirtschaftliche
Entwicklung voranzutreiben, um das “Niveau der zeitgenössischen Zivilisation” zu erreichen,
wie der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk vorgegeben hatte. Um außenpolitische
Stabilität zu erlangen, akzeptierte die Türkei das Versailler System.233 Der politische Preis
dafür war, dass sie mit dem Abkommen von Lausanne auf jeden territorialen Anspruch
außerhalb ihrer neuen Grenzen verzichtete. Die Türkei entschloss sich, fortan für ihre durch
lange Kriege erschöpften Bevölkerung von 16 Millionen eine Status-Quo-Politik zu betreiben.
Der türkische Befreiungskampf hatte auch in der arabischen Welt seine Spuren hinterlassen.
Atatürk hatte während dieses Krieges betont, dass dies nicht nur der Krieg der Türkei gegen
die Besatzer war, sondern “das Anliegen aller unterdrückten Nationen des Ostens”.234 Damit
versuchte er sich die Unterstützung der muslimischen Welt zu sichern. Er erwartete davon
keinen materiellen Gewinn, etwa in Form von Geld oder Truppenunterstützung, aber ideellen
Beistand.
233 Bezeichnung für den am 28.06.1919 unterzeichneten und am 10.01.1920 in Kraft getretenen Friedensvertrag zwischen den 26 alliierten und assoziierten Mächten und dem Deutschen Reich zur Beendigung des 1.Weltkrieges (1914-1918) 234 ausführlich dazu Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integratinsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 56-77
119
In den von Ankara235 veröffentlichten Erklärungen wurde behauptet, dass die “Besatzung
nicht nur gegen die Dynastie der Osmanen, sondern gegen die ganze islamische Welt
gerichtet” war, “die in dem Kalifat die einzige Stütze ihrer Freiheit und Unabhängigkeit”
hätte.236 Aber nach der Unterzeichnung des Abkommens von Lausanne wurden in der Türkei
radikale Reformen eingeleitet, die in der Türkei selbst als “Revolutionen” (Devrimler)
bezeichnet wurden und gleichsam zu weitreichenden Konsequenzen in ihren Außen-
beziehungn zu den arabischen Nachbarstaaten führten. Unter anderem wurde am 3. März
1924 das Kalifat237 abgeschafft.
Es bildet den Wendepunkt in den Beziehungen des jungen kemalistischen Regimes mit seinen
arabischen Nachbarn, denn ab diesem Zeitpunkt verschlechterten sich die Beziehungen zur
islamischen Welt rapide. Weitere Schritte auf dem Weg zur Etablierung des laizistischen
Systems wie das Verbot von islamischen Sektenhäusern oder das Verbot des Tragens von
religiöser Kleidung im öffentlichen Raum erzeugten nicht nur im Inland negative Reaktionen.
Die muslimische Bevölkerung vernomm dies als Einheitsverlust der islamischen Welt.
Dennoch darf nicht verkannt werden, dass das Kalifat nur noch eine symbolische Bedeutung
und keinen konkreten Einfluss mehr auf die Muslime im Ausland hatte. Die souveränen
Staaten hätten sich im neuen Weltstaatensystem nach dem 1. Weltkrieg ohnehin nicht mehr
unter das Kalifat eingeordnet, wenn es in Istanbul fortbestanden hätte. Das war für die
Gründungsväter der Republik bereits im 1. Weltkrieg zu erkennen, als die Araber trotz der
“Dschihad-Erklärung” des Kalifats gemeinsam mit den christlichen Briten gegen die
muslimischen Osmanen gekämpft hatten. In den Augen Ankaras wurden deshalb die
Reaktionen in der arabischen Welt gegen die Abschaffung des Kalifats ebenfalls von den
imperialistischen Briten und Franzosen gesteuert.238 Eine andere Beurteilung der Sachlage
ergab sich für die südasiatischen Muslime, für die die Abschaffung des Kalifats einem Schock
gleichte. Da beispielsweise am indischen Subkontinent die Zahl der Muslime weit geringer
235 Ankara, seit 1923 Hauptstadt der Türkei, im nördlichen Zentralanatolien, am Südrand des Pontischen Gebirges gelegen. Die von Europäern bis 1930 Angora genannte Stadt ist nach Istanbul die zweitgrößte Metropole des Landes. 236 a.a.O, S. 55 237 Eine Institution des weltlich-religiösen Herrschers in der muslimischen Welt. Das osmanische Kalifat dauerte vom Anfang des 14. Jahrhunderts bis zum Jahre 1924 238 Die Türkei hatte die Mandatsregime nie anerkennen wollen. Trotzdem haben einige arabische Vertreter in Lausanne gegen die türkischen Forderungen plädiert
120
als die der Hindus war, würde nun die indische Unabhängigkeit von den Briten nicht
unbedingt auch die Unabhängigkeit der Muslime bedeuten. Der Islam und das Kalifat
symbolisierte für diese Bevölkerungsgruppe im Subkontinent das Hauptunterscheidungs-
merkmal von der Mehrheitsgesellschaft. Zugleich strebten sie für ihre Unabhängigkeit
türkische Unterstützung an, was durch die veränderten Umstände nun nicht mehr in Frage
kam und sie zwang, sich mit der neuen Situation zu arrangieren.
Zunächst hatte die Türkei mit ihrem “Herauswurf der Imperialisten” in der islamischen Welt
hohes Prestige erlangt, was wiederum durch die nunmehrigen prowestlichen und radikalen
Reformen in Frage gestellt wurde. Die Propaganda, dass die Türkei sich “vom Glauben
verabschiedet” habe, ging in den Nahostländern herum. Aber nicht nur religiös motivierte
Bedenken spielten eine Rolle, sondern gleichsam auch machtpolitische Erwägungen. In den
Nachbarländern stieg nämlich die Angst, dass eine durch die Reformen erstarkte Türkei einen
maßgebenden Einfluss auf die Region Nahost gewinnen könnte und sie neue
Territorialansprüche stellen könnte. Beide Faktoren führten zu einer deutlichen Abkühlung in
den Beziehungen zu den arabischen Nachbarn.
Die Kritik an der Abschaffung des Kalifats und an den radikalen, laizistischen Reformen
erreichte 1924 ihren Höhepunkt und blieb bis 1930 auf hohem Niveau bestehen. Danach
verlor sich das Interesse an der Türkei nach und nach. Nachdem sie 1926 mit dem Verzicht
auf Mossul auch ihren letzten Territorialkonflikt zum Nahen Osten geklärt hatte, blieben die
Beziehungen gut, wenn auch auf niedrigem Niveau zurückhaltend. Dass die Türkei selbst am
arabischen Territorialgeschehen wie auch an den Unabhängigkeitsbestrebungen der
arabischen Völker kein Interesse zeigten, ist auch auf psychologische Faktoren zurückzu-
führen.
Der angebliche “arabische Verrat” im 1. Weltkrieg war im Gedächtnis der Gründungsväter
der Türkei sehr präsent. Noch immer war sie nicht in der Lage, militärisch die volle Sicherheit
ihrer Meerengen zu gewährleisten und konnte deshalb eine direkte Konfrontation mit den
Briten oder Franzosen nicht ins Auge fassen. In der arabischen Welt herrschte zudem die
Auffassung, die osmanisch-türkische Besatzung habe die Araber um Jahrhunderte
zurückgeworfen. Außerdem gingen in der arabischen Welt antiwestliche Strömungen mit
121
antitürkischen einher. Die arabischen Führer kritisierten den ausgesprochen prowestlichen
Kurs der Türkei heftig. Mit dem “Anschluss” Hatays (Iskenderun / Alexandria) an die Türkei
wurde das letzte Problem mit Syrien durch Verhandlungen mit dem Mandatsträger Frankreich
gelöst.
7.3 Der Nahe Osten als Frontregion im Kalten Krieg (1945-1991)
Die wichtigsten Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg, die die Geopolitik des Nahen Ostens
und die Balance of Power in der Region prägten, lassen sich wie folgt festhalten:
� Die Unabhängigkeit der Länder, die bis dahin unter Mandat standen;
� Der UNO-Beschluss vom 29. November 1947 über die Teilung des ehemaligen
britischen Mandatsgebietes Palästina und die Gründung des Staates Israel am 14. Mai
1948;
� Der Beginn des Kalten Krieges und der wachsende Druck auf die neuen unab-
hängigen Staaten des Nahen Ostens, sich zwischen der westlichen und der östlichen
Allianz zu entscheiden;
� Die Politik der neuen Supermacht USA, durch Waffenverkäufe an nahöstliche
Regimes ihre sogenannten Petro-Dollars nach Amerika zurückzuholen.
Gleichzeitig bildete sich in manchen neuen unabhängigen Staaten der Region eine
panarabische Bewegung, die sich in der Parteienlandschaft unter dem Kürzel Baath etablierte
und die sich zuerst in Ägypten, dann in Syrien durch Militärcorps an die Macht putschte.239
Diese neuen Regimes hingen dem arabischen Nationalismus an und hielten die nationale
Unabhängigkeit hoch. Gleichzeitig verfolgten sie eine feindliche Politik gegenüber Israel, was
sie politisch von den USA entfernte und der UdSSR näher brachte. Die bekannteste dieser
Bewegungen ist das Regime des Gamal Abdel Nasser, der 1955 in Ägypten an die Macht
kam. Dass Nasser und die anderen sozialistischen Regierungen der arabischen Staaten auf
239 Eine ausführliche Geschichte des arabischen Nationalismus siehe bei Tibi, Bassam: Zum Nationalismus in der Dritten Welt am arabischen Beispiel, Europäische Verlagsantalt, 1991, S. 45-83
122
einer nationalen Verwertung ihrer Ölquellen beharrten, wurde zu einem der Hauptgründe für
die Abkühlung ihrer Beziehungen zu den westlichen Mächten.240
Die Annäherung der sozialistischen arabischen Staaten an die UdSSR ließ zwangsläufig die
Beziehungen zwischen Israel und den USA enger werden. Israel begann mit amerikanischer
Rückendeckung, sich wie eine polizeiliche Aufsichtsmacht der USA in der Region zu
verhalten. Aus den sich ergebenen Auseinandersetzungen und für die arabischen Länder
erfolglosen Kriegen der Jahre 1955, 1967 und 1974 ging Israel erstarkt hervor. Das führte
aber auch dazu, dass die arabischen Nationalisten die Hoffnung an einen Sieg ihrer von der
Sowjetunion unterstützten Heere aufgaben und den Guerillakrieg als einzigen Ausweg
initiierten. Unter diesen Bedingungen ging die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation)
hervor.
Es scheint nicht angemessen beurteilt zu sein, von einer „Rolle“ der Türkei in den oben
beschriebenen Entwicklungen im Nahen Osten zu sprechen. Konstatiert werden kann, dass die
Türkei in dieser Periode tatsächlich in einem statischen Verhältnis zu ihren Nachbarn zu
sehen ist. Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war auch selbst am arabischen Raum
nicht interessiert – den türkischen Gründungsvätern der Republik waren die ehemaligen
arabischen Untertanen des Osmanischen Reiches zumindest „suspekt“, wenn nicht
„unsympathisch“, weil sie ihnen „Verrat“ anlasteten: Die arabischen Stämme hatten sich mit
den Engländern verbündet und das Osmanische Reich in seiner schwierigsten Phase
„hinterrücks angegriffen“. Der Diskurs über den Verrat der Araber am Osmanischen Reich
ging einher mit Versuchen, den arabischen Einfluss in Kultur und Gesellschaft einzudämmen.
Atatürk ließ den Gebetsruf in Türkisch vortragen und unterstützte alle Bemühungen, auch im
religiösen Bereich den Einfluss des Arabischen zurückzudrängen.241 Eine neue türkische
Kultur und Geschichte sollte wieder entdeckt und wo nicht vorhanden, neu formuliert werden.
Die Abgrenzung vom Nahen Osten und die Hinwendung zum Westen, zu Europa, der nach
Atatürk „einzig gültigen Zivilisation auf der Welt“,242 schlug sich deshalb auch in der
Außenpolitik nieder.
240 vgl. ebd. 241 vgl. Steinbach, Udo: Islamischer Staat Türkei?, in: Internationale Politik, August 1997, S. 53 242 vgl. Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 57
123
Ihre Nachbarschaft zur Sowjetunion machte die Türkei während dieser gesamten Periode für
die westlichen Länder strategisch außerordentlich wichtig. Angesichts der beschleunigten
Aufrüstung der Ostblockstaaten im Balkangebiet setzte sich das US-amerikanische Militär
gegenüber der Administration für eine türkische NATO-Mitgliedschaft ein, um den
südöstlichen Flügel der Allianz zu stärken.243 Das NATO-Mitglied Türkei und der Iran
wurden und blieben in dieser Zeit die bedeutendsten Partner des Westens im Nahen Osten.
Das empfanden die türkischen Eliten als eine Bestätigung ihrer Hinwendung zum Westen und
ihrer Abwendung vom arabischen Raum.
Aus der Sicht der US-Politik war es nicht möglich, in einem dieser beiden Länder, im Iran
oder der Türkei, ein sei es auch kapitalistisches Regime zu erdulden, das mit der UdSSR
zusammenarbeitete. Die Entwicklungen im Iran nach dem 2. Weltkrieg bilden den klaren
Beweis für diese Haltung. Dr. Mohammed Mossadeq kam 1951 im Iran an die Macht und
initiierte anfangs, nachdem er die Regierung von seinen probritischen Vorgängern
übernommen hatte, einige Gesetze, die sich an der US-Verfassung orientierten. Dabei hoffte
er, die Unterstützung der USA gegen den europäischen Imperialismus mobilisieren zu
können. Aber als er einen Teil des iranischen Öls verstaatlichte, wurde die Mossadeq-
Regierung durch eine gemeinsame verdeckte Operation der USA und Großbritanniens 1953
gestürzt und das Schah-Regime rekonstituiert.244 Diese Operation, die im Rahmen der
„Eindämmungsdoktrin“ (Containment) gegenüber der UdSSR stattfand, war der eindeutige
Beweis dafür, dass die USA in der Region keine Entwicklung dulden würden, die außer
Kontrolle geriet. Der Vorschlag Henry Kissingers245, den reichen Ölstaaten des Nahen Ostens
massiv Waffen zu verkaufen, um die Petro-Dollars in die US-Kassen zurückzuholen, bildete
eine der Grundsäulen der US-Politik in der Region. Die anderen strategischen Säulen 243 Kuniholm, Bruce R.: Turkey and the West since World War II, in: Mastny, V. und R. C. Nation (Hrsg.): Turkey between East and West: new challenges for a rising regional power, 1996, S. 49 244 Gasiorowski, M.: U.S. Foreign Policy towards Iran during the Mussadiq Era, in: Lesch, D. W. (Hrsg.): The Middle East and the United States. A Historical and Political Reassessment, Boulder, 1996, S. 51-66 245 Neokonservatismus ist ein Bestandteil der US-Außenpolitik. Sehr deutlich hat der damalige US-Außenminister Kissinger im Jahre 1973 in einer Rede zum so genannten “Europa-Jahr” zum Ausdruck gebracht, Europa müsste begreifen, dass die USA globale Verantwortung trüge, und dass andere Länder - Europa miteingeschlossen - regionale Verantwortung hätten. Letztere müssten im globalen Verantwortungsrahmen ihren Platz finden. Europa solle sehr vorsichtig sein, warnte Henry Kissinger, es dürfe nicht in Richtung Unabhängigkeit gehen. Es sei wünschenswert, dass sie ihre inneren Angelegenheiten intern regeln und sich um ihre Peripherie kümmern würden. Aber es seien dagegen die USA, die für globale Ordnung sorgen würden. Der Journalist Seymour Hersh hat die “Year of Europe”- Rede von Kissinger in seinem Buch “The Price of Power” in den Kontext der damaligen US-Politik gestellt. Das entsprechende Kapitel ist nach zulesen unter: www.thirdworldtraveler.com/ Kissinger/Price_Of_Power_TPOP.html
124
bestanden aus dem NATO-Mitglied Türkei, dem prowestlichen Iran und Israel. Festgehalten
werden kann deshalb: Die Türkei wurde während des ganzen Kalten Krieges als ein NATO-
Verbündeter gegen die Sowjetunion aufgerüstet. Damit sie auch ihre eigenen linken
Bewegungen unterdrücken konnte, bekam sie zusätzlich massive Hilfe aus dem Westen. Aber
der Westen erlaubte ihr nicht, sich in die Nahostpolitik einzumischen, und sie selbst zeigte
auch wenig Interesse an einer solchen Einmischung. Der Nahe Osten galt für die Türkei
sowohl kulturell als auch politisch als eine Region, von der sie sich zugunsten eines
Anschlusses an den Westen abkoppeln wollte.
Zum Ende des Kalten Krieges hatte sich im Nahen Osten (außer den nach Westverständnis
beschränkten und brüchigen Demokratien in der Türkei und in Israel) kein einziges wirklich
demokratisches Regime herausgebildet. Trotz des immensen Reichtums an Ölvorräten lebten
die Völker des Nahen Ostens weitgehend in Armut. Die Bemühungen, die nach westlichen
Maßstäben undemokratischen Lebensbedingungen in weiten Teilen des Nahen Ostens zu
verändern, brachten keine nennenswerten Erfolge. Im Kalten Krieg kam es weniger auf die
Demokratisierungsentwicklungen in einem Land an als darauf, in welchem Lager es sich
befand. Wenn sich Königreiche oder Einparteienstaaten mit traditionellen Gesellschaften
paaren, entsteht wie in den Nahostländern oft ein fruchtbarer Boden für radikale Bewegungen
oder unerwartete soziale Explosionen.
In der Ära nach dem Kalten Krieg, die mit dem Zerfall und damit dem Rückzug der UdSSR
aus dem Lager der Supermächte begann, sollte der Nahe Osten neu strukturiert werden. Aber
entgegen den Erwartungen wird die Region seitdem immer komplexer, ärmer und die
Auseinandersetzungen blutiger. Die Verwertung des Öls, der Palästina-Konflikt und die in
letzter Zeit aktuell gewordene Frage der Gründung eines Kurdenstaates sind die wichtigsten
Problemkonstellationen der Region, die alle Staaten des Nahen Ostens und darüber hinaus die
ganze Welt politisch betreffen. Im Verlauf der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts begann die
Türkei als ein Staat, der in Zentralasien und im Kaukasus wichtige Beziehungen nicht nur zu
den Turkrepubliken geknüpft hatte246, eine offensivere politische und wirtschaftliche Rolle im
Nahen Osten zu übernehmen, was in Kapitel 8 eingehend untersucht wird.
246 So besuchte der damalige Präsident Turgut Özal im März 1991 im Zuge eines Staatsbesuches in Moskau unter anderem auch Alma Ata und Baku, um mit den dortigen Regierungen Wirtschaftsvereinbarungen abzuschließen. Vgl. für einen Überblick Türkkaya, Ataöv: Turkey`s Expanding Relations with the CIS and Eastern Europe, in: Clement H.Dodd (Hrsg.): Turkish Foreign Policiy - New Prospects, Huntingdon (U.K.) 1992, S. 91-97 und 101-106
125
KAPITEL 8: Politökonomische Bedeutung des Nahen Ostens im
Kontext neu strukturierter Machtkonstallationen
nach dem Kalten Krieg
Nach der Genese der politischen Geschichte des Nahen Ostens ist eine Zuwendung zu den
veränderlichen Faktoren erforderlich, die die geopolitischen und ökonomischen Parameter der
Region darstellen. Die politischen Gebilde im Nahen Osten, seine soziale Zusammensetzung,
die Beziehungen zwischen dem Westen und der Region sowie die Haupttagesordnungspunkte
der nahöstlichen Politik sind die wesentlichen Bereiche, die in diesem Kontext vor dem
Hintergrund neuer weltpolitischer Machtverhältnisse zu analysieren sind.
Der Ausdruck „Naher Osten“ bezeichnet eine von Europa, im Besonderen von Groß-
britannien so benannte geographische Region. Wenn eine neutralere Bezeichnung gewählt
worden wäre, hätte man die Region vielleicht besser „Südwestasien” oder „Nordostafrika”
nennen können. Aber die Bezeichnung „Naher (oder Mittlerer) Osten” hat sich durch
immerwährenden Gebrauch in der jüngeren Geschichte der akademischen und politischen
Welt etabliert.
Trotzdem umschreiben verschiedene Autoren mit dem Begriff „Naher (Mittlerer) Osten”
unterschiedliche geographische Räume.247 Nach allgemeiner Auffassung umfasst der Nahe
Osten heute die Länder Türkei, Libanon, Syrien, Israel, das palästinensische Gebiet,
Jordanien, Ägypten, Irak, Iran, Saudi-Arabien, Kuweit, Bahrein, Qatar, die Vereinigten
Arabischen Emirate, Amman und Jemen. Manche politische Geographen schliessen auch
nordafrikanische Länder wie Lybien, Marokko, Tunesien und Algerien mit ein; andere zählen
noch den Sudan hinzu, weil er Mitglied der Arabischen Liga ist. Wer den Nahen Osten eher
als „Mittleren Osten” definieren möchte, addiert noch Afghanistan und Pakistan, ja sogar
247 Zur Definition des Nahen und Mittleren Ostens siehe Brown, Carl L.: Politics and Middle East, Princeton 1984, S. 5 ff.; Davison, Roderik H.: Where is the Middle East, in: Nolte, Richard H. (Hrsg.): The Modern Middle East, New York 1963, S. 13-29; Hurewitz, Jacob C.: Middle East Politics. The Military Dimension, New York 1969, S. 3
126
Zypern und Griechenland dazu.248 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es
darüber hinaus Analytiker, die die zentralasiatischen und kaukasischen Staaten (insgesamt
acht Länder) unter dem Begriff „Greater Middle East” zusammenfassen.249
Vorliegend soll auch der „Nahe Osten” ein Gebiet umschreiben, das in gängiger Weise
Kleinasien einschliesst, aber Nordafrika (mit Ausnahme von Ägypten), Kaukasien und
Zentralasien nicht mit einbezieht. Es macht hier auch wenig Sinn, in einer Analyse über den
Nahen Osten mit Fokusierung auf die Türkei die Region in einem möglichst weiten Sinne zu
definieren.
Der Nahe Osten wird im Westen vielfach als ein an sich homogener Raum dargestellt.
Dennoch besteht die Region aus sehr unterschiedlichen ethnischen, religiösen und
sprachlichen Gruppierungen. Die Unterschiede sind damit sicherlich nicht erschöpft, denn die
Region ist auch in Hinblick auf Klima, Bevölkerungsdichte, soziokulturelle und wirtschaft-
liche Eigenschaften sehr vielfältig. Zu bemerken ist indessen, dass die ethnische Herkunft und
die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Strömungen des Islam von all diesen unterschied-
lichen Merkmalen stets eine sehr hervorgehobene und kritische Rolle bei der politischen
Entwicklung gespielt haben. 250
Die Region lässt sich hinsichtlich ihrer ethnischen Zusammensetzung in zwei Hauptgruppen
einteilen, nämlich Araber und Nichtaraber. Die Araber machen in 12 von 15 Ländern der
Region die dominante Ethnie aus. Nichtaraber lassen sich in Nationen mit einem eigenen
Staat (Türkei, Iran, israelische Juden) und ethnische Gruppen ohne einen eigenen Staat
(Minderheiten) einteilen - die Kopten in Ägypten und die Assyrer (oder Suryani) im Iran, in
Syrien, der Türkei und dem Irak sind dabei nennenswert. Die größte ethnische Gruppe der
Region ohne einen eigenen Staat sind zweifellos die Kurden, die über die Türkei, den Irak,
Iran und Syrien verteilt leben.
Vor einer Analyse der Akteure und deren Machtpotenzial im Nahen Osten sollte eine wichtige
Feststellung über die allgemeine Dynamik der Region erfolgen: Der Nahe Osten befindet sich
248 Ghosher, Baher A.: Making Sense of Middle Esat Geopolitics, Focus, Winter 1992, Vol.42, Nr. 4, S. 20-25, insb. S. 21 249 vgl. Menashiri, David: Central Asia Meets the Middle East, Frank Cass Publ., London 1998, S. 13 ff. 250 Für eine kurze, aber griffige Analyse siehe Steinbach, Udo: Politisches Lexikon Nahost, 2. Auflage, C.H.Beck Verlag 1992, S. 54
127
in einer geostrategisch und für politische und wirtschaftliche Interessen äußerst wichtigen
Lage. Das Gebiet liegt am Schnittpunkt dreier Kontinente, was sowohl Vor- als auch
Nachteile mit sich bringt. Die Region kann man auch kurz als Afro-Eurasien bezeichnen.
Aufgrund ihrer Lage hat die Region seit jeher die Vorteile des Handels genossen, wurde aber
auch zur Kampfarena fremder Mächte, die den durch Handel akkumulierten Reichtum unter
ihre Kontrolle bringen wollten und wollen.
Mit dem Bau des Suez-Kanals und der Förderung von Öl als lebenswichtigem Rohstoff der
Weltwirtschaft (beide Entwicklungen fielen ungefähr in dieselbe Zeit) wuchs die
geostrategische Bedeutung des Nahen Ostens immens. Die Staaten des Nahen Ostens
kristallisierten sich erst nach dem 1. Weltkrieg heraus. Ethnische und religiöse Differenzen
wurden durch ehemalige Kolonialmächte mit einer Politik des „Teilens und Herrschens”
gefördert, so dass der Nahe Osten heute immer noch als ein „Hexenkessel” internationaler
Politik bezeichnet wird. Alle Grenzen der Staaten außer denen der Türkei und des Iran
scheinen mit einem Lineal gezogen worden zu sein. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen
historisch gewachsenen politischen Gebilden aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörig-
keiten. Ganz im Gegenteil hatte es die Politik des Teilens und Herrschens zum Ziel, kon-
kurrierende Volks- oder Religionsgruppen in einem Staatsgebilde in ständiger gegenseitiger
Spannung leben zu lassen.
Das Gebiet des Osmanischen Reiches, das am Ende des 1. Weltkriegs zu den besiegten
Staaten gehörte, wurde durch das Abkommen von Sykes-Picot zwischen Großbritannien und
Frankreich aufgeteilt. Hier wurden sog. Mandats-Staaten gegründet, deren Grenzen oft
tatsächlich auf der Landkarte mit einem Lineal gezeichnet worden sind. Das hatte eine große
Wirkung auf die arabischen Länder. Die Araber blieben auf viele Staaten aufgeteilt. Außer
einem Experiment unter Nasser konnte der Traum eines gemeinsamen arabischen Staates bis
heute nicht verwirklicht werden.
Die für den Nahen Osten im Abkommen von Sykes-Picot festgelegten Grenzen wurden
ergänzt durch den Partitions-Plan der UNO von 1947, der in Palästina die Gründung eines
jüdischen Staates vorsah. Sowohl dieser erste Plan als auch seine Ergänzung von 1948
wurden zur Ursache vieler sozialer und politischer Probleme im Nahen Osten von heute.
128
Die Auswirkungen der Politik des Teilens und Herrschens haben sich vor allem im Kalten
Krieg (wie im vorherigen Kapitel dargestellt) auf verheerende Weise gezeigt. Ab 1990, als der
Kalte Krieg zu Ende ging, schien zuerst auch im Nahen Osten eine Zeit des Wandels und
Friedens einzukehren. Dennoch konnte von Stabilität nicht die Rede sein: die Region schritt
in eines von Instabilität und massiver Gewalt geprägtes Zeitalter. Das Gebiet, das in den
Augen des Westens zu einem Human-Ressources-Lager in Sachen “islamischer Fundamen-
talismus” wurde, geriet zur Hauptzielscheibe des “War on Terrorism”.251 Anders ausgedrückt
kann man durchaus die Behauptung aufstellen, dass der Kalte Krieg im Nahen Osten die
gesamten 90er Jahre des 20. Jahrhunderts hindurch weiter andauerte. Es darf als illusorisch
bezeichnet werden, dass hier im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch Frieden einkehren
kann, was sicherlich der neuen Weltordnung nach 1990 und dem Umstand zu verdanken ist,
dass die USA nach 1990 zur einzigen Weltmacht aufstieg und die Politik im Nahen Osten
weitgehend allein bestimmen konnte.
Heute versuchen die USA, eine neue Initiative namens „The Greater Middle East Project“ zu
entwickeln und umzusetzen, um die in ihren Augen bestehenden Mängel der bisherigen US-
Politik in der Region zu beseitigen. Jenseits von primär ökonomischen Zielen soll damit vor
allem die Demokratisierung in der Region vorangetrieben werden, die schlussendlich aber
auch die Basis für einen freien kapitalistischen Markt liefern soll. Wie in Kapitel 8.3 näher
erläutert wird, handelt es sich hierbei aber lediglich um ein Projekt und nicht um eine voll
ausgestaltete Politik; wie es in die Tat umgesetzt werden wird, ist heute nicht vorhersehbar.
Unbestritten ist aber, dass der Nahe Osten die zentrale Region ökonomischer Interessen ist,
die den Weltmarkt unter Vorherrschaft der USA bestimmt.
251 Gerges, Fawaz A.: America and Political Islam: Clash of Cultures or Clash of Interests?, 1999, S. 21ff.
129
8.1 „Die Neue Weltordnung“ – Machtpolitischer Strukturwandel in der
Region
Der Kalte Krieg endete mit dem Zusammenbruch der UdSSR. Die USA hatten dieses Ende
zwar herbeigesehnt und jahrzehntelang mit allen militärischen, ökonomischen und politischen
Mitteln tatkräftig unterstützt; als es jedoch so weit war, blieben auch sie erst einmal mit der
entstandenen neuen außenpolitischen Aufgabensituation zurück. Die Herausbildung eines
diesen Verhältnissen angepassten sicherheits- und außenpolitischen Konzeptes der USA
dauerte lange. Der Golfkrieg wurde zum ersten Testfeld dieser neuen amerikanischen
Weltpolitik. Unstreitig kann festgestellt werden, dass die USA in diesem Zeitalter und der
neugewonnenen Weltmachtmonopolstellung eine egozentrische Politik verfolgten und hierin
die anderen Staaten der Welt und vor allem die Entscheidungsmechanismen der Vereinten
Nationen mehrfach missachteten.
Auf den Golfkrieg folgten die Kriege und Tragödien im damaligen Jugoslawien. In
Jugoslawien wurde versucht, die serbische Dominanz beizubehalten; auf der anderen Seite
drängten die anderen Völker nach Unabhängigkeit, Autonomie, zumindest größere Freiheit
nach westlichem Verständnis. Das bisweilen harmonische Zusammenleben der Menschen aus
Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Kosovo, das für
das 20. Jahrhundert beispielhaft gewesen war, wurde den Expansionsbestrebungen Serbiens
bzw. den selbsternannten Zielvorstellungen eines “Groß-Serbien” geopfert. Bis dahin hatten
die USA eine gemäßigte Politik verfolgt, die an dem bestehenden Gleichgewicht festzuhalten
schien oder es zumindest nicht überstürzt verändern wollte. In dieser sensiblen Übergangs-
phase, als sich die politischen Diskussionen um die Frage drehten, ob das internationale
bipolare System von einem multipolaren oder unilateralen System abgelöst würde, verfolgten
die USA eine eher gemäßigte, zurückhaltende Politik.252 Nur kurze Zeit später meldeten die
USA indessen ihre Hegemonialansprüche auf dem Balkan an, diesmal hingegen in
Zusammenarbeit mit der NATO. Eine Verfestigung ihrer Vormachtstellung war damit
gleichzeitig verbunden.
252 Xhudo, Gazmen: Diplomacy and Crisis Management in the Balkans, MacMillan Press, London 1996, S. 82
130
Zu Beginn der 90er Jahre hatte das Ende des Kalten Krieges auch im Nahen Osten zu der
Hoffnung geführt, dass die jahrzehntelang fest gefahrenen Probleme eine Lösung erfahren
könnten. Dabei wurde zunächst die Interessenlage des irakischen Präsidenten Saddam
Hussein und seine anschließende Kuweit-Invasion außer Acht gelassen. Es kann sicherlich
nicht behauptet werden, dass der irakische Angriff auf Kuweit deshalb erfolgte, um eine
mögliche Lösung der Nahostfrage zu verhindern. Aber der Einmarsch irakischer Truppen in
Kuweit hat die damals geheimen Friedensgespräche in Norwegen über das Palästina-Problem
und somit einen möglichen Friedensschluss sicherlich sabo-tiert.
Im August 1990 wurde die nähere Zukunft der Welt, der USA, des Nahen Ostens und der
Türkei durch den Golfkrieg bestimmt. Der Platz und die politische Stellung, den der Irak noch
am Anfang des Jahres 1990 im Hinblick auf die USA, den Nahen Osten insgesamt und die
Türkei einnahm, ist ein ganz anderer als nach dem Golfkrieg im August 1990. Der Irak zog
jegliche politische Aufmerksamkeit auf sich. Die USA beschäftigten sich nun mit einer Frage,
die für sie primär vor der UdSSR, Jugoslawien, dem Iran, dem Libanon, Syrien und Lybien
stand und von äußester politischer Relevanz war.
Die US-amerikanischen Aktivitäten, die zur Erhaltung der eigenen Interessen und zur
Unterdrückung derer des Irak ausgelöst wurden, durchliefen verschiedene Etappen wie den
Besuch des damaligen US-Verteidigungsminister Dick Cheney bei der Saud-Familie in Riad,
die daran gekoppelte Erlaubnis für die USA, auf dem Gebiet Saudi-Arabiens Stützpunkte zu
errichten sowie die vorzeitige Schließung der Öl-Pipeline Irak-Türkei durch den damaligen
türkischen Präsidenten Turgut Özal. So zwangen die USA schlussendlich Saddam Hussein,
sich aus Kuweit zurückzuziehen - eine teure, aber schnelle Lösung.
Mit dem Ende dieses Golfkrieges veränderte sich die Weltlage und damit auch die politische
Richtung der USA wie auch der Türkei grundlegend. Die USA erklärten diese neue Richtung
als die „Neue Weltordnung”. Das Ende des ohnehin beendeten Kalten Krieges wurde der
Welt auf Malta verkündet. Die Sowjetunion unter dem Präsidenten Michail Gorbatschow
hatte dem Golfkrieg passiv zugesehen und keine andere Präsenz zeigen können. Der Nahe
Osten, der Kaukasus und Zentralasien hoben sich als die Regionen hervor, die im Zuge der
Neuen Weltordnung neu „strukturiert” werden sollten. Die „Neue Weltordnung” war ab
Anfang der 90er Jahre nicht etwa eine von den USA konzipierte und vorgelegte Politik. Die
131
USA nahmen dieses neue Konzept nur als eine Weltmacht an und erwarteten von der übrigen
Welt, dass sie daran partizipierte. Die Neue Weltordnung ist eine Übergangsperiode nach dem
Kalten Krieg. Sie ist seit über zehn Jahren die beherrschende politische Ordnung. Auch wenn
die sog. Globalisierung und die Neue Weltordnung zeitgleich erfolgen, bedeutet das nicht,
dass sie sich gleichen. Die Globalisierung ist eine Entwicklung in der Welt, die lange zuvor
begonnen hat.
Eines der Leitmotive der Neuen Weltordnung ist die These von Samuel Huntington über den
„Kampf der Zivilisationen”.253 Die zentralen Prognosen waren, dass eine mögliche Spannung
zwischen dem Islam und dem Christentum das 21. Jahrhundert prägen würde und dass dieser
Kampf der Zivilisationen sich vor allem im Nahen Osten und in der angrenzenden Region
abspielen würde. Tatsächlich scheinen alle Entwicklungen der letzten 15 Jahre nach dem
Ende des Kalten Krieges diese These zu bestätigen. Zweifellos hängt das aber nicht etwa mit
der Richtigkeit der Kulturkriegsthese Huntingtons zusammen, sondern mit dem Kampf um
die politische und ökonomische Vorherrschaft in der Welt und die Kontrolle über die
wichtigsten Rohstoffressourcen.
8.2 Die Akteure der Nahostpolitik und ihr Machtpotenzial
Ein Blick auf die internationalen und regionalen Akteure, die seit dem Ende des Kalten
Krieges die Nahostpolitik prägen sowie die Spannungen und das Machtgleichgewicht
zwischen ihnen, ist notwendig, um die Bedeutung des Nahen Ostens in der türkischen
Außenpolitik aus einer breiteren Perspektive bestimmen zu können. Wenn von inter-
nationalen Mächten die Rede ist, muss an erster Stelle von den USA gesprochen werden, die
nach dem Zusammenbruch der UdSSR als einzige „Supermacht” geblieben sind. Keine
Region der Welt kann mehr ohne Einbeziehung der USA untersucht werden. Die Definition
der „Supermacht” lässt keine Ausnahmen zu. Wenn es gar um eine Region geht, wo nahezu
253 Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München, Wien 1996, S. 49
132
zwei Drittel des Weltöls gefördert wird, kann keine politische Analyse ohne Einbeziehung des
Faktors USA auskommen. Die regionale Politik der USA, die es stets zum Ziel hatte, die
Energiequellen des Nahen Ostens zu kontrollieren, hat selbstverständlich unter verschiedenen
US-Präsidenten Veränderungen erfahren. Aber die außenpolitische Maxime, dass der Nahe
Osten eine Region ist, die auf jeden Fall unter Kontrolle gehalten werden muss, hat sich über
alle US-Regierungen hin erhalten.
Die USA erhalten diese Kontrolle über den Nahen Osten nicht nur über ihre Alliierten in der
Region aufrecht, sondern seit Anfang der 90er Jahre auch durch eigenständige, direkte
militärische Interventionen. Israel ist seit seiner Gründung 1948 der engste Verbündete der
USA im Nahen Osten geblieben. Als zweiten treuen Verbündeten kann die Türkei bezeichnet
werden. Wie in der Ära des Kalten Krieges als Frontstaat der NATO führt die Türkei seit den
90er Jahren ihre „strategische Partnerschaft” mit den USA weiter. Der Iran war, bis er mit der
Islamischen Revolution 1979 einen anti-amerikanischen Kurs einschlug, neben der Türkei ein
weiterer sehr wichtiger Verbündeter der USA. Nach der Machtübernahme panarabischer
Regierungen (Nasser in Ägypten, Assad in Syrien und Saddam Hussein im Irak) waren die
Beziehungen der arabischen Staaten zu den USA jedoch eher problematisch und
spannungsreich. Ägypten hatte 1972 seinen außenpolitischen Kurs gewechselt und von der
UdSSR weg in Richtung USA geschwenkt. Arabische Königreiche wie Saudi-Arabien und
Jordanien wiederum unterhalten kühle Beziehungen zu Israel, stehen den USA aber sehr nahe.
Dass heute wichtige Wirtschaftsmächte der Welt wie die Europäische Union (vor allem
Großbritannien, Deutschland und Frankreich), China, die Russische Föderation und Japan
eine gewisse Präsenz im Nahen Osten besitzen und einen Einfluss auf die dortigen
Entwicklungen ausüben, ist nicht zu leugnen. Aber dieser Einfluss ist nicht mit dem der USA
zu vergleichen.254 Die wichtigste Motivation der US-Politik im Nahen Osten ist ohne Zweifel
die Kontrolle über das Erdöl. Die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Aktivitäten
der USA in der Region sind die wichtigsten Faktoren, die die Geopolitik des Nahen Ostens
bestimmen, so dass eine Analyse ihrer Interessenlage und darauf ausgerichteten Nahostpolitik
erforderlich ist.
254 Kaiser, Karl; Steinbach, Udo: Deutsch-arabische Beziehungen: Bestimmungsfaktoren und Probleme einer Neuorientierung, Oldenbourg Verlag 1999, S. 32
133
8.3 Die Nahostpolitik der USA und ihre Auswirkungen auf die
zwischenstaatlichen Kräfteverhältnisse in der Region
Mit ihrer Außenhandelspolitik verfolgen die USA das stetige Ziel, den Ölimport unter
Kontrolle zu bringen und den Preis niedrig zu halten. Dabei bedienen sie sich verschiedenster
Mechanismen.
8.3.1 Außenhandelspolitischer Ansatz
Der Einfluss der USA auf die Energie- und vor allem Ölpolitik im Nahen Osten wird durch
die Präsenz von Privatunternehmen (Energiekonzerne) in der Region verstärkt. Über Jahre
hinweg wurden US-Konzerne diesbezüglich gefördert, was zu weitreichenden Verflechtungen
mit den verschiedensten nahöstlichen Lieferstaaten und mit diesen zu wechselseitigen
finanziellen Abhängigkeiten (Kredite und Warenlieferungen aus den USA selbst) führte.
Seit den 50er Jahren haben die „Sieben Geschwister” namens Exxon, Chevron, Mobil,
Texaco, Gulf, Apoc und Shell ihre Aktivitäten hier ausgebaut. Das führte dazu, dass
sozusagen das Herz der Weltwirtschaft im Nahen Osten zu schlagen begann, und dass hier der
leiseste Hauch zu größeren Stürmen in der Weltwirtschaft führte. Der US-Präsident George
Bush sen. hat nach dem Golfkrieg 1991 betont, dass das nahöstliche Öl nur, wenn es in den
Händen befreundeter Staaten lag, sicher und gewiss in die Länder der freien Welt fliessen
würde. Dieser Grundsatz beeinflusst noch immer die außenpolitischen Beziehungen und das
internationale Machtgleichgewicht in der Region.
Der Nahe Osten besitzt drei Fünftel der Weltölreserven. Damit hat er ein großes Gewicht in
der globalen Energiepolitik. Wissenschaftlich fundierte Berechnungen des Ölpotenzials in
134
Zentralasien255 und im Kaukasus (Kaspisches Meer) zeigen, dass diese Regionen weit davon
entfernt sind, eine ökonomische Alternative zum Nahen Osten darzustellen (siehe Tabelle 1).
Im Jahr 2000 kamen mehr als ein Drittel des Ölbedarfs Europas und vier Fünftel des
japanischen Ölverbrauchs aus dem Nahen Osten, was darauf schließen lässt, dass das Öl noch
lange Jahre das Schicksal des Nahen Ostens bestimmen wird. Die Internationale
Energieagentur (IEA) schätzt außerdem, dass der Anteil des Nahen Ostens an der
Erdölproduktion der Welt bis 2010 noch steigen wird.256
Tabelle 1: Die Verteilung der Weltölreserven
REGIONEN % in Prozent Tausend Millionen Barrels
Naher Osten 63,3 726,6
Süd- und Mittelamerika 8,9 102,2
Afrika 8,9 101,8
Ex-UdSSR 7,4 85,2
Nordamerika 5,5 63,6
Asien und Pazifik 4,2 47,7
Europa 1,8 20,7
Quelle: Webseite der BP (British Petroleum), http://www.bp.com/liveassets/bp_internet/globalbp/globalbp_uk_english/publications/energy_reviews/STAGING/local_assets/downloads/pdf/oil_section_2004.pdf, (Stand Ende 2003)
Die USA besitzen keine nennenswerten Ölreserven, aber ihre Wirtschaft fußt auf Erdöl. Die
USA haben in den 50er Jahren von Anfang an „gut verstanden“, dass Erdöl eine sehr gute
Gewinnquelle sein würde. Dazu kommt die Tatsache, dass Erdöl nicht nur wirtschaftlich, aber
auch politisch die Entwicklungen in der Welt seitdem mitbestimmt. Das Öl und sein
gesicherter freier Zugriff darauf stellt daher die größte Wichtigkeit und ökonomische
Motivation der USA dar, im Nahen Osten auf allen Ebenen zu intervenieren. Die USA setzen
255 Für umfassende Informationen über die Erdölreserven in Zentralasien siehe Götz, Roland: Die kaukasische Ölpipeline und der Welterdölmarkt, in: Bundesinstitut für ostwissenschafttliche und internationale Studien, Nr. 24, Köln 1998, S. 23 256 vgl. Die Zeit, 23.05.2001
135
ihre politische und militärische Macht strategisch dafür ein, den Weltölmarkt zu etablieren
und abzusichern. Im Mittelpunkt der amerikanischen Orientpolitik stand zunächst die
Regelung des Energiemarktes, um Produktionsvolumen, Preise, Handelsstrukturen und
Energiepolitiken weltweit beeinflussen zu können.257 Es geht daher um eine elementare Preis-
und Versorgungsfrage für die USA, die den eigenen Ölbedarf selbst nicht decken kann.
Demzufolge stellt sie sich den Liefer- oder Ölstaaten vorerst mit der materiellen Wucht ihres
Vermögens gegenüber, für welches sie nicht nur Öl, sondern auch Zugriffsrechte und
Lizenzen einfordern. Dies geschah vor allem durch die Kooperation mit den Erdölkonzernen.
Anders ausgedrückt haben die USA aus den oben genannten Gründen diese reiche
Energiequelle in den unterentwickelten Staaten des Nahen Ostens durch unterschiedliche
Konzerne und ihre unveränderbare Politik unter ihre Kontrolle gebracht und deshalb nie unter
Erdölknappheit leiden müssen, obwohl sie selbst ihren Ölbedarf nicht decken können.
Der Platz, den das Erdöl in der US-Wirtschaft einnahm, brauchte nicht revidiert zu werden
und die Suche nach anderen Energiequellen kam nicht in Frage; ganz im Gegenteil wuchs die
Bedeutung des Öls in der US-Wirtschaft und Politik mit der Zeit. Mit ihrem Bedarf an Erdöl
wuchsen auch die Effektivität der US-Politik und der Einfluss der USA in der Region. Jede
Bewegung und jede örtliche Politik, die diesen Einfluss eindämmen wollte und die Rolle der
USA im Nahen Osten und den freien Fluss des Erdöls zu gefährden drohte, wurde von
amerikanischer Seite mit aller Vehemenz bekämpft.
Die US-Wirtschaft ist in ihrer Ausrichtung primär derart nach Erdöl ausgerichtet, dass die
Verdoppelung der Erdölpreise nach 1990 (auf 40 US-Dollar) die amerikanische Wirtschaft in
eine schwere Stagnation brachte. Heute verursacht ein Anstieg der Erdölpreise um 10 US-
Dollar ein Schrumpfen der US-Wirtschaft um 1%, was die Abhängigkeit der US-Wirtschaft
und der Weltwirtschaft vom Erdöl beweist. Die Erdölkonzerne aus den USA besitzen eine
sehr weit zurückreichende Geschichte im Nahen Osten.
Durch ihre privilegierte Stellung kontrollieren sie in Saudi-Arabien und Bahrein 100 Prozent
der Erdölförderung, in Kuweit 50 Prozent, außerdem 23,75 Prozent der Iraq Petroleum
Company und im Iran 40 Prozent des 1955 aktiv gewordenen internationalen Konsortiums.
257 Pawelka, Peter: Der Vordere Orient und die Internationale Politik; Stuttgart, Berlin, Köln 1993, S. 40-43
136
Aufgrund ihrer Privilegien haben US-amerikanische Konzerne schon in den 40er Jahren in
Qatar, 1960 und 1970 in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Amman mit der
Erdölförderung begonnen. Diese Entwicklungen führten zur Entstehung von zweierlei
Landkarten im Nahen Osten: Die eine zeigt die bestehenden politischen und geographischen
Grenzen der Staaten. Die andere Karte zeigt die Einflusszonen und die Bereiche der
Erdölsuch- und Verarbeitungskonzessionen der Konzerne, die Namen wie IPC, AOC oder
ARAMCO tragen und eine Hauptrolle in der internationalen Politik spielen.
Die USA besaßen neben Erdölkonzessionen außerdem eine Formel, das Erdöl billiger
einzukaufen bzw. die zwischenstaatlichen Konkurrenzen im nahöstlichen Raum für eigene
Zwecke zu nutzen. Henry Kissingers Entwurf einer Politik der „Massive Arms Sales to
Middle East” (Waffen gegen Erdöl) war nichts anderes als ein kluger Plan, die für Erdöl in
die Region fließenden amerikanischen Dollars wieder in die USA zurückzuholen. Diese
Strategie ist seitdem eine der Hauptsäulen der US-Politik in der Region.258 Das Thema lässt
sich auch in einem anderen Licht betrachten: Alle entwickelten Staaten verfügen über eine
starke Rüstungsindustrie. Die Staaten in krisengeschüttelten Regionen und zum Teil mit
autoritären Regimes haben zur Aufrechterhaltung ihrer staatlichen Autorität und Souveränität
grundsätzlich einen Bedarf an Waffen mit höheren technischen Standards. Deshalb
wetteiferten viele Nahoststaaten miteinander, um von der hochentwickelten US-Technologie
auch im Rüstungsbereich Gebrauch machen zu können. Neben den wirtschaftlichen Verflech-
tungen privater US-Unternehmen sorgte die Politik der „Massive Arms Sales to Middle East”
für einen weiteren nachdrücklichen Einfluss in der nahöstlichen Region im Sinne der USA.
258 Hartung, William D.: “Breaking the Arms-Sales Addiction”, in: World Policy Journal,Winter 1990-91, S. 7
137
8.3.2 Sicherheitspolitische Strategie
Wie in den vorherigen Abschnitten bereits behandelt, haben die USA ihre privilegierte
Stellung in der Region ausgebaut, um die Erdölförderung zu sichern. Andererseits wurde der
Profit durch die Politik „Waffen gegen Öl” maximiert. Das verursachte eine permanente
Instabilität in der Region, von der die Sicherheit des Westens abhing. Jeder neue Konflikt im
Nahen Osten erhöhte den Bedarf an neuen Waffenlieferungen, der von den hegemonialen
Mächten sogleich bedient wurde.
Die USA, die von 1960 bis 1970 ihre schwache Wirtschaft durch Waffenverkäufe in den
Nahen Osten ankurbelten, haben nach dem Krieg von 1973 ihren Waffenmarkt im Nahen
Osten mit Erfolg ausgedehnt. Die parallele Entwicklung zwischen dem Anstieg der
Erdölpreise nach der Krise von 1973 und der Zunahme an amerikanischen Waffenverkäufen
in die Region macht die gegenseitige Abhängigkeit beider Industriezweige beziehungsweise
die Kriegswirtschaft der USA transparent: Zwischen den Jahren 1973 und 1977 stieg der
Anteil Irans am gesamten Waffentransfer der USA in den Nahen Osten auf 42 Prozent; der
Anteil Saudi-Arabiens betrug von 1963 bis 1973 nur 16 Prozent, stieg jedoch in den Jahren
1973 bis 1977 auf 24 Prozent. 1974 fiel der Anteil Europas, Japans, Kanadas und Australiens
auf 14 Prozent, während der des Iran auf 45 Prozent stieg - eindrucksvolle Beweise für die
„Waffen-gegen-Öl-Politik“ in der Region. Auch der Krieg im Jahr 1980 zwischen dem Iran
und dem Irak diente in diesem Sinne vornehmlich den US-amerikanischen Interessen.259 Der
während des gesamten Krieges steigende Bedarf an Waffen erhöhte die Nachfrage nach
Rüstungsgütern, was zu mehr Erdölverkäufen in den Westen und zu einem rapiden Verfall der
Erdölpreise führte. Angesichts der halbierten Erdölpreise hat der Westen gegen weit weniger
Devisen viel mehr Öl einkaufen können. Seine Devisen holte er sich anschliessend mit
Waffenverkäufen an den Irak und den Iran zurück. Der Irak und Iran haben jahrelang
miteinander Krieg geführt. Wenn die eine Seite zu siegen drohte, wurde dem anderen gegen
Geld, das heißt gegen Erdöl ein bisschen mehr Waffen geliefert.
259 Für eine gute Analyse des 1. Golfkriegs siehe Krell, Gerd; Kubbig Bernd W.: Krieg und Frieden am Golf. Ursachen und Perspektiven, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1991, S. 89-101
138
In den Jahren 1990 und 2004 führen die USA Krieg gegen den Irak, wobei der Irak Waffen
einsetzte und einsetzt, die ihm größtenteils von den USA geliefert worden sind. Dass die USA
mit eigenen Waffen bekämpft werden, ist zumindest interessant und spiegelt die punktuell
ökonomische Ausrichtung ihrer Politik wider. Die „extreme Aufrüstung des Irak”, mit der
2003 der Schlag Washingtons gegen den Irak begründet wurde, ist durch niemand anderen
erfolgt als durch die USA selbst. Das ist eine Folge der „militarisierten Wirtschaft” der
Vereinigten Staaten. Trotzdem kann die Waffenverkaufspolitik der USA nicht als einziger
Grund für die Kriege und Konflikte im Nahen Osten bezeichnet werden. Diese Kriege und
Konflikte sind auch ein Ergebnis der sozialen und politischen Entwicklungen, die weit in die
Geschichte der Region zurückreichen. Die Rolle der USA besteht darin, dass sie aus den
Gegebenheiten pragmatisch den besten Nutzen für ihre nationalen Interessen zu ziehen
wissen.
8.3.3 Militärische Interventionspolitik
Um den nationalen und wirtschaftlichen Interessen der Vereinigten Staaten weitere Sicherheit
zu verleihen und um den freien Zugriff auf das Erdöl zu sichern, stellt die militärische
Interventionspolitik einen weiteren Pfeiler im nahöstlichen Aktionsraum dar. Für die USA
besteht nachhaltig die Gefahr, dass Ölstaaten, die ihre politische und wirtschaftliche Macht
mehren wollten, den Umstand nutzen können, dass die USA selbst ihren Ölbedarf nicht
decken kann. Der Rohstoff Öl könnte als Waffe eingesetzt werden, einerseits mit
Boykottdrohungen, andererseits durch Verschaffung von Kriegswaffen, um Korrekturen im
zwischenstaatlichen Kräfteverhältnis in der Region herzustellen, was die vitalen Interessen
der Vereinigten Staaten gefährden würde.260
Die nahöstliche Politik der USA ist deshalb gerade nach Erlangung der Supermacht-
monopolstellung nach dem Kalten Krieg von Militärinterventionen geprägt, um seine
260 vgl. hierzu: Gegenstandpunkt, Politische Vierteljahreszeitschrift, Ausgabe 1, 2001, S. 87-120
139
Interessen notfalls mit Gewalt durchzusetzen und die Machtgleichgewichte wieder
herzustellen. Bekanntlich wurden das Ende des Kalten Kriegs und die Etablierung der Neuen
Weltordnung nach der irakischen Invasion Kuweits mit dem 2. Golfkrieg und der
Stationierung US-amerikanischer Truppen im Nahen Osten eingeläutet. Die gestellten
Territorialansprüche des Irak auf Kuweit gehen historisch sehr weit zurück. Der Irak wollte
die Inseln im Bubija und Warba besitzen, um sich einen besseren Zugang zum Golf zu
verschaffen sowie Zugriff auf die Ölfelder zu haben, die im Festlandsockel dieser Inseln
lagen. 1972 hatte ein anderer irakischer Versuch für eine erste Krise gesorgt, die jedoch nach
intensiven diplomatischen Bemühungen der Arabischen Liga beigelegt worden war.
Im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak von 1980 - 1988 wurde das theokratische
schiitische Regime im Iran von anderen Staaten der Region wie Saudi-Arabien und Ägypten
als große Gefahr eingestuft, so dass eine große Mehrheit der arabischen Welt und die
sozialistischen Länder einschließlich der Sowjetunion den Irak unterstützten. Aber sie hatten
nicht damit gerechnet, dass diese immense Unterstützung den Irak zu neuen Zielen verleiten
würde, und dass Bagdad ihren Ambitionen zu einer regionalen Großmacht näher rückte. Der
Irak hat nach dem 1. Golfkrieg mit Hilfe der westlichen Staaten und der Waffenhändler eine
Million Arbeitslose bewaffnet und eine große Armee installiert. Die Krise von 1990/1991
kam also keinesfalls unangemeldet, sondern kündigte sich Schritt für Schritt an.
Mit der Erklärung des Irak, Kuweit offiziell eingemeindet und annektiert zu haben, kam die
neue Golfkrise nur an die Oberfläche. Bagdad versuchte in einem am 16. Juli 1990 an das
Generalsekretariat der Arabischen Liga geschickten Brief, seine Besetzung Kuweits zu
legitimieren. Demnach hatte Kuweit seit 1980 in dem zum Irak gehörenden Gebiet Rumeila
neue Bohrstationen eingerichtet und somit seine Produktion illegitimer-weise erhöht, was zu
einer Senkung der Ölpreise weltweit geführt und dem Irak einen großen wirtschaftlichen
Schaden von 14 Milliarden US-Dollar zugefügt hatte. Der Irak wollte von Kuweit eine
Entschädigung in Höhe von 2,4 Milliarden US-Dollar. Doch diese Gründe waren nur
vorgeschoben, denn wenn der Irak Kuweit eingemeindete, das durch sein Erdöl 1989 ein
Einkommen von 7,7 Milliarden US-Dollar hatte, würde er zu dem Land mit den zweitgrößten
Erdölreserven des Nahen Ostens nach Saudi-Arabien aufsteigen und somit zu einer nicht
aufzuhaltenden Großmacht in seiner Region.
140
Die neu avisierte irakische Politik basierte hingegen auch auf anderen Gründen, die wie folgt
zusammengefasst werden sollen: Die USA hatten Bagdad im Krieg gegen den Iran
unterstützt. Der Irak erhoffte sich, dass die USA auch jetzt die Annektierung Kuweits
zumindest tolerieren würden. Er hatte nach den acht Jahren des Krieges seine militärische
Macht weiter ausbauen können, während der Iran finanziell erschöpft aus dem Krieg
herausgegangen war, weshalb Bagdad nicht mehr mit einer neuen iranischen Front gegen sich
rechnete. Vor dem Krieg besaß der Irak Devisenreserven in Höhe von 35 Milliarden US-
Dollar, ging jedoch aus dem Krieg mit Schulden in Höhe von 80 bis 100 Milliarden US-
Dollar heraus und benötigte daher dringend neue Quellen. Schlussendlich glaubte der Irak,
dass die anderen Staaten in der Region, die er ja gegen die „iranische Gefahr“ verteidigt hatte,
der Annektierung Kuweits nichts entgegensetzen würden.
Der Irak aber ignorierte einen sehr wichtigen internationalen Aspekt: Sowohl die wichtigsten
Staaten der Region als auch die Staaten in der Welt, die zwar nicht zur Region gehörten, die
aber hier vitale Interessen hatten, würden den Irak niemals zur Großmacht des Nahen Ostens
aufsteigen lassen wollen. Als der Irak am 2. August 1990 in Kuweit einmarschierte, hatte er
keinerlei Unterstützung mehr. Die Regierung Bagdads zeigte sich außerstande, dies real
einzuschätzen. Vom ersten Tag an lehnte sie deshalb die Vermittlungsangebote der UNO für
Frieden ab. Der Irak wehrte sich gegen das Wirtschaftsembargo und erklärte Kuweit am 28.
August 1990 zu seiner 19. Provinz. Verschiedene Initiativen, die bis zum 16. Januar 1991
andauerten, blieben ohne Erfolg. Die USA, die sich in erster Instanz für die Sicherheit im
Nahen Osten – und hauptsächlich der eigenen Interessen - verantwortlich fühlten,
übernahmen die Führung der „internationalen Koalition“. Amerikanische Flugzeuge, die am
17. Januar 1991 von saudi-arabischen Stützpunkten abhoben, bombardierten die ersten
irakischen Ziele und starteten somit die „Operation Wüstensturm” (Desert Storm).261
Die „Internationale Koalition” bestand hauptsächlich aus US-amerikanischen Truppen, die
von den Militärs folgender Staaten unterstützt wurden: Großbritannien, Frankreich, Italien,
Spanien, die Niederlande, Belgien, Dänemark, Norwegen, Griechenland, Sowjetunion,
Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, Marokko, Pakistan, Bangladesch, Kanada, Argentinien und
Australien.
261 vgl. Krech, Hans: Vom 2. Golfkrieg zur Golf-Friedenskonferenz 1990-1994, Edition Temmen 1996, S. 37-41
141
Der Irak versuchte zwar, indem er Scud-Raketen auf Israel abfeuerte, die arabische Welt auf
seine Seite zu ziehen, aber die fehlende Gegenwehr aus Israel nahm diesem Versuch seine
Wirkung. Der Irak konnte der modernsten Kriegstechnik aus den USA und den verheerenden
Luftangriffen nicht lange standhalten und verkündete am 28. Februar 1991 seinen Rückzug
aus Kuweit. 262 Saddam Hussein hatte seinen strategischen Fehler, Kuweit zu besetzen,
verschlimmert, als er die Vermittlungsversuche der UNO überhörte und sich nicht aus Kuweit
zurückzog.
Resultat dieses Unterfangens waren für den Irak große militärische und wirtschaftliche
Verluste. Die dadurch entstandene Autoritätslücke im Irak nach diesem 2. Golfkrieg versuchte
vor allem die kurdische Bevölkerungsgruppe für sich zu nutzen, allerdings mit verheerenden
Folgen. Als sich die Kurden 1991 im Norden des Irak gegen das Saddam-Regime erhoben,
antwortete er mit den Massakern von Halabdscha. Nahezu eine Million Peschmergas flohen
danach mit ihren Familien über die Grenzen des Irak in die Türkei und den Iran. Dies förderte
erneut die Instabilität des Nahen Ostens und somit die Auseinandersetzungen um Öl und
Macht in der Region. Auch hier darf die Rolle der USA nicht außer Acht gelassen werden:
Um ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss in der Region zu sichern, richtet die USA
in ihrer politischen Ausrichtung ihr Hauptaugenmerk darauf, dass der Nahe Osten stets eine
zerstückelte und schwache politische Struktur aufweist. Mit der „Operation Provide Comfort”
nahmen die USA mit ihren Verbündeten den Nordirak unter Kontrolle und benutzten nun die
Kurden als Instrumente ihrer Interessen. Der im Nordirak ausgerufene Bundestaat
„Kurdistan“ wurde von den USA und den anderen Großmächten von Anfang an unterstützt.
Für sie war und ist es zweifellos lebenswichtig, dass sich das Öl in „befreundeten Händen“
befindet.263 Der deutsche Stratege Friedrich Ratzel, der zu der Kristallisierung der
Weltherrschaftstheorien nach der Industriellen Revolution beitrug, sagt in seiner Theorie über
den „Lebensraum” der Deutschen: „Der Staat ist ein einzelliger Organismus. Er will sich
fortentwickeln und ausdehnen. Die Ausbreitungspolitik des Staates wird durch die Besetzung
primitiver und kleiner Staaten von außen ermöglicht. Auf diesem kleinen Planeten ist nur
Platz für einen einzigen großen Staat.” Viele andere Strategen, die sich von Ratzel
262 vgl. ebd. 263 Für eine sehr aktuelle Analyse der westlich-amerikanischen Präsenz im Nahen Osten siehe de Benoist, Alain: Die Schlacht um den Irak. Die wahren Motive der USA bei ihrem Kampf um Vorherrschaft, Junge Freiheit Verlag 2003, S. 1-2
142
beeinflussen ließen wie Mackinder, Spykman oder Mahan haben Theorien einer
Weltherrschaft entwickelt. Allen diesen Theorien liegt die Idee zugrunde, dass „wer die
Energiequellen und Rohstoffe besitzt, den Weltmarkt beherrscht; und wer den Weltmarkt
beherrscht, die Welt beherrscht”.
Die Außenpolitik der USA dreht sich um diesen zentralen Gedanken und führte in diesem
speziellen Fall dazu, dass die USA nach Beendigung der Golfkrise 1991 nach neuen Wegen
suchten, im Nahen Osten zu bleiben. Dass sich die USA auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts
im Lichte ihres unveränderten Zieles, aber jetzt unter anderen Vorwänden, wieder im Irak
befinden, ist ebenfalls als eine Folge dieser Politik zu betrachten. Nach den Terrorangriffen
vom 11. September 2001 auf New York und Washington wurde als sogenannte „Bush-
Doktrin” verkündet, dass die USA weltweit gegen jede Macht kämpfen würden, die den
Terror unterstützt.264
Das eigentliche Ziel hinter der amerikanischen Invasion in Afghanistan unter dem Vorwand,
Bin Laden aus seinem Versteck zu holen, ist es, sich zwischen den Öl- und Erdgasfeldern des
Kaspischen Meeres und China zu positionieren. Darin spiegelt sich das grundlegende
Interesse, wie es Zbigniew Brzezinski einst ausgedrückt hat, „sicherzustellen, dass keine
einzelne Macht die Kontrolle über diesen geopolitischen Raum gewinnt.“265 Danach würden
sich die USA an den Nahen Osten wenden, um ihre rapide abnehmenden Ölreserven wieder
aufzustocken. Die USA konsumieren nahezu ein Drittel aller Energiereserven der Welt.
Sobald ihre Ölreserven abnahmen, begannen sie das in Texas geförderte Erdöl in den
Ölraffinerien zu lagern und Pläne gegen den Irak zu schmieden, aus dem sie am leichtesten
neues Öl bekommen konnten. Auch wenn sie als Grund ihrer Irak-Operation angaben, das
potenzielle Terrorrisiko zu beseitigen oder dem irakischen Volk „Demokratie zu bringen” zu
wollen, ist der eigentliche Grund offensichtlich ökonomischer Natur.
264 Bush, George W.: State of the Union, 29.01.2002, in: www.whitehouse.gov/news/ releases/ 2002/01/ 20020129-11.html 265 Brzezinski, Zbigniew: The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, New York 1977, S. 148
143
KAPITEL 9: Richtlinienwandel türkischer Nahostpolitik
Im vorangegangenen Kapitel wurde erläutert, dass die Türkei in der internationalen Mächte-
konstellation über lange Jahrzehnte zwar eine wichtige strategische, aber eher statische
Position einnahm. Die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts brachten in dieser Hinsicht mit dem
Zerfall der Sowjetunion wichtige Veränderungen mit sich. Neue außenpolitische Themen
traten in der Türkei auf die Tagesordnung und manche innenpolitische Themen wurden auch
in der Außenpolitik wichtig. Die Türkei begann insgesamt, sich im Nahen Osten vom
Zaungast zum aktiven Mitspieler zu entwickeln. In den Beziehungen zu Israel, bezüglich der
Zukunft des Irak und in der Kurdenfrage versuchte die Türkei, nunmehr eine aktivere Rolle zu
spielen. Das hat mit den neuen Möglichkeiten zu tun, die die geopolitischen Veränderungen
der 90er Jahre der Türkei boten; aber auch damit, dass sich die Türkei in ihrer Region immer
stärker zu einer militärischen und wirtschaftlichen Macht entwickelte. Diese Entwicklung, die
1996 unter der Regierung der proislamischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi - RP) offen-
sichtlich wurde, machte die Türkei von einem passiven zu einem aktiven Nachbarn in ihrer
Region. Die aktive Haltung wurde auch in der Zeit der darauffolgenden Regierun-gen
fortgesetzt. Heute verfolgt die Regierung der Partei der „Entwicklung und Gerechtigkeit
(AKP)“ bezüglich der türkeirelevanten Themen eine aktive Diplomatie und versucht
insbesondere, über ihren Handelsminister die wirtschaftlichen Beziehungen zu ihren Nachbar-
staaten zu intensivieren. Aber der eigentliche Motor dieser Entwicklung wurde schon in den
80er Jahren durch die exportorientierte Wachstumspolitik des verstorbenen türkischen
Ministerpräsidenten und späteren Staatspräsidenten Turgut Özal angekurbelt. Die neue
Wachstumsstrategie der 80er Jahre begann in den 90er Jahren erste Früchte zu tragen.
Die Türkei konnte sich somit besser an neue geopolitische Entwicklungen anpassen. Gemäß
dieser zur Zeit Özals formulierten Strategie sollte die Türkei in ihren Grenzregionen Balkan,
Kaukasus und Naher Osten eine aktivere Rolle übernehmen. An der Herausbildung dieser
neuen Strategie spielten das Ende des Kalten Krieges und der türkischen Rolle als Frontstaat
der NATO eine wichtige Rolle, denn die Türkei war gezwungen, einen neuen Platz in der
144
Weltpolitik zu finden. 266 Vor einer Vertiefung in die Dimensionen und Grenzen der heutigen
Aktivitäten der Türkei ist es erforderlich, die Stellung des Landes innerhalb des nahöstlichen
Machtgefüges im Lichte geostrategischer Parameter zu bewerten.
Im Kalten Krieg hatten die Beziehungen der Türkei zur arabischen Welt des Nahen Ostens
einige wichtige Charakteristika. So hatte die Türkei, parallel zu ihrer eher zurückhaltenden
Außenpolitik, weder in den innerarabischen Konflikten noch in den arabisch-israelischen
Auseinandersetzungen oder im irakisch-iranischen Krieg Partei ergriffen.267 Außer ihrer
Mitgliedschaft im Bagdad-Pakt (1955-1958) blieb sie neutral bzw. blockfrei. Die Zeit wurde
inaktiv und mit der Politik des „low profile“ verbracht. Darüber hinaus wurde die Türkei 1949
das erste muslimische Land, das Israel offiziell anerkannte. Sie stellte sich jedoch nicht gegen
die Belange der Palästinenser, im Gegenteil näherte sie sich mit der Zeit eher der
palästinensischen Seite an.
Im Kalten Krieg entwickelte die Türkei mit ihren Nachbarn einen Außenhandel, der auf der
Formel „Exportgüter gegen Öl“ basierte. Dieser Handel erzielte ein erhebliches Volumen,
auch wenn es niemals das Nievau erreichte, das er in den 90er Jahren bekommen sollte. Vor
allem nach der Ölkrise von 1973/1974 stieg der türkische Bedarf an Erdöl, sodass das
Handelsvolumen mit den arabischen Ländern zunahm.268 Die Türkei wurde von dem Ende des
Kalten Krieges in seinen Auswirkungen erheblich getroffen. Die neue Zeit brachte
grundlegende Fragen bezüglich des Platzes der Türkei in der westlichen Allianz mit sich.269
Die Antwort der Türkei auf die neue Situation war, eine einflussreichere Politik im Balkan,
im Kaukasus, in Zentralasien und dem Nahen Osten anzupeilen.270
266Kirisci, Kemal: New patterns in Turkish Foreign Policy Behaviour, in: Balim, Canan (Hrsg.): Turkey: Political, Social and Economic Challenges in 1990`s, Leiden; E. J. Brill, 1995, S. 67 267 Für eine detaillierte Bewertung dieser Zeit siehe Karaosmanoglu, Ali L.: Turkey`s Security and the Middle East, in: Foreign Affairs, Vol. 62, Nr. 1, Februar 1983, S. 157-175; Helms, Christine Moss: Turkey`s Policy Towards the Middle Esat: Strength Through Neutrality, in: Middle East Insight, Vol. 6, Nr. 3, 1988, S. 40-46 268 vgl. Balim, Canan: Turkey: Political, Social and Economic Challenges in 1990`s, Leiden; E. J. Brill, 1995, S. 43 269 Sayari, Sabri: Turkey: The Changing European Security Environment and the Gulf Crisis, in: Middle East Journal, Vol. 46, Nr. 1, Winter 1992, S. 10 270 Mackenzie, Kenneth: Turkey`s Circumspect Activism, in: The World Today, Vol. 49, Nr. 2, Februar 1993, S. 25
145
9.1 Türkische außenpolitische Grundsatzentscheidungen nach 1990
Nach dem Kalten Krieg fand sich die Türkei im Zentrum einer großen geographischen
Region, die sich von Europa bis nach Zentralasien erstreckte. Die geopolitische Bedeutung
dieser Region würde im neuen Millenium steigen. Die Türkei hatte ihre Erfahrungen auf dem
Gebiet der Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung sowie ihre vielfältigen Beziehungen
zu den meisten Ländern dieser Region dazu benutzt, zum Wandel in der Region beizutragen.
So wurde die Türkei zur Vorreiterin bei der Gründung der Schwarzmeer-Wirtschafts-
kooperation (Black Sea Economic Cooperation - BSEC), die zum ersten erfolgreichen
Beispiel der neuen Entwicklung in der Region wurde. Die Türkei initiierte die Gründung der
Schwarzmeer-Task-Force, die bei Notfällen und Umweltkatastrophen einspringt. Die BSEC,
die heute aus einer Reihe von Gründen inaktiv bleibt, hatte vor allem Anfang der 90er Jahre
den Anspruch, eine wichtige regionale Zusammenarbeitsorganisation zu sein. Eine andere
regionale Organisation, die anfangs die Türkei, den Iran und Pakistan einschloss, die Regional
Cooperation Organization (RCO), hat inzwischen ihre Mitgliederzahl erhöht. Sie weitete sich
in den Kaukasus und nach Zentralasien aus und nahm Aserbeidschan, Kasachstan, Kirgisien,
Turkmenien, Usbekistan und Tadschikistan auf. Sie realisiert heute Projekte in verschiedenen
Bereichen.
Die Türkei, die nach dem Kalten Krieg an internationalen Operationen teilnimmt, beteiligte
sich an den friedenserhaltenden und -wiederherstellenden Maßnahmen in Somalia, Bosnien-
Herzegowina, Albanien, im Kosovo und in Georgien. Außerdem führte sie zeitweilig die
International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan und beteiligte sich mit ca.
1400 Soldaten an ihr. Im Auftrag der UNO, NATO und der OSZE schickte die Türkei
Einheiten, Material und Beobachter nach Somalia, Bosnien, Mazedonien und in den Kosovo,
nach al-Khalil, Georgien, Osttimor und zuletzt nach Afghanistan. Sie ist somit auf dem besten
Wege, ihre außenpolitische Aktivität zu verstärken.271 Wenn man die Angaben des türkischen
Außenministeriums zu Grunde legt, hat die Türkei zwei Hauptziele, die ihre außenpolitische
Vision bestimmen.272
271 Für detaillierte Angaben auf diesen Feldern siehe Türk Disisleri Bakanligi (Webseite des türkischen Außenministeriums), http://www.mif.gov.tr/policieshtml; Übersetzung von Hüseyin Kartal 272 vgl. ebd.
146
Ihr erstes Ziel ist es, die Türkei zu einem Teil der europäischen Integration zu machen. Die
Türkei sieht sich in historischer, geographischer und ökonomischer Hinsicht als einen euro-
päischen Staat. Deshalb erwartet die Türkei, dass sie in kürzestmöglicher Zeit Vollmitglied
der Europäischen Union wird. Die Türkei trägt die Standards der Demokratie, des Laizismus,
der freien Marktwirtschaft, guter Gouvernance und bleibender regionaler Zusammenarbeit in
den Nahen Osten und nach Eurasien. Mit dieser Wirksamkeit übernimmt sie zugleich eine
Brückenfunktion zwischen ihrer Region und Europa.
Zweitens will die Türkei als natürlicher Kreuzpunkt zwischen Europa, Kaukasien, der
Schwarzmeerregion, dem Nahen Osten, dem Mittelmeer und Zentralasien eine Atmosphäre
von Sicherheit, Stabilität, Wohlstand, Freundschaft und Zusammenarbeit um sich herum
schaffen. Dabei stützt sie sich auf die pluralistische Demokratie und das laizistische System
im Inneren, auf ihre Bindung an den freien Handel, ihre multiple industrielle Grundlage und
ihre Armee mit ihren guten Erfahrungen bei der Erhaltung des Friedens.
Um zu verstehen, was die Türkei für den Westen nach dem Kalten Krieg vor allem
hinsichtlich der post-sowjetischen Region bedeutet, liefern westliche mediale Schlagzeilen
eindrucksvolle Anhaltspunkte: The Daily Telegraph: „Die Wiedergeburt eines alten
Imperiums” Jane’s Defense Weekly: „Aufsteigende Macht in einer Region des Wandels:
Türkei“ The Economist: „Der Stern, der den Turkrepubliken den Weg weist: Türkei”
Frankfurter Rundschau: „Die große Rache des von England und Russland geteilten kranken
Mannes” Die Welt: „Die Schwarzmeerinitiative der Türkei ist ein Zeichen dafür, dass sie
Zentralasien regieren könnte”273
Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstand eine internationale Instabilität und Ungewissheit,
was die Zukunft der ehemaligen Sowjetgebiete in Zentralasien und im Kaukasus anging. In
dieser Zeit wies der damalige US-Präsident George Bush sen. auf die Rolle der Türkei hin, die
sie als Vorbild für Laizismus und Demokratie für die neu entstehenden Republiken spielen
konnte.274 Danach wurde ungefähr drei Jahre lang das sogenannte, sehr übertrieben
dargestellte türkische Modell in der türkischen und internationalen Presse gepriesen. Ab 1995
273 übernommen von Bal, Idris: The Rise and The Fall of the Turkish Model, Ashgate Publ. London 2001, S. 107 274 Rashid, Ahmed: The Resurgence of Central Asia: Islam or Nationalism?, Zed Books, London 1994, S. 210
147
liess man dieses Thema fallen. Aber ca. zehn Jahre nach den oben erwähnten Worten Bushs
von 1992, begann nun George W. Bush, der neue Präsident der Vereinigten Staaten, sich
ähnlich zu äußern. Diesmal pries die US-amerikanische Führung der ganzen islamischen Welt
die Türkei als Beispiel. Der damalige türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit liess diese
Haltung nicht unbeantwortet und erklärte in den Tagen, als die amerikanische Afghanistan-
Operation zu Ende war und es nun um den Wiederaufbau Afghanistans ging: Afghanistan
kann nur durch das türkische Modell gerettet werden. Aber es wäre falsch zu behaupten, dass
diese Sichtweise in der Türkei unangefochten ist. Zusammengefasst erlebte die Türkei gleich
nach dem Ende des Kalten Krieges eine Zeit, in der sie vom Westen großes Lob und
Anerkennung im Sinne westlicher Interessen erntete. Diese Haltung war jedoch nicht lange
von Bestand. In der darauffolgenden Zeit wurde die Türkei nur noch ab und zu als ein Modell
erwähnt. Trotzdem konnte die türkische Außenpolitik eine noch nie dagewesene Aktivität
entfalten und in Gebieten, wo sie früher nicht aktiv gewesen war, einflussreiche Missionen
übernehmen.
9.1.1 Expansion außenpolitischer Einflussbereiche
Vor der Analyse der türkischen Nahostpolitik sollen deshalb die neuen Aktivitäten untersucht
werden, die sich vor allem auf den Balkan, den Südkaukasus und Zentralasien fokusiert. Der
Balkan durchlebte in der politischen Krisenatmosphäre nahe dem Ende des Kalten Krieges
intensive Konflikte. Die Türkei versuchte in dieser Zeit, nähere Beziehungen zu den einzelnen
Staaten des Balkan zu knüpfen und betonte hierbei ihre historischen Wurzeln in dem Gebiet.
Den muslimischen Regionen des Balkan wurde dabei eine besondere Bedeutung beigemessen.
Die Türkei beteiligte sich in vorderster Linie an den internationalen Bemühungen, die
Konflikte in Bosnien und im Kosovo zu beenden. Sie wirkte an wichtigen Initiativen wie dem
Südosteuropäischen Zusammenarbeitsprozess (South Eastern Europe Cooperation Process –
SEECP) und der Südosteuropa Brigade (South Eastern Europe Brigade- SEEB) mit. Sie
unterstützte den Osteuropäischen Stabilitätspakt und die Südosteuropäische Zusammen-
arbeitsinitiative (South Eastern European Cooperation Initiative - SECI). Ab Juli 2003
148
übernahm die Türkei beim Südosteuropäischen Verteidigungsministerkongress und dem
politisch-militärischen Exekutivkomitee der Südosteuropa Brigade turnusgemäß den
Vorsitz.275 Im Südkaukasus bemühte sich die Türkei, bei der Lösung festgefahrener Konflikte
in Regionen wie Berg Karabach und Abchasien zu helfen; sie bemühte sich um den Abbau
der allgemeinen Spannungen und förderte die Beziehungen der Staaten dieser Region mit der
übrigen Welt, vor allem mit den Institutionen des europäisch-atlantischen Paktes.
Die Türkei pflegt eine enge Partnerschaft mit Aserbeidschan, mit dem sie eine gemeinsame
Sprache, Kultur und Geschichte teilt. Die Türkei unterstützt Aserbeidschan als Land, das
seine Unabhängigkeit neu errungen hat, und erachtet es als sehr wichtig, dass diese
Unabhängigkeit geschützt die territoriale Integrität Aserbeidschans bewahrt und sein
Wirtschaftspotenzial, gestützt auf die natürlichen Ressourcen des Kaspischen Meeres,
ausgebaut werden. Das Problem Berg Karabach wird von der Tükei als das größte Hindernis
politischer Stabilität, wirtschaftlicher Entwicklung und regionaler Zusammenarbeit im
Kaukasus angesehen.276 Die Türkei als ein neues Mitglied der Minsk-Gruppe bewertet diese
Intitiative als wertvoll für die Förderung eines gerechten und dauerhaften Friedens. Sie
unterstützt außerdem direkte und indirekte Gespräche zwischen Aserbeidschan und
Armenien.
Die Türkei gründete ein Dialogforum für Gespräche zwischen den Außenministern
Aserbeidschans, Armeniens und der Türkei. Die erste Versammlung dieses Forums fand im
Mai 2002 in Reykjavik statt. Diese Gespräche werden im Rahmen der NATO-
Außenministerkonferenz fortgesetzt. Im Gegensatz zu den sich zeitweilig verbessernden, aber
insgesamt wegen des Karabach-Konflikts nicht gut verlaufenden Beziehungen zu Armenien,
pflegt die Türkei ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zu Georgien. Sie misst der
Bewahrung der territorialen Integrität Georgiens eine große Bedeutung zu und fördert die
vorhandenen guten Beziehungen. Aus der Sicht der Türkei gefährden die Probleme Abchasien
und Südossetien nicht nur den Frieden Georgiens, sondern der gesamten Region. So
275 vgl. http://www.mif.gov.tr/policieshtml, Übersetzung vom Hüseyin Kartal 276 vgl. Halbach, Uwe: Partner und Widerpart: Russland in der Außen- und Sicherheitspolitik kaukasischer und zentralasiatischer Staaten, in: Alexandrova, Olga; Götz, Roland; Halbach, Uwe: Russland und der post-sowjetische Raum, Baden-Baden 2003, S. 276 ff.
149
unterstützte die Türkei von Anfang an die Souveränität und territoriale Integrität Georgiens
und tritt auch heute für eine friedliche Lösung dieser Konflikte ein.
In der Postsowjetära zeigten sich in Aserbeidschan in den zentralasiatischen Turkrepubliken
für die Außenpolitik der Türkei neue Entfaltungsmöglichkeiten. Das türkische Volk hat eine
kulturelle Affinität zu den zentralasiatischen Völkern, sodass für die Türkei die Beziehungen
zu diesen Ländern stets viel bedeutet haben. Die Türkei war der erste Staat, der die
Unabhängigkeit dieser Länder in Zentralasien anerkannte und sie bei ihren Bemühungen um
eine Staatsbildung und den Ausbau ihrer Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft
unterstützte. Die Türkei ist wirtschaftlich in der Lage, in diese Region zu investieren. Der
Gesamtwert der von ihr für die fünf Staaten Zentralasiens bereitgestellten Kredite beläuft sich
auf über 1,5 Milliarden US-Dollar. Über 200 große türkische Unternehmen haben Projekte im
Wert von 8 Milliarden US-Dollar laufen. Im Rahmen der technischen und bildungspolitischen
Hilfen wurden für Studenten und öffentliches Verwaltungs-personal bis heute mehr als 10.000
Stipendiate und Bildungsangebote bereit gestellt.277
Die Beziehungen der Türkei zu Zentralasien und zum Kaukasus hängen nicht nur mit ihrer
kulturellen und historischen Nähe zu diesen Ländern zusammen, sondern auch mit ihren
wirtschaftlichen Erwartungen. Die Türkei ist dem Nahen Osten und dem Kaspischen Meer,
den beiden Regionen, die 70 Prozent der wichtigsten natürlichen Ressourcen der Welt
besitzen, geographisch sehr nahe gelegen. Für den Transport der kaspischen Öl- und
Erdgasreserven in die westliche Welt bietet sich der Verlauf von Pipelines vom Osten der
Türkei bis zum Mittelmeer als der kürzeste, billigste, in technischer und umweltbedingter
Hinsicht günstigste und sicherste Weg an. So hat sich die Türkei darauf konzentriert, die
Erdöl- und Erdgasreserven des Kaspischen Meeres und seiner Umgebung durch den Ost-
West-Energiekorridor zu transportieren.
Die Pipeline-Projekte, die den Kaukasus und Zentralasien mit Europa verbinden, sind für die
Integration der Türkei in den Westen sehr wichtig. Sichere und kommerziell lohnende
Pipelines werden Stabilität und Wohlstand fördern. Das Pipeline-Projekt von Baku über Tiflis
277 vgl. Bal, Idris: The Rise and The Fall of the Turkish Model, Ashgate Publ. London 2001, S. 23
150
nach Ceyhan am Mittelmeer (BTC) wurde sowohl für das zentralasiatische als auch das
aserische Öl geplant.278 Der juristische Rahmen des BTC Pipeline-Projektes wurde Ende 2000
verabschiedet. Die detaillierte Engineering-Arbeit wurde im Juni 2002 beendet. Der dritte und
letzte Abschnitt des Projektes, nämlich der Bau selbst, wurde im September 2002 begonnen
und dauerte 35 Monate. Die Grundsteinlegung fand am 18. September 2002 im Beisein der
Staatsminister der Türkei, Aserbeidschans und Georgiens und des Energieministers der USA
in der Sengatschal-Region Aserbeidschans statt. Außerdem wurde im Oktober 2002 zwischen
der Türkei und Aserbeidschan, und im Dezember 2002 zwischen der Türkei und Georgien der
Umwelt- und Sozialverträglichkeitsbericht des BTC-Projektes ratifiziert. Bei der Festlegung
des Pıpeline-Verlaufes haben auch regionale Bedingungen eine wichtige Rolle gespielt. Die
BTC-Pipeline wird nicht nur das kaspische Erdöl sicher in die westlichen Märkte befördern,
sondern auch den Tankerverkehr in den türkischen Meerengen vermindern, so dass sie viel
zur Sicherheit auf See, zum Schutz der Umwelt und zur Sicherheit der 12-Millionen-
Metropole Istanbul beitragen wird.279
Ein anderes wichtiges Projekt des Ost-West-Energiekorridors ist die Erdgaspipeline Baku-
Tiflis-Erzurum (BTE). Sie soll das aserische Erdgas über Georgien in die Türkei
transportieren. Ihr juristischer Rahmen ist abgeschlossen und die ersten technischen
Vorbereitungen sind getroffen.280 Weil das kaspische Öl und Erdgas mit mehr als nur einer
Pipeline transportiert werden, wird das Energieangebot für die europäischen Staaten
diversifiziert und sichergestellt. Im Rahmen des südeuropäischen Erdgasringes sollen die
Erdgaspipelines der Türkei und Griechenlands miteinander verbunden werden. Auch das wird
viel zur Gewährleistung der Energieversorgung Europas beitragen. In diesem Sinne ist die
Türkei ein unverzichtbarer Energiepartner Europas geworden, und ihre Energiepolitik deckt
sich mit der Energiestrategie der Europäischen Union. Der Energiesektor bildet ein wichtiges
Kooperationsfeld zwischen der Türkei und der EU. 281
278 vgl. ebd. 279 http//www.mif.gov.tr/policieshtml; Übersetzung von Hüseyin Kartal 280 ebd. 281 ebd.
151
Entsprechend der Quellen des türkischen Außenministeriums gibt es in der reichen und
vielversprechenden Region Nahost seit Jahrzehnten Aufruhr und Konflikte. Die Lösung dieser
Konflikte liegt im Interesse der Türkei, die von der Instabilität in der Region negativ
beeinflusst wird. So hat die Türkei die Elemente ihrer Nahostvision entwickelt, die sich auf
ihre eigenen Erfahrungen bei der Demokratisierung, der rechtsstaatlichen Entwicklung, des
Laizismus, der wirtschaftlichen Liberalität, der regionalen Zusammenarbeit und der
Bekämpfung des Terrorismus stützen. Dabei betont die Türkei vor allem die politische und
wirtschaftliche Partizipation in der Gesellschaft, Demokratisierung, Gouvernance, Verant-
wortung, Gleichberechtigung, die Vermeidung der Verbreitung von Massenvernichtungs-
mitteln und Transparenz in militärischen Angelegenheiten.
Die Türkei beteiligt sich aktiv an den Bemühungen, den Frieden im Nahen Osten
wiederherzustellen. Mit beiden Seiten, der palästinensischen Führung und der israelischen
Regierung, unterhält sie traditionell gute Beziehungen. Aufgrund dieser Stellung hat sie
bisweilen eine Mittlerrolle übernommen. Ankara unterstützt die Organisation einer neuen
internationalen Konferenz mit allen Kräften und will die Gastgeberin einer solchen Konferenz
sein. Die Türkei hat sich außerdem auf Bitten der Palästinenser und Israelis an der Temporary
International Presence in Al-Khalil (TIPH) beteiligt. Außerdem hat sie zur Arbeit des
Mitchell-Kommittees maßgeblich beigetragen. Sie beteiligte sich an den multilateralen Ver-
handlungen und will sich weiterhin daran beteiligen, falls der Prozess neu beginnen sollte. 282
9.1.2 Westadaptierte Nahostpolitik nach Turgut Özal
Der 1994 verstorbene türkische Staatsmann Turgut Özal, der von 1983 bis 1989 das Amt des
Ministerpräsidenten, und bis 1994 das Amt des Staatspräsidenten innehatte, hat in seiner Zeit
bei der Formulierung der Außenpolitik feststellbar eine Schlüsselrolle gespielt. Özal sah es als
notwendig an, die regionale Macht Türkei zu stärken, um sie als einen wichtigen und
wertvollen Alliierten des Westens zu erhalten. In der internationalen Politik gab er der
282 ebd. vgl.
152
Wirtschaft und dem Handel die Priorität, und sah in dem Ausbau der Handelsbeziehungen zu
den Nachbarstaaten der Türkei den Königsweg, um die Wirtschaft des Landes selbst zu
entwickeln. Das sollte wiederum die politische Macht der Türkei in ihrer Region stärken.
Özals Gedanken und Konzepte spielten vor allem für die Zeit von 1989-1991 eine
entscheidende Rolle. Özal erkannte im rechten Moment den internationalen, geopolitischen
Wandel und entwickelte sofort seine eigenen Konzepte bezüglich des Platzes, den die Türkei
in dieser sich rapide und gründlich verändernden Welt haben sollte.
Für die Türkei öffnete sich der Weg zu einer aktiveren Politik im Nahen Osten und in der
arabischen Welt vor allem mit der Golfkrise 1990-1991. Die Türkei gab ihre langjährige
Neutralitätspolitik in der Region auf und wurde zu einem entschiedenen Mitglied der
westlichen Allianz. Die Türkei hat in dieser Zeit die Pipeline Irak-Türkei, eine
Haupttransportader des irakischen Erdöls in den Westen, gesperrt. Sie hat den alliierten
Luftstreitkräften für die Angriffe auf den Irak ihren Luftwaffenstützpunkt Incirlik im Süden
des Landes zur Verfügung gestellt. So hat sie im Krieg des Westens gegen den Irak, der mit
UNO-Akzeptanz geschah, entscheidende Mithilfe geleistet. Özal wurde zwar im Innern mit
einer ernsthaften Opposition konfrontiert, hat jedoch mit gekonnten Manövern seine Politik
durchgesetzt.
Özals Politik im 2. Golfkrieg stützte sich auf die Annahme, dass der Irak nicht auf die
amerikanischen Angriffe antworten würde oder könnte. Diese Hypothese wurde von allen
geteilt. Özal wollte die Türkei an die Seite der Sieger stellen und weil er annahm, dass es
ihren künftigen Zielen förderlich sein würde. Die Ziele Özals bei der Aktivierung der
türkischen Außenpolitik auf der Seite des Westens lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. bei regionalen Ereignissen und Entwicklungen die Rolle und Funktion der Türkei
auszuweiten und zu stärken;
2. die Unterstützung Washingtons aufrechtzuerhalten und zu vergrößern;
3. den Prozess der Integration der Türkei als Vollmitglied der EU zu beschleunigen;
4. den Handel und die wirtschaftliche Kooperation mit den Nahoststaaten und vor allem
den Golfstaaten zu erweitern.283
283 Turkey`s New Middle East Role as Özal sees it. Briefing, Ankara 11.02.1991
153
Die Ergebnisse von Özals Strategie waren natürlich nicht ganz so, wie er es erwartet hatte.
Man kann sogar sagen, dass sie zum großen Teil den Erwartungen entgegengesetzte Resultate
und Entwicklungen verursachte. Auch wenn im Golfkrieg die strategische Bedeutung der
Türkei für den Westen noch einmal betont wurde, hieß das nicht, dass in der darauffolgenden
Zeit die enge Kooperation zwischen den beiden Seiten genauso weiterging. Die
ökonomischen Erwartungen der Türkei wurden größtenteils enttäuscht: Weder stieg ihr
Export in die Golfstaaten noch das Handels- und Geschäftsvolumen mit dem Nahen Osten. Im
Gegenteil: Die Sperrung der Ölpipeline und die Übernahme des Embargos gegen den Irak
brachten für die Türkei empfindliche wirtschaftliche Verluste, die für die Zeit von 1990 -
1994 auf 20 Milliarden US-Dollar beziffert werden.284 Auch die „Friedenspipeline”, das
Wasser der Flüsse Seyhan und Ceyhan aus dem Süden des Landes durch eine Pipeline an
Israel und arabische Länder vermarkten sollte und als ein Projekt von ca. 21 Milliarden US-
Dollar eingeschätzt wurde, gehört zu den Projekten, über die bis heute gesprochen wird, ohne
dass etwas Konkretes geschieht.285
Aus seiner Politik „eins zu setzen, um fünf zu gewinnen“286, wie Özal es ausdrückte, wurde
„fünf setzen und eins ernten“287. Ein anderer Faktor tauchte auf, dessen Wirkung bis heute
andauert: Die Initiativen der Türkei und ihre aktive Außenpolitik führte in arabischen Ländern
zu der Frage, ob die Türkei auf der Suche nach der Ausdehnung ihrer Herrschaft sei und diese
Sorge wurde immer öfter und lauter ausgedrückt. So kann man feststellen, dass zu Anfang der
90er Jahre die Bestrebungen der Türkei, eine aktivere Rolle in ihrer Region zu spielen, zu
wichtigen wirtschaftlichen und politischen Problemen in der Region führten. Trotzdem sollte
diese Ära - auch als die Özal-Epoche bezeichnet - der Anfang einer neuen Periode werden.
Auch wenn die Türkei aus dieser ersten aktiven Phase der Nahostpolitik nicht als strahlende
Siegerin hervorgegangen ist, gab sie Signale, dass sie ein diplomatisch ernstzunehmender
Staat wurde.
284 Für die ökonomischen Verluste der Türkei in dieser Zeit siehe: Petrolün bilancosu (Bilanz vom Erdöl), in: Milliyet, Istanbul, 17.01.1995; Übersetzung von Ümit Yazicioglu 285 Interview, “Özal: Türkiye`nin önünde hacet kapilari acilmistir” (“Özal: Vor Türkei`s Tür ist der Wallfahrtsort geöffnet”), in: Türkiye Günlügü Dergisi, Nr. 19, Sommer 1992, S. 5-23, Übersetzung von Ümit Yazicioglu 286 ebd. 287 ebd.
154
Diese Initiativen haben der Türkei auch andere Entwicklungen beschert. Ein Problem, das
nach dem Kalten Krieg zu einem der Grundparameter der türkischen Außenpolitik werden
und vor allem ihr Verhältnis zum Nahen Osten prägen sollte, erreichte seinen Höhepunkt
ebenfalls kurz nach dem Golfkrieg: die Kurdenfrage.
9.2 Parameterverschiebung in der Kurdenpolitik
Der neue Status quo im Irak nach dem 1. Golfkrieg brachte für die Türkei neue erhebliche
Sicherheitsprobleme. Die Ergebnisse des Krieges und das neu entstandene Bild des Nahen
Ostens haben die Türkei viel stärker in die Nahostpolitik hineingezogen als türkische Politiker
es je erhofft oder erwartet hatten. Als eines der gewichtigsten Probleme der Türkei mit
außenpolitischer Relevanz ist die „Behandlung“ der bis heute staatenlosen Kurden im eigenen
Land anzusehen. Dass die Koalitionsmächte der Herrschaft des irakischen Präsidenten
Saddam Hussein kein Ende setzen konnten, führte dazu, dass Zehntausende von Kurden, die
gegen Saddam Husseins Regime rebelliert hatten, nun aus Angst vor der Rache Bagdads im
März und April 1991 in die Türkei flohen. Dies machte die für die Politik der Türkei schon
immer schwierige Kurdenfrage für alle Staaten der Region, aber vor allem für die Türkei, viel
komplizierter und gefährlicher als zuvor.
Die Türkei hat zur Verhinderung weiterer großer kurdischer Flüchtlingswellen dem US-Plan
zugestimmt, die Zone über dem 36. Breitengrad im Irak unter Schutz zu nehmen. Für die
Operation Provide Comfort - OPC (Multinationale Überwachungsmission im Nordirak)
öffnete sie den Koalitionstruppen wieder ihren Luftstütztpunkt Incirlik. Das Ziel war, im
Nordirak eine sichere Zone zu schaffen, die vor den Angriffen Saddam Husseins verschont
blieb.
Die Kurden kamen damit gewissermaßen unter westlichen Schutz. Ihre Bindung an das
irakische Regime in Bagdad wurde abgebrochen. Das brachte praktisch ein neues kurdisches
politisches Gebilde auf den Plan.288 Die Türkei erwärmte sich traditionell nicht für die Idee
der Gründung eines unabhängigen Kurdenstaates und hatte dagegen ernsthafte Bedenken. 288 Kirisci, Kemal: Provide Comfort or Trouble: Operation Provide Comfort and its impact on Turkish Foreign Policy, Turkish Review of Middle East Studies Annual, Istanbul 1994-1995, S. 74
155
Aber unter diesen neuen Bedingungen war sie gezwungen, das durch die OPC entstandene
kurdische Gebilde indirekt zu akzeptieren, und sie führte mit den Anführern dieser Region
über Bürokraten des Außenministeriums indirekte Gespräche. Andererseits entwickelte die
Türkei ihre eigenen Methoden, um mögliche Auswirkungen dieser neuen Entwicklung auf
ihrem eigenen Territorium zu verhindern. In diesem Rahmen stationierte die Türkei an ihrer
Grenze zum Irak große Truppenkontingente und unternahm bei Bedarf grenzüberschreitende
militärische Operationen.
Die in der Türkei verbotene Kurdenorganisation namens „Partiya Karkeren Kurdiya“
(Kurdische Arbeiterpartei - PKK) unternahm seit 1984 in den Regionen der Türkei mit hoher
kurdischer Bevölkerungszahl bewaffnete Aktionen, was für die Türkei im Laufe der Zeit zu
einem erheblichen Problem wurde. Die bewaffnete Organisation nutzte das Autoritätsvakuum
während und nach dem Ende des Golfkriegs, gründete Lager in der nordirakischen Region
und erhöhte ihre Aktivitäten gegen die Türkei. Der von der PKK ausgelöste ethnische Terror
wurde damit zum wichtigsten innen- und außenpolitischen Problem der Türkei.289 Die
Gewalttaten der PKK und die dagegen getroffenen gerichteten Kampfmaßnahmen hatten
schwerwiegende Folgen. In dieser Zeit wurden ca. 20000 Menschen getötet; das mehrheitlich
von Kurden bewohnte Südostanatolien wurde vom übrigen Land abgeschnitten; die Türkei
war gezwungen, einen erheblichen Teil ihres Etats für den Kampf gegen die PKK zu
reservieren.290
Die Kurdenfrage bildet naturgemäß einen äusserst wichtigen Parameter in der türkischen
Außenpolitik und beeinträchtigt ihre Beziehungen mit ihren südlichen Nachbarn. Das trifft
vor allem für die türkisch-irakischen und türkisch-syrischen Beziehungen zu.291 Nach der
Inhaftierung und Verurteilung des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Februar 1999 blieb die
bewaffnete kurdische nationalistische Bewegung in der Türkei lange Zeit inaktiv. Dazu trugen
vor allem die Desorientierung der neuen Führungskader und Spaltungsprozesse bei. Die PKK
änderte mehrere Male ihren Namen und heißt 2004 „Kongra-Gel“ (Volkskongress
Kurdistans). Die derzeitige Führung hat den bewaffneten Kampf wieder aufgenommen und
289 Criss, Bilge Nur: The Nature of PKK Terrorism in Turkey, in: Conflict and Terrorism, Nr. 18 Januar-März 1995, S. 24 290 ebd. 291 Bölükbasi, Suha: Ankara, Damascus Baghdad and the Regionalization of Turkey`s Kurdish Secessionism, in: Journal of South Asian and Niddle Eastern Studies, Vol. 14, Nr. 4 Sommer 1991, S. 15-36
156
führt in den Bergen Südostanatoliens an der Grenze zum Nordirak den Guerillakrieg fort. Im
Nordirak scheinen die beiden Kurdenführer Dschalal Talabani und Massud Barsani die
Präsenz der PKK-Kämpfer zu tolerieren. Auch die in der Region stark präsenten USA unter-
nehmen nichts gegen die PKK-Kämpfer, was in der türkischen Öffentlichkeit ein Dauerthema
ist und zu Ressentiments gegen die Kurden im Nordirak und gegen die USA führt.
Die Gründung eines Kurdenstaates im Nordirak hat die Türkei lange Jahrzehnte als
„intolerabel“ bezeichnet. In den internen Papieren des Außenministeriums wurde ein solcher
Staat als „Red Line“ der Türkei bezeichnet, die niemals überschritten werden dürfe, und als
„causa belli“, also Kriegsgrund. Diese scharfen Formulierungen sind inzwischen aus dem
öffentlichen Diskurs verschwunden. Im Sommer 2004 wurde klar, dass die Türkei, die bis
dahin immer auf der territorialen Integrität des Irak bestanden hatte, die Gründung einer
Föderation mit einer weitgehenden Autonomie für die Kurden im Irak tolerieren wird.
9.3 Außenbeziehungen zu Irak und Syrien
Die de-facto-Zerstückelung des irakischen Staates durch den 2. Golfkrieg schuf für die
kurdischen Gruppen günstige Voraussetzungen für die Intensivierung der eigenen Aktivitäten.
Die Türkei betonte nunmehr die territoriale Integrität des Irak. Die bewaffneten Gewalt-
aktionen der kurdischen Gruppen erreichten mittlerweile ein solches Ausmaß, dass Ankara
auf der einen Seite versuchte, wieder Kontakt zur Zentralregierung im Irak zu knüpfen und
andererseits erklärte, dass sie alle Maßnahmen der UNO im Rahmen der Wiederherstellung
des Friedens im Irak unterstützte.292
Die militärischen Kampfmaßnahmen wurden indessen unvermindert fortgeführt. Dabei
versuchte Ankara, sich an internationales Recht zu halten. Zwischen Ankara und Bagdad war
1984 ein Abkommen über „dringende grenzüberschreitende Verfolgungsmaßnahmen“
unterzeichnet worden. Auf dieses Abkommen stützend begann die Türkei, die PKK bis in den
Irak hinein zu verfolgen. Nach dem Golfkrieg intensivierten sich diese Verfolgungs-
292 Turkey Hints at a new Flexibility towards Saddam, in: The Washington Post, 24.09.1996
157
operationen. Die Türkei versuchte die PKK daran zu hindern, ihre Milizen über die türkisch-
irakische Grenze einzuschleusen. In dieser Zeit schickte die Türkei insgesamt 40000 Soldaten
in den Nordirak und führte eine sechs Wochen dauernde Operation durch, mit der sie
versuchte, die Ausbildungslager und Stützpunkte der PKK in der Region zu vernichten. Sie
verzeichnete ernstzunehmende Erfolge. Dass vor allem die nordirakischen Kurdengruppen die
Türkei bei dieser Aktion unterstützten, erhöhte den Erfolg der türkischen Kampfmaßnahmen.
Das bedeutete einen wichtigen Schlag der Türkei gegen die logistische Basis der militärischen
Operationen der PKK auf südostanatolischem Grund.
Im Jahre 1996 unternahm die Türkei einen weiteren Schritt.293 Die konkurrierenden
Kurdengruppen im Nordirak hatten in diesem Jahr begonnen, sich gegenseitig zu bekriegen.
Die Türkei beschloss, an ihrer Grenze zum Irak auf irakischem Gebiet eine Sicherheitszone zu
schaffen und begründete das mit den dort anhaltenden innerkurdischen Kämpfen. Diese
Maßnahme wurde vorübergehend durchgeführt. Aber sie stieß sogar in Bagdad selbst auf
negative Reaktionen. Auch die anderen arabischen Staaten argwöhnten, dass andere Gründe
hinter dieser offensiven Maßnahme der Türkei stünden. Weder die USA noch die EU sahen
die Entwicklung gern.294 Im Endeffekt musste die Türkei aufgrund der internationalen
Reaktionen die Schutzzone auf irakischem Gebiet aufheben. Aber sie behielt sich das Recht
vor, für Verfolgungsaktionen gegen die PKK weiterhin in den Nordirak einzumarschieren.
Von den menschlichen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Folgen der Invasion
Kuweits durch den Irak war die Türkei ernsthaft getroffen worden. Aus diesem Grund
verfolgte sie alle Entwicklungen bezüglich des Irak mit großer Aufmerksamkeit und Skepsis.
Ankara hatte sich in der Vergangenheit aktiv darum bemüht, Saddam Hussein zu einer
Befolgung der UNO-Beschlüsse und zur Zusammenarbeit mit den UNO-Waffenkontrolleuren
zu überreden. Davon ausgehend, dass die Länder der Region maßgeblich an einem Beschluss
über den Irak mitbeteiligt sein müssten, hat die Türkei im Januar 2003 mit verschiedenen
Staaten Gespräche auf hoher Ebene gestartet, um die Möglichkeiten eines Friedens
auszuloten. Der türkische Außenminister fuhr zuerst nach Syrien, dann nach Jordanien,
Ägypten, Saudi-Arabien und in den Iran. In Istanbul folgte ein Gipfel, der dem Irak ein
293 vgl. Die Türkei: Poker um die schnelle Eingreiftruppe, Der Spiegel, 23.12.1996 294 vgl. Die türkische Operation im Nordirak und internationale Reaktionen, Deutsche Welle, 22.05.1997
158
deutliches Signal sandte, sich an die UNO-Beschlüsse zu halten. Diese Gespräche waren auch
eine wertvolle Gelegenheit, um die Beziehungen innerhalb der eigenen Region zu
intensivieren.
Die türkische Irakpolitik änderte sich auch nach dem Beginn der von den USA geführten
Operation nicht. Die Türkei bemühte sich immer noch um einen bleibenden Frieden im Irak,
die Erhaltung der nationalen Souveränität und die Nutzung der natürlichen Ressourcen des
Irak durch dessen eigene Bevölkerung. Nach Ansicht der Türkei dürfen diese Ressourcen
keinesfalls unter den Bevölkerungsgruppen des Irak aufgeteilt werden. Die Türkei ist daran
interessiert, dass im Irak eine Regierung an die Macht kommt, die das ganze Volk
repräsentiert und ihm gegenüber verantwortlich ist, und die mit ihren Nachbarn in Frieden
leben will. Die politischen Sorgen der Türkei betreffen vor allem die Bildung eines
kurdischen Staates im Nordirak. Deshalb sollte das ganze irakische Volk gemeinsam über das
politische System des Irak entscheiden. Während in all diesen Fragen eine gewisse
Ungewissheit herrscht, brachte die neue US-Politik nach dem 2. Golfkrieg, die als das
„Greater Middle East Project“ oder „Bigger Middle East“ Initiative bezeichnet wird, neue
Aspekte in die herrschenden Parameter der türkischen Nahostpolitik.
Das eingangs aufgeführte Thema PKK bildete mit Syrien einen viel schwereren Konflikt als
mit dem Irak. Ankara sah in Damaskus den Hauptunterstützer der PKK im Ausland und die
logistische Quelle Nummer 1.295 Eigentlich argwöhnte die Türkei, dass Syrien sich auf diese
Weise schon seit Anfang der 70er Jahre in innertürkische Angelegenheiten ein-mischte.
Trotzdem hatte die Türkei bis zum Ende der 80er Jahre, als die PKK ihre Aktivitäten
intensivierte, nichts in dieser Sache unternommen.
Mit dem Wachsen des Terrors der PKK begannen türkische Politiker und Medien öfter und
lauter von der syrischen Unterstützung der Terrororganisation zu sprechen. Die Türkei rief
über offizielle Kanäle und ihre Medien Syrien dazu auf, diese Haltung zu ändern.296 Aber die
Vorschläge der Türkei, den PKK-Terror gemeinsam zu bekämpfen, wurden von Syrien
überhört. Damaskus leugnete systematisch seine Unterstützung der PKK.
295 Elekdag, Sükrü: Two and a Half War Strategy, Perceptions: Journal of International Affairs, Vol. 1, Nr. 1, Ankara, März-Mai 1996, S. 35 296 Bazoglu Sezer, Duygu: Turkey`s political and security Interests and Policies in the New Geostrategic Environment of the Middle East, Henry L. Stinson Center, Washington Juli 1994, S. 20
159
Das brachte die Türkei immer stärker gegen Syrien auf. Während Syrien einerseits die
türkischen Behauptungen dementierte, beschuldigte es die Türkei, das Wasser des Euphrat
unrechtmässig zu nutzen und versuchte, die Unterstützung der arabischen Welt in dieser
Sache zu gewinnen. Außer Syrien versuchte auch der Irak, das Wasserproblem zu einer
regionalen Angelegenheit zu machen. Das schuf eine neue Formel mit den Komponenten
Kurdenfrage und Wasserproblem. Anders ausgedrückt wurde gegen die Waffe des Terrors die
Waffe des Wassers gezückt. Die strategischen Ressourcen der Region wurden wieder einmal
zum Zankapfel.297
Die Türkei war in dieser Zeit dabei, in ihrem südöstlichen Territorium ein ganzes System von
Staudämmen, Wasserkraftwerken und Bewässerungsanlagen zu bauen, das durch das Kürzel
GAP (Güneydogu Anadolu Projesi/Südostanatolienprojekt) bekannt wurde. Das seit über 20
Jahren vorbereitete Projekt war das wichtigste Entwicklungsvorhaben der Türkei in dieser
Region. Der Irak und Syrien behaupteten nun, dass die Türkei mit GAP ihnen das Wasser
abschnitt und forderte eine größere Wasserzufuhr in Euphrat und Tigris. Dagegen forderte die
Türkei eine Dreierkonferenz, auf der eine neue Vereinbarung auf wissenschaftlich-technischer
Basis gefunden werden sollte, damit alle drei Länder von dem Wasser der mesopotamischen
Flüsse maximal profitierten. 298
Unter den spannungsgeladenen Bedingungen der Zeit konnte diesbezüglich kein Fortschritt
erzielt werden. Die drei Seiten führten ihre Argumentationen fort. Wichtig war hier, dass die
Faktoren Wasser und Terror in Beziehung zueinander gebracht wurden. Die Türkei begann
immer offener eine Beziehung zwischen der Unterstützung Syriens für die PKK und dem
Wasserproblem herzustellen. Der ehemalige Außenminister Deniz Baykal sagte, dass „einige
Länder Wasser forderten, um sich das Blut Unschuldiger von den Händen zu waschen“.299
Die Bemühungen Syriens, in der Wasserfrage die arabische Welt hinter sich zu bringen,
hatten eine gewisse Wirkung. 1996 veröffentlichten die Außenminister von sieben arabischen
Staaten in Damaskus eine gemeinsame Deklaration, in der sie die türkische Haltung
297 Buloch, John; Darwish, Adel: Water Wars: Coming Conflict in the Middle East, Gollancz, London 1993, Kapitel 8 298 Turkish Ministry of foreign Affairs: Water issues between Turkey Syria and Iraq, in: Journal of International Affairs, Vol.1 / Nr. 2, Juni-August 1996, S. 82-112 299 Interview mit Deniz Baykal, in: Turkish Probe, Ankara 05.01.1995
160
kritisierten. Die Deklaration rief Ankara dazu auf, den Vertrag mit Syrien über die Lieferung
von 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zu erneuern und einen bleibenden neuen Vertrag
über die Teilung des Wassers zu unterschreiben.
9.4 Türkisch-israelische Annäherung als nahöstliches Konfliktpotenzial
In Kapitel 7 wurde dargelegt, dass die türkischen Gründungsväter der Republik in ihrer
außenpolitischen Ausrichtung nicht an intensiven Beziehungen zum arabischen Raum
interessiert waren. Auch nach dem Tod Atatürks im Jahr 1938 und in der anschließenden
Regierungszeit des neuen Staatspräsidenten Ismet Inönü („Nationaler Chef“ von 1938 - 1950)
hatte sich an dieser Politik nichts geändert. Mit dem Schritt in die Mehrparteien-Demokratie
fanden 1950 in der Türkei die ersten Wahlen statt, die die Oppositionspartei „Demokratische
Partei (Demokrat Parti – DP)“ an die Macht brachten. Die neue konservative Regierung unter
dem Vorsitz des Ministerpräsidenten Adnan Menderes beschloss eine stärkere Anbindung an
die USA und an Großbritannien, die beiden führenden Mächte des Kalten Krieges gegen die
Sowjetunion, die auch in den Augen des „aufstrebenden Bürgertums“ und des Landadels in
der Türkei die größte Bedrohung gegen die Sicherheit des Landes darstellte.
Die Menderes-Regierung glaubte, dass die ehemals Deutschland gehörenden Kolonien nun in
französischer, und ehemals Großbritannien gehörende Kolonien nun in amerikanischer Hand
bleiben würden. Sie nahm die Unabhängigkeitsbewegungen in der Dritten Welt nicht ernst.
Dem türkischen Außenministerium wurde befohlen, in internationalen Gremien den Vereinten
Nationen entsprechend der Haltung der USA abzustimmen. Das galt auch für andere
Sachfragen, wo die Türkei sich an die Seite der westlichen Staaten schlagen sollte. So
stimmte zum Beispiel der türkische Vertreter in der UNO über die Algerien-Frage pro-
französisch ab – eine Handlung, die türkische Islamisten bis heute nicht akzeptieren. In allen
den Nahen Osten betreffenden Fragen verhielt sich die Menderes-Regierung proamerikanisch,
was die Araber gegen die Türkei aufbrachte.
161
Die Auswirkungen zeigten sich zum Beispiel im Jahr 1951, als Ankara auf Wunsch
Washingtons einen Verteidigungspakt mit den arabischen Staaten zu gründen versuchte, was
in einem Fiasko endete. Ägypten hatte mit dem Abkommen von 1936 britische Militärpräsenz
im Suezkanal akzeptiert. Nach dem 2. Weltkrieg sahen die Briten jedoch ein, dass sie diese
Präsenz in Ägypten nicht mehr lange aufrechterhalten konnten, und suchten nach neuen
Möglichkeiten, ihre Kontrolle über den Suezkanal zu behalten. So wurde im Jahre 1951 die
Idee zu einem „Nahöstlichen Verteidigungspakt“ geboren. Auch die USA waren an jedem
Schritt interessiert, der den Nahen Osten sowjetischem Einfluss entzog. Frankreich, das die
Mehrheitsaktien am Suezkanal besaß, war ebenfalls an einem solchem Pakt interessiert. Man
vertrat die Ansicht, die Türkei könne als eine größere militärische Macht in der Region einen
solchen Pakt initiieren. Tatsächlich wurde der Vorschlag der westlichen Mächte von Ankara
als Bau eines „antikommunistischen Walls“ begrüßt. Die Menderes-Regierung beschloss, den
Vorschlag zuerst und vor allem in Kairo zu unterbreiten, weil Ägypten als Führungsnation im
arabischen Raum die größte Macht besaß. Der Schritt wurde von Menderes selbst als eine
Geste der Annäherung an die arabischen Nachbarn angesehen. Der türkische Minister-
präsident rief die türkischen Botschafter in den arabischen Ländern für Konsultationen über
den Verteidigungspakt und die Vorbereitung eines Entwurfes nach Ankara. Im Juni 1955 fand
im Kabinettsaal die „Nahostbotschafter-Konferenz“ der Türkei statt. Adnan Menderes stand
der Sitzung vor.
Der Name des anwesenden türkischen Botschafters in Israel wurde in der offiziellen
Teilnehmerliste nicht aufgeführt, um die arabischen Länder nicht zu verärgern. Das Ergebnis
der fünftägigen Konferenz war, dass ohne die Zustimmung Ägyptens dieser Pakt nicht
zustande kommen würde. Um Nasser für diesen Pakt zu gewinnen, sandte die Menderes-
Regierung eine Freundschaftsdelegation nach Kairo. Aber die Antwort des ägyptischen
Informationsministers, der die türkische Delegation empfangen hatte, war eindeutig: „Israel
ist ein Dolch im Schoss der arabischen Welt. Solange Israel weiterexistiert, werden die Araber
keine andere Gefahr als größer erachten. Mit den Staaten, die Israel anerkennen, kann es keine
Freundschaft geben. Solange auch die Türkei mit Israel Beziehungen aufrechterhält, wird sie
nicht Ägyptens Freundschaft genießen.“ Auf die Argumente der Türken, dass der
Kommunismus eine große Gefahr darstelle, der gemeinsam bekämpft werden müsse,
antworteten die ägyptischen Behörden, dass sie nicht mit der 7500 km entfernten Gefahr des
162
Kommunismus befasst seien, sondern mit der hinter Suez. Der Nahost-Verteidigungspakt
wurde nie gegründet. Am 24. Februar 1955 unterzeichnete Ankara mit dem Irak den Bagdad-
Pakt, dem am 4. April desselben Jahres Großbritannien, am 23. September 1955 Pakistan und
am 3. November 1955 der Iran beitraten. Die USA waren als Beobachter dabei.
Die türkisch-israelischen Beziehungen blieben ununterbrochen gut. Auch nach dem Ende des
Kalten Krieges und dem Beginn der palästinensischen Intifada-Bewegungen blieb die Türkei
in Zusammenarbeit mit Israel.300 Dabei wurden die Beziehungen zu Israel auch dann aufrecht-
erhalten, auch wenn die Beziehungen zu arabischen Ländern davon negativ beeinflusst
wurden. Mit der Unterzeichnung des militärischen Kooperations- und Ausbildungsvertrages
zwischen der Türkei und Israel im Jahre 1996 verschlechterten sich die Beziehungen Ankaras
mit Damaskus.
Der im Februar 1996 unterzeichnete Vertrag sah formell eine militärische Zusammenarbeit
zwischen den beiden Staaten vor, gegenseitige Ausbildung militärischen Personals, die
Bildung einer gemeinsamen Luftwaffe, Besuche der Marineeinheiten und einen Austausch
von Studenten und Personal zu Ausbildungszwecken. In diesem Rahmen sollten sich
israelische und türkische Flugzeuge viermal im Jahr je eine Woche lang besuchen, aber
israelische Flugzeuge sollten dabei von Geräten militärischer Spionage frei sein. Dass nach
diesem Abkommen im Dezember 1996 der Auftrag für die Modernisierung der türkischen F-4
Phantomjäger in Höhe von 650 Millionen US-Dollar an Israel vergeben wurde, brachte eine
weitere Dimension in die bilateralen Beziehungen.301
Innerhalb des bestehenden Mächtegleichgewichts führte diese Annäherungspolitik zwischen
beiden Ländern zu erheblichen Sorgen in Syrien und den meisten arabischen Staaten. Die
Türkei betonte über ihre diplomatischen Kanäle, dass diese Zusammenarbeit niemals gegen
eine dritte Partei gerichtet sei, dass die Kooperation nur militärische Aspekte beinhalte und
keine Allianz bedeute und dass sie nur eines der vielen gegenseitigen militärischen
Abkommen sei, die die Türkei mit vielen Ländern eingegangen sei.302
300 vgl. für Vorstehendes Gruen, George, E.: Dynamic Progress in Turkish-Israeli Relations, in: Israel Affairs, Vol. 1, Nr. 4, Sommer 1995, S. 42 301 Turkey`s Military Training Cooperation Agreement with Israel, Turkish Embassy Press Release, Washington 10.04.1996 302 vgl. ebd.
163
Aber diese Erklärungen waren weit davon entfernt, vor allem syrische Bedenken auszu-
räumen. Tatsächlich wollte die Türkei mit dieser Kooperation eine Reihe von strategischen
Zielen verwirklichen. Eines davon war, der Stärkung der militärischen Zusammenarbeit
zwischen Syrien und Griechenland etwas entgegen zu setzen. Die Türkei fühlte sich durch die
Annäherung ihrer problematischen Nachbarn Griechenland, Syrien, Iran und Armenien
gestört und versuchte, diese durch Gegenmanöver zu stören. Das war die wichtigste
Bedeutung des militärischen Abkommens zwischen Israel und der Türkei.303 Das zweite Ziel
war es, alternative Rüstungsmöglichkeiten zu schaffen, weil der Hauptlieferant der türkischen
Armee, die USA, an die Türkei keine hochentwickelten Waffensysteme verkaufen wollen -
ein Erfolg der Arbeit antitürkischer Lobbies in den USA. Das dritte Ziel war, Syrien wegen
seiner PKK-Politik zu warnen.
In der Türkei selbst wurde das Thema wegen seiner regionalen strategischen Bedeutung auch
als ein pragmatisches Manöver angesehen, um die militärische Schlagkraft der Türkei zu
erhöhen. Das türkisch-israelische Abkommen wurde in der türkischen Innenpolitik weniger
hinsichtlich des Druckes auf Syrien bewertet, sondern mehr als ein effektiver Schritt gegen
die PKK. Andererseits zeigten die Basis der regierenden islamistischen Partei und deren
Medien eine äusserst scharfe Reaktion gegen dieses Abkommen. Denn eigentlich hatte die
Regierung, die nun ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte, noch vor wenigen
Monaten in ihren Wahlkampagnen Sanktionen gegen Israel wegen dessen Palästinapolitik
angekündigt. Die Regierung der islamistischen Wohlfahrtspartei hatte jetzt unter dem Einfluss
der türkischen Armee den Vertrag unterzeichnet, hatte jedoch ihrer Basis nicht gesagt, dass
sie das zu akzeptieren hatte.
Nicht nur im Landesinneren, auch im Ausland gab es heftige Reaktionen. Vor allem arabische
Staaten und der Iran übten scharfe Kritik. Sogar Ägypten, das mit der Türkei traditionell
relativ gute Beziehungen unterhält, fragte die Türkei offiziell nach dem Inhalt und den
einzelnen Bestimmungen des Vertrages. Syrien, Saudi-Arabien und Ägypten veranstalteten in
der syrischen Hauptstadt einen Gipfel und veröffentlichten ein gemeinsames Kommuniqué, in
dem sie die Türkei dazu aufforderten, den Rüstungsvertrag mit Israel noch einmal zu
überdenken. Auf dem Arabischen Gipfel, der einen Monat darauf in Kairo stattfand, konnte
303 Turkey-Israel Forge Closer Ties, in: Turkish Probe, 15.03.1996
164
zwar nicht, wie Syrien es gewollt hatte, eine Rüge für die Türkei beschlossen werden, aber die
Aufforderung von Damaskus wurde wiederholt.304 Die Haltung der Türkei zu dem israelisch-
palästinensischen Konflikt spielt in der Nahostpolitik der Türkei eine Rolle, wenn auch nicht
so eine direkte, wie dies bei dem Kurdenproblem, den Beziehungen zum Irak oder zu Syrien
der Fall ist. Die Reaktionen, die die sicherheitspolitische Annäherung zwischen der Türkei
und Israel in der arabischen Welt hervorriefen, haben in erster Linie mit den israelisch-
arabischen Spannungen und den Friedensproblemen im Nahen Osten zu tun.
Die Türkei hat seit den Osloer Gesprächen von 1994 den Friedensprozess im Nahen Osten
unterstützt. Der Frieden würde nicht nur die Stabilität in der Region erhöhen, sondern auch
die Geschäftsmöglichkeiten der Türkei verbessern. Die Türkei stellte sich also einerseits
weiterhin zu ihrer Solidarität mit den Palästinensern und schloss andererseits Abkommen mit
Israel, was an sich schon ein schwieriges Problem für sie darstellte, das durch einen Frieden
behoben werden könnte. Die Türkei hat seit 1992 in multilateralen Arbeitsgruppen über den
Nahostfrieden mitgearbeitet. Vor allem bei Gesprächen über die Wasserfrage, die Rüstungs-
kontrolle und wirtschaftliche Entwicklung übernahm sie wichtige Rollen.305 Gleichzeitig bot
sie der neu gegründeten palästinensischen Regierung ihre Unterstützung an. Bereits 1988
forderte sie als einziges NATO-Land eine Ausweitung des Anerkennungsrahmens von
Palästina. Im Dezember 1991 eröffnete sie sowohl bei der Palästinensischen Befreiungs-
organisation (PLO) als auch in Israel Botschaften. Sie bot den Palästinensern Hilfe in Sachen
Wohnungsbau und ähnlichen Infrastrukproblemen an.306 Die Türkei versuchte eine aufrechte
Solidarität mit Palästina weiterzupflegen, als sie sich auch an Israel annäherte. Das sie
Beziehungen zu Israel aufnahm, hatte weniger mit Palästina zu tun als mit anderen arabischen
Ländern, mit denen die Türkei Probleme hatte. Jemand, der das sehr gut verstand, war der
palästinensische Führer Jassir Arafat. Beide Seiten führten auf höchster Ebene Gespräche und
Arafat versuchte, die scharfen Reaktionen der arabischen Länder gegen die türkisch-
israelische Kooperation abzumildern. Die Türkei erwartete von dem laufenden Friedens-
prozess zwar eine bessere Zukunft für die Region, aber fragte sich auch, welche militärische
Position Syrien am Ende dieses Prozesses gegenüber der Türkei einnehmen würde. Die
304 Syria Fails to Turn Summit into an Anti-Turkish Forum, Turkish Probe, 28.06.1996 305 Gruen, George E.: Turkish-Israeli Relations: Crisis or continued Cooperation, Jerusalem Letter, Jerusalem Center for Public Affairs, Jerusalem 15.06.1996, S. 1-3 306 Aykan, Mahmut Bali: The Palestinian Question in Turkish Foreign Policy From the 1950`s to the 1990`s, International Journal of Middle Esat Studies, Vol. 25, Nr. 1, Februar 1993, S. 97
165
Türkei kalkulierte, dass auf ein israelisch-palästinensisches Abkommen ein israelisch-
syrisches Abkommen folgen würde, und dass Syrien danach in Sachen Wasser und Hatay
(Alexandretta oder Antiochia) neue Ansprüche erheben könnte.307 Aber diese Befürchtungen
führten zu keiner Änderung in den grundlegenden Parametern der türkischen Außenpolitik.
Das darauffolgende Stocken des nahöstlichen Friedensprozesses und die größere Kontrolle
der Türkei über die PKK haben sich auch positiv auf die Beziehungen zu Syrien ausgewirkt.
9.5 Wasserpolitik als wachsendes Problem des Nahen Ostens
Wasser stellt eines der Hauptproblemfelder zwischen den Staaten des Nahen Ostens dar. Da
in Zukunft diese Ressource immer knapper zu werden droht, wird das Wasserproblem, d.h.
die Aufteilung des Trinkwassers unter den Staaten der Region zu einem Hauptkonfliktfeld
werden, das unbedingt zur Zufriedenstellung aller Seiten gelöst werden muss.308
Drei Flussbassins bilden die Hauptwasserquellen des Nahen Ostens: der Nil, der Jordan und
das Euphrat-Tigris-Bassin. Diese drei Flusssysteme speisen den Nahen Osten hauptsächlich
mit Trinkwasser. Jedes Flussbassin unterscheidet sich in seinen Eigenschaften von den
anderen. Da jedes seine eigenen Probleme aufweist, bedarf auch jedes einer eigenen,
spezifischen Lösung. Wasser tauchte schon im nahöstlichen Friedensprozess zwischen Israel
und Palästina als eines der Hauptproblemfelder auf. Beide Seiten wollen sich jährlich eine
bestimmte Menge an Wasserzufuhr sichern. Da die Türkei als ein an Wasser reiches Land
betrachtet wird, ist auch das Euphrat-Tigris-Bassin ein Fokus in der Wasserfrage für den
Süden der Türkei. Die Türkei selbst hat mit dem anspruchsvollen Staudammsystem bei
beiden Flüssen (GAP – Güneydogu Anadolu Projesi / Südostanatolienprojekt) die
ungehinderte Wasserzufuhr in den Süden, d.h. nach Syrien und in den Irak, gestoppt und
307 vgl. Elekdag, Sükrü: Two and a Half War Strategy, in: Journal of International Affairs, Vol. 1, Nr. 1, Ankara März-Mai 1996, S. 52 308 Für die Bedeutung des Wassers in der nahöstlichen Politik siehe Dommel, Lutz: Wasser: Schlüssel zu Krieg und Frieden im Nahen Osten. Zurück zu den Ursachen des Nahost-Konfliktes, Norderstedt Verlag 2002, S. 37-83
166
kontrolliert nun die abfließende Wassermenge. Gemäß den geographischen Beschaffenheiten
der beiden Flüsse hat Syrien nun weniger Wasser als die Türkei, während der Irak mehr
Wasser hat. Diese drei Länder haben einen Kompromiss zu finden, wie sie das Wasser von
Euphrat und Tigris nutzen können. Die Türkei argumentiert, dass sie gar nicht so viel Wasser
besitzt wie angenommen wird. Während entwickelte wasserreiche Staaten Nordamerikas und
Europas jährlich über ca. 10 000 Kubikmeter pro Kopf verfügten, habe die Türkei nur ein
Fünftel davon, nämlich 1830 Kubikmeter Wasser pro Kopf im Jahr. Regenfälle bescheren der
Türkei zusätzlich 501 Milliarden Kubikmeter Wasser jährlich. Aber etwa zwei Drittel dieser
Wassermenge geht ungenutzt verloren. Von den übrigen 186 Milliarden Kubikmetern
Oberflächenwasser können nur ca. 98 Milliarden für die Volkswirtschaft genutzt werden.
Dazu kommen 12 Milliarden Kubikmeter Untergrundwasser jährlich.
Tabelle 2
Die jährliche Wassermenge pro Kopf in manchen wasserreichen Staaten Europas und
Nordamerikas sowie in nahöstlichen Staaten (m3 / pro Kopf / Jahr)
Länder 1993 Wasserreiche Staaten 10000 Irak 2110 Türkei 1830 Syrien 1420 Israel 300 Jordanien 250 Palästina 100
Quelle:http://www.mfa.gov.tr/grupa/ac/aci/default.htm
Der Euphrat und Tigris sind zwei der längsten und bekanntesten Flüsse der Welt. Beide
entspringen in den hohen Bergen Südostanatoliens, fließen durch die Türkei, Syrien und den
Irak, und vereinigen sich, um den Schatt Al Arab zu bilden, bevor sie nach 200 km in den
Persischen Golf münden. Sie bilden ca. 28,5 Prozent des türkischen Oberflächenwassers. Aus
der Türkei stammen 31 Milliarden Kubikmeter oder ca. 89 % der jährlichen Wassermenge des
Euphrats. Die übrigen 11 Prozent kommen aus Syrien. Der Irak trägt zu der Fließmenge
nichts bei. Beim Tigris ist das Bild spiegelverkehrt. 52 % der gesamten Fliessmenge von 49
167
Milliarden Kubikmetern kommen aus der Türkei. Der Irak sorgt für den Rest. Aus Syrien
mündet kein Gewässer in den Tigris. Was die Ansprüche betrifft, ergibt sich folgendes Bild:
Syrien beansprucht 32 % des Euphratwassers und 5,4 % aus dem Tigris. Der Irak macht 65 %
des Euphrat- und 92,5 % des Tigriswassers geltend. Die Türkei will 52 % des Euphrat nutzen
sowie 14,1 % des Tigris.309 Diese Ansprüche zusammen bilden beim Euphrat 148 % des
Euphrat und beim Tigris 111 %. Das zeigt, wie unrealistisch die Forderungen sind und dass
alle drei Länder ihre Wünsche zu reduzieren haben. Die Türkei argumentiert, dass sie mehr
Wasser als ihre beiden Nachbarn braucht, weil sie im Gegensatz zu den beiden anderen
Staaten über kein Erdöl verfügt und deshalb auf Wasser als Energiequelle angewiesen ist.
Außerdem sei die Bevölkerungszahl der Türkei größer und die Landwirtschaft weitaus höher
entwickelt, sodass sie auch aus diesem Grund mehr Wasser brauche.
Mit Beginn der Operationen der PKK gegen die Türkei und dem Bau des GAP-Projektes in
den 80er Jahren wuchsen die Spannungen zwischen Syrien und der Türkei. Erst durch die
Drohungen der Türkei gegenüber Syrien, Damaskus müsse die Unter-stützung der PKK
unterlassen und deren Führer Abdullah Öcalan ausliefern, sowie durch die Selbstverpflichtung
der Türkei, die international geregelte Zuflussmenge bei grenzüberstreitenden Flüssen in
Höhe von 450 m3 pro Sekunde einzuhalten, konnten die jahrzehntelangen Spannungen
abgebaut und pragmatische bilaterale Beziehungen aufgebaut werden. Mit der Unter-
zeichnung des Vertrags von Adana am 20. Oktober 1998 im Bereich der Sicherheits-
kooperation wurden erste positive Schritte zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen
aufgenommen.310
Das Wasserproblem ist auch in den türkisch-israelischen Beziehungen ein Thema. Israels
Bemühungen, Trinkwasser des Flusses Manavgat bei Antalya im Süden der Türkei zu kaufen,
gehen bis heute ununterbrochen weiter. Obwohl das Thema bei verschiedenen Gelegenheiten
erörtert und einige Vorprotokolle und Verträge unterzeichnet wurden, hat die Lieferung nach
Israel noch nicht angefangen. Wenn die Trinkwasserlieferungen beginnen, wird das erheblich
zu besseren Beziehungen zwischen den beiden Ländern beitragen.
309 http://www.mfa.gov.tr/grupa/ac/aci/default.htm 310 vgl. Ihsan, Ali: Water as an Element of Corporation and Development in the Middle East, Ankara 1994, S. 51
168
9.6 Positionierung der Türkei im „Greater Middle East Project“
der USA
Am 19. Oktober 2003 hielt Nicholas Burns, der US-Botschafter bei der NATO, anlässlich der
Konferenz „NATO and the Greater Middle East“ in Prag eine viel beachtete Rede.311 Er
brachte ein Konzept zur Sprache, das später heftig diskutiert werden sollte. Burns sagte, dass
die NATO zwar weiterhin Europa und Nordamerika verteidigen werde, die USA aber nicht
mehr glaubten, dass die NATO diesen Auftrag von ihren westlichen Standorten aus erledigen
könne. Die NATO müsse sich konzeptuell und militärisch dem Süden und Osten zuwenden.
Die Zukunft der NATO liege im Süden und im Osten, und dieses Gebiet sei der „Größere
Nahe Osten“ (Greater Middle East).312 Bedrohungen sieht Botschafter Burns aus den
Richtungen „Zentral- und Südasien, dem Mittleren Osten selbst und aus Nordafrika.”
Für den Frühjahrs-Gipfel der NATO in Istanbul kündigte Botschafter Burns eine Ost-
Initiative seiner Regierung an: Man wolle die Ausweitung des NATO-Einflusses in die
Kaukasus-Region und nach Zentral-Asien.313 Das Greater Middle East Project, das heute im
Nahen Osten selbst, in der Türkei, aber auch in westlichen diplomatischen Kreisen heftigst
diskutiert wird, stützt sich auf Gedanken, die von US-Präsident George W. Bush nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 entwickelt wurden. Nach Ansicht von Bush zielte
der US-Angriff auf Afghanistan nicht auf die muslimische Welt, sondern auf die Terroristen.
Deshalb müssten die muslimischen Länder mit den westlichen gegen den Terror
zusammenarbeiten. Der Terror ließe sich nicht bloß durch militärische Maßnahmen
verhindern; wegen seines grenzüberschreitenden Charakters würden sich terroristische
Aktivitäten am besten durch die Herstellung von Stabilität in größeren Regionen bekämpfen
lassen.314
311 Der Originaltext der Rede ist zu finden unter: http://usinfo.state.gov/xarchives/display.html?p=washfile-english&y=2003&m=October&x=20 031023173310osnhojac0.5739099&t=usinfo/wf-latest.html 312 ebd. 313 ebd. 314 vgl. die Rede des US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003. Der Originaltext ist zu finden unter: http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/01/20030128-19.html
169
An dieser Stelle ist zu erwähnen, wie eine politisch-psychologische Strategie nach dem 11.
September 2001 von der US-Regierung unter Präsident George W. Bush entwickelt wurde.
Die Deutung Bushs, die Anschläge des 11. September als Herausforderung an die ganze
westliche Zivilisation auszulegen, diene zum einen dazu, das traumatische Erlebnis durch die
Entschlossenheit der Regierung gegen die Schuldigen vorzugehen, aufzufangen.315 Insofern
nutzt der Aufbau eines bedrohlichen Klimas in innenpolitischer Hinsicht, der Bevölkerung zu
zeigen, dass die Gefahr äußerst real besteht. Durch die klare Benennung von Schuldigen wird
aber gleichzeitig auch die politische Lösungskompetenz und der absolute Handlungswille der
Regierenden aufgezeigt und die Schuldfrage externalisiert.
Zum anderen werde durch diese Deutung die Mobilisierung des amerikanischen Volkes
verstärkt. Auch der Mobilisierungsfaktor, der von der Politik zur Herstellung eines paranoiden
Klimas seit den Anschlägen auf New York und Washington ausgehe, ist von großer
Bedeutung. Paranoia meint in diesem Zusammenhang gewisse Züge der Politik, die dem
Krankheitsbild ähneln. „Es wird ein Feind- und Selbstbild geschaffen und vor allem ein
Klima, in dem der so geschaffene Feind das Selbst, die eigene Gesellschaft tödlich
bedroht.“316 Dies hat zur Folge, dass Differenzierungen von Standpunkten nicht mehr
zugelassen werden, oder aber als Meinung des Feindes ausgelegt werden. Beispiele sind der
Ausspruch Bushs „Jede Nation in jeder Region muss jetzt eine Entscheidung treffen.
Entweder ihr seid auf unserer Seite oder ihr seid auf der Seite der Terroristen.“317
Der Aufbau eines Feindbildes mit den Ausmaßen „apokalyptischer Absolutheit“318 dient also
der absichtlichen Erzeugung eines Klimas von Angst und Bedrohung. Fühlt sich ein
Lebewesen bedroht, werden enorme Kräfte freigesetzt und für den Kampf ums Überleben
mobilisiert. Daher werden Bedrohungsszenarien entworfen und „der andere“ ideologisch zu
315 Czempiel, Ernst Otto: Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, Bonn 2002, S. 114 f. 316 Funke, Hajo: Der amerikanische Weg: hegemonialer Nationalismus in der US-Administration, Berlin 2002, S. 126 317 Bush, George W.: State of the Union, 20. September 2001, zitiert nach: Chauvistre, Eric: Wir befinden uns im Krieg, in: Die Tageszeitung vom 21.03.2003, S. 12 318 Funke, Hajo: Der amerikanische Weg: hegemonialer Nationalismus in der US-Administration, Berlin 2002, S. 118
170
einer tödlichen Gefahr gedeutet, um die individuelle Bereitschaft zu kämpfen, hier in den
Krieg einzutreten, zu verstärken.319
Die USA haben ihre neue Nahostpolitik auf unterschiedlichen Foren zum Ausdruck gebracht.
Ab Frühling 2004 intensivierten sich die diesbezüglichen Debatten. In der ägyptischen
Hafenstadt Alexandria wurden auf einer Tagung mit Akademikern und Politikern die nötigen
Schritte diskutiert, um die arabischen Staaten für das neue Projekt zu erwärmen.320 Vom 8. -
10. Juni 2004 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der G 8 unter Vorsitz des US-
Präsidenten G.W. Bush auf Sea Island im US-Bundesstaat Georgia zum Weltwirt-
schaftsgipfel.321 Auch auf dem G-8-Gipfel forderte George W. Bush die entwickelten Staaten
des Westens dazu auf, das Greater Middle East Projekt zu unterstützen. Der Hauptgrund für
die Hilferufe der Amerikaner ist, dass Washington an die Notwendigkeit von Wirtschafts-
hilfen aus entwickelten Staaten an die Länder des Nahen Ostens glaubt, damit diese die
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Reformen in ihren Ländern verwirklichen können.
Als das Areal des Projekts wurde das weite, hauptsächlich von Muslimen bewohnte Gebiet
von Nordafrika bis Zentralasien bezeichnet.322
Die in dem Projekt angestrebten sozialen und politischen Reformen sollen die Instabilitäten in
diesen Staaten beenden, was wiederum radikalen und terroristischen Bewegungen den
Nährboden entziehen soll. Der US-amerikanische Vizepräsident Cheney sagte auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos am 24. Januar 2004: „Die Schlüsselrolle bei der Bekämpfung
des Terrorismus werden die Hilfeleistungen spielen, durch die die Völker des Nahen Ostens
ihre demokratischen Freiheiten erkämpfen können ... Wir müssen die Gewaltideologien an der
Quelle treffen, indem wir die Demokratie im größeren Raum des Nahen Ostens und darüber
hinaus fördern.”323 Cheney wies außerdem auf die tatsächliche „Größe“ dieses Projektes hin
319 vgl. ebd., S. 127 320 vgl. “Alexandria Statement”- Arab Reform Issues:Vision and Implementation, 12.-14. März 2004, in: http://www.arabreformforum.com/files/En_Alexandria_Document.pdf 321 Informationen zum G8-Weltwirtschaftsgipfel 2004 in Sea Island siehe: http://www.bmwi.de/Navigation/Aussenwirtschaft-und-Europa/Aussenwirtschaftspolitik/weltwirtschaftsgipfel, did=36980.html 322 vgl. Der Spiegel: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,303506,00.html, Juni 2004 323 vgl. Neue Zürcher Zeitung (NZZ): http://www.nzz.ch/dossiers/2004/wef/2004.01.24-al-newzzDPTLC0DO-12.html, 24.01.2004
171
und sagte, dass seine Verwirklichung wohl über eine ganze Generation hinaus dauern
könne.324
Die im Zusammenhang mit dem Greater Middle East Project ausgedrückten Ziele verlangen
tatsächlich wichtige Veränderungen, die von manchen Experten mit dem Marshall-Plan nach
dem 2. Weltkrieg in Europa oder der OSZE (Organisation für Stabilität und Zusammenarbeit
in Europa) nach dem Kalten Krieg verglichen werden. Aber das Projekt stößt bisher in den
meisten arabischen Staaten nicht auf Gegenliebe. Syrien vertritt den Standpunkt, dass eine
von außen diktierte Demokratie schwer zu akzeptieren sei, während der ägyptische Staats-
präsident Hosni Mubarak das Greater Middle East Project als ein mit den Realitäten der
Region nicht zu vereinbarendes Vorhaben bezeichnet. Die Führungskräfte der arabischen
Länder werden mögliche Hilfsleistungen zweifellos nicht von sich weisen, aber sie sind dafür,
die im Gegenzug verlangten Reformen so minimal wie möglich zu halten. Das gilt vor allem
für Staaten, die keine oder nur geringe Erfahrungen auf dem Gebiet des Mehrparteiensystems
besitzen. Die Führer der arabischen Staaten des Nahen Ostens wollen deshalb die Demokratie
nicht von außen importieren, sondern im Innern selbst, durch eigene Schritte, lenken und
kontrollieren.325
Ein anderer Grund, weshalb arabische Regenten des Nahen Ostens dem Greater Middle East
Project mit Zweifeln begegnen, ist ihr Misstrauen gegenüber den Vereinigten Staaten. In
diesen Ländern ist man der Ansicht, dass die USA hinsichtlich einer gerechten Lösung des
Nahostkonfliktes (zwischen Palästina und Israel) erfolglos geblieben sind; sie glauben sogar,
dass die USA nicht genug unternehmen, um die durch Israel ausgeübte Gewalt zu stoppen.
Der US-Präsident Bush unternahm zwar im Jahre 2003 einen Schritt, um den Friedensprozess
zu reaktivieren, aber dieser hatte keinen Erfolg. Die Eskalation der Gewalt in den besetzten
Gebieten durch Israel und die gewalttätige Antwort palästinensischer Organisationen, durch
die die Gewaltspirale im Nahen Osten immer höher gedreht wird, machte und macht in den
Augen der Araber den großen Spieler USA in der Region immer unglaubwürdiger.
Ein weiterer Umstand, der das Bild noch komplizierter machte, war selbstverständlich der
letzte Irak-Krieg und die Rolle der USA darin. Der Ex-Vertreter der Arabischen Liga in
324 ebd. 325vgl. Sir Ahmad, Mohammad: On the Greater Middle Esat Project, in: Al-Ahram Weekly Online: http://weekly.ahram.org.eg/2004/679/op3.htm, 26.Februar- 03. März 2004, Nr.679
172
Washington, Klovis Maksud, sollte hier zitiert werden: „Dieses Projekt (Greater Middle East)
will die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem illegitimen Krieg im Irak ablenken.
Die Amerikaner laden die gesamte globale Gemeinschaft dazu ein, den Krieg hinsichtlich
dieser nachträglichen Pläne zu bewerten und versuchen, ihre eigentlichen Ziele zu
verschleiern. Zudem versuchen die USA, die G-8 zu ihren Kooperationspartnern zu
machen.“326 Diese Ansicht kann zweifellos nicht als diejenige der gesamten arabischen Welt
betrachtet werden. Aber sicherlich spiegelt sie die Gedanken der arabischen Öffentlichkeiten
wider. Da die politischen Führer neben der Öffentlichkeit auch die Realpolitik berück-
sichtigen, erteilen sie den USA nicht kategorisch eine Absage. Sie wollen möglichst
angekündigte Hilfe entgegennehmen, ohne ihre Macht und ihre Kontrolle über das Land zu
verlieren. Auch wenn die Türkei dem Greater Middle East Project von Anfang an etwas
schwankend gegenüberstand, zeigt ihre Reaktion doch erhebliche, strategisch wichtige
Abweichungen von der der arabischen Länder.
Die Türkei betrachtet das Greater Middle East Project grundsätzlich mit Wohlwollen. Sie
glaubt, dass dieses Projekt ihre Rolle als einen regionalen Mitspieler stärken wird, und dass es
dem Westen helfen wird, die wichtige Bedeutung der Türkei besser zu verstehen. Denn die
Türkei denkt, dass sie hinsichtlich der geplanten wirtschaftlichen, politischen und sozialen
Reformen als ein Modellstaat dienen wird. Das könnte dazu führen, dass die westlichen
Hilfen an die Türkei steigen, und dass ihre Position im Nahen Osten betont und gefestigt
wird.
Die Türkei hat aber auch konkrete Schritte unternommen, die ihre Position im Greater Middle
East Project konkretisieren und korrigieren sollen. Denn zwischen der ihr zugedachten Rolle
und der Rolle, die sie sich selbst vorstellt, gibt es einige wichtige Unterschiede. Zuerst gab die
Türkei bekannt, dass sie das Projekt so weit es geht unterstützen will und signalisierte damit,
dass sie ihm grundsätzlich positiv gegenübersteht. Diplomatische Quellen berichteten, dass es
diesbezüglich einen regen Austausch zwischen Washington und Ankara gegeben hat, und
dass die US-Führung hinsichtlich der Position der Türkei ausführlich unterrichtet wurde.327
326 vgl. Bubnov, Vasiliy: Greater Marshall Plan for Arabs, 03.11.2004, in: http://english.pravda.ru/ printed.html? news_id=12249 327 vgl.Turkey Conveys Its Views On Greater Middle East Initiative To United States, in: Anadolu Agency:
173
Aber die Türkei hatte auch von Anfang an Vorbehalte gegen das Projekt. Aus den Medien
war zu erfahren, dass die Führungskräfte der Türkei aus dem Land nicht unbedingt einen
Modellstaat für den gesamten Nahen Osten machen wollten, und dass die Türkei eher als ein
Land, das diese Region gut kennt, ihren Beitrag zu dem Projekt leisten könne. Die Türkei
erklärte sich auch bereit, das Projekt vor allem mit der Mikro-Finanzierung von Nicht-
regierungsorganisationen finanziell zu unterstützen. Jedes Land der Region solle zu dem
Projekt im Rahmen seiner Möglichkeiten beitragen; es sei außerordentlich wichtig, dass sich
die betroffenen Länder das Projekt selbst aneigneten. Da Ankara der Ansicht war, dass das
Projekt eigentlich nicht im Detail ausdiskutiert ist, lud sie die betroffenen Länder dazu ein, an
der Gestaltung des Projektes aktiv mitzuarbeiten.
Nach Ansicht der Türkei kann das Greater Middle East Project in der Region zu Demo-
kratisierung, Transparenz und einer für sie wichtigen und offenen Wirtschaft führen. Die
Hilfe der westlichen Staaten sei hierbei von entscheidender Bedeutung. Sie selbst sieht sich
dabei als einen Brückenstaat. Aber die der Türkei wirklich zugedachte Rolle scheint bis heute
nicht klar definiert zu sein. „Ist die Türkei Objekt oder Subjekt des Greater Middle East
Project?“ war eine Frage, die der türkischen Regierung durch die Medien im ersten Halbjahr
2004 oft gestellt wurde. General Ergin Saygun, Ständiger NATO-Vertreter der Türkei,
betonte, dass die Türkei nicht „Zielland“ sei, sondern unter die europäischen Staaten gezählt
werden solle.328 Saygun sprach auf der 23. Tagung des Türkisch-Amerikanischen Rats und
erklärte, die Türkei unterstütze die Nahostinitiative der USA, die für Frieden und
Demokratisierung in der Region sorgen werde. In diesem Rahmen würde sie alle Schritte der
USA begrüßen, aber in dem Projekt gebe es noch viele Punkte, die der Konkretisierung
bedürften. General Saygun vertrat die auch in Ankara dominierende Ansicht, dass Frieden im
Nahen Osten nur durch friedliche Maßnahmen erreicht werden kann, und dass dem Irak und
Palästina in dieser Hinsicht Schlüsselrollen zukommen. Saygun bezeichnete diesen Ansatz als
einen „vorsichtigen Optimismus“ (cautious optimism) und sagte, die Ungewissheiten müssten
beseitigt werden, um die volle Unterstützung der Türkei zu erlangen.329
http://www.turkishpress.com/turkishpress/news.asp?ID=20615, 31.05.2004 328 vgl. Turkey Should Be Grouped With European Countries In Greater Middle East Project, in: Anadolu Agency: http://www.turkishpress.com/turkishpress/news.asp?ID=18930, 04.06.2004 329 vgl. ebd.
174
Genauso wie Saygun gab auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
Erklärungen über eine mögliche Beteiligung der Türkei am Greater Middle East Project ab.330
Erdogan, der an dem besagten G-8-Gipfel teilnahm, sagte, dass die der Türkei zugedachte
Rolle viele Ungewissheiten enthalte und dass diese unbedingt beseitigt werden müssten.
Ministerpräsident Erdogan beachtete vor allem die Sensibilitäten seiner Klientel bezüglich
Palästina und sagte, dass im Nahen Osten zuallererst der Palästinakonflikt gelöst werden
müsse und dass bei der Aufteilung des Landes zwischen Palästinensern und Israelis die
Wasserressourcen gerecht aufgeteilt werden müssen.331 Indessen versuchte der türkische
Außenminister Abdullah Gül die islamischen Wähler bezüglich der sensibleren Punkte des
Projektes zu beruhigen. Gül erklärte, dass die Türkei das Projekt grundsätzlich gutheißt, aber
nicht mehr unterstützen wird, wenn es Eigenschaften entwickelt, die nicht mehr im Interesse
muslimischer Länder liegen.332 Trotz all dieser zweifelnden, skeptischen Äußerungen sieht
sich die türkische Regierung in strategischer Partnerschaft mit den USA und will eine aktive
Rolle in dem Projekt spielen. Dabei sollen aber die Beziehungen der Türkei zu den
muslimischen arabischen Ländern keinen Schaden erleiden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Türkei eine der US-Politik in der Region
angepasste Nahostpolitik verfolgt. Allerdings fühlt sie sich vor allem in Bezug auf eine
mögliche Aufteilung des Irak mit der Bildung eines unabhängigen Kurdenstaates in der
Region durch die Ungewissheiten der US-Politik brüskiert und gestört. Auf der anderen Seite
bietet sie sich im Rahmen einer strategischen Partnerschaft und der bilateralen Interessen im
Nahen Osten den USA als einen noch aktiveren Partner als in der Vergangenheit an. Auch die
Aufrufe des türkischen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer an die muslimischen Länder,
demokratische Reformen einzuleiten, können als Folge dieser Politik verstanden werden.
330 vgl. “Erdogan: Turkey Is Not Target Of Greater Middle East Project But Its Democratic Partner”, in: Cihan News Agency: http://www.turkishpress.com/turkishpress/news.asp?ID=21182, 15.06.2004 331 ebd. 332 vgl. “Gül: Turkey Would Not Be Involved In Projects That Are Against Islam Countries”, in: Anadolu Agency: http://www.turkishpress.com/turkishpress/news.asp?ID=2084, 07.06.2004
175
KAPITEL 10: Der türkisch-kurdische Konflikt vor dem
Hintergrund der EU-Integration
Mitte Februar 1999 wurde der kurdische PKK-Führer Abdullah Öcalan am Flughafen von
Nairobi vom türkischen Militärgeheimdienst festgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er
sich in der griechischen Botschaft Kenia versteckt gehalten. Vier Monate zuvor hatte seine
Flucht von Syrien aus begonnen, wo er sich seit 1979 aufhielt und die Aktionen der PKK
organisierte, was ihn über Griechenland, Russland, Italien, Weißrussland, wieder
Griechenland und letztlich nach Kenia führte. Seiner Verhaftung folgte die Aufgabe des
offenen Kampfes der PKK gegen den türkischen Staat. Dem vorausgegangen war ein
jahrelanger gewaltsam ausgetragener Konflikt. Jüngste Meldungen aus der Türkei berichten
von einer scheinbar gänzlich anderen Sachlage. Ehemaligen Kämpfern der PKK werden von
türkischer Seite Amnestie-Angebote unterbreitet mit dem Ziel, diese in die Gesellschaft
wieder einzugliedern.333 Von einer „türkischen Revolution“ ist die Rede; und sogar das
traditionell einflussstark in Verfassung und Staatsverständnis verankerte türkische Militär ist
auf dem Rückzug aus der Politik und gibt sich reformfreudig.334 Es könnte der Eindruck
entstehen, in den letzten vier Jahren habe sich vieles in der Türkei geändert, der türkisch-
kurdische Konflikt ist beigelegt und Staatsreformen werden wohlwollend angegangen.
Demzufolge stünde einem EU-Beitritt der Türkei nicht mehr viel im Wege. Bei detaillierter
Betrachtungsweise gestaltet sich die Sachlage indessen nicht so klar und überschaubar.
10.1 Die Lösungsrelevanz als Integrationsprämisse
Der bisherige türkisch-kurdische Konflikt bestand nicht nur aus den Auseinandersetzungen
zwischen der PKK und dem türkischen Militär. Es war lediglich die äußere Erscheinungs-
form, die durch die Medien immer wieder an die Weltöffentlichkeit drang. Die Ursachen und
Hintergründe hingegen haben eine weitaus komplexere und vielschichtigere Gestalt. Und
333 vgl. Schlötzer, Christiane: „Türkei gliedert PKK-Kämpfer ein“, in: SZ vom 06.08.03 334 vgl. Schlötzer, Christiane: „Militär verliert an Macht“, in: SZ vom 08.08.03 und „Die türkische Revolution“, in: SZ vom 09./10.08.03
176
auch der Weg in die Europäische Union ist noch nicht so frei geräumt, wie es oberflächlich
vor allem in den Augen der Türkei den Anschein haben mag. Dieser Abschnitt beschäftigt
sich deshalb damit, hinter die Kulissen des türkisch-kurdischen Konflikts in Vergangenheit
und Gegenwart zu blicken, um den Lösungsschwierigkeiten zu begegnen und dessen
Relevanz für einen EU-Beitritt zu analysieren. Dabei kann keinesfalls der Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben werden. Vielmehr liegt der Fokus darauf, verschiedene essentielle
Faktoren zu analysieren, den Konflikt sowohl in die türkische als auch kurdische Gesellschaft
einzufügen, die Rolle der Akteure zu beleuchten, den internationalen Kontext zu skizzieren
und schließlich den Bezug und die Bedeutung des Konflikts für einen EU-Beitritt der Türkei
herzustellen.
Es soll ersichtlich werden, dass die Wurzeln des Konflikts historischer, sozialer und auch
politischer Natur sind und in ihrer Tragweite nicht auf kurze Sicht durch einige politische
Reformen neutralisiert werden können; dass es eines grundsätzlichen Wandels des Staatsver-
ständnisses in der Türkei bedarf.
Im Kontext dieser Arbeit wird vornehmlich die Rede vom türkisch-kurdischen Konflikt oder
aber auch - im weiteren Sinne - von der Kurdenfrage sein. Diese Begrifflichkeit erscheint der
Sachlage am treffendsten Rechnung zu tragen. In mannigfachen wissenschaftlichen Quellen
tauchen Bezeichnungen wie „Kurdenproblem“, „Kurdenkonflikt“ oder gar nur „Terrorismus-
problem“ auf. Die grundlegende Herangehensweise an diesen Konflikt ist hier allerdings die
Annahme, dass es immer zweier Parteien bedarf, um zu Unstimmigkeiten zu gelangen. Aus
diesem Grund scheint die Bezeichnung als türkisch-kurdischer Konflikt zutreffender.
Während sich die Situation in den kurdischen Gebieten nach der nahezu faktischen
Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen PKK und türkischen Sicher-
heitskräften seit dem Jahr 2000 deutlich entspannt hatte, hat der Konflikt seit der
Aufkündigung der von der PKK einseitig erklärten Waffenruhe im Frühsommer 2004 erneut
an Schärfe gewonnen. Im Zuge dieser Eskalation ist auch ein erneuter Anstieg von
Übergriffen staatlicher Kräfte (vor allem der Gendarmerie) auf kurdische Dorfbewohner zu
verzeichnen. Die im Rahmen der in Kapitel 4 dargestellten Reformen zugestandenen
kulturellen Rechte für die Kurden beschränken sich auf einem minimalen Niveau: Radio- und
Fernsehsendungen in kurdischer Sprache für ca. 1 Stunde pro Woche (die Gesamtsendezeit in
177
Minderheitensprachen von 5 bzw. 4 Stunden pro Woche ist auf mehrere Minderheiten-
sprachen aufgeteilt) und die Zulassung privater Sprachkurse. Verboten ist der Gebrauch der
kurdischen Sprache nach wie vor für Parteien und im Rahmen von Wahlkämpfen. Auch in
jüngster Zeit wurden Mitglieder von Parteivorständen zu Haftstrafen verurteilt, weil sie
kurdische Redebeiträge auf Parteiversammlungen zugelassen hatten; ebenso Kandidaten pro-
kurdischer Parteien, die bei Wahlkundgebungen die Besucher auf Kurdisch begrüßt hatten.
Anfang Juli 2005 hat das Amtsgericht in Halfeti (Urfa) die stellvertretende Vorsitzende der
DEHAP, Handan Cağlayan, und den Vorsitzenden für die Provinz Urfa, Ahmet Dağtekin,
wegen einer kurdischen Ansprache auf einer Wahlveranstaltung am 28. März 2004 verurteilt.
Weil sie auf der Veranstaltung Kurdisch gesprochen haben und damit gegen das Gesetz für
politische Parteien verstießen, erhielt Ahmet Dağtekin eine Haftstrafe von 6 Monaten und
eine Geldstrafe von 440 YTL (Neue Türkische Lira). Handan Cağlayan wurde zu einer
Haftstrafe von 7 Monaten und einer Geldstrafe von 513 YTL verurteilt. Derzeit läuft zudem
ein Verbotsverfahren gegen die Gewerkschaft für Mitarbeiter des Erziehungsbereichs, Eğitim
Sen, weil in ihren Statuten das Recht auf muttersprachlichen Unterricht für alle Kinder im
staatlichen Bildungssystem gefordert wird. Gerade diese jüngsten Ereignisse erfordern eine
detaillierte Herausarbeitung des Konflikts in einer historischen und ursächlichen Einordnung.
10.2 Die Perzeptionen des Konflikts
Charakteristisches Merkmal eines Konfliktes sind vorhandene Interessensunterschiede der
beteiligten Parteien in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand. Theoretisch ist eine
Konfliktbeilegung nach der Darstellung und Analyse der jeweiligen Standpunkte und
Argumente durch Kompromiss oder Kooperation der Parteien möglich. Die Voraussetzung
zum erfolgreichen Konfliktmanagement und zur konstruktiven Auseinandersetzung ist jedoch
eine grundlegende Einigkeit, was den Streitgegenstand und damit die generelle Wahrnehmung
des Konfliktes betrifft. In Bezug auf den türkisch-kurdischen Konflikt liegen bereits an
diesem Punkt erhebliche feststellbare Divergenzen vor. Auf der einen Seite stellt sich der
Konflikt als Ausdruck von Freiheitsbestrebungen und dem Verlangen nach rechtlicher
Gleichstellung der kurdischen Bevölkerung dar. Die gewaltförmigen Auseinandersetzungen
178
zwischen der PKK und dem türkischen Militär von 1984 bis 1999 sind demnach das Resultat
der türkischen Verweigerung von Rechten für die kurdische Bevölkerung und der
Unterdrückung einer ethnischen Minderheit durch eine mehrheitliche Gruppe. Cornell zufolge
wird der Konflikt sowohl weitestgehend in westlichen als auch in Ländern der Dritten Welt so
wahrgenommen.335 Auf der anderen Seite, aus türkischer Perspektive, gestaltet sich die
kurdische Frage grundlegend davon losgelöst. „Der Konflikt wird im Sinne einer ethnischen
Minder-heitenfrage oder nationalen Frage abgelehnt.“336 Vielmehr handelt es sich für das
türkische Militär und die türkische Regierung um ein sozioökonomisches Problem und um ein
Terrorismusproblem.337 Eine Veränderung der türkischen Perspektive kann im Hinblick auf
die Unantastbarkeit der kemalistischen Prinzipien nur mühsam erfolgen.
Die türkische Regierung hatte lange Zeit nicht eingesehen, dass es ein kurdisches Problem
gab und gibt, vielmehr setzte sie dies gleich mit dem PKK-Problem. „If the Kurdish-Turkish
dichotomy represents the central ethnic cleavage in Turkey, its crucial nature has often been
obscured by the struggle between the Turkish state and the PKK.“338 Dieser Logik folgend ist
es der Türkischen Regierung ermöglicht, nicht über ein kulturelles oder politisches Problem
zu reden, sondern lediglich über ein terroristisches, welches Maßnahmen zum Erhalt der
staatlichen Sicherheit erfordert. Philip Robins argumentiert, dass im kurdischen Volk eine
zweiteilige Gesellschaft existiert. Der eine Teil, der sich selber als Kurden identifiziert und
der andere Teil, der sich in Form der Organisation der PKK darstellt. Sich von türkischer oder
auch kurdischer Seite von den „Extrempositionen“ zu entfernen ist schwierig. „(...) Most of
the middle ground in Kurdish-Turkish relations has either disappeared or has become
extremely uncomfortable - not to mention dangerous – to occupy.”339 Jene auf türkischer
Seite, die Bestrebungen zur Anerkennung einer kurdischen politischen Realität, losgelöst von
der PKK, unternahmen, standen schnell allein da oder machten sich angreifbar. Jene von der
kurdischen Seite, auf der Suche nach einem Mittelweg, bekamen Druck von gleich mehreren 335 vgl. Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1., Winter 2001, S. 31 336 Gürbey , Gülistan: Wandel in der Kurdenpolitik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik 1998, Heft 1, S. 42 337 vgl. hierzu Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol.45, No.1., Winter 2001, S. 31-32; vgl. Gürbey, Gülistan: Wandel in der Kurden-politik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik 1998, Heft 1, S. 42 338 Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 77 339 Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 78
179
Seiten zu spüren.340 Zieht man nun diese gegensätzliche Wahrnehmung der kurdischen Frage
in Betracht, wird ersichtlich, wie komplex sich die Problematik nicht nur per se gestaltet,
sondern wie problematisch darüber hinaus bereits eine Übereinkunft der Parteien bezüglich
des Problemgegenstandes und damit eines Ausgangspunktes zur Konfliktbeilegung ist.
10.2.1 Historische Einordnung
Die gegenwärtige Verteilung des kurdischen Volkes auf die verschiedenen Länder Irak, Iran,
Syrien und Türkei, resultiert aus den Folgen des 1.Weltkrieges und dem Zerfall des
Osmanischen Reiches. Um den heutigen türkisch-kurdischen Konflikt zu verstehen, ist es
unumgänglich, seine historischen Wurzeln zu betrachten und einen Blick auf die damaligen
Geschehnisse zu werfen. Auch Lale Yalcin-Heckmann betont, dass die Ereignisse in den
ersten drei Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts in der Türkei bzw. im Osmanischen Reich
entscheidend für das türkisch-kurdische Verhältnis waren.341
10.2.1.1 Friedensabkommen von Sèvres und Lausanne
Das Friedensabkommen von Sèvres vom 10. August 1920, unterzeichnet von den alliierten
Kräften und dem Osmanischen Reich, sah für die Kurden relativ weitgehende Souveränitäts-
und Autonomierechte vor, was aber nicht zu einer praktischen Umsetzung des Abkommens
führte. Türken und Kurden setzten sich gegen die Besetzung des ehemaligen Osmanischen
Reiches und die Verteilung der Territorien unter den Alliierten gewaltsam zur Wehr. Am
Ende des Unabhängigkeitskrieges, in dem sowohl Kurden als auch Türken gemeinsam
kämpften, wurde am 24. Juli 1923 das Friedensabkommen von Lausanne unterzeichnet. Im
Gegensatz zum vorherigen Friedensabkommen von 1920 wurden hier die Interessen der
340 ebd. 341 vgl. Yalcin-Heckmann, Lale: Zur Kurdenproblematik in der Türkei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 11-12/97, 07.03.1997, S. 43
180
kurdischen Bevölkerung weitaus weniger berücksichtigt.342 „In Turkey, the Kurds contributed
to the War of Independance (1919-1923), but in the immediate post-1923 period Kemal
Atatürk rejected the Kurds` demands for autonomy, severely crushed Kurdish revolts in 1920s
and 1930s and pursued a strategy aimed at their assimilation into the Turkish nation, using
both education and military force.”343 Ismail Görer zufolge waren die Erdölvorkommen in
den kurdischen Gebieten für die Verteilung der Territorien zwischen den Alliierten,
insbesondere für England und Frankreich, von erheblicher Bedeutung. Das kurdische Gebiet
wurde ohne Gegenwehr von Seiten der Türkei „aufgrund der Interessen der imperialistischen
Mächte“ auf die vier Staaten, Türkei, Irak, Iran und Syrien verteilt.344
Der Vertrag von Lausanne beinhaltet keine gesonderten Rechte für die Kurden, wie noch
während des Unabhängigkeitskrieges von Seiten Kemal Atatürks den Kurden zugesagt, noch
gelten die im Vertrag festgehaltenen Minderheitenrechte für muslimische Minderheiten.
Mumtaz Soysal erklärt, dass nach islamisch religiöser Kultur unterschiedliche Ethnien keine
Rolle spielten und dem Konzept der „umma“ folgend alle Muslime gleichgestellt waren.345
Dieser Logik folgend werden die größtenteils muslimischen Kurden in der Türkei nicht als
Minderheit angesehen.
10.2.1.2 Kemalismus als türkisches Staatsverständnis
Der türkische Nationalismus und das türkische Staatsverständnis werden in einer Vielzahl
literarischer, wissenschaftlicher Quellen als einer der zentralen ursächlichen Faktoren des
türkisch-kurdischen Konfliktes angeführt.346 Im Folgenden sollen die Entstehung und die
342 vgl. Görer, Ismail: Programme und Akteure der Kurdenpolitik in der Türkei. Versuch einer Einschätzung der interethnischen Koexistenzperspektiven; Osnabrück 2003, S. 4 ff. 343 Galletti, Mirella: The Kurdish issue in Turkey, in: The International Spectator. Special Issue, January-March 1999, S. 123 344 vgl. Görer, Ismail: Programme und Akteure der Kurdenpolitik in der Türkei. Versuch einer Einschätzung der interethnischen Koexistenzperspektiven; Osnabrück 2003, S. 9 345 vgl. Soysal, Mumtaz: The Kurdish issue: A Turkish point of view, in: The International Spectator. Special Issue, January-March 1999, S. 11 346 vgl. Gürbey Gülistan: Wandel in der Kurdenpolitik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik 1998, Heft 1, S. 41; vgl. Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 34-35; vgl. Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 66-67; vgl. Ergil, Dogu: A synopsis of the Kurdish problem, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 19-20
181
Bedeutung der türkischen Staatsideologie erläutert und ihre Unvereinbarkeit mit den
kurdischen „Befreiungsbestrebungen“ veranschaulicht werden:
Die Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 durch Kemal Atatürk347 erfolgte nach
dem Vorbild des europäischen Nationalstaats, welcher sich „als Einheitsstaat mit
einheitlichem Staatsvolk definiert“348. Diesem Verständnis des Staates entsprechend erkennt
die Türkei keine anderen als in dem Vertrag von Lausanne genannten Minderheiten an. „Die
türkische Minderheitenpolitik gründet sich also nicht auf ein besonderes islamisches oder
türkisches Nations- oder Staatsverständnis, sondern ist durch und durch europäisch geprägt.349
Verankert war dieses Staatsverständnis in den sechs Prinzipien Atatürks, welche 1931 von
ihm aufgestellt wurden und seither unter dem Begriff des Kemalismus bekannt sind:
- „Nationalismus (Staatslegitimation durch das türkische Staatsvolk),
- Laizismus (Säkularismus – Trennung von Staat und Islam),
- Republikanismus (republikanische Staatsform im Gegensatz zur Monarchie, Ersatz
des persönlichen Herrschers durch 'Vater Staat' mit einer Elite von Beamten, die den
Weg in die Moderne zeigt),
- Popularismus (Beteiligung des Volkes am Staat mit Rechten und Pflichten)
- Etatismus (Wirtschaftslenkung durch Staatsmonopole, Staatskapitalismus als Antwort
auf die Wirtschaftskrise),
- Reformismus (ständige innere Erneuerung in Richtung auf weitere Verwest-
lichung“.350
Das die kurdische Frage mit Abstand am stärksten tangierende Gründungsprinzip ist der
Nationalismus. Nach Atatürks Ideologie war ab 1923 jeder ein Türke und somit türkischer
Bürger, der in den Grenzen der Türkei lebte. Im Kontext des Zusammenbruchs des
Osmanischen Reiches und den Unruhen der Nachkriegszeit entstand nach Philip Robins der
türkische Nationalismus aus der Notwendigkeit heraus, die verschiedenen Völkergruppen in
einem Staatsgebilde zu vereinen und zu binden. In der Vergangenheit, zur Zeit des
347 Zur Zeit der Staatsgründung war sein offizieller Name Mustafa Kemal Pascha. Erst 1934 wurde ihm der Ehrenname Atatürk, der Vater der Türken, verliehen und ersetzte seinen vormaligen Familienname. 348 Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 66-67 349 ebd., S. 34 350 Franz, Erhard: Das Militär als „großer Bruder“ im Hintergrund. Wie demokratisch ist die Türkei? Das türkische Regierungssystem, in: Der Bürger im Staat, Heft 1/2000, 50. Jhrg., S. 27
182
Osmanischen Reiches, diente der Islam, die gemeinsame Religion, als Bindeglied zwischen
den einzelnen ethnischen Gruppen; Atatürk jedoch lehnte die Religion in einer solchen Rolle
als rückwärtsgewandt ab und orientierte sich anstatt dessen an dem europäischen
Nationalstaat als Vorbild.351 Das kurdische Bedürfnis nach politischen und kulturellen
Rechten steht jedoch im Widerspruch zum allumfassenden Verständnis vom Staat der Türken.
Yazicioglu beschreibt dies auch als „für sakrosankt erklärte reformfeindliche politische
Traditionen“352 der Türkei. Wenn auch Atatürks Auffassung des türkischen Nationalismus im
Kontext der Nachkriegszeit angemessen sein mochte, hat sich die Nationalstaatsidee der
Türkei seither kaum gewandelt und ist nicht mit der Zeit gereift. „For the truth of the matter is
that Turks have continued to be gripped by an 'insecurity complex' throughout most of the
seventy-seven-year existence.”353
Hinter diesem “insecurity complex” verbirgt sich die ständige Befürchtung, die Einheit der
türkischen Republik könnte durch die Gewähr zu weitreichender Rechte an die Kurden
erschüttert werden. Auch Svante E. Cornell betrachtet die kemalistischen Prinzipien, den
türkischen Nationalismus, aus zwei Perspektiven: „In other words, Atatürk`s maxim was
generous in allowing everyone who desired to do so to become a Turkish citizen, but it did
not provide a solution for those who were not prepared to abandon their previous identities in
favor of the new national idea. This, in a nutshell, was the problem of a significant portion of
the Kurdish population not only because of language, but also because of its clan-based feudal
social structure.”354
Die Hintergründe zur Herausbildung des türkischen Nationalismus dürften im Kontext dieser
Arbeit ausreichend dargestellt sein, um sich der Frage zu widmen, was dazu führte, dass diese
kemalistischen Prinzipien nicht über die Zeit verändert und angepasst wurden, und welche
Rolle die soziale Struktur der kurdischen Gesellschaft in diesem Zusammenhang spielt. Wie
später noch zu sehen sein wird, war die türkische Kurdenpolitik größtenteils darauf
351 vgl. Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 66 352 Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Tenea Verlag, Berlin 2005, S. 201 353 Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 67 354 Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol.45, No.1, Winter 2001, S. 34
183
ausgerichtet, Autonomiebestrebungen von kurdischer Seite zu unterdrücken, die Kurden in
das Einheitsgebilde der türkischen Republik zu integrieren und die Ansprüche ihrer
kulturellen Identität zu verneinen. Das Vorhandensein heute noch existierender Divergenzen
zwischen Türken und Kurden, auf welcher Grundlage sie selbst in ihrem Selbstverständnis
auch beruhen mögen, ist der Beleg dafür, dass diese eingeschlagene Politik nicht erfolgreich
war.355 Es ist daher vorerst auf die kurdische Identität und die Struktur der kurdischen
Gesellschaft einzugehen.
10.2.2 Gesellschaftsstrukturen unter Berücksichtigung kurdischer
Identitätswahrnehmung
Die Kurden stellen die größte ethnische Gruppe mit einer gesonderten kulturellen Identität in
der Türkei dar. Die Charakteristika, nach denen sich die kurdische Identität im Wesentlichen
definiert, sind die kurdische Sprache, die Religion, das Siedlungsgebiet und vor allem „das
'Selbstbekenntnis' zum Kurdentum“.356 Erwähnenswert erscheint an dieser Stelle bezüglich
der Zahl der Kurden, dass die Angaben in der Literatur differieren. So leben laut Philip
Robins 10-13 Mio. Kurden in der Türkei, nach Mirella Galletti sind es 12 Mio. und Ilhan
Kizilhan zufolge beziffern sie sich auf mehr als 20 Mio. Menschen. Ohne sämtliche Zahlen
hier auflisten zu wollen, finden sich noch weitaus stärker abweichende Angaben in den
unterschiedlichsten Quellen. Lale Yalcin-Heckmann kommentiert dies folgendermaßen:
„Zahlen über die Kurden sind (...) oft Ausdruck politisch motivierter Einschätzungen, da es
keine genaue Volkszählung über die ethnische Zugehörigkeit gab und gibt.“357
355 Es muss hinzugefügt werden, dass sich ein Teil der kurdischen Bevölkerung, freiwillig oder auch unfreiwillig, in die türkische Gesellschaft integriert hat. So schreibt Cornell: „Kurds today are active in all spheres of social and political life, and are even present in the ranks of the Nationalist Movement Party (...), which is often characterized in the West as fascist and anti-Kurdish.”, S. 35 356 Genauere Ausführungen zur kurdischen Identität und ihren Hintergründen sind zu finden bei Yalcin-Heckmann, Lale: Zur Kurden Problematik in der Türkei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 11-12/97, 07.03.1997, S. 41 357 Yalcin-Heckmann, a.a.O., S. 41
184
Allein die Zahl der Kurden in der Türkei hat jedoch nicht dazu geführt, dass sie eine kulturell
eigenständige Ethnie trotz entgegengesetzter Bemühungen der türkischen Regierung
geblieben sind. Svante E. Cornell führt hierzu vier Gründe an: Aufgrund der demo-
graphischen Entwicklungen gibt es eine sehr große Zahl nicht türkisch sprechender Kurden.
Des weiteren ist das kurdische Siedlungsgebiet mit seiner geographischen Lage weit vom
Zentrum des Landes entfernt. Die Ausbildung einer gesonderten Identität wird dadurch
begünstigt. Darüber hinaus sind die Kurden keine Migranten, sondern ein schon lange Zeit in
diesem Gebiet ansässiges Volk, was es weitaus schwieriger macht, eine neue Identität
anzunehmen. Und schließlich spielt auch die soziale Organisationsstruktur der kurdischen
Bevölkerung in einem traditionellen Stämme- und Feudalsystem eine große Rolle.358 Schon
zu Zeiten des Osmanischen Reichs gab es viele verschiedene kurdische Stämme, jeweils
geführt von einem Oberhaupt. Manchmal waren es auch nur sehr große Familien, die über die
Zeit eine Anhängerschaft um sich scharten und einen Stamm bildeten. Die Mitglieder eines
Stammes schuldeten dem Stammesführer absolute Loyalität. Das Mit- oder Nebeneinander
der verschiedenen Stämme war bei Zeiten durch Kooperation und Allianzen in unterschied-
lichsten Formen, meist aber durch Konkurrenz gekennzeichnet.359
Zwischen einer Stammesgesellschaft und dem Staat als zentralem Organ tut sich eine
generelle Konfliktlinie auf, insofern ein Stammesführer unangreifbaren Anspruch auf seine
Mitglieder und sein Gebiet und der Staat einen allumfassenden Anspruch auf alle Bürger
erhebt. Dem Staat verbleiben in dieser Situation zwei Möglichkeiten: die Zerschlagung der
Stammesgesellschaft oder die Einbeziehung der Stammesführer in seine Politik. „Needless to
say, the strategy of breaking down tribal structures risks provoking armed resistance on the
part of the tribal leaders, and so the Turkish republic, much like Ottoman Empire before it,
adopted a strategy of co-optation.”360 Diese “strategy of co-optation” war für beide Seiten,
kurdische Stammesführer und die türkische Regierung ertragreich, nur für die kurdische
Bevölkerung weniger.
358 vgl. Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 35 359 ebd., S. 36 360 ebd., S. 37
185
Die traditionell schlechtere wirtschaftliche Entwicklung der kurdischen Teile der Türkei
resultiert zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus dem Erhalt der Stammesgesellschaft und
den feudalistischen Strukturen. „Tribal leaders, of course, have an interest in preventing
rapid modernization, which would inevitably weaken the traditional social structures that
perpetuate their power“.361 Ein vergleichbarer Ansatz wie bei Svante E. Cornell für die
Erklärung der wirtschaftlichen Unterentwicklung des Südostens der Türkei findet sich auch
bei Dogu Ergil.362 In der Analyse gegenseitiger Fehler, sowohl der türkischen als auch der
kurdischen Seite in der Vergangenheit, bestätigt auch Mumtaz Soysal diesen Punkt: „These
lords prefered to keep the feudal structure intact for obvious reasons and benefited from it to
maintain their positions in the ranks of various political parties (...). Perhaps this too is one of
the failures of the republic: not to have been able to change this social structure and fully
eliminate the remnants of the Kurdish feudal order.“363 Auch Abdullah Öcalan hat sich
Berichten der Süddeutschen Zeitung zufolge „über den Einfluss und die negativen
Auswirkungen der Machenschaften der kurdischen Clanführer geäußert“.364
Die Erläuterung der sozialen Strukturen der kurdischen Bevölkerung soll nicht dazu dienen,
die gegenwärtig schwierige sozioökonomische Lage im Südosten der Türkei anhand dieses
Aspektes zu erklären. Vielmehr geht es darum, eine Vielzahl von Faktoren in einen
Zusammenhang zu setzen und schließlich die Hintergründe des türkisch-kurdischen Konflikts
in ihrer Komplexität anzuerkennen. Einseitige Betrachtungen sind bei der Klärung dieses
Sachverhaltes wenig hilfreich. Es lässt sich jedoch immer wieder beobachten, dass
wirtschaftliche Unterentwicklung und schwierige sozioökonomische Bedingungen oftmals
den Nährboden für innerstaatliche Konflikte bieten.
361 ebd. 362 vgl. Ergil, Dogu: A synopsis of the Kurdish problem, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 20-21; auch Ergil betont die Folgen der traditionell in Stämmen organisierten kurdischen Gesellschaft 363 Soysal, Mumtaz: The Kurdish issue: A Turkish point of view, in: The International Spectator, Special Issue; January-March 1999, S. 15 364 vgl. Schlötzer, Christine in: SZ vom 06.8.03, S. 7
186
10.2.3 Türkische Staatspolitik gegen die kurdische Minderheit
Die kurdische Gesellschaftsstruktur weist bestimmte traditionelle Merkmale auf, welche in
Bezug auf den türkisch-kurdischen Konflikt von Bedeutung sind. Es sollte im voran-
gegangenen Abschnitt deutlich geworden sein, dass die Stammesgesellschaft mit ihren
Clanführern nicht zur Weiterentwicklung und Modernisierung der kurdischen Gesellschaft
beigetragen hat. Auch in der türkischen Gesellschaft finden sich einige „Besonderheiten“, die
einer Beilegung des Konflikts nicht zuträglich waren. Yilmaz Camlibel spricht von „zwei
Staaten“, die in der Türkei existieren: einen nach außen „sichtbaren, legalen“ und einem
„illegalen 'inneren Staat' unter der Kontrolle einer Bürokratie aus Militär und Zivilisten“.365
Welche politischen Verhältnisse sich auch immer hinter dem Verwaltungsapparat der Türkei
verbergen, sei dahingestellt. Operationalisierbar und nachweisbar sind solche Behauptungen
schwerlich. Dennoch bleibt die Frage, der hier nachzugehen ist, welche Politik in Bezug auf
die kurdische Frage von der Türkei betrieben wurde und auch welche Relevanz in diesem
Zusammenhang dem türkischen Militär zukommt. Der historische Kontext wurde bereits
umrissen. An dieser Stelle soll nun auf die jüngere Entwicklung seit Ausbruch des offenen
Konflikts zwischen der kurdischen Bevölkerung, bzw. vielmehr der PKK, und der türkischen
Regierung Bezug genommen werden. Es ist zu prüfen, inwiefern die türkische Seite durch
ihre Politik kurdische und kulturelle Eigenheiten unterdrückt hat und somit Verantwortung für
die Nichtausbildung einer zur PKK alternativen kurdischen politischen Bewegung trägt:
Im Jahr 1985 begann die türkische Regierung in den kurdischen Gebieten aus der dort
ansässigen Bevölkerung sog. „Dorfschützer“ zu rekrutieren. Diese wurden von der türkischen
Seite bewaffnet, entlohnt und beauftragt, ihr Dorf „zu schützen“. Ihre Zahl wurde 1998 auf
ungefähr 62.000 geschätzt.366 Michael Radu erklärt sich jene Kooperation zwischen der
kurdischen Bevölkerung und der türkischen Regierung wie folgt: „(...) A large portion of the
Kurdish population found the protection of the Turkish government far more attractive than
365 vgl. Camlibel, Yilmaz: Die Türkei hält keine Verträge. Die EU wird keine Rechte für Kurden und Minderheiten durchsetzen, in: Pogrom 210 (2001), S. 32 366 vgl. Galletti, Mirella: The Kurdish issue in Turkey, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 126
187
the terror of the PKK and its hostility to Kurds of rival clans or differing political views.”367
Folglich wurden die “Dorfschützer” und ihre Familien eines der Hauptangriffsziele der PKK.
Darüber hinaus beinhaltete das türkische Vorgehen eine weitgehende Militarisierung der
kurdischen Gebiete. 1987 wurde in acht Provinzen der Notstand ausgerufen. Diese Gebiete
fielen damit unter eine gesonderte Rechtssprechung, die weitaus härtere Maßnahmen als im
Rest des Landes beinhaltete. „(...) The measure included nomination of a `super governor` to
coordinate activities against the guerrillas, who has extraordinary powers for suspending
civil rights and liberties, closing down printing presses, banning publications, and forcibly
resettling the population, both temporarily and definitively.”368
In der Vergangenheit waren es gerade jene Regelungen und Praktiken in den Notstands-
provinzen, die erhebliche Menschenrechtsverletzungen mit sich brachten, demokratie-
theoretisch unzulänglich waren und Kritik an der Türkei aus dem Ausland hervorriefen.
Der türkisch-kurdische Konflikt hat enorme finanzielle Aufwendungen von türkischer Seite
erfordert. In den 90er-Jahren waren es um die 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr, die für
militärische Rüstungsmaßnahmen verwandt wurden. „At the height of the insurgency, the
Turkish state had some 220.000 troops deployed in the southeast, together with an additional
50.000 members of the special forces and around 45.000 village guards.”369 Auf die
konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen des Konflikts kann an dieser Stelle nicht weiter
eingegangen werden.370 Aus zivil-ökonomischer und sozialer Perspektive kann jedoch davon
ausgegangen werden, dass ungefähr 3.500 Dörfer zerstört und drei Millionen Menschen
vertrieben wurden. So ist zum Beispiel der rapide Einwohnerzuwachs in Diyarbakir von
350000 im Jahr 1990 auf 1.9 Millionen Ende des Jahres 2005 darauf zurückzuführen.
Schließlich hat sich eine weitere Methode im Umgang mit der kurdischen Frage für die
türkische Regierung als effektiv erwiesen. Die Einführung des Gesetzes für Terroris-
367 Radu, Michael: The Rise and Fall of the PKK, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol.45, No.1, Winter 2001, S. 57 368 Galletti, Mirella: The Kurdish issue in Turkey, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 127 369 Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 70; die Zahl von 45.000 „Dorfschützern“ weicht von der vorher nach Galletti zitierten Zahl von 62 000 ab 370 vgl. hierzu Robins ebd., S. 77 ff.
188
musbekämpfung im Jahr 1991, besonders Art. 8, diente dem Schutz der staatlichen Einheit
und war ein wirksames Instrument der Rechtssprechung zur Aufrechterhaltung türkisch-
nationalistischer Interessen. „Its introduction was the beginning of a sinister phase in which
those viewed as enemies of the state were eliminated through extrajudicial executions or
disappearance and several retrogade measures affected the treatment of prisoners arrested
for offences within the law`s very broad definition of terrorism.”371
In diesen Maßnahmen kommt der anfangs erwähnte türkische “insecurity-complex” und die
Unantastbarkeit der staatlichen Integrität zum Tragen. Die türkische Regierung war darum
bemüht, und tat dies mit den entsprechenden Mitteln, die kurdische Kultur so weit
einzudämmen, dass sie sich nicht innerhalb der Türkei entfalten konnte. Die nahezu einzige
kurdische Organisation, die sich über Jahre „erfolgreich“ dem entgegenstellte, war die PKK.
An diesem Punkt stellt sich jedenfalls die Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip und
damit auch konkret die Frage nach dem Wirken der PKK. Fraglos waren die repressiven
Maßnahmen und Kontrollmechanismen von türkischer Seite ausgefeilt und darauf gerichtet,
jeglichen Separatismus und politische kurdische Vereinigungen zu unterdrücken. Es scheint,
als habe die türkische Regierung dadurch mitverschuldet, dass keine Alternative zur PKK in
der kurdischen Bevölkerung Fuß fassen konnte. Liegt die Verantwortung für das Fehlen einer
politischen, friedlichen Alternative neben der PKK nur bei der türkischen Regierung, oder
haben die Methoden der PKK ebenfalls dazu beigetragen? Dogu Ergil antwortet darauf: „(...)
The heavier the official Turkish repression on Kurdishness, the more representative the PKK
has become for lack of an alternative on the political stage; at the same time in eliminating
representative peaceful political organisations, both the Turkish government and the PKK
have demonstrated their obvious monopolistic and authoritarian characters.“372 Yilmaz
Camlibel verfolgt die These, dass sowohl die PKK als auch der türkische Staat ihren Teil dazu
beigetragen haben und der Ausbildung einer alternativen kurdischen, friedlichen Bewegung
371 Galletti, Mirella: The Kurdish issue in Turkey, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 127 372 Ergil, Dogu: A synopsis of the Kurdish problem, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 22
189
im Weg standen.373 „Erst der bewaffnete Kampf der PKK gegen den türkischen Staat hat es
diesem überhaupt ermöglicht, Millionen von Kurden aus ihren Dörfern zu vertreiben.“374
Der türkisch-kurdische Konflikt hat sich aufgrund des Mangels an politischen
Ausdrucksmöglichkeiten einen Großteil der Zeit von 1984 - 1999 in seiner gewaltsamen Form
gezeigt. Die türkische Regierung war darauf bedacht, kurdischen Vereinigungen entgegen-
zuwirken und auch die PKK verstand sich als einzig repräsentativ für das kurdische Volk. Das
Zusammenwirken dieser Faktoren und die Austragungsform des Konflikts soll im Folgenden
anhand der Rolle des türkischen Militärs und der PKK näher betrachtet werden.
10.2.4 Die Rolle des türkischen Militärs
Das türkische Militär versteht sich selbst als Schützer des türkischen Staates und als Hüter der
kemalistischen Prinzipien (vgl. auch Kapitel 4.1). Allein aufgrund seiner Sozialisation und
seines Ausbildungssystems hat sich das türkische Militär als eine eigenständige soziale
Schicht herausgebildet, wobei sich besonders die Offiziersklasse von der übrigen
Bevölkerung absonderte.375 Nachdem das Militär Ende der 70er Jahre die kemalistische
Staatsform erneut gefährdet sah und im September 1980 wieder die Staatsführung übernahm,
drängte es danach auf eine neue Verfassung, welche zukünftig präventiv die Rolle des
Militärs stärken und ein Eingreifen zukünftig verhindern sollte. „In der neuen Verfassung
hatten sich die Generäle durch den Nationalen Sicherheitsrat (...) ein legales politisches
Mitspracherecht einräumen lassen.“376 Zwar hat sich die Funktion des Nationalen
Sicherheitsrates nach den jüngsten Reformen in der Türkei hin zu einem lediglich beratenden
Gremium gewandelt, der Einfluss des Militärs in der Türkei war in der Vergangenheit jedoch
beträchtlich und lässt vermuten, dass er es auch heute noch ist (vgl. Kapitel 4.1). Die türkische
Menschenrechtsaktivistin Erin Keskin hat im Menschenrechtsausschuss des Deutschen
373 vgl. Camlibel, Yilmaz: Die Türkei hält keine Verträge. Die EU wird keine Rechte für Kurden und Minderheiten durchsetzen, in: Pogrom 210 (2001), S. 32 374 ebd., S. 33 375 vgl. Franz, Erhard: Das Militär als „großer Bruder“ im Hintergrund. Wie demokratisch ist die Türkei? Das türkische Regierungssystem, in: Der Bürger im Staat, Heft 1/2000, 50.Jhg., S. 28 376 ebd., S. 29
190
Bundestages die nach wie vor bedenkliche Rolle des türkischen Militärs betont. Sie erklärte,
„die türkische Legislative stehe ständig unter dem Druck der Militärs, da alle Gesetzentwürfe
vom nationalen Sicherheitsrat genehmigt werden müssen, bevor das Parlament sie überhaupt
behandeln darf. Die türkische Armee habe eine weitaus stärkere Stellung als in anderen
demokratischen Ländern, da sie Handel betreibe, Banken und Versicherungen besitze und
insgesamt sehr viel Macht auf sich vereine.“377
Erhard Franz vertritt die These, dass das Militär ab 1992 eine eigenständige Politik gegenüber
den Kurden verfolgte. Des weiteren verweist er darauf, dass die Bedeutung des türkischen
Militärs nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bedroht war und es wohlmöglich einer neuen
Existenzberechtigung bedurfte, welche es in den Unruhen im Südosten des Landes fand. Eine
solche These jedoch, so räumt auch er ein, ist empirisch nicht belegbar.378 Die Politik des
Militärs in Form einer abschließenden Großoffensive gegen die PKK lief jedoch der Politik
der Vertrauensbildung der seit Ende 1991 amtierenden Regierung zuwider. Nachdem das
Nevroz-Fest 1992 mit etlichen Verletzten und zahlreichen Toten endete, stellte „eine
Untersuchungskommission von sozialdemokratischen Parlamentariern (...) fest, dass die
Zivilbehörden in der Krisenregion keine Kontrolle über die Sicherheitskräfte hatten und dass
das Militär 'exzessive Gewalt' angewendet hatte“379.
Das türkische Militär nimmt seine Verantwortung zum Schutz der nationalen Integrität sehr
ernst und verringert seinen Einfluss auf die Politik nicht. „Military meddling is indeed natural
in Turkey – yet distinctly inappropriate in the eyes of the EU.“380 Die Langzeitwirkung des
von Atatürk postulierten Nationalismus, vertreten durch das Wirken des türkischen Militärs,
steht in direktem Widerspruch zu allen den Kurden zustehenden Rechten. Der Vollständigkeit
halber ist hinzuzufügen, dass die Aufmerk-samkeit des Militärs sich nicht nur gegen
separatistische Tendenzen, was die kurdischen Bestrebungen in Augen des Militärs sind,
sondern auch gegen erstarkende islamische Strömungen, die gegen das Prinzip des
377 Keskin, Hakki: Türkisches Militär ist großes Hindernis auf dem Weg zur Demokratie, Nr. 108, 21.05. 2003, Internet: http://www.bundestag.de/presse/hib/2003/2003_108/02.html 378 vgl. ebd., S. 30 379 ebd., S. 31; im Folgenden werden an dieser Stelle noch weitere Beispiele angeführt, welche die anfangs aufgestellte Behauptung untermauern. 380 McBride, Edward: Ataturk`s long shadow. A survey of Turkey, in: The Economist, London, June 2000, S. 13
191
Säkularismus verstoßen, richtet.381 Obwohl das militärische Vorgehen in den südöstlichen
Provinzen in der Vergangenheit oftmals nicht den Ansprüchen der Kopenhagener Kriterien
genügte, gibt es auch Tendenzen und Strömungen innerhalb des Militärs, die einen EU-
Beitritt der Türkei begrüßen würden. “They [Anm.: the generals] view the membership of the
EU as the culmination of Ataturk`s dreams. So the tighter Turkey`s embrace with Europe, the
less, it`s said, they will feel the need to meddle in politics.”382
10.2.5 Die PKK
Oftmals erscheint dem Außenstehenden der türkisch-kurdische Konflikt, als bestünde er
lediglich aus den Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen
PKK. Im Kontext der gewaltsamen Austragungsformen gerät in den Hintergrund, was sich
eigentlich hinter der äußeren Erscheinungsform verbirgt. Bis zu diesem Punkt sollte bereits
ersichtlich geworden sein, wie vielschichtig und komplex sich dieser Konflikt darstellt. Die
Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär stellen damit nur die
gewaltförmige Dimension des Konflikts dar. Die zivile und sozioökonomische Dimension des
nach wie vor existierenden Konflikts werden später deutlich, wenn im Nachfolgenden die
aktuelle Lage in der Türkei erläutert wird.
Die PKK ist als Organisation weit davon entfernt, sich nur legitimer und vertretbarer Mittel
bedient zu haben. Es ist ihr zu gute zu halten, dass sie der kurdischen Frage die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verschafft hat. Die Methoden, die dabei angewandt
wurden und die Opfer, ungefähr 30000 Tote, werden in den Quellen angeführt, die der 15-
jährige Konflikt hinterließ, lassen diesen „Erfolg“ jedoch fragwürdig erscheinen.
Die PKK als eine marxistisch-leninistische Partei wurde 1978 gegründet und richtete sich in
ihrer politischen Ideologie gegen den Feudalismus und die Stammesgesellschaft. Michael
Radu geht noch weiter und charakterisiert die PKK: „Since the beginning, the PKK has been
381 vgl. Sahin, Mehmet; Kaufeldt, Ralf: Lösung der Kurdenfrage mit dem EU-Beitritt der Türkei?, in: Berliner Debatte INITIAL 11 (2000) 4, S. 83 382 McBride, Edward: Ataturk`s long shadow. A survey of Turkey, in: The Economist, London, June 2000, S. 14
192
Marxist-Leninist in its ideology, Stalinist in its leadership style, and Maoist in its strategy for
the conquest of power.“383 In den 90er Jahren wandelte sich die Ideologie der PKK insofern,
als sich ihre marxistische Rhetorik reduzierte und sich auf den kurdischen Nationalismus
konzentrierte.384
Das Ziel der PKK war die Errichtung eines autonomen, von der Türkei unabhängigen
kurdischen Staates. In der kurdischen Bevölkerung fanden sich besonders unter den
Jugendlichen etliche, die sich der PKK anschlossen und einen ergiebigen Rekrutierungspool
bildeten. „For a youth, who has neither self-respect nor a cause through which to earn that
self-respect, the PKK represents the only organisational structure to join and struggle for a
common end. For some youths, in their choice for a meaningful life, no matter how short, the
risks involved in the PKK, the violence of its methods and the high price to pay are only
secondary concerns. (…) although in reality they are just wasted as peons in a warfare
behind which the military-strategic interests of larger regional powers loom.”385
Neben anderen linksorientierten politischen, kurdischen Gruppierungen, die sich in den 70er
Jahren gebildet hatten, war die PKK die einzige Organisation, die ab 1980 von Syrien und aus
dem Norden Libanons heraus agierte und so der Verfolgung des türkischen Staates vorerst
entgehen konnte. Abdullah Öcalan war der unumstrittene Führer der PKK, was er nicht
zuletzt durch seinen Führungsstil erreichte. „Those who threatened his leadership or simply
disagreed with him faced demotion, expulsion, or death.“386 Auf der einen Seite scheint die
PKK in ihrem Kampf für die kurdische Unabhängigkeit in der kurdischen Bevölkerung ein
verschüttetes Identitätsgefühl wiederbelebt zu haben. Anders ist es kaum erklärlich, dass sie
durchaus Unterstützung aus dem Volk erfahren hat. Andererseits schreckte die PKK auch
nicht davor zurück, extensive Gewalt gegenüber der kurdischen Bevölkerung anzuwenden.
„The popularity of the PKK, in spite of its sometimes brutal violence against Kurdish
383 Radu, Michael: The Rise and Fall of the PKK, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 48 384 vgl. Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 11 385 Ergil, Dogu: A synopsis of the Kurdish problem, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 21; vgl auch Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 69 zur Entstehung von Heldentum und Mythen um jene, die bereits sind, Gewalt anzuwenden und im Kampf zu sterben 386 Radu, Michael: The Rise and Fall of the PKK, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 50
193
civilians, is to a large extend due to the even greater brutality of the Turkish army, which has
alienated a large part of the Kurdish population from the state“.387 Svante E.Cornell beschreibt
die Lage, in der sich die kurdische Bevölkerung befand, eher zwiegespalten. Es blieben nur
zwei Möglichkeiten, sich zu positionieren, entweder an der Seite des türkischen Staates oder
an der Seite der PKK. Alles zwischen diesen beiden Positionen, auch das Eintreten für
kurdische Rechte auf friedfertige Weise, bedeutete, in das Schussfeld sowohl von türkischer
Seite als auch von Seiten der PKK zu geraten.388
Die Gründe für die militärische Niederlage der PKK sind vielfältig und können in diesem
Rahmen nicht erläutert werden. Michael Radu führt in seinem ausführlichen Aufsatz zu
diesem Thema drei Gründe an: Öcalans Verhaftung, der Verlust der Unterstützung aus der
kurdischen Bevölkerung und veränderte Machtverhältnisse im Nahen Osten.389 Die kurdische
Frage hat schließlich nicht nur innenpolitische Relevanz, sondern ist allein aufgrund der
Verteilung der Kurden auf vier verschiedene Staaten auch von außenpolitischer,
transnationaler Bedeutung. Gleichfalls war auch die PKK von dieser Dimension betroffen, hat
davon profitiert oder wurde eventuell auch international instrumentalisiert. Auf diesen Aspekt
wird im Folgenden eingegangen, um einen weiteren und sodann auch abschließenden Faktor
des türkisch-kurdischen Konflikts zu analysieren.
10.2.6 Die transnationale Dimension des Kurdenkonflikts
Die transnationale Dimension des türkisch-kurdischen Konflikts ist gegenwärtig im Zuge des
Irak-Krieges wieder deutlich in Erscheinung getreten. Die Aktivitäten der Kurden im Nord-
Irak und ihre Autonomiebestrebungen werden von türkischer Seite mit äußerster Skepsis
verfolgt. Aber auch in der Vergangenheit betraf der türkisch-kurdische Konflikt nicht nur
innenpolitische Bereiche der Türkei. So betont Gülistan Gürbey den transnationalen Charakter
387 Galletti, Mirella: The Kurdish issue in Turkey, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 125 388 vgl. Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 12 389 vgl. Radu, Michael: The Rise and Fall of the PKK, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 47-63
194
des Konflikts als eine seiner Besonderheiten.390 In der Tat stellt sich der türkisch-kurdische
Konflikt als eng verflochten mit den Interessenlagen der türkischen Nachbarstaaten dar und
erhält so seine transnationale Gestalt. Die Unterstützung der PKK durch andere Staaten spielt
diesbezüglich keine unerhebliche Rolle.
Der langjährige Kampf der PKK wurde ihr unter anderem oder vor allem durch Unterstützung
aus dem Ausland ermöglicht. Finanzielle Mittel flossen ihr nicht nur von Kurden aus dem
europäischen Exil, durch illegale Geschäfte in Form von Drogen- und Waffenhandel, sondern
auch durch Drittstaaten zu, welche an der Destabilisierung der Türkei Interesse hatten.391
Hans Krech stellt dazu die These auf, dass „in den Stellvertreterkriegen Syriens und des Irak
mit der Türkei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (...) die PKK an Macht und Einfluss
gewinnen“ konnte.392 Die PKK erhielt Unterstützung aus der Sowjetunion, aus Griechenland,
Iran, Zypern und vor allem aus Syrien. „It is doubtful whether the PKK could have attained
anything close to the position it did without foreign support.”393 Syrien beherbergte bis 1998
die Basis der PKK und stellte damit den zentralen Stützpunkt und Rückhalt. Militärische und
logistische Unterstützung kam aus dem Iran und im Norden des Irak befanden oder befinden
sich noch weitere Stützpunkte.
Die PKK konnte Mitte der 80er Jahre die Unruhen während des Iran-Irak-Krieges nutzen und
sich neben den beiden nordirakischen, kurdischen Parteien, PUK und KDP, im Nordirak
etablieren. Nach dem Ende des 2. Golfkrieges knüpften die nordirakischen Kurdenführer
Talabani (PUK) und Barzani (KDP) Kontakte zur Türkei, um die Nutzung des türkischen
Militärflughafens Incirlik durch die Alliierten und damit den Schutz der Flugverbotszone im
Nordirak sicherzustellen. In dieser Situation wiederum erhielt die PKK Unterstützung in Form
von Waffen von der irakischen Regierung, die damit die Türkei zu destabilisieren erhoffte.394
390 vgl. Gürbey, Gülistan: Wandel in der Kurdenpolitik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik 1998, Heft 1, S. 39 391 vgl. Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 40 392 vgl. Krech, Hans: Der Bürgerkrieg in der Türkei 1978-1999, Dr. Köster Verlag, Berlin 1999, S. 41 393 Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 41 394 vgl. Krech, Hans a.a.O.
195
Ende der 90er Jahre veränderte sich die Lage für die PKK. Nach massiven militärischen
Einsätzen des türkischen Militärs im Nordirak verblieb der PKK nur noch Syrien als
Rückzugspunkt. Die Ausweisung Öcalans aus Syrien im Oktober 1998 war dann die Folge
extensiver militärischer Drohungen der Türkei an Syrien. „In sum, the PKK`s intrinsic
weaknesses that shrank its base of popular support, the Turkish military`s change of policy
toward the civilian population, and especially Turkey`s growing ability to crush the
insurgents and stamp out its sources of foreign support combined to defeat the
insurgency.”395 Ohne im Detail hier die militärische Niederlage der PKK erläutern zu wollen,
scheinen sich doch dadurch die grundlegenden Rahmenbedingungen für eine Lösung des
türkisch-kurdischen Konflikts gebessert zu haben. „Having won the war, Turkey now needs to
win the peace.“396
10.3 Konfliktwahrnehmung im europäischen Integrationsprozess
Nachdem im vorangegangenen Abschnitt der türkisch-kurdische Konflikt für sich betrachtet
wurde, dabei bereits die verschiedenen Konfliktlinien und Schwierigkeiten per se zu Tage
traten, soll im folgenden Abschnitt deutlich werden, dass die ungelöste kurdische Frage nicht
ohne Grund immer wieder als türkisches Hindernis auf dem Weg nach Europa angeführt wird.
Zwischen der EU und der Türkei gibt es eine normative Lücke: „Few subjects better evoke
this normative gap than the Kurdish issue, with its challenge to preconceived notions of state
and ideology in Turkey, its centrality to the pluralism debate, and its strong association with
the issue of human rights.”397 Da sich in dem Bericht der Europäischen Kommission über die
Fortschritte der Türkei als Primärquelle am deutlichsten die einzelnen Kritikpunkte
widerspiegeln, muss zwangsläufig oftmals darauf zurückgegriffen werden.
395 Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 42 396 Cornell, Svante E.: The Kurdish Question in Turkish Politics, in: Orbis. A Journal of Foreign Affairs, Vol. 45, No.1, Winter 2001, S. 46 397 Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 73
196
10.3.1 Historischer Abriss der Beziehungen
Wie bereits schon anfangs erläutert, sind Europäisierung und Westorientierung schon seit den
Reformen Atatürks ein politisches Anliegen der Türkei. Es scheint, als hätte kaum ein anderes
Land des heutigen oder zukünftigen Europas einen derart langen und schwierigen Weg zu
einem EU-Beitritt hinter sich wie die Türkei. Dieser kurze geschichtliche Rückblick auf die
schon lange bestehenden Beziehungen zwischen Europa und der Türkei erklärt anhand des in
der Vergangenheit oftmals fehlenden Fortschritts die in der Türkei immer wieder in
Erscheinung getretene Verdrossenheit gegenüber der EU. Er kann aber auch die Tragweite
und Bedeutung des in Gang gesetzten Reformprozesses in der Türkei verdeutlichen.
Trotz jahrzehntelanger Orientierungen an Europa blieben in der Türkei konkrete und
tiefgreifende Reformen aus. „There is no doubt much to critisize about the state of Turkey
today, but critics need to remember what a long and difficult road it has travelled.“398 In
Anbetracht dessen mag gerade die zuletzt veranlasste, relativ vielversprechende Reformrunde
in der Türkei die Ernsthaftigkeit der türkischen Regierung, sich endgültig in Europa zu
integrieren, zeigen.
Die westeuropäische Adaption als Staatszielbestimmung der Türkei und die geschichtliche
Entwicklung der Beziehung soll deshalb kurz erläutert werden, wobei im Detail auf die
Ausführungen in den Kapiteln 2 und 3 dieser Arbeit verwiesen wird.
Die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei in Form von ersten Handelsabkommen und
politischen Verträgen gehen bis in das 16. Jahrhundert zur Zeit des Osmanischen Reiches
zurück. Im Zuge des Niedergangs des Osmanischen Reiches und der Aufteilung der
Territorien unter den Westmächten kamen auch kulturelle Einflüsse hinzu, die schließlich
ihren stärksten Ausdruck unter Mustafa Kemal Atatürk fanden. Die Türkei begann sich ab
1923 von einem islamischen Imperium zu einem europäischen Nationalstaat zu wandeln.
Nachdem sie bis zum Ende des 2.Weltkrieges außenpolitische Neutralität wahrte, wendete sie
398 Stone, Norman: Talking Turkey, in: The National Interest Fall, Washington D.C. 2000, S. 68
197
sich während des Ost-West-Konflikts dem Westen zu. Es folgt der Eintritt in die OEEC399 im
Jahr 1948, der Eintritt in den Europarat 1949 und der Beitritt zur NATO 1952. Zur Zeit des
Ost-West-Konflikts kam der Türkei als „Südostflanke“ der NATO eine große sicherheits-
politische Bedeutung zu.400 Das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft
(EG) wurde im Dezember 1964 wirksam. Seit 1963 waren auf beiden Seiten nur mäßige
Anstrengungen zu erkennen, die gesetzten Ziele zu erreichen.401 Erst während der
Militärdiktatur (Sept.1980 - Nov.1983) unter Ministerpräsident Turgut Özal belebten sich die
Beziehungen. In den folgenden Jahren scheiterte die Fortentwicklung des Assoziierungs-
verhältnisses immer wieder an dem Veto Griechenlands, was schließlich zum offiziellen
Antrag auf EG-Vollmitgliedschaft der Türkei im April 1987 führte. Die Europäische
Kommission befand in ihrem Bericht vom Dezember 1989, dass die Türkei weder
wirtschaftlich noch politisch reif für den Beitritt war. Die Beziehungen wurden so auf
Grundlage des Assoziierungsabkommens weiter fortgesetzt. Im März 1995 wurde schließlich
die Zollunion beschlossen.
Trotz erfolgreichem Abschluss und Umsetzung der Zollunion gewährte der Europäische Rat
auf seinem Treffen in Luxemburg 1997 der Türkei nicht die gleichen Aussichten auf einen
Beitritt zur EU wie den anderen ost- und südosteuropäischen Staaten. Beim Gipfel 1999 in
Helsinki änderte die EU ihre Einstellung in Bezug auf die Türkei und verlieh ihr den
offiziellen Status eines Beitrittskandidaten. Im März 2001 trat darauf die EU-Beitritts-
partnerschaft in Kraft. Eine detaillierte Beschreibung der rechtlichen und politischen Sachlage
hinsichtlich der von türkischer Seite angestrebten EU-Integration ist den Kapiteln 2 bis 6 zu
entnehmen. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, was die EU zu dem Richtungswechsel
von 1997 zu 1999 bewegt hat, zumal sich in diesem Zeitraum in der Türkei keine
tiefgreifenden Veränderungen vollzogen hatten bzw. sich die vormals kritisierte politische
und wirtschaftliche Lage nicht gravierend verbesserte.
Sowohl das Jahr 2004 als auch das Jahr 2005 wurde in der Türkei für Gesetzesreformen
genutzt, die sich eindeutig auf die Erfüllung des europäischen Anforderungskatalogs richten,
und darüber hinaus ihrem Inhalt nach eine Verbesserung der kulturellen Rechte der
399 Organization for European Economic Cooperation 400 vgl. Bozkurt Mahmut, a.a.O., S. 175 401 vgl. Steinbach, Udo: Geschichte der Türkei, München 2000, S. 39
198
kurdischen Bevölkerung der Türkei bedeuten könnten. Die Europäische Kommission erlässt
jährlich Berichte über die Fortschritte der Beitrittsaspiranten, und auch im Fall der Türkei sind
Veränderungen und Reformen zur Kenntnis genommen und anhand der Kopenhagener
Kriterien kritisch beurteilt worden. Um zu einer Beurteilung der aktuellen Lage der Kurden in
der Türkei zu gelangen, wird im Folgenden der Fortschrittsbericht der Europäischen
Kommission des Jahres 2004 mit Hinblick auf den Kurdenkonflikt analysiert. Die
Aufmerksamkeit soll dabei auf die den Kurdenkonflikt tangierenden Gesetzesreformen, ihre
Implementierung, aber auch auf den dabei eventuell noch verbleibenden Interpretations-
spielraum gelegt werden. Im übrigen wird auf den EU-Kommissionsbericht vom 06.10.2004
(Kapitel 5.1) verwiesen.
Wie gestaltet sich demnach aktuell die Lage der kurdischen Bevölkerung in der Türkei?
Welche Gesetzesänderungen wurden von der Regierung unternommen, um dem europäischen
Anforderungskatalog zu entsprechen? Inwieweit bedeuten diese Veränderungen der
Gesetzestexte auch eine Veränderung der Lebensbedingungen, bzw. der kurdischen
Wirklichkeit?
Schließlich wird hierbei deutlich, wie sehr der Kurdenkonflikt zwischen der Türkei und der
Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, das heißt insbesondere den Anforderungen an
Demokratie und Rechtstaatlichkeit, steht. Der Weg der Türkei in die EU führt nur über die
Erfüllung der Kopenhagener Kriterien zum Ziel; und der Weg zur Erfüllung der
Kopenhagener Kriterien beinhaltet grundlegende Reformen bezüglich der Demokratie und der
Einhaltung der Menschenrechte, welche wiederum auf vielfältige Art in direktem Zusammen-
hang mit der Lösung der kurdischen Frage stehen.
199
10.3.2 Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien402 im Kontext der
Kurdenfrage
Ein zentraler Punkt der Gesetzesreformen (siehe ausführlich Kapitel 4), welche auch den Fall
Öcalans direkt betraf, war die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Alle bisher
verhängten Todesstrafen sollen demzufolge in lebenslange Haftstrafen umgewandelt werden.
Die vollständige Abschaffung der Todesstrafe folgte im Januar 2004 mit der Unterzeichnung
des 13. Zusatzprotokolls zur EMRK. Alle verbleibenden nationalen Verweise auf die
Todesstrafe wurden im Rahmen der Verfassungsänderungen vom Mai 2004 aus dem
türkischen Recht entfernt.
Um Folter und Misshandlungen in türkischen Gefängnissen präventiv in Zukunft zu
begegnen, hat die türkische Regierung auch einige Gesetzesänderungen bezüglich der
Haftbedingungen, der zulässigen Dauer der Untersuchungshaft und der Ahndung von
Vergehen seitens der Polizei oder Strafvollzugsbeamten gegen die Inhaftierten erlassen.
Berichte über gewalttätiges Vorgehen und Folter im Gewahrsam der Polizei sind dennoch zu
hören. „Besonders zahlreich sind Berichte über Folter und außergerichtliche Tötungen aus
dem Südosten der Türkei.“403 Äußerst problematisch gestalteten sich die Methode der
„Incommunicado-Haft“ und die Praktiken in den damaligen Notstandsprovinzen.404 In Bezug
auf das Recht zur freien Meinungsäußerung wurden Änderungen der Artikel 159405 und
312406 des Strafgesetzbuches vorgenommen. Die Veränderungen beziehen sich meist auf eine
Linderung der Haftstrafen, leichte Modifikationen bezüglich des Anwendungsbereiches des
Gesetzes oder die Ergänzung des Artikels um weitere Aspekte. „Raum für Interpretationen“407
402 Bezug genommen wird ausschließlich auf den Punkt der Stabilität der Demokratie und ihrer Institutionen und hierbei insbesondere auf die Einhaltung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. 403 ebd., S. 30 404 Detailliert nachzulesen sind die Gesetzesänderungen bezüglich des Strafvollzugs im „Regelmäßigen Bericht 2002 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ auf den Seiten 30-34 wie auch der Folgejahre 405 Art. 159 bezieht sich auf die „Verunglimpfung des Staates und staatlicher Einrichtungen sowie Bedrohung der unteilbaren Einheit der türkischen Republik“, Regelmäßiger Bericht 2002 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, S. 35 406 ebd., Art. 312 beinhaltet die „Anstachelung zu rassischer, ethnischer oder religiöser Zwietracht“ 407 ebd.
200
verbleibt bei der Auslegung der Gesetze, und die „Rechtssprechung zeigt, dass die Umsetzung
der Gesetzesänderungen nur wenig konstant ist“408.
Die Pressefreiheit in der Türkei unterliegt immer noch Beschränkungen. Insofern
Veröffentlichungen gegen die Sicherheit des Staates und gegen die Unantastbarkeit der
Nationalgrenzen verstoßen, drohen hohe Geldstrafen und die Konfiszierung der
Druckmaschinen. Die Zensur von Artikeln und die Druckausübung auf Journalisten bis hin zu
strafrechtlicher Verfolgung sind weitere Elemente, die der Unabhängigkeit der Presse im
Wege stehen. Gesetzesänderungen betreffend der Ausstrahlung von Sendungen in Rundfunk
und Fernsehen in verschiedenen in der Türkei gesprochenen Sprachen, also auch kurdisch,
wurden zwar vollzogen, unterliegen gleichzeitig aber auch erheblichen Beschränkungen. Auf
Grundlage des Antiterrorgesetzes, Artikel 8, welcher Propaganda mit separatistischer
Ausrichtung untersagt, wurden vom Hohen Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) etliche
Sendeverbote, so auch zum Beispiel für den Fernsehsender „Gün TV“ in Diyarbakir,
verhängt.409
Die Gesetze zur Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit erfuhren ebenfalls Änderungen,
allerdings unterliegt „die Ausübung der Vereinigungsfreiheit (...) nach wie vor Ein-
schränkungen“ und „der generell restriktive Charakter des Vereinigungsgesetzes wurde
beibehalten“.410 Art. 5 des Vereinigungsgesetzes besagt: „es ist verboten, zum Zwecke von
Tätigkeiten auf der Grundlage oder im Namen einer Region, Rasse, sozialen Klasse, Religion
oder Sekte eine Vereinigung zu gründen“411. Besonders politische Parteien kurdischen
Ursprungs, wie die Demokratische Partei (DEP) und die Volksdemokratische Partei
(HADEP) wurden verboten oder sind wie im letzteren Fall von einem Auflösungsverfahren
betroffen. Der Vorwurf gegen sie gründet auf der Verletzung der Integrität der Nation.
Darüber hinaus stellt Mirella Galletti einen Zusammenhang zwischen jenen Parteien und der
PKK her: „The refusal of the legal Kurdish parties to criticise the PKK publicly, in part as a
408 ebd. 409 vgl. Regelmäßiger Bericht 2002 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, S. 37 410 vgl. ebd., S. 38 411 ebd.
201
consequence of the fact that they share a common base of supporters, has enabled the Turkish
authorities to depict them all as extremist.”412
Wie oben bereits erwähnt wurden auch Gesetzesreformen bezüglich der Ausweitung der
kulturellen Rechte in der Türkei umgesetzt. In diesem Rahmen ist die türkische Sprache zwar
die einzige für den staatlichen Unterricht zugelassene, jedoch wird der Unterricht auf kurdisch
in privaten Einrichtungen erlaubt, insofern „dies nicht im Widerspruch zur 'Unteilbarkeit der
Nation und des Staatsgebietes' steht“413. Die relativ enge und problematische Auslegung zur
kulturellen Freiheit wird jedoch an folgendem Beispiel aus einer der damaligen
Notstandsprovinzen deutlich: „Im April 2002 wurde der Minibusfahrer Sülhattin Önen aus
der Region Diyarbakir angeklagt, weil er eine Kassette mit kurdischen Liedern abgespielt
hatte. Die Anklage berief sich auf Artikel 169 des Türk.StGB ('Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung'); das Urteil lautete auf 45 Monate Gefängnis mit Bewährung.“414
Bei der Betrachtung der Resultate der im Jahr 2002 verabschiedeten Reformpakete ist
deutlich geworden, dass es nicht zu unterschätzende, positive Veränderungen in der
türkischen Verfassung und der jeweiligen Gesetzestexte gegeben hat. Es ist jedoch auch nach
den weiteren Reformen bis ins Jahr 2005 hinein nicht zu verkennen, dass in etlichen Fällen
auch Einschränkungen bezüglich der Gewähr von Freiheiten und bestimmten Rechten
gemacht worden sind.
Auffallend ist die grundlegende Ausrichtung dieser Beschränkungen. Die Sicherheit des
Staates und besonders die Unteilbarkeit der Nation sind Elemente des türkischen Staats-
verständnisses, die auch bei jüngsten Reformen offen zu Tage treten und die primär die
Grenzen der Reformen zu bestimmen scheinen. Die Europäische Kommission kam in ihrem
Fortschrittsbericht 2002 über die Türkei zu folgendem Schluss: „Nichtsdestotrotz hält die
Türkei die politischen Kriterien nicht vollständig ein. Erstens enthalten die Reformen
zahlreiche bedeutende Einschränkungen des vollständigen Genusses der Grundrechte und
Grundfreiheiten (...). So gelten weiterhin wichtige Beschränkungen der Meinungsfreiheit,
412 Galletti, Mirella: The Kurdish issue in Turkey, in: The International Spectator, Special Issue, January-March 1999, S. 129 413 Regelmäßiger Bericht 2002 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, S. 45 414 ebd.
202
insbesondere bei der Presse und beim Rundfunk, der Versammlungsfreiheit zu friedlichen
Zwecken, der Vereinigungsfreiheit, der Religionsfreiheit, und des Berufungsrechts vor
Gericht.“415 Auch im Rahmen der Beitrittsverhandlungen ab 03.10.2005 sind diese
Einschränkungen noch erkennbar, so dass im weiteren Verlauf der Beitrittsverhandlungen die
weitere Entwicklung noch abgewartet werden muss.
Die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen in der Türkei mit Blick auf die
Erfüllung der politischen Kriterien der EU haben sich positiv auf die Verhältnisse im
Südosten der Türkei ausgewirkt. Allein die Aufhebung des Ausnahmezustand in den letzten
sich darin befundenen Provinzen, Diyarbakir und Sinar, im Dezember 2002, ist eine
Entwicklung zu umfassenderen Schutz der Rechte der kurdischen Bevölkerung. Sowohl die
Europäische Kommission als auch Heinz Kramer bemerken „eine gewisse Entspannung“416
der politischen Situation im Südosten der Türkei, jedoch steht Kramer den tatsächlichen
Auswirkungen der Reformen kritisch gegenüber. „Die jüngsten Maßnahmen können (...)
wenig dazu beitragen, die insgesamt immer noch desolate Lage in den Provinzen des
Südostens zu verbessern.“417 Obwohl Kramer jene prinzipielle Besserung der Lage anerkennt,
beschreibt er die Situation in den kurdischen Gebieten wie folgt: „ (...) Die Sicherheitskräfte
(sind) nach wie vor umfassend präsent, (es) bleiben zahlreiche Straßenkontrollen bestehen.
Die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Dörfer wird immer noch nicht zügig in Angriff
genommen. Die wirtschaftliche Krise dauert an, die medizinische, soziale und Bildungs-
infrastruktur sind mangelhaft ausgebildet, die Arbeit pro-kurdischer zivilgesellschaftlicher
Organisationen wird immer noch behindert.“418 Der Weg zu einer Normalisierung des
Alltags und zu einem Raum der Freiheit zum Ausdruck der kulturellen Bedürfnisse scheint in
Anbetracht dessen noch weit. Berichte über den Verkauf von vormals verbotenen Zeitungen
und über friedlich verlaufene kulturelle Feste in der Region zeichnen doch die Richtigkeit des
eingeschlagenen Weges ab.
Es stellt sich an dieser Stelle nur die Frage, wie viel Spielraum für weitere Reformen und
Zugeständnisse kultureller Freiheit bis hin zu aktiver Unterstützung und Förderung der
Regionen im Südosten auf türkischer Regierungsseite noch vorhanden ist. Besonders der
415 ebd., S. 51 416 ebd., S. 46 417 Kramer Heinz: Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien: Die Europäische Union vor der Entschei-dung; Berlin SWP, 2002 - (SWP-Studie; S 39/2002), S. 35 418 ebd.
203
Aspekt der kurdischen Vertriebenen stellt sich weiterhin problematisch dar. Ungefähr 37000
Vertriebene sollen bisher in ihre Dörfer zurückgekehrt sein, die Mehrzahl lebt allerdings unter
schwierigsten sozialen Bedingungen. Die Langwierigkeit der Verfahren zur Genehmigung der
Rückkehr erleichtert oder verbessert diese Situation nicht. Darüber hinaus hält die Präsenz
von „Dorfschützern“, die noch immer Teil der türkischen Politik im Südosten sind, viele
Vertriebene von ihren früheren Dörfern fern.419
10.4 Fazit
Die Türkei hat bereits einen weiten Weg mit dem Ziel der Europäisierung des eigenen Landes
zurückgelegt. Und dennoch gibt es immer noch viele Kritiker und Skeptiker, die wohl in nicht
unbegründeter Weise die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen EU-Beitritts der Türkei in
Frage stellen. Besonders in den letzten Jahren sind enorme Reformbestrebungen in der Türkei
zu verzeichnen, welche eindeutig eine europäische Handschrift tragen. Wie zu sehen war, sind
die kurdische Frage und der Konflikt stark davon betroffen. Kommt der Europäischen Union
nun eine besondere Verantwortung zu? Welche Konsequenzen werden folgen, falls die Türkei
schließlich doch nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wird? Die Antworten hierauf
müssen vorerst offen bleiben, wobei festgestellt werden kann, dass eine Integration der Türkei
den massiven wirtschaftlichen Interessen der EU zugute kommen dürfte. Ob die Erwartungen
der Türkei in diesem Prozess vollends erfüllt werden, bleibt gleichwohl abzuwarten. Aber es
ist vielleicht nicht unangebracht davon auszugehen, dass die kurdische Bevölkerung auf die
EU setzt und sich weitere Reformen oder sogar nur die tatsächliche Implementierung der
erfolgten Reformen erhofft. „Die Revolution von oben ist unten, auf der Ebene der
Polizeistationen und der Gendarmerie, noch nicht überall ange-kommen.420
Die türkische Regierung scheint immer noch davon entfernt, die kurdische Frage in allen
Konsequenzen ernst zu nehmen oder ernst nehmen zu wollen, sofern die europäischen
Vorgaben ihren eigenen nationalen Interessen zuwider laufen. Die Gesetzesreformen ändern
419 vgl. Regelmäßiger Bericht 2002 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, S. 47 420 Schlötzer, Christiane: „Die türkische Revolution“, in: SZ vom 09./10.08.03, S. 4
204
nicht die grundlegende Problematik, in die der Konflikt eingebettet ist. Die fehlende
„Gerechtigkeit“ und die mangelhafte Berücksichtigung der kurdischen Identität haben
historische Wurzeln. Die Türkei hat sich wegen ihres Bemühens um Westanbindung in der
Europäischen Union davon zu entfernen, die Bedürfnisse einer „anderen“ Identität als
staatsfeindlich, terroristisch und bedrohlich anzusehen. In einem freien und demokratischen
Land nach westlichen Vorgaben, in einem europäischen Land, ist jeder Bürger dazu
berechtigt (menschenrechtlich kodifiziert), seine Kultur zu leben und frei von Repressionen
zu sein. Im Falle eines EU-Beitritts wird die Türkei aufgrund der supranationalen
Organisationsstruktur der EU notgedrungen ihr kemalistisches Staatsverständnis überdenken
müssen. Über die Zeit antiquierte Traditionen könnten also nicht nur in Hinblick auf die
kurdische Frage, sondern auch mit Aussicht auf den Anschluss an die EU angepasst werden.
„By following the spirit rather than the letter of Kemalism, Turkey could yet make up the lost
ground. Whereas, by sticking to a narrow interpretation of Ataturk`s legacy it might actually
encourage the very problems he was trying to head off: religious extremism, ethnic
separatism and institutional decay.”421
Nicht nur in der türkischen Gesellschaft, auch in der kurdischen Gesellschaft ist eine
Modernisierung in Richtung EU erforderlich. Besonders um im Südosten der Türkei
wirtschaftlichen Fortschritt zugunsten der Bevölkerung schaffen zu können, müssten die
gesellschaftlichen Strukturen verändert werden. Denn die in Kapitel 3.2 festgestellten
Interessenlagen der EU sind die zwingenden Prämissen für einen Beitritt, verbunden mit der
türkischen Hoffnung, langfristig nationalen Reichtum zu erhöhen. Wie sich die kurdische
Bevölkerung dazu stellen wird, bleibt vorerst offen.
Der Weg der Aussöhnung und des Friedens wird nicht einfach werden. „Standing in its way is
the harshness and inflexibility of Turkish state nationalism, renewed and nourished by a
deeply felt sense of insecurity and the perception of plots all around the state. A second
significant barrier is the violence that has riven southeastern Turkey for the past fifteen years,
and the cultural, psychological, and economic vestiges of the conflict, all of which will have
to be overcome if a workable settlement is to be established.”422
421 McBride, Edward: Ataturk`s long shadow. A survey of Turkey, in: The Economist, London, June 2000, S. 4 422 Robins, Philip J.: Turkey and the Kurds. Missing another opportunity? in: Abramowitz, Morton: Turkey`s transformation and American policy, New York 2000, S. 69
205
KAPITEL 11: Die Europäisierung der Zypernfrage
Neben der Erfüllung der von der EU bestimmten Kopenhagener Kriterien und dem türkisch-
kurdischen Konflikt ist die Lösung des Zypernkonflikts eine der wichtigsten Voraussetzungen
für einen EU-Beitritt der Türkei. In Folge der Beitrittsverhandlungen ab 03. Oktober 2005
werden von EU-Seite positive Lösungsvorschläge und politische Kompromisse von der
Türkei erwartet. Die politische Haltung der so genannten „Mutterländer“423 in diesem
Konflikt hat sich in den letzten Jahren geändert. Zum einem hat sich die gegenwärtige
politische Situation in der Türkei positiv auf die Zypernproblematik ausgewirkt, und zum
anderen gibt es eine außenpolitische Annäherung zu Griechenland, die der Türkei eine
europäische Perspektive eröffnet hat424. Aber auch innerhalb Zyperns haben sich die
politischen Parameter im Zypernkonflikt stark gewandelt. Auftakt für die politischen
Änderungen waren ab Januar und Februar 2003 die vermehrten größeren Demonstrationen in
der Türkischen Republik Nordzypern (TRNZ). Die soziale Frustration, insbesondere
innerhalb der jüngeren Generation, richtete sich verstärkt gegen den langjährigen amtierenden
Präsidenten Rauf Denktas und seine nationalistische Politik. Die Proteste führten zu einer
begrenzten Öffnung der so genannten „Green Line“ im April 2003.
Die fortdauernde kompromisslose Verweigerungshaltung der damals amtierenden Regierung
gegenüber politischen Erneuerungen bestärkte die Opposition und somit die Befürworter des
UN-Friedensplans, dem so genannten Annan-Plan. Die Hoffnung auf eine Lösung des
Konflikts und die Aussicht auf einen gleichzeitigen EU-Beitritt der türkischen Zyprioten mit
dem Inselnachbarn im Mai 2004, führte zu einem Sieg der linksgerichteten und pro-
europäischen Partei CTP unter der Führung von Mehmet Ali Talat bei den Parlamentswahlen
am 14. Dezember 2003.
Die Republikanisch-Türkische Partei (CTP) konnte zwar nicht die absolute Mehrheit der
Parlamentssitze bekommen, was bedeutete, dass sie eine Koalition mit der Demokratischen
Partei (DP) von Serdar Denktas, dem Sohn des Ex-Präsidenten Rauf Denktas eingehen
423 Türkei und Griechenland 424 Kadritzke, Niels: Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts; S. 1 ff.; http://library.fes.de/fulltext/id/01685.htm-83k
206
musste. Doch zum ersten Mal in der Historie des Zypernkonflikts waren die national
gesinnten Anhänger von Präsident Rauf Denktas in der Minorität.425
Diese neue Regierungskonstellation prägte die neuen Verhandlungen über den Annan-Plan im
Frühling 2004, die jetzt nicht mehr allein durch die Position des Präsidenten Rauf Denktas
vertreten war. Zugleich wurden die Positionen zum Annan-Plan in der TRNZ offen und
kontrovers in der Öffentlichkeit debattiert, so dass es bei den Referenda über den Annan-Plan
vom 24. April 2004, welche gleichzeitig in beiden „Republiken“ Zyperns durchgeführt
wurden, zu einem eindeutigen Ergebnis kam. Während die Bevölkerung der international
nicht anerkannten TRNZ den Annan-Plan mit 65% Ja-Stimmen befürwortete, lehnte ihn die
griechische Bevölkerung der international anerkannten Republik Zyperns mit einer Mehrheit
von 75,8% ab. Die Folge ist derzeit, dass Zypern weiterhin geteilt ist und der griechische Teil
der Insel, die Republik Zypern, im Mai 2004 Mitglied der EU wurde.426
Eine weitergehende Änderung in der TRNZ, die sich positiv auf den Zypernkonflikt
auswirken und damit wegweisende Schritte in Richtung EU-Integration für die Türkei
bedeuten könnte, ist das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom 17. April 2005. Der
bisherige reformorientierte Premierminister Mehmet Ali Talat wurde mit einer Mehrheit von
über 55% zum Präsidenten Nordzyperns gewählt. Mit der Ernennung Talats zum
Volksgruppenführer steht zumindest von Seiten der Zyperntürken ein kompromissbereiter
und konfliktlösungsorientierter Verhandlungspartner bereit, der ebenfalls politische Unter-
stützung von Seiten der türkischen Regierung erwarten kann.
Doch der Führungswechsel im Norden und die eindeutige Annahme des Annan-Plans stellt
nur eine Position in dem bestehenden Konflikt dar. Die andere ist die rigide Haltung des
(griechischen) Zypern Präsidenten Tasso Papadopoulos und das überwältigende „Nein“ der
Bevölkerung zum Annan-Plan.427 Um die verschiedenen Positionen zum Annan-Plan zu
verstehen und konfliktlösende Ansätze zu erarbeiten, bedarf es zuerst eines Rückblicks in die
jüngere Geschichte Zyperns.
425 Kramer, Heinz; Hein, K.: Ein neuer Präsident in Nordzypern, 2004, S. 2 426 Tözen, C.: Zypern - Eine geteilte Insel als EU-Mitglied, S. 1 427 Seibert, T.: Reformpolitiker Talat will rasch über Wiedervereinigung Zyperns verhandeln, in: Der Tagesspiegel vom 19.04.2005
207
11.1 Politische Ursachen des „Interkommunalen Konflikts“ auf Zypern
Politisch entscheidend für die Konfliktsituation auf Zypern, das seit 1878 britische
Kronkolonie war, ist der Nationalitätenkonflikt zwischen den beiden auf der Insel
beheimateten Volksgruppen. Ein Grund hierfür war die praktizierte liberale Haltung der
britischen Kolonialverwaltung gegenüber dem griechischen und dem türkisch-kemalistischen
Nationalismus. „Die strikte Trennung der beiden Religionsgruppen durch das Zugeständnis
weitgehender administrativer Selbstverwaltung vor allem im Erziehungswesen, begünstigte
die kulturelle Hinwendung zu den beiden Mutterländern.“ Unter diesen Umständen konnte
sich keine eigenständige, für beide Volksgruppen geltende, Nationalidentität entwickeln.428
Die seit 1954 gegen die britische Kolonialmacht geführten Revolten der zypern-griechischen
Bevölkerungsmehrheit429 mündeten 1960 in ihrer Unabhängigkeit und somit in der
neugegründeten Republik Zypern. Doch anders als bei den antikolonialen National-
bewegungen im zerfallenden britischen Empire, forderten die Zyperngriechen den Anschluss
der Insel an Griechenland (enosis). Dies zu Lasten der zyperntürkischen Minderheit, die sich
mit diesem “Ideal nicht identifizierten“430 und stattdessen die Forderung nach einer Teilung
der Insel (taksim) entgegenhielten.
Der Zypernkonflikt konnte infolgedessen auch nicht in der neugegründeten bikommunalen
und konsensdemokratischen Republik, mit „ethnisch proportionaler Zusammensetzung der
Zentralorgane und umfangreichem Vetorecht für die türkische Minderheit“, gelöst werden.
Ende 1963 wurde die „Erste Republik“ theoretisch aufgekündigt, als Staatspräsident
Makarios431 eine Verfassungsrevision vorschlug, womit die Zyperntürken viele ihrer
garantierten Rechte verloren hätten. Die zu erwartende Ablehnung der Verfassungsrevision
erhöhte die Spannungen zwischen den Volksgruppen. Durch den darauf folgenden
Bürgerkrieg von 1963/64, der von Seiten der griechischen Zyprioten begonnen wurde, der
428 Zervakis, Peter: Die politischen Systeme Zyperns, in: Ismayr, Wolfgang: Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen 2004, S. 316 429 Die griechische Bevölkerungsmehrheit beträgt ca. 78% 430 Zitat nach Kadritzke, Niels: Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts, S. 2; http://library.fes.de/fulltext/id/01685.htm-83k 431 Orthodoxer Erzbischof der griechischen Zyprioten
208
aber auch der türkischen Seite gelegen kam, weil er ihren separatistischen Plänen entsprach,
wurde somit auch faktisch die „Erste Republik“ zerstört.432
Die unmittelbare Folge des Bürgerkriegs war die Teilung der Hauptstadt Nikosia und eine
türkische Enklavenbildung, die durch Vertreibung und Umsiedlung zehntausender türkischer
Zyprioten entstanden ist. Ab dem Sommer 1964 lebten über 60% der türkischen Bevölkerung
in diesen Enklaven. Die Kampfhandlungen endeten mit einem fragilen Waffenstillstand, der
durch den Einsatz einer Friedenstruppe der Vereinten Nationen433 bis heute gesichert wird.
Durch den Ausbau der türkischen Enklaven ab 1964 und den Abzug der türkischen Zyprioten
aus den Regierung- und Staatsorganen war die Republik Zypern auf einen von der
griechischen Volksgruppe beherrschten Staat geschrumpft.
Aufgrund der unterschiedlichen Interessen und der gegenseitigen Schuldzuweisungen der
beiden lokalen Konfliktparteien konnte weder mit Hilfe der UN noch durch unzählige
Friedensverhandlungen zwischen den Volksgruppenvertretern eine Konfliktlösung gefunden
werden. Vielmehr destabilisierte am 15. Juli 1974 ein von der Athener Junta inszenierter
Putsch gegen Staatspräsident Makarios die Lage mit dem Ziel des Anschlusses an
Griechenland. Da dies von Seiten der türkischen Zyprioten als existentielle Bedrohung
gesehen wurde, landete am 20 Juli 1974 die türkische Armee im Norden Zyperns. Sie besetzte
bis Mitte August desselben Jahres knapp 40% des Inselterritoriums und vertrieb etwa 160.000
griechische Zyprioten in den Süden.
Die Erinnerungen an die zwei Schlüsselerlebnisse in der Geschichte Zyperns werden von
beiden Volksgruppen sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Verantwortung für den
Zusammenbruch der Ersten Republik im Jahre 1964 wird von griechische Seite aus
„geleugnet“. Von türkischer Seite aus wurde die Taksim-Politik der eigenen Führung als
Reaktion auf die Enosis-Politik reduziert. So ähnlich verhält es sich mit den Ereignissen im
Jahre 1974. Unter der griechischen Bevölkerung wird die Invasion und Vertreibung bis heute
als nationale Katastrophe gewertet, dagegen spricht die türkische Seite von einer
„Friedensoffensive“, um Sicherheit für die eigene Bevölkerung zu gewähren. Auch hier
432 Kadritzke, Niels: Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts, S. 2; http://library.fes.de/fulltext/id/01685.htm-83k 433 der sogenannten UNFICYP = United Nations Peace-keeping Force in Cyprus
209
werden die Vertreibung und die damit verbundenen Leiden zum Teil geleugnet oder mit den
eigenen Opfern von 1964 aufgewogen.434
In der politischen Diskussion werden vier historische Faktoren für eine Erklärung des
Zypernkonflikts herangezogen:
1. die Gegensätze zwischen den beiden Inselvolksgruppen bezüglich Religion, Sprache,
historischen Erfahrungen, Bevölkerungsmehrheit sowie im sozioökonomischen
Bereich.
2. eine fehlende gemeinsame zyprische Staatsnation, die durch die intensive
Verbundenheit der beiden Bevölkerungsgruppen mit ihren „Mutterländern“ bis heute
verhindert wurde.
3. der territoriale und ökonomische Separatismus der Zyperntürken als Reaktion auf die
historischen Erfahrungen ab 1963, wobei die Türkei treibende bzw. unterstützende
Kraft war, indem sie zuerst der „zyperntürkischen politischen Führung die
eigenmächtige Ausrufung des Türkischen Föderativstaates von Zypern 1975 gestattete
und anschließend 1983 der Unabhängigkeit der Türkischen Republik Nordzypern
(TRNZ) zustimmte. Die TRNZ wird allerdings bis heute nur von der Türkei
anerkannt“.
4. die andauernde militärische Besetzung des Norden Zyperns durch die türkische Armee
seit 1974, die völkerrechtlich betrachtet keine Legitimation besitzt. Zahlreiche UN-
Resolutionen fordern seither eine Demilitarisierung.435
434 Kadritzke, Niels: Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts, S. 3-4; http://library.fes.de/fulltext/id/01685.htm-83k 435 Zervakis, Peter: Die politischen Systeme Zyperns, in: Ismayr, Wolfgang: Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen 2004, S. 888 ff.
210
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die dargelegten historischen Ereignisse, die
vier genannten politisch-gesellschaftlichen Faktoren sowie das bis dato Fehlen eines
politischen Konsenses zwischen den beiden Volksgruppen die zentralen Ursachen des
Zypernkonflikts darstellen.
11.2 Internationalisierung des Zypernkonflikts
Seit der faktischen Teilung Zyperns 1974 und der einseitigen Ausrufung der Türkischen
Republik Nordzyperns 1983 scheiterten die angestrengten UN-Verhandlungslösungen
maßgeblich an der unnachgiebigen Haltung des damaligen Präsidenten Rauf Denktas.
Ausschlaggebend für seine starre nationalistische Haltung war die international betriebene
Isolationspolitik und die damit verbundene Nichtanerkennung der TRNZ, die die
Verhandlungsbemühungen zwischen den Konfliktparteien so schwierig gestalten ließ.436
Formulierte Lösungsansätze wie eine von der UN vorgeschlagene bizonale und bikommunale
Föderation, die im Grundsatz von beiden Konfliktparteien Zustimmung erhielt, scheiterten in
der Vergangenheit an einem diametral entgegensetzten Verständnis vom zentralen
Staatsbegriff „Föderalismus“.
Die griechische Seite verlangt eine Revision der Teilung Zyperns und eine von ihnen
dominierte Zentralregierung in einem künftig vereinten Staat. Dabei sollte den türkischen
Zyprioten ein privilegierter Minderheitenstatus mit einer begrenzten Selbstverwaltungszone,
die etwa 25 % des Inselterritoriums beinhalten würde, zukommen. Ebenfalls wird ein freier
Personenverkehr, Niederlassungsfreiheit sowie uneingeschränkter Eigentumserwerb
gefordert, was vor allem das Recht der Vertriebenen, in ihre Häuser zurückzukehren,
bedeutet. Des weiteren fordert die griechisch-zypriotische Seite die Demilitarisierung und den
Wegzug der anatolischen Siedler in ihr „Heimatland“.
436 Faustmann, Hubert: The Cyprus Question still unsolved: Security concerns and the failure of the Annan Plan, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 06/2004, S. 3
211
Die türkisch-zypriotische Seite hingegen befürwortet einen gleichberechtigten Volks-
gruppenstatus, der bereits 1960 in der zyprischen Unabhängigkeitsverfassung garantiert
wurde. Diese Forderung beinhaltet die Errichtung von zwei völlig gleichberechtigten
Teilstaaten mit autonomen Souveränitätsrechten, die in einer Konföderation zueinander
stehen sollen.
Im bisherigen Ergebnis wird die griechisch-zypriotische Forderung nach uneingeschränktem
Eigentumserwerb von der Gegenseite als unakzeptabel erachtet, da die griechischen Zyprioten
als wohlhabender gelten und demzufolge große Landgebiete aufkaufen könnten.437
Ein weiterer Konfliktpunkt, der bis heute anhält, ist die Präsenz der türkischen Truppen, die
bis vor kurzem von zypern-türkischer Seite aus als unverzichtbar und als Sicherheitsgarantie
betrachtet wurde, indessen von griechischer Seite als Bedrohung empfunden wird. Diese
diametralen Intentionen haben die internen Schlichtungsversuche sowie die Versuche von
externen internationalen Kräften, wie beispielsweise von UN-Seite, scheitern lassen. Durch
eine bisher fehlende Konfliktlösung entstand eine fast gegensätzliche Entwicklung der zwei
Republiken. Während die völkerrechtlich anerkannte Republik Zypern durch massive
internationale Finanzhilfen, die hauptsächlich im Tourismussektor und durch Off-shore-
Aufträge erfolgten, sowie durch eine Zollunion mit der EU wirtschaftlich aufblühte,
entwickelte sich die Wirtschaft in der international isolierten TRNZ unter dem De-facto-
Embargo kaum. Die Wirtschaft Nordzyperns ist völlig von der Finanzhilfe der Türkei
abhängig und die nordzypriotischen Exporte438 in die EU wurden durch ein Urteil des
Europäischen Gerichtshof (EuGH) 1994 mit dem Verweis auf die Nichtanerkennung der
TRNZ, unterbunden.439
Doch der Wohlstand der griechischen Zyprioten konnte das ihrer Auffassung nach bestehende
Sicherheitsdefizit - die Präsenz der türkischen Armee - nicht aufwiegen. Deshalb wurde die
Überlegung eines Antrags zur Aufnahme in die EU, weniger unter ökonomischen als vielmehr
unter sicherheitspolitischen Aspekten, erwogen. Den Antrag der Republik Zypern im Namen
Gesamtzyperns auf Vollmitgliedschaft in der EU 1990 verband der damalige Präsident
437 Axt, Heinz-Jürgen: Enttäuschte Hoffnung auf Zypern, in: Europäische Rundschau 29 (2001), S. 129 438 hierbei handelte es sich hauptsächlich um Agrarprodukte 439 Kizilyürek, Niyazi: Zypern, in: Hörburger, Hortense (Hrsg.): Einbahnstraße EU-Erweiterung? Unsere Nachbarn melden sich zu Wort; Marburg 2001, S. 194
212
Südzyperns Vassiliou auch mit der Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts, weil er
davon ausging, dass die Europäische Union kein geteiltes Zypern aufnehmen würde. Obwohl
schon damals die Mehrheit der türkisch-zypriotischen Bevölkerung einen EU- Beitritt als
Chance für wirtschaftliches Wachstum, Demokratie und Frieden sah, gaben sich hingegen ihr
politischer Führer Rauf Denktas und die damalige türkische Regierung in den Verhandlungen
noch kom-promissloser als zuvor. Der EU-Antrag wurde sowohl von der Regierung der
TRNZ als auch von der Türkei abgelehnt, da den Südzyprioten das Recht abgesprochen
werden sollte, für ganz Zypern zu sprechen. Von türkischer Seite aus wurde sogar mit der
Annektierung Nordzyperns gedroht und ein Assoziationsabkommen unterzeichnet, das einen
Integrationsprozess der TRNZ in die Türkei vorsah.440
Die demnach einzigste Entschärfungspolitik bot eine Beitrittsperspektive der Türkei in die
EU. Die Öffnung der EU gegenüber der Türkei erforderte jedoch die Zustimmung
Griechenlands. Diese erfolgte erstmals auf dem EU-Gipfel von Helsinki 1999. Als Gegen-
leistung für die Zustimmung zum Kandidatenstatus der Türkei konnte Griechenland erreichen,
dass der Beitritt Zyperns nicht mehr von einer vorherigen Konfliktlösung abhängig war.
Damit konnte die Türkei den EU-Beitritt Zyperns nicht weiter blockieren.441
Ebenfalls beschloss der Europäische Rat in Helsinki, mit der Türkei nur Beitrittsver-
handlungen zu führen, wenn neben der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien auch
Kompromisse im Zypernkonflikt erreicht werden. Damit gab das Wahlergebnis in der Türkei
am 3. November 2002, welches der gemäßigten konservativen AK-Partei die absolute
Mehrheit im Parlament verschaffte, Grund zur Hoffnung. Der AKP-Vorsitzende R. T.
Erdogan kündigte eine kompromissbereitere Haltung in der Zypernproblematik an. So
unterstrich die Regierung in Ankara ihre Entschlossenheit, die Zypernfrage lösen zu wollen,
mit politischen Fakten.
Zum einen ließ sie die von früheren Regierungen beschlossene Zollunion mit der TRNZ, die
Zyperns Teilung weiter verhärtet hätte, fallen. Zum anderen willigte sie im Dezember 2003
ein, Titina Loizidou, einer aus Nordzypern vertriebenen Zyperngriechin, mit 1,1 Millionen
440 ebd. S. 198 441Kadritzke, Niels: Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts, S. 4; http://library.fes.de/fulltext/id/01685.htm-83k
213
Euro für ihr verlorenes Eigentum zu entschädigen, welches ihr aufgrund eines EGMR442-
Urteils zustand.443 Ebenfalls war es der neuen türkischen Regierung gelungen, Rauf Denktas
so unter Druck zu setzen, dass er den Annan-Plan als Verhandlungsbasis akzeptierte. Doch
auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 demonstrierte dieser mit seinem
Nichterscheinen seine politische Ablehnung des Annan-Plans. Diese wiederholte Ent-
täuschung der nord-zypriotischen Bevölkerung veranlasste die Opposition zu den zu Anfang
genannten Protesten und Demonstrationen in der TRNZ. Der Annan-Plan galt und gilt für die
Mehrheit der türkischen Zyprioten als letzte Hoffnung auf eine Lösung ihrer wirtschaftlichen
und sozialen Nöte.
Die Südzyprioten hingegen reagieren bis heute eher skeptisch und negativ auf den Annan-
Plan, was auch beim Referendum im April 2004 zu sehen war. Die Skepsis gegenüber dem
Annan-Plan rührt vor allem aus dem jahrzehntelangen Versäumnis, sich mit realistischen
Lösungsvorschlägen auseinandersetzen zu müssen, die evtl. mit Zugeständnissen und
Einbußen gegenüber den Nordzyprioten verbunden wären, da bis vor kurzem, von Seiten der
nordzypriotischen Führung, eine Blockadehaltung bestand. Mit der Präsidentenwahl im
Februar 2003 in der Republik Zypern etablierte sich zudem während der internationalen
Verhandlungen zum Annan-Plan ebenso ein politischer Hardliner, Tassos Papadopoulos, wie
sein ehemaliges Pendant Rauf Denktas.444 Im Folgenden soll deshalb die besondere
Bedeutung des Annan-Plans herausgearbeitet werden.
11.3 Der Annan- Plan als zentraler Lösungsansatz der UN
Seit 40 Jahren beschäftigt sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Zypernkonflikt, welcher einer
der ältesten Konflikte auf der „peacekeeping agenda“ der Generalsekretäre ist. Die
Friedensschlichtungsversuche von fünf Generalssekretären sind bis heute gescheitert. Trotz
der gescheiterten Bemühungen verspricht der Lösungsvorschlag vom jetzigen UN-
442 EGMR= Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 443 Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt?, HSFK- Report 14/2003, S. 8; http://www.hsfk.de 444 Faustmann, Hubert: The Cyprus Question still unsolved: Security concerns and the failure of the Annan Plan, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 06/2004, S. 4
214
Generalsekretär Kofi Annan mit dem Titel: „Basis for Agreement on a Comprehensive
Settlement of the Cyprus Problem“ doch Hoffnung. Mit dem Grundsatz, Zypern in eine
bizonale und bikommunale Föderation umzuwandeln, knüpft der Annan-Plan an das „set of
Ideas“ an, welches der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-
Gali, 1992 zur Lösung des Zypernkonflikts präsentiert hatte.445
Die wesentlichen Bestimmungen des Annan-Plans, die beiden Konfliktparteien gerecht
werden müssen, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
• Zypern soll in eine bizonale Föderation umgewandelt werden, die aus zwei gleich-
berechtigten Teilstaaten (constituent states) mit weitgehender innerer Autonomie
besteht, die aber eine einheitliche Staatsbürgerschaft besitzt. Das vereinigte Zypern
soll zudem einen neuen Staatsnamen, eine neue Hymne und eine neue Flagge
erhalten.446
• Das Regierungssystem soll die politische Gleichberechtigung von griechischen und
türkischen Zyprioten garantieren. Diese politische Gleichheit der Teilstaaten wird
durch die föderative Verfassung und ein Zweikammersystem garantiert. Das bedeutet,
dass die Gesetzgebungsgewalt des Zentralstaates zwei Organen unterliegt. Zum einen
dem Abgeordnetenhaus und zum anderen dem Senat.447
• Die Föderation, bestehend aus zwei Teilstaaten, sieht eine klare ethnische Tei-lung
vor, in dem die Bevölkerungsmehrheiten in den jeweiligen Teilstaaten festgelegt sind.
So ist für den Norden eine türkische und für den Süden eine griechische
Bevölkerungsmehrheit vorgesehen, die nicht durch Rückwanderung von ehemaligen
Flüchtlingen und Einwanderern gefährdet werden darf. Diese Regelung der
Niederlassungsbestimmung, der Flüchtlingsrückkehr sowie der Einwanderung aus
dem jeweiligen anderen Teilstaat, gehört zu den konfliktreichsten Punkten des Annan-
Plans. Dieser sieht eine stufenweise Erweiterung der gegenseitigen Niederlassungs-
freiheit vor, die sogar mit einem EU-Beitritt der Türkei wegfallen würde.448
445 Zervakis, Peter. Die Europäisierung der Zypernfrage, S. 321 446Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt? HSFK-Report 14/2003, S. 9; http://www.hsfk.de 447 Reuter, Jürgen: Der UNO-Zypernplan - eine politische und rechtliche Analyse, in: KAS/ Auslands-informationen 2/2003, S. 8 448 Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt? HSFK- Report 14/2003, S. 10-11; http://www.hsfk.de
215
• Die Neuregelung des Inselterritoriums, wonach sich der Südteilstaat von derzeit 64%
auf 71% der Inselfläche vergrößern würde. Dies hätte zur Folge, dass ca. 54% also
rund 86.000 ehemals griechischer Flüchtlinge, die im Zuge der türkischen Invasion
geflüchtet und vertrieben wurden, in ihre ursprünglichen Dörfer zurückkehren könnten
und zugleich unter einer griechisch-zypriotischen Verwaltung leben würden.
Gleichzeitig müssten jedoch ca. 65.000 türkische Zyprioten im Zuge dieser
Neuaufteilung umgesiedelt werden. Die Territorialfrage ist daher eng verknüpft mit
der Rückgabe von Besitztümern.
• Vorgesehen hierzu ist, dass die Eigentümer von Grundstücken oder Häusern, die in
den Volksgruppenkämpfen zwischen 1963 - 1974 sowie durch die Teilung ihr
Eigentum verloren haben, sich zwischen Rückforderung und Entschädigung
entscheiden können. Dabei wird das Recht auf Rückforderung eingeschränkt, da die
jeweilige Minderheit in den Teilstaaten höchstens 10% des Landes449 besitzen darf.450
• Der Status der türkischen Siedler, die nach 1974 aus Anatolien angesiedelt wurden,
soll so geregelt werden, dass maximal 45.000 dieser Siedler, was ca. die Hälfte von
ihnen bedeutet, die zypriotische Staatsbürgerschaft zugestanden wird. Bevorzugt
werden diejenigen, die mit Zyprioten verheiratet sind, die auf Zypern geboren sind,
sowie dort ununterbrochen lebende Personen.451
• Im Bereich der Sicherheitsfragen soll die Türkei ihre zur Zeit 35.000 stationierten
Soldaten in der TRNZ stark reduzieren. Die jeweiligen Garantiemächte (Türkei und
Griechenland) erhalten das Recht, jeweils ein Militärkontingent mit 6000 Mann auf
Zypern zu stationieren.452
• Vorgesehen ist zudem, eine Versöhnungskommission zu gründen, um die unter-
schiedlichen Beurteilungen und Wahrnehmungen des Zypernkonflikts zu bearbeiten.
Sie soll die gegenseitige Anerkennung der Volksgruppen fördern sowie Ängste,
Vorurteile und Aggressionen entschärfen.453
449 bzw. 20% auf Gemeindeebne 450 Kadritzke, Niels, a.a.O., S. 5 451 Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt? a.a.O., S.10-11; vgl. dazu Reuter, Jürgen, a.a.O., S. 27 ff. 452 Wolleh, Oliver: Die Teilung überwinden - Eine Fallstudie zur Friedensbildung in Zypern, LIT Verlag, Hamburg 2002, S. 11 453Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied- und der Konflikt? HSFK-Report 14/2003, S. 12; http://www.hsfk.de
216
Mit seinen wesentlichen Bestimmungen knüpft der Annan-Plan an ältere UN-Lösungs-
konzepte an. Der Annan-Plan versteht sich als flexible Verhandlungsgrundlage für alle
Beteiligten, um zu einer Lösung zu gelangen.
11.4 Die Positionen zum Annan-Plan bis März 2003
Eine erste überarbeitete Fassung, die der Zypern-Beauftragte der UN, Alvoro de Soto, im
Dezember 2002 vorlegte, scheiterte auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen im selben Monat. Es
folgten direkte Gespräche zwischen den beiden damaligen Volksgruppenführern Denktas und
Klerides, ebenso wurden die türkische und griechische Regierung mit in die Verhandlungen
einbezogen, doch ohne Erfolg. Bis März 2003 scheiterten die Verhandlungen über die
strittigen Punkte des Annan-Plans. Im Nachfolgenden werden die unterschiedlichen
Positionen dargestellt.
11.4.1 Die Position der TRNZ-Regierung zum Annan- Plan
Die Hauptkritikpunkte am Annan-Plan, die von der TRNZ-Regierung unter Rauf Denktas
bemängelt wurden, lassen sich neben der altbekannten Forderung, die TRNZ international
anzuerkennen, wie folgt beschreiben:
• Die Abgabe von 7% des Territoriums an den Inselnachbarn wurde als unakzeptabel
bezeichnet, da damit eine interne Umsiedlung von ca. 100 000 türkischen Zyprioten454
verbunden wäre. Des weiteren wird kritisiert, dass es sich bei den im Annan-Plan
vorgesehenen Gebieten um landwirtschaftliche Nutzflächen und Wasserressourcen455
handelt.
• Eigentumsansprüche der Vertriebenen und Flüchtlinge sollen nicht durch Rückgabe
oder Entschädigungen geregelt werden, sondern durch einen pauschalen Besitzaus-
tausch zwischen den Teilstaaten.
454 Die UN geht dagegen von ca. 65 000 Betoffenen aus 455 Es handelt sich um die Region um Morphou/Güzelyurt
217
• Eine Reglementierung des Siedlerstatus wird abgelehnt. Die Vergabe von Staats-
bürgerschaften wird als souveränes Recht beansprucht.
• Das gleiche gilt für die Stationierung der türkischen Truppen, was ebenfalls unter den
Souveränitätsanspruch fällt.456
Dieser ausschließlich negativen Bewertung des Annan-Plans durch die ehemalige Denktas-
Regierung widersprach die Opposition und damit die jetzige Regierung in der TRNZ.
11.4.2 Die Position der griechisch-zypriotischen Regierung zum Annan-Plan
Aber auch von griechischer Seite aus gab und gibt es Einwände gegen den Annan-Plan. Doch
da Denktas nicht zum Gipfel in Kopenhagen erschien, musste Präsident Klerides seine
Ablehnung zum Annan-Plan nicht zu Protokoll geben und konnte sich damit nach außen hin
als gesprächsbereit darstellen. In Wirklichkeit besteht eine Vielzahl von Einwänden, aber
auch Ängsten gegen den Annan-Plan. Als griechisch-zypriotische Hauptkritikpunkte dagegen
lässt sich Folgendes festhalten:
• Die im Annan-Plan vorgesehene Autonomie des Nordteils ist viel zu umfangreich.
• Die Funktionsfähigkeit der Zentralregierung ist durch das institutionelle
„Powersharing“ zwischen den beiden Volksgruppen nicht gewährleistet. Die Rotation
(Powersharing) kann zum Spielball der beiden Volksgruppen werden und schnell zu
Unregierbarkeit und Chaos führen. 457
• Das Rückkehrrecht der Vertriebenen und Flüchtlinge wird als zu restriktiv bewertet.
Gefordert wird zudem eine uneingeschränkte Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit,
die mit den EU-Richtlinien „acquis communitaire“ übereinstimmt, jedoch das Verhält-
nis mit den türkischen Inselnachbarn enorm verschlechtern würde.458
• Kritisiert wird ebenfalls die Regelung der Eigentumsansprüche, da sich mehr
griechischer Besitz im Nordteil befindet als umgekehrt.
456 Kadritzke, Niels a.a.O., S. 5 457vgl. Reuter, Jürgen: Der UNO-Zypernplan - eine politische und rechtliche Analyse, in: KAS/ Auslands-informationen 2/2003, S. 6 ff. 458Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt? HSFK-Report 14/2003, S. 21; http://www.hsfk.de
218
• Gefordert wird zudem, dass die stationierten türkischen Truppen in eine inter-
nationale Friedenstruppe eingebunden werden.
Wie unter Präsident Klerides unternimmt auch der jetzige Präsident Papadopoulos wenig, um
die eigene Bevölkerung auf die Notwendigkeit sowie auf die Vorzüge einer Einigung mit
Nordzypern hinzuweisen. Das Scheitern der Verhandlungen im März 2003 beruht
offenkundig an dem Fernbleiben von Denktas, doch auch die griechische Seite bemühte sich
wenig um Verhandlungserfolge. Die griechisch-zypriotische Regierung konzentrierte sich
hauptsächlich auf den bevorstehenden EU-Beitritt, der seit dem Gipfel von Helsinki nicht
mehr mit der Bedingung einer Konfliktlösung verbunden war. Somit bestand kein Zugzwang
für den neugewählten Präsidenten Papadopoulos, der am 16. März 2003 den EU-Beitritts-
vertrag nur für die offiziell anerkannte Republik Zypern in Athen unterzeichnete.459
11.5 Wandlung und Hoffnung für Nordzypern ab März 2003
Aufgrund der lang anhaltenden Proteste in der TRNZ, die nach dem Athener EU-Gipfel an
Brisanz gewannen sowie auf Druck der neu gewählten türkischen Regierung beschloss die
Denktas-Regierung einen Monat später am 23. April 2003, die Kontrollübergänge an der
Demarkationslinie (Green Line) zu öffnen. Diese Öffnung kam für viele Beobachter
überraschend und hatte somit eine „Ventilfunktion“ gegenüber den andauernden Protesten.
Ein weiteres Motiv für die Grenzöffnung war die bevorstehende Parlamentswahl im
Dezember desselben Jahres, womit Denktas der Opposition keine politischen Angriffspunkte
liefern wollte.
Die griechisch-zypriotische Regierung reagierte eher negativ auf die Öffnung und forderte
ihre Bevölkerung auf, bei der Passierung der Kontrollpunkte nicht wie gefordert den
Reisepass vorzulegen, da dies als indirekte Annerkennung der TRNZ gewertet werden könnte.
Doch die griechischen Zyprioten folgten dem Aufruf der Regierung nicht und machten von
459 Kadritzke, Niels a.a.O, S. 7
219
ihrer Reisefreiheit in den „Norden“ Gebrauch. Seither überqueren Hunderttausende beider
Seiten die Grenze, ohne dass es zu ernsthaften Zwischenfällen kam.460 Auf gesellschaftlicher
Ebene haben sich die bikommunalen Aktivitäten seitdem verbessert, doch für eine dauerhafte
Lösung des Zypernkonfliktes bedarf es einer institutionellen Lösung, die beiden Seiten
gerecht wird. Wie einleitend schon erwähnt, haben sich die politischen Parameter in der
TRNZ zugunsten einer Annan-Plan-Lösung gewandelt. Der politische Wandel in der TRNZ
hatte zwei Hauptursachen. Zum einen die veränderte nationale sowie internationale
Konstellation in der Zypernfrage und zum anderen die desolate sozioökonomische Lage. Der
Umschwung für politische Erneuerungen manifestierte sich nach den Protesten gegen die
Regierung Denktas im Ergebnis der Parlamentswahlen im Dezember 2003.
Drei Oppositionsparteien kandidierten dabei gegen Rauf Denktas. Stärkste Oppositions-partei
war die Republikanische Partei (CTP) mit ihrem Spitzenkandidaten Mehmet Ali Talat, die
seit den Kommunalwahlen im Juni 2002 die Bürgermeister in den größten Städten der TRNZ
stellt. Mit seiner Forderung nach einer föderalen Republik auf der Grundlage des Annan-Plans
konnte die CTP bei den Parlamentswahlen die bis dahin amtierende Nationale Einheitspartei
(UBP) von Rauf Denktas ablösen. Allerdings musste Talat durch die entstandene Pattsituation
im Parlament mit der Demokratischen Partei (DP)461 eine Koalition eingehen.
Auf internationaler Ebene wurde der Wahlsieg von M. A. Talat begrüßt, da dieser als
Hoffnungsträger im Konflikt bis heute gilt. Während der erneuten Verhandlungen zum
Annan-Plan im Frühling 2004, die im Hinblick auf das Referendum für einen möglichen
gemeinsamen EU-Beitritt im Mai desselben Jahres geführt wurden, propagierte Talat eine
„Evet“(Ja)-Kampagne, welche von 65% der zypern-türkischen Bevölkerung angenommen
wurde. Neben dem Hauptmotiv, mit einem EU-Beitritt die wirtschaftliche, soziale und
politische Lage zu verbessern, spielte ebenfalls der Wunsch eine wichtige Rolle, sich aus der
Abhängigkeit zum dominanten Mutterland Türkei zu befreien.462
460 Wolleh, Oliver: Die Teilung überwinden - Eine Fallstudie zur Friedensbildung in Zypern, LIT Verlag, Hamburg 2002, S. 16 461 Vorsitzender der DP ist der Präsidentensohn Serdar Denktas 462 Faustmann, Hubert: The Cyprus Question still unsolved: Security concerns and the failure of the Annan Plan, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 06/2004, S. 10 ff.
220
Nach der Enttäuschung, verursacht durch die Ablehnung des Annan-Plans der griechisch-
zypriotischen Seite, verlor die Regierung Talat durch das Verlassen mehrerer Abgeordneter
der Koalition ihre Mehrheit im Parlament. Das damit verbundene, von der national-
konservativen UBP initiierte Misstrauensvotum überstand Talat. Es veranlasste ihn jedoch, im
Oktober 2004 zurückzutreten und Neuwahlen anzukündigen.
Die sich anschließenden Parlamentswahlen vom 20. Februar 2005 bestätigten Mehmet Ali
Talat erneut als Premierminister. Da jedoch wieder die absolute Mehrheit knapp verfehlt
wurde, kam es zu einer Wiederauflage der Koalition mit der DP von Serdar Denktas. Auf den
darauf folgenden Präsidentschaftswahlen im April 2005 kandidierte Mehmet Ali Talat für das
Amt, um als gewählter Volksgruppenführer endlich Erfolg und sichtbare Fortschritte im
Zypernkonflikt zu erreichen. Mit dem Wahlergebnis vom 17. April 2005 steht nun Talat an
der Spitze Nordzyperns und kann neben der Unterstützung des Parlaments auch auf die
Unterstützung von Ankara hoffen.463
Talats Hauptaufgabe besteht darin, demnächst neue erfolgversprechende Lösungsvorschläge
zu präsentieren, wofür aber weniger die Unterstützung seiner Bevölkerung als vielmehr das
Interesse an einer Lösung von der zypriotisch-griechischen Bevöl-kerung und Regierung
benötigt wird. Das erfolgte überwältigende negative Votum der griechischen Zyprier
verspricht keine schnelle Lösung.
11.6 Ablehnung und Skepsis der griechischen Zyprier
Mit dem radikalen „Nein“ der zypriotisch-griechischen Bevölkerung zum Annan-Plan folgte
diese dem Appell ihres Präsidenten Tasso Papadopoulos. Das negative Votum und die damit
verbundene Fortdauer des Status quo hatten keine Nachteile für die Südzyprioten. Im
Gegensatz zu ihren Inselnachbarn standen sie nicht unter politischem Druck, einem ihrer
Meinung nach unpopulärem Lösungsvorschlag folgen zu müssen, da so oder so ihr Beitritt in
die EU am 1. Mai 2004 gesichert war. Neben diesem Faktor spiegelt das Abstimmungs-
463 Kramer, Heinz; Hein, K.: Ein neuer Präsident in Nordzypern, S. 2 ff.
221
ergebnis aber auch Misstrauen, Vorurteile sowie Befürchtungen wider. Eine Studie des
Zypern-Experten Alexandros Lordos464 aus dem Jahr 2005, in welcher eine repräsentative
Umfrage in beiden „Teilstaaten“ zu den zentralen Konfliktpunkten des Zypernproblems
durchgeführt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass eigentlich nur 25 % der Zyperngriechen eine
Wiedervereinigung grundsätzlich ablehnen und der übrige Teil eine Lösung des Konflikts
unter anderen Bedingungen akzeptieren könnte. Wie im Schaubild zu sehen ist, unterteilt
Alexandros Lordos die griechischen Zyprioten in ihrer Haltung zum Annan-Plan in sechs
Gruppen:465
464 Titel der Studie: Civil Society Diplomacy: A new approach for Cyprus? 465 Abbildung aus der Studie von Alexandros Lordos, S. 90
222
Die erste Gruppe mit nur rund fünf Prozentpunkten stellt die enthusiastischen Befürworter des
Annan-Plans dar. Die zweite Gruppierung findet den Annan-Plan im Wesentlichen als
Kompromisslösung akzeptabel. Sie wäre bereit, für eine baldige Konfliktlösung auch
Abstriche in ihren Forderungen zu machen. Diese zweite Gruppe besteht aus 19% der
griechischen Zyprioten. Die erste und zweite Gruppierung, die bei einem Referendum mit
„Ja“ stimmen würde, beträgt zusammen gerade einmal 24%, also genauso viel wie beim
Referendum im April 2004.
Eine dritte Gruppe fordert Verbesserungsansätze im Sicherheitsbereich und damit verbundene
Garantien, was den vollständigen Abzug der türkischen Truppen bedeutet. Diese Gruppe
umfasst 14% und würde nach der Erfüllung ihrer Forderung bei einem nächsten Referendum
mit „Ja“ stimmen.
Die vierte Gruppe kritisiert den Annan-Plan in Bezug auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge
und die damit verbundenen Eigentumsansprüche. Immerhin 21% der Südzyprioten sehen dies
als Hinderungsgrund für eine Wiedervereinigung an.466 Die fünfte, im Kern scheinbar
kompromissbereite Gruppe, erwartet eine Lösung im EU-Rahmen. Diese Forderung beinhaltet
Lösungsvorschläge nach europäischen Grundsätzen. Das bedeutet beispielsweise eine Lösung
ohne ausländische Einmischung im Sicherheitsbereich, beim Flüchtlingsproblem eine Lösung,
die sich an die Prinzipien des internationalen Rechts hält und darüber hinaus die
Gewährleistung von uneingeschränkter Siedlungsfreiheit. Die Forderungen dieser Gruppe
entsprechen zwar den europäischen Prinzipien, doch wird es juristisch und politisch
unmöglich sein, diese zu erfüllen, ohne die Rechte der türkischen Zyprioten zu
beeinträchtigen. Dies steht im Widerspruch zu der Grundannahme des Annan-Plans nach
einer bizonalen Föderation. Die sechste Gruppe, die ein Viertel der griechischen Zyprioten
darstellt, rechnet A. Lordos zu den sogenannten Hardlinern, die den gesamten Annan-Plan für
inakzeptabel halten. 467
Neben den genannten Kritikpunkten der griechischen Zyprioten spielen die Ängste vor einer
wirtschaftlichen Konkurrenz aus dem Norden eine erhebliche Rolle. So könnten bestimmte
Dienstleistungsbranchen, wie beispielsweise Handwerk oder Gaststättengewerbe, Kunden an
billigere Anbieter aus dem Norden verlieren. Vor allem im touristischen Sektor herrscht große 466 Lordos, Alexandros, a.a.O., S. 89 ff. 467 ebd., S. 92-93
223
Konkurrenzangst, da nach einer Zypernlösung mit einem erheblichen Zuwachs von Urlaubern
an der attraktiveren Nordküste zu rechnen ist. Am stärksten bedroht fühlt sich die
Bevölkerung in den Regionen um Larnaca und Limassol, die ohne eine Teilung der Insel
keinen touristischen Aufschwung erfahren hätten. Zukünftige Bauaufträge würden im Falle
einer Wiedervereinigung eher für den Norden geplant werden.468
Diese Kombination aus Furcht vor eventueller wirtschaftlicher Konkurrenz aus dem Norden
und den Hauptkritikpunkten am Annan-Plan, gepaart mit dem fehlenden Anreiz für eine
Lösung, da man bereits EU-Mitglied ist, erklärt die starre Haltung der Lösungsgegner.
11.7 Ergebnis
Seit dem Wahlsieg der AKP von Recep Tayyip Erdogan im November 2002 haben sich die
politischen Vorzeichen im Zypernkonflikt gewandelt. Seit Anfang 2003 forderte die
neugewählte Regierung in Ankara das Denktas-Regime wiederholt auf, den Annan-Plan als
Konfliktverhandlungsplan zu akzeptieren und konstruktive Lösungen zu suchen. Auch
bekräftigte Erdogan auf seiner ersten Europareise nach seinem Wahlsieg, dass die Türkei
einen neuen Kurs in der Zypernfrage einschlagen werde. Als symbolischer Akt hob die Türkei
im Mai 2003 die Visumspflicht für Bürger der Republik Zypern auf und öffnete damit
erstmals seit 40 Jahren die Grenzen für griechische Zyprioten.
Im Vorfeld der Parlamentswahlen in der TRNZ im Dezember 2003 unterstützte die AKP-
Regierung die Oppositionspartei mit dem Spitzenkandidaten M.A.Talat und forderte
gleichzeitig die Wiederaufnahme der Verhandlungen auf der Grundlage des Annan-Plans.
Diese reformorientierte Haltung demonstrierte die Entschlossenheit, die Hindernisse auf den
Weg zu Beitrittsverhandlungen mit der EU beiseite zu räumen.469 Dabei zeigte sich immer
wieder, in welchem Balanceakt die türkische Regierung steckt. Auf der einen Seite der Weg
468 Kadritzke, Niels, a.a.O., S. 9-10 469 Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt? HSFK-Report 14/2003, S. 33; http://www.hsfk.de
224
in die EU mit den zu meisternden Reformen und auf der anderen Seite die mächtige Rolle des
Militärs. Die Zugeständnisse in der Zypernfrage, besonders die Absicht einer schrittweisen
Reduzierung der türkischen Truppenpräsenz von 30000 auf 6000 Mann, erregte den Zorn der
Armeeführung, da diese eine Vielzahl von Interessen mit der Präsenz in Nordzypern
verbindet. Neben der ideologischen und politischen Bedeutung gilt Zypern auch als
strategisch wichtig. Zypern liegt nur 65 km von der türkischen Küste entfernt und auf dem
Schnittpunkt der Seelinien zwischen Europa, der Türkei, Israel, Ägypten und dem Suezkanal.
Auch die geplante Ölpipeline zwischen Baku und dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan
führt über Zypern. Griechenland dagegen kontrolliert die anderen Inseln vor der türkischen
Südküste und nach inoffiziellen Angaben werden im Mittelmeer zwischen der Türkei und
Zypern bedeutende Ölreserven vermutet.470 Nach den kritischen Äußerungen, wobei sich
Teile der Armee-führung gegen die „Preisgabe Nordzyperns“ sträubten, entschied der
Nationale Sicherheitsrat der Türkei im Sinne der AKP-Regierung, dass die Verhandlungen
auf der Basis des Annan-Plans fortgeführt werden sollen.
Dies macht deutlich, dass die Türkei zum einen auf dem Weg in die EU eine möglichst
schnelle Lösung befürwortet, wobei ihr die politische Dynamik in der TRNZ zugute
kommt.471 Zum anderen gibt es aber eine Vielzahl von Streitpunkten, die verhandelt werden
müssen.
Ein aktueller Knackpunkt ist die Anerkennung der Republik Zypern durch die Türkei. Als
Vorbedingung für die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen, unterzeichnete Ankara auf
dem EU-Gipfel in Brüssel im Dezember 2004 ein Zusatzprotokoll zum Ankara-Abkommen,
doch ermöglichten die offenen Formulierungen im Protokoll verschiedene Interpretations-
möglichkeiten. Während nach Meinung Papadopoulos die Annerkennung Zyperns durch die
Türkei in dem Protokoll zum Ausdruck kommt, wird dies von Seiten der türkischen
Regierung abgestritten. Von Seiten der EU-Kommission wird die Unterzeichnung des
Zusatzprotokolls nicht als formale Anerkennung, jedoch als implizite de-facto-Anerkennung
470 Leicht, J.: Regierungswechsel nach Wahlen in Nordzypern, in: Die Oppositionelle vom 07.01.2004 471 Schoch, Bruno: Zypern wird EU-Mitglied - und der Konflikt? HSFK-Report 14/2003, S. 37; http://www.hsfk.de
225
der Existenz der Republik Zypern gewertet.472 Nach zahlreichen Verhandlungen zwischen der
EU-Kommission und der türkischen Regierung über den Inhalt des Protokolls konnte man
sich auf ein gemeinsames Dokument einigen, welches aber zunächst der Zustimmung des
türkischen Parlaments bedurfte. Diese Zustimmung ist bereits erfolgt und mit der
Unterzeichnung des erweiterten Zollabkommens im Juli 2005 besiegelt.473 Doch die zu
erwartende unvollständige Erfüllung des Zusatzprotokolls wird vermutlich neuen Streit
hervorrufen. Die Forderungen nach einer Öffnung der türkischen Häfen und Flughäfen für
südzyprisch geflaggte Schiffe und Flugzeuge ist den Türken ein Dorn im Auge.
Im Gegenzug droht Papadopoulos der türkischen Regierung mit einer Blockadepolitik für die
weiteren EU-Beitrittsverhandlungen. Solange der Status quo auf Zypern anhält, ist es kaum
vorstellbar, dass die Türkei EU-Vollmitglied wird, mit der Folge, dass während des Beitritts-
prozesses eine Lösung gefunden werden muss. Dabei werden die griechischen Zyprioten ihre
neue, stärkere Position als EU-Mitglied nutzen, um ihre Forderungen durchzusetzen, was
dazu führen könnte, dass wiederum die AKP-Regierung zu einer rigiden Haltung tendiert.
Eine aktive Vermittlerrolle der EU im Zypernkonflikt ist dabei ausgeschlossen, da eine der
Konfliktparteien Mitglied der EU ist. Das bedeutet, dass die Konfliktparteien nur auf der
Basis des Annan-Plans zu einer Lösung gelangen können.474
472 Das zweite Zusatzprotokoll zum Ankara-Abkommen beinhaltet eine Erweiterung der Zollunion auf die 25 Mitgliedstaaten der EU, also auch auf die im Mai 2004 hinzugekommenen zehn neuen Mitgliedstaaten, darunter auch die Republik Zypern, welches die Türkei mit dieser Unterzeichnung indirekt anerkennen würde. 473 Ohne Namen. „Türkisches Eigentor.“, in: Der Tagesspiegel vom 31. Juli 2005 474 Kramer, Heinz; Hein, K.: Ein neuer Präsident in Nordzypern, a.a.O., S. 7
226
KAPITEL 12: Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 12.1 Schlussfolgerung
Etwa 24888 km² der Gesamtfläche der Türkei von 779452 km² liegen auf dem europäischen
Kontinent, der Rest in Asien.475 Das bedeutet, dass mit einer Erweiterung der EU erstmals ein
Land, das sich zwar seit spätestens 1923 an Europa orientiert, dabei aber lediglich zu etwa 3%
auf dem europäischen Kontinent liegt, aufgenommen werden würde. Mit der Entscheidung
des Europäischen Rates im Dezember 2004, ab 3. Oktober 2005 mit der Türkei Beitrittsver-
handlungen zu führen, honorierten die 25 europäischen Staats- und Regierungschefs die
rechtspolitischen Reformen, die die Türkei nach ihrer Anerkennung als Beitrittskandidat in
Helsinki eingeleitet hat.
Die Türkei grenzt an Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Griechenland, Iran, Irak
und Syrien. Damit bildet sie eine Art Brücke zwischen Europa, dem Kaukasus und dem
Nahen Osten. Genau diese Tatsache lässt einige Politiker vor einem Beitritt der Türkei zur EU
zurückschrecken, weil sie vermuten, Europa könne dadurch in Konflikte in der Nahostregion
involviert werden. Andere wiederum sehen das große Potenzial, das ein muslimisches Land in
Europa für den Frieden im Nahen Osten haben könnte, hoffen auf neue Märkte im Nahen
Osten und mehr politischen Einfluss in der Region.
Für den internationalen Erdöl- und Erdgastransport ist die Türkei von großer Bedeutung, und
durch die Sicherheitspartnerschaft mit Israel regional eines der wichtigsten Länder der
Region.476 Außerdem hat die Türkei nach dem Ende des Kalten Krieges sehr schnell ihre
Rolle als starke Regionalmacht im Sinne des westlichen Bündnisses gefunden, weshalb sich
auch die USA sehr für einen Beitritt der Türkei zur EU einsetzen.477 Problematisch hingegen
ist in diesem Zusammenhang das türkisch-griechische Verhältnis, das aufgrund des
475 Europäische Kommission (Hrsg.): Enlargement, Relations with Turkey, in: http://europa.eu.int/comm/enlargement/turkey/index.htm ,10.11.2002 476 vgl. Steinbach, Udo: Die Außenpolitik der Türkei, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Der Bürger im Staat, Die Türkei vor den Toren Europas, 01/2000, S. 50 f. 477 vgl. Steinbach, Udo: Die Außenpolitik der Türkei, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Der Bürger im Staat, Die Türkei vor den Toren Europas, 01/2000, S. 53 ff.
227
Zypernkonflikts, der in seiner Entstehung und Entwicklung in dieser Arbeit behandelt wurde,
weiterhin angespannt ist. Solange es keinen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss gibt,
kann allein Griechenland den EU-Beitritt der Türkei verhindern. Zugespitzt könnte das die
Türkei vor die Frage stellen: „Zypern oder EU-Beitritt?“. Allerdings ist seit der griechischen
Hilfe bei der Erdbebenkatastrophe in der Türkei im August 1999 offensichtlich eine
abkühlende Wende in dem hitzigen Konflikt zu verzeichnen.
Des Weiteren soll hier festgehalten werden, dass die geostrategische Lage wohl das wichtigste
Argument für einen Beitritt der Türkei zur EU ist. Gerade auch vor dem Hintergrund der
Ereignisse vom 11. September 2001 wird die EU bestrebt sein, ein muslimisches Land
zumindest mittelfristig zu integrieren, das nicht zuletzt als regionale säkulare Macht im Nahen
Osten stabilisierende, aber auch vermittelnde Wirkung haben könnte. Der entscheidende
Vorteil im Vergleich zu den mittel- und osteuropäischen Ländern, die bereits vollintegrierte
EU-Mitgliedsstaaten wurden, liegt für die Türkei tatsächlich in ihrer außenpolitischen und
geostrategischen Bedeutung. Schließlich wird hierbei deutlich, wie sehr der Kurdenkonflikt
zwischen der Türkei und der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, das heißt insbesondere
den Anforderungen an Demokratie und Rechtstaatlichkeit, steht. Der Weg der Türkei in die
EU führt nur über die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien zum Ziel; und der Weg zur
Erfüllung der Kopenhagener Kriterien beinhaltet grundlegende Reformen bezüglich der
Demokratie und der Einhaltung der Menschenrechte, welche wiederum auf vielfältige Art in
direktem Zusammenhang mit der Lösung der “kurdischen Frage” 478 stehen.
Nach einer Darstellung des historischen Hintergrunds wurde in dieser Arbeit versucht, die
Machtverhältnisse im Nahen Osten während des Kalten Krieges und in der Post-Cold-War-
Ära zu erklären und die Rolle sowie die Bedeutung der Türkei in diesem Bild richtig
einzuordnen. Bis zum Beginn der 90er Jahre blieb die Türkei tatsächlich ein träger und
unwilliger Spieler in der nahöstlichen Politik. Aber seit 1990 hat sie begonnen, wichtige
wirtschaftliche und politische Entwicklungen im Kaukasus, in Zentralasien und im Nahen
Osten zu forcieren und weiterzuführen. Bei der Untersuchung der Entwicklung des Nahen
478 Während sich die Situation in den kurdischen Gebieten nach der praktischen Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften seit dem Jahr 2000 deutlich entspannt hatte, hat der Konflikt seit der Aufkündigung der von der PKK einseitig erklärten Waffenruhe im Frühsommer 2004 erneut an Schärfe gewonnen. Im Zuge dieser Eskalation ist auch ein erneuter Anstieg von Übergriffen staatlicher Kräfte (vor allem der Gendarmerie) auf kurdische Dorfbewohner zu verzeichnen.
228
Ostens nach 1990 war die türkische Außenpolitik der Fokus der Analyse. Die veränderte
geostrategische Bedeutung der Türkei konnte nur gestützt auf grundlegende Parameter wie
das veränderte politische Weltklima, den Wendepunkt des 11. September 2001, die Besetzung
des Irak durch die USA, die Szenarien eines Kurdenstaates im Nordirak und das Greater
Middle East Project der USA analysiert werden.
Die türkische Wirtschaft ist heute zwar nicht sehr stark, hat jedoch vor allem auf den Gebieten
Industrieproduktion, Bau, Textilien und Tourismus, im Kaukasus, in Zentralasien, Russland
und im Nahen Osten wichtige Investitionen getätigt. Wegen ihrer krisengeschüttelten, fragilen
Wirtschaft kann die Türkei aber keine aktivere Position in der Außenpolitik übernehmen.
Die Türkei ist in dem vom Palästinakonflikt und Öl geprägten Machtgefüge des Nahen Ostens
zwar nicht ein zurückhaltender, aber doch schwacher Mitspieler. Neben den lokalen Akteuren
(den ölfördernden Staaten, Palästina und Israel) und den internationalen Spielern (allen voran
den USA, der EU, und innerhalb der EU Großbritannien und Frankreich) spielte die Türkei
bis 1990 nur eine untergeordnete Rolle in der nahöstlichen Politik. Seit ungefähr fünfzehn
Jahren entwickelt sich die Türkei von einem unwilligen Mitspieler im Nahen Osten zu einem
aktiven Akteur, der in der regionalen Politik eine wichtige Rolle spielt. Dieser
„Selbstaktivierungsprozess“ des Landes lief stets Hand in Hand mit den USA oder zumindest
parallel zu amerikanischer Unterstützung. Ihre strategische Partnerschaft mit den USA war
und ist die größte Stütze der Türkei auf diesem Weg. Die Türkei ist zugleich ein Kandidat für
die Vollmitgliedschaft in der EU und will diese Beziehung als Sprungbrett für eine reelle
Machtposition in ihrer Region benutzen. Sie betont die Vorteile, die die EU bekommt, wenn
sie die Türkei zu einem Vollmitglied macht. Inwieweit die EU diesen Vorschlag annimmt,
wird sich in nächster Zukunft größtenteils herausstellen. Aber schon jetzt ist klar, dass die
türkischen Beziehungen zum Nahen Osten und zur Kaukasusregion mit dem Beginn der
Beitrittsverhandlungen mit der EU eine neue Qualität erlangen.
Die größten außenpolitischen Probleme für die Türkei ergeben sich aus ihrem Bestreben,
sowohl zu Israel als auch zu den arabischen Ländern gute Beziehungen aufrechtzuerhalten,
und aus ihrer Sorge um die Gründung eines kurdischen Staates im Irak. Die Türkei betont
stets ihre regionale Bedeutung, um der Gründung eines Kurdenstaats vorzubeugen. Dabei
229
versucht sie zu verhindern, dass die USA das Kurdenprojekt unterstützen. Lange Zeit galt die
Gründung eines Kurdenstaates im Nordirak als „Red Line“ der türkischen Außenpolitik. Im
Jahre 2004, als sich ein föderatives System im Irak abzeichnete, schien sich Ankara mit einem
irakischen Bundesstaat Kurdistan an seiner Südgrenze arrangiert zu haben. Wichtig für
Ankara wird die eigene territoriale Integrität bleiben.
Die Türkei hat auf dem Wege der EU-Annäherung individuelle Rechte für Kurden eingeführt.
Die im Rahmen der Reformen zugestandenen kulturellen Rechte für die Kurden beschränken
sich auf ein minimales Niveau: Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache für ca. 1
Stunde pro Woche (die Gesamtsendezeit in Minderheitensprachen von 5 bzw. 4 Stunden pro
Woche ist auf mehrere Minderheitensprachen aufgeteilt) und die Zulassung privater
Sprachkurse. Verboten ist der Gebrauch der kurdischen Sprache nach wie vor für Parteien und
im Rahmen von Wahlkämpfen. Auch in jüngster Zeit wurden Mitglieder von Parteivorständen
zu Haftstrafen verurteilt, weil sie kurdische Redebeiträge auf Parteiversammlungen
zugelassen hatten; ebenso Kandidaten prokurdischer Parteien, die bei Wahlkundgebungen die
Besucher auf Kurdisch begrüßt hatten. 479
Die Türkei ist jedoch nicht willens, die Kurden als eine „Minderheit“ im völkerrechtlichen
Sinne anzuerkennen und den Kurden kollektive Rechte zu geben. Wenn die türkischen
Kurden, die ohnehin keine geschlossene Einheit in einem bestimmten Gebiet des Landes
bilden und die über das gesamte türkische Territorium verstreut leben, ihre Zukunft in einer in
der EU integrierten Türkei sehen, wird sich das türkische Kurdenproblem für alle Seiten
lösen. Etwaige separatistische Bestrebungen, die weiterexistieren, werden dadurch margina-
lisiert. Dafür sind aber zwei Bedingungen zu erfüllen: Erstens müssen die individuellen
Rechte und Freiheiten der Kurden in völliger Gleichstellung mit allen anderen Bürgern des
Landes langfristig gewährleistet sein.
479 Anfang Juli 2005 hat das Amtsgericht in Halfeti (Urfa) die stellvertretende Vorsitzende der DEHAP, Handan Cağlayan, und den Vorsitzenden für die Provinz Urfa, Ahmet Dağtekin, wegen einer kurdischen Ansprache auf einer Wahlveranstaltung am 28. März 2004 verurteilt. Weil sie auf der Veranstaltung Kurdisch gesprochen haben und damit gegen das Gesetz für politische Parteien verstießen, erhielt Ahmet Dağtekin eine Haftstrafe von 6 Monaten und eine Geldstrafe von 440 YTL (Neue Türkische Lira) und wurde Handan Cağlayan zu einer Haftstrafe von 7 Monaten und einer Geldstrafe von 513 YTL verurteilt. Derzeit läuft außerdem ein Verbotsverfahren gegen die Gewerkschaft für Mitarbeiter des Erziehungsbereichs, Eğitim Sen, weil in ihren Statuten das Recht auf muttersprachlichen Unterricht für alle Kinder im staatlichen Bildungssystem gefordert wird.
230
Zweitens muss der Prozess der EU-Mitgliedschaft der Türkei reibungslos weiterlaufen. In
einer Türkei, die sich weder wirtschaftlich noch politisch oder sozial weiterentwickelt, wird
sich auch das Kurdenproblem nicht lösen lassen, zumal der Südosten und Osten des Landes,
wo diejenigen Kurden wohnen, die von der bisherigen Entwicklung am meisten abgeschnitten
sind, die rückständigsten und rückschrittlichsten Regionen des Landes sind. Wenn die
türkische Modernisierung nicht voranschreitet, werden sich die autoritären, patriarchalisch
geprägten feudalen Strukturen in dieser Region nicht auflösen. In diesem Fall könnte ein
Kurdistan im Nordirak mit eigenen Ressourcen an Erdöl und Wasser tatsächlich eine
Sogwirkung auf die türkischen Kurden ausüben, so dass Instabilitäten in der Türkei zu
erwarten wären.
Die Türkei unterhält heute intensivere Beziehungen zu den anderen Staaten der Region als in
der Vergangenheit und versucht, mit ihnen zusammen eine gemeinsame Politik zu entwickeln.
Die Beziehungen, die die Türkei in den letzten Jahren mit Syrien und dem Iran pflegt,
entspringen eigentlich der gemeinsamen Sensibilität bezüglich eines Kurdenstaates und der
Interessengemeinschaft in diesem Punkt. In der vorliegenden Arbeit wurde bereits
unterstrichen, dass in der Zukunft der türkischen Nahostpolitik Regionalallianzen eine
wichtige Rolle spielen werden und dass in diese Richtung bereits Schritte unternommen
worden sind. Aber in letzter Instanz werden die Beziehungen der Türkei zum Westen,
insbesondere ihr EU-Mitgliedschaftsprozess bei der Bestimmung ihrer Rolle in der Region
entscheidend sein. Dass sie im Juni 2004 den Vorsitzenden der Islamischen Konferenz
stellte480, ist ein Beweis für die Anerkennung dieser zukünftigen, aktiven Rolle durch die
muslimischen Staaten des Nahen Ostens.
Die Akteure der türkischen Innenpolitik und ihre außenpolitischen Konzeptionen spielen bei
der Gestaltung der außenpolitischen Linie des Landes nicht die entscheidende Rolle. Die
Rolle der Außenkräfte USA und EU war und ist dabei noch wichtiger als die der
innenpolitischen Kräfte. Die Entscheidungen, die in den USA und in der EU bezüglich der
Weltpolitik getroffen wurden, haben in den 90er Jahren auf die Formulierungen der
türkischen Außenpolitik einen großen Einfluss ausgeübt und sie werden sich darauf
auswirken, wie die Außenpolitik der Türkei im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert aussehen
480 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 3.7.2004, Nr. 152, S. 57
231
wird. Sie werden nicht nur die außenpolitische Richtung der Türkei, sondern auch die Zukunft
von Demokratie und Menschenrechten beeinflussen. Angesichts des amerikanischen
Einflusses ist festzustellen, dass die USA die Türkei auch in nächster Zukunft für die
Umsetzung ihrer Pax Americana benutzen werden, wie sie es seit dem 2. Weltkrieg gemacht
haben. Denn die Amerikaner verfolgen im Nahen Osten eine konstante Tradition der
Machtpolitik. Um ihre machtpolitischen Interessen durchsetzen zu können, haben sie
sicherlich bisher wenig Rücksicht auf moralische Prinzipien wie auf das Völkerrecht und die
Menschenrechte genommen.481
Die Europäische Union hatte bisher in politischen und militärischen Bereichen auf die Türkei
nicht so viel Einfluss wie die Vereinigten Staaten, obwohl ihre engen wirtschaftlichen
Beziehungen zur Türkei dies erlaubt hätten. Aber die EU hat seit dem Helsinki-Gipfel vom
Dezember 1999 ihre Politik gegenüber der Türkei geändert. Zum ersten Mal gab die EU der
Türkei eine realistische Perspektive zur Mitgliedschaft.482 Diese Entscheidung zeigt, dass die
EU ihren Einfluss auf die Türkei im politischen Bereich zu verstärken beabsichtigt. Es geht
der Europäischen Union darum, den Einfluss der Türkei auf ihre geopolitische Region für sich
- also dann die gesamte EU einschließlich der Türkei - zu nutzen.
Der 3. Oktober 2005 stellt ein äußerst wichtiges Datum hinsichtlich der türkischen
Außenpolitik, Nahostpolitik und im Allgemeinen für die Mächtekonstellationen im Nahen
Osten überhaupt dar. Mit dem Vollmitgliedschaftsprozess der Türkei in die EU werden
Stabilität in der Wirtschaft, eine nähere Abstimmung der Außenpolitik mit der EU und eine
viel aktivere Rolle der Türkei im Nahen Osten erwartet. Türkische und europäische
Unternehmen können dann ihre Aktivitäten im Nahen Osten gemeinsam ausdehnen. Dass die
Türkei eine Brückenrolle zwischen dem Kaukasus, dem Nahen Osten, Zentralasien („Greater
Middle East“) und Europa übernehmen kann, wird das entscheidende ökonomische und
geostrategiche Argument für die Aufnahme des Landes in die EU bilden.
481 Inat, Kemal: Türkische Nahostpolitik am Anfang des 21. Jahrhunderts, Diss. GH Siegen 2000, S. 257 482 Für eine umfangreiche Analyse zu EU-Türkei Beziehungen siehe Yazıcıoğlu, Ümit: Die Türkei auf dem Weg in die EU - eine historische Einordnung, in: Istanbulpost, http://www.istanbulpost.net/04/07/03/yazicioglu.htm, 26.07.2004; Yazıcıoğlu, Ümit: Die Türkei-Politik der Europäischen Union, Der Andere Verlag, Osnabrück 2004, S. 45
232
Die erzielten Ergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Integrationspolitik der
Europäischen Union nicht stringent verläuft und auch einer gewissen Doppelmoral folgt
(siehe auch 12.2). Die Türkei hat unbestreitbar einen im Vergleich zu anderen
Beitrittskandidaten ungemein langwierigen Integrationsprozess hinter sich. Die maß-
gebenden Gründe hierfür wurden in dieser Arbeit eingehend geschildert. Die Vergangenheit
hat gerade in den Kapiteln 1 - 3 gezeigt, dass das europäische Interesse bisher immer
wirtschaftlicher Art war. Der Türkei wurde indessen der Zugang zu Europa stets und
überwiegend mit der Argumentation verwehrt, dass Unzulänglichkeiten im Demokratie-
verständnis sowie Anerkennung und Wahrung der Menschenrechte bestünden. Die
Untersuchung hat auch gezeigt, dass die Türkei die Bedingungen Europas für einen Beitritt
nach den Kopenhagener Kriterien trotz vieler Fortschritte heute noch nicht erfüllt. Gleichwohl
wurde die Integration gerade auf Seiten der Europäischen Union mit dem 03.10.2005
beschleunigt, in dem mit den konkreten Beirittsverhandlungen begonnen wurde. Das lässt die
These zu, dass durch die geopolitischen Veränderungen nach dem Zusammenbruch der
UdSSR die EU einen neuen Kapitalmarkt im Nahen Osten erkennt, den es zu erobern oder
zumindest mit den USA in irgend einer Form zu teilen gilt. Mit ihren aktiven Ambitionen in
der veränderten Außenpolitik der Türkei (gerade auch in Richtung Kaukasus und
Zentralasien) wollte diese auch dem Nachdruck verleihen, dass an der Türkei niemand
vorbeikommt, der in dieser Region maßgeblichen wirtschaftlichen Einfluss haben möchte.
Geschickt pflegt die Türkei daher auch gute außenpolitische Beziehungen zu den USA. Es
kann daher durchaus behauptet werden, dass das der Grund in der neuen politischen
Einschätzung der EU im Hinblick auf die Relevanz der Türkei in diesen Machtgefügen ist,
mit ihr eine Integration durchzuführen, um sie auch an sich zu binden und den Einfluss in
Nahost, Zentralasien und dem Kaukasus zu manifestieren und nicht zu verlieren. Das würde
erklären, warum die Beitrittsverhandlungen nun doch trotz bisheriger Nichteinhaltung der
Kopenhagener Kriterien eröffnet wurden, obwohl diese nach offizieller Beschlusslage der EU
vor Beginn von Beitrittsverhandlungen erfüllt sein müssten. Die Interessen der Europäischen
Union gegenüber der Türkei, die sich durch die Vollmitgliedschaft eine Verbesserung der
eigenen Nationalökonomie verspricht, sind erkennbar: es eröffnen sich neue Felder nach den
Regeln des freien Marktes unter gleichzeitiger Stärkung des geostrategischen und
militärischen Einflussbereichs im Nahen Osten. Die Forderung rechtspolitischer Reformen
nach westlichen Maßstäben (Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und
233
dergleichen) stellen den Rahmen dar, unter welchen Bedingungen die EU ihre Gemeinschafts-
ökonomie auch in dieser Region durchzusetzen gedenkt. Verbunden wird dies mit der
nachhaltigen Forderung, dass die Türkei als potenzieller Mitgliedsstaat die makro-
ökonomischen Regeln der Gemeinschaft zu akzeptieren und die entsprechenden Verhältnisse
zu schaffen hat, damit eine Vollmitgliedschaft in Betracht kommt.
12.2 Ausblick
Die praktische Umsetzung der Reformen verläuft zwar nicht gradlinig und wird auch einige
Zeit benötigen, bis ihre Auswirkungen die türkische Gesellschaft erreichen, doch der
wirtschaftliche und politische Reformprozess wird als ein großer Schritt für eine EU-
Aufnahmefähigkeit gesehen.483 Doch trotz des Beschlusses des Europäischen Rates oder
gerade deswegen haben die Meinungsverschiedenheiten der EU-Mitgliedstaaten bezüglich
eines Türkeibeitritts nicht abgenommen. Die große Besonderheit liegt darin, dass die
vorgebrachten Einwände gar nichts oder nur geringfügig mit den eigentlichen
Beitrittskriterien – den Kopenhagener Kriterien – zu tun haben. Die Bedenken gegen einen
EU-Beitritt der Türkei sind grundsätzlicher Art und beziehen sich auf die Integrations- und
Funktionsfähigkeit der Union sowie die kulturelle Identität der EU.
Die Ängste und Vorbehalte innerhalb der EU-Öffentlichkeit angesichts eines möglichen
Beitritts der Türkei mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung und einem weit unter
dem EU-Durchschnittswert liegenden sozioökonomischen Status quo, haben die Skepsis eher
verstärkt. Pauschale Äußerungen wie beispielsweise diese, “dass ein Beitritt der Türkei einem
politischen Selbstmord der EU gleiche und es in einem solchen Falle zu einer Invasion von
muslimischen Gastarbeitern kommt, die die europäische Kultur zerstören”, sind wenig
zielführend. Sicherlich, zu einer sachlichen und konstruktiven Debatte gehören auch die
realen Probleme und Auswirkungen auf wirtschaftliche, institutionelle sowie gesellschaftliche
Bereiche, die eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU zweifellos haben wird. Kontrovers
geführte Diskussionen hierzu sind wichtig und unabdingbar. So werden auch
483 Bericht der Unabhängigen Türkei-Kommission: Die Türkei in Europa: Mehr als ein Versprechen? 2004, S. 6
234
höchstwahrscheinlich die Diskussionen und Debatten während der Beitrittsverhandlungen an
Brisanz zunehmen, da die Verhandlungen offen sind und der Ausgang zum jetzigen Zeitpunkt
nicht garantiert ist.
Eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ist die logische Konsequenz jahrelanger Anreize
und Reformen. Um diese Vollmitgliedschaft zu erreichen, sind jedoch noch einige
Anstrengungen notwendig. Dazu gehört selbstverständlich die Fort- und Weiterführung des
politischen und wirtschaftlichen Reformprozesses in der Türkei. Eine kompromisslose
Umsetzung der Kopenhagener Kriterien ist ebenso Vorraussetzung wie eine kompromiss-
bereite Haltung im Zypernkonflikt. Streitigkeiten, wie bei der jüngsten Unterzeichnung des
Zusatzabkommens zur Zollunion, wirken sich hingegen extrem negativ bei der EU-
Öffentlichkeit aus.
Idealistisch betrachtet könnte ein multiethnisches, multikulturelles und multireligiöses
Europa, welches durch die gemeinsamen Werte von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit, Wahrung der Menschenrechte und Toleranz bestimmt ist, die Botschaft signalisieren,
ein Alternativmodell zum „Kampf der Kulturen“ zu sein. Zudem würde eine türkische EU-
Mitgliedschaft den Beweis erbringen, dass sich Islam und Demokratie vereinbaren lassen.484
Die Europäische Union und ihre verschiedenen institutionellen Akteure haben in der mehrere
Jahrzehnte zurückgehenden Geschichte der Beziehungen zur Türkei einzig in ihrer
Zweigleisigkeit konsequent gehandelt: Immer wieder versicherte die EU der Türkei, dass man
an der Kooperation mit ihr sehr interessiert sei, gleichzeitig verweigerte man dem Land am
Bosporus aber regelmäßig eine verstärkte Zusammenarbeit, die über die erst in den 90er
Jahren in Kraft getretene Zollunion hinausging.
Diese Zweigleisigkeit hat mehrere Gründe. Die Voraussetzung für das von der EU erst
abgelehnte, 1999 aber doch noch angenommene Beitrittsgesuch war das Ende des Kalten
Krieges. Allerdings bedeutete das erste Jahrfünft der neunziger Jahre mehr Annäherung der
mittel- und osteuropäischen Staaten an die EU als für die Türkei. Zwischen 1997 und 1999
vollzog sich dann die entscheidende Kehrtwende innerhalb der EU. Beigetragen zu der 484 Bericht der Unabhängigen Türkei-Kommission: Die Türkei in Europa: Mehr als ein Versprechen? 2004, S. 18-19
235
Entwicklung, trotz Bedenken betreffs der Menschenrechtslage und der kulturellen
Unterschiede, die bis dahin die Begründung für ein distanziertes Verhältnis der EU zur Türkei
bildeten, ließ die Union nun eine Annährung zu, obwohl sich die Binnensituation am
Bosporus kaum geändert hatte. Das lässt darauf schließen, dass es eine Meinungsänderung
gegeben hatte in der Einschätzung der sicherheitspolitischen Rolle, die die Türkei für die EU
spielen könnte. Darauf deuten sowohl Äußerungen des deutschen Bundeskanzlers hin, in der
er Stellung nimmt zur Entscheidung des Europäischen Rates von Helsinki, die Türkei als
Beitrittskandidat zu akzeptieren: „Jeder weiß, dass die Türkei noch einen langen Weg vor sich
hat. Wer aber über die Stabilität der Region nachdenkt, der kann nicht anders.“ Mit einem
zweiten Ausspruch des Bundeskanzlers Schröder wird noch klarer, dass die sicherheits-
politischen Argumente wesentlich zumindest im Hinblick auf die deutsche Positionierung
gegenüber der Türkei sind: „Wir können nicht einerseits die strategische Bedeutung der
Türkei für Europa immer wieder hervorstreichen, ihr innerhalb der NATO große Lasten
aufbürden, sie als wichtige Regionalmacht hofieren und sie auf europäische Standards
verpflichten, wenn wir nicht andererseits auch bereit sind, ihr eine klare europäische
Perspektive zu geben, die über eine reine Zollunion hinausgeht.“ Auch die Einschätzung des
EU-Kommissars für Erweiterungsfragen, Günter Verheugen, macht deutlich, dass es nicht die
Fortschritte der Türkei waren, die die EU zu einem Einlenken bewegt haben: „Der
Kandidatenstatus für die Türkei ist keine Wohltätigkeit seitens der EU, sondern eine
politische Strategie, mit der wir unsere eigenen Interessen verfolgen.“ Verheugen macht in
einem Interview in der Tageszeitung „Die Welt“ auch eine Anmerkung zur Rolle der Türkei
im transatlantischen Beziehungsgeflecht: „Wenn wir jetzt der Regierung in Ankara keine
klare Perspektive geben, ist die Türkei für den Westen verloren.“
Einiges deutet also darauf hin, dass gerade die deutsche rot-grüne Regierung der
vergangenen Legislaturperiode einen wesentlichen Teil dazu beigetragen hat, das EU-
Verhältnis gegenüber der Türkei neu zu justieren. Der letzte Außenminister unter der Kohl-
Regierung, Dr. Klaus Kinkel, schätzte die Türkei noch 1997 aufgrund der Menschenrechts-
situation, der Kurdenproblematik, der ungelösten Probleme mit Griechenland und bezüglich
Zyperns sowie aufgrund der labilen ökonomischen Lage als nicht beitrittsfähig ein. Dass die
deutsche Regierung eine besondere Rolle in der EU spielt, wenn es um die Türkei geht und
dass dies nach dem Regierungswechsel 1998 noch deutlicher wurde, darauf deutet auch der
Brief des türkischen Ex-Ministerpräsidenten Bülent Ecevit hin, der seinen Wunsch nach
236
stärkerer Zusammenarbeit im Sommer 1999 nicht etwa an den Europäischen Rat, sondern
an den deutschen Bundeskanzler richtete. Die türkischen Akteure rechnen damit
offensichtlich innerhalb der EU am ehesten mit deutscher Unterstützung in ihrem Drängen
nach Westorientierung. Allzu große Erwartungen an deutscher Unterstützung dürfen
gleichfalls mit den deutschen Bundestagswahlen vom 18.09.2005 nicht geknüpft werden.
Mit dem vermeintlichen Wahlsieg der CDU-Vorsitzenden Dr. Angela Merkel ist eine
vorbehaltlose Türkeiintegration nicht verbunden, sondern allenfalls zunächst eine
qualifizierte Partnerschaft. Dies entspricht nicht den Vorstellungen der jahrzehntelangen
türkischen Politik. Das Ziel fast aller politischen Kräfte in der Türkei selbst ist der Beitritt
zur Europäischen Union.
237
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65. SCHLÖTZER, Christiane: „Türkei-Debatte beherrscht Gipfeltreffen in Kopenhagen - Staats- und Regierungschefs ringen um Kompromiss“; in: SZ vom 13.12.2002
66. SCHLÖTZER, Christiane: „Krieg und Frieden - Für die Türkei geht es nach dem EU-Gipfel um die Festlegung ihres Kurses in Sachen Irak und Zypern“; in: SZ vom 16.12.2002, S. 2
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72. SIEMONS, Mark: „Kultur als Kampfbegriff“; in: FAZ vom 07.12.2002
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03.01.2000, S. 114
Als »Grenzland« bildet die Türkei die Trennlinie zwischen Orient undOkzident und kann sowohl ein Teil Europas sein, als auch ein Balkan-,Schwarzmeer-, Kaukasus- oder Nahostland. Somit steht sie zwischenden westlichen und östlichen Kulturen, aber auch inmitten der unter-schiedlichen Religionen.
Der eventuelle Beitritt der Türkei in die Europäische Union ist in derdeutschen Öffentlichkeit, aber auch in anderen europäischen Ländern,sehr umstritten. Während die einen meinen, ein EU-Mitglied Türkeiwäre eine zu große ökonomische, soziale oder kulturelle Belastung,sehen die anderen darin eine sicherheitspolitische Chance oder – auflange Sicht – ökonomische Vorteile. Sicher ist, dass die Türkei zum Zeit-punkt ihres Beitritts zu den größten Mitgliedsländern der EU gehörenund daher die EU-Politik maßgeblich mitgestalten würde. Allein schondeshalb zählt der Beitritt der Türkei zu den europapolitisch wichtigstenFragen, neben der Osterweiterung im Mai 2004. Darüber hinaus wäre dieTürkei das einzige Land in der EU, das geografisch nur zu einem kleinenTeil in Europa liegt und dessen Bevölkerung überwiegend muslimischenGlaubens ist. Angesichts des türkischen Willens, der EU beizutreten,sehen sich die europäischen Länder daher gezwungen zu definieren, auf
welchen Wertvorstellungen die Europäi-sche Union basiert. Der BeitrittskandidatTürkei wird darüber hinaus wohl bald zueinem innenpolitischen Thema in Deutsch-land. Die europäisch-türkischen Beziehun-gen werden somit erneut ganz oben auf derpolitischen Agenda stehen.
Ümit Yazicioglu
Erwartungen und Probleme hinsichtlichder Integrationsfrage der Türkei
in die Europäische Union
br., 501 S.ISBN 3-86504-129-9
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Juristische Reihe TENEA/ Bd. 101
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Als »Grenzland« bildet die Türkei die Trennlinie zwischen Orient und Okzi-dent und kann sowohl ein Teil Europas sein, als auch ein Balkan-, Schwarz-meer-, Kaukasus- oder Nahostland. Somit steht sie zwischen den westlichenund östlichen Kulturen, aber auch inmitten der unterschiedlichen Religio-nen.
Der eventuelle Beitritt der Türkei in die Europäische Union ist in derdeutschen Öffentlichkeit, aber auch in anderen europäischen Ländern, sehrumstritten. Während die einen meinen, ein EU-Mitglied Türkei wäre eine zugroße ökonomische, soziale oder kulturelle Belastung, sehen die anderendarin eine sicherheitspolitische Chance oder – auf lange Sicht – ökonomischeVorteile. Sicher ist, dass die Türkei zum Zeitpunkt ihres Beitritts zu den größ-ten Mitgliedsländern der EU gehören und daher die EU-Politik maßgeblichmitgestalten würde. Allein schon deshalb zählt der Beitritt der Türkei zu deneuropapolitisch wichtigsten Fragen, neben der Osterweiterung im Mai 2004.Darüber hinaus wäre die Türkei das einzige Land in der EU, das geografischnur zu einem kleinen Teil in Europa liegt und dessen Bevölkerung überwie-gend muslimischen Glaubens ist. Angesichts des türkischen Willens, der EUbeizutreten, sehen sich die europäischen Länder daher gezwungen zu defi-nieren, auf welchen Wertvorstellungen die Europäische Union basiert. DerBeitrittskandidat Türkei wird darüber hinaus wohl bald zu einem innenpo-litischen Thema in Deutschland. Die europäisch-türkischen Beziehungenwerden somit erneut ganz oben auf der politischen Agenda stehen.
Priv. Doz. Dr. rer. publ. Dr. rer. pol. Ümit Yazicioglu,Mag. rer. publ. (Speyer), iur., geb. 1958, ist Rechts-, Ver-waltungs- und Politikwissenschaftler. Er lehrt seit 2002 amOtto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Von 1996bis 1997 war er Mitglied des Senats der Deutschen Hoch-schule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Der Autorhat sich mit Fragen über »die künftige Rolle der Türkei inder Europäischen Union: Erwartungen, Konflikte und Ter-rorismus« befasst. Er ist in diesen Gebieten ein hervorra-gender Experte. Seine Forschungsschwerpunkte sindÖffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Menschen-rechte, Internationale Beziehungen, Terrorismus, Funda-mentalismus und Migrationsforschung.
Juristische Reihe TENEA/ Bd.101
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Spätestens mit dem 03.10.2005 und damit dem Beginn der Beitritts-verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei,ist der bereits seit 1959 verfolgte Integrationsprozess der Türkei wie-der einer breiteren Öffentlichkeit bewusst geworden. Gerade die seit2001 vorgenommenen türkischen Rechtsänderungen in Verfassungund sonstiger Rechtsetzung gaben der EU Anlass dafür, den seit 1999offiziell anerkannten Beitrittskandidatenstatus der Türkischen Repu-blik nicht nur zu bekräftigen, sondern mit ihr den Weg zur Vollmit-gliedschaft zu vollziehen.
Dem stehen hingegen durchaus kräftige rechtliche, politische undökonomische Argumente entgegen mit der Folge, dass die Beitritts-fähigkeit der Türkei in der rechtspolitischen Diskussion nach wie vorsehr umstritten ist. Vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischenund ökonomischen Veränderungen in der nahöstlichen Region wer-den in dieser Arbeit daher die europäisch-türkischen Beziehungen indiesem Kontext europarechtlich untersucht. Dabei achtet der Autornicht nur auf eine rechtliche Bewertung des Integrationsprozesses,sondern auch auf die bilateralen Interessenlagen unter Berücksichti-gung der Geopolitik im Sinne der »Osterweiterung« der EU.
UmschlagJuraweltRockinger 02.03.2006 12:57 Uhr Seite 1