Prof. Dr. Thomas Heidenreich thheiden@hs-esslingen · Achtsamkeit ist bedeutsames Prinzip in...

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Achtsamkeit

in der Psychotherapie

Prof. Dr. Thomas Heidenreich thheiden@hs-esslingen.de

Tagung „Achtsamkeit“ Salus-Klinik Friedrichsdorf 27.09. 2012

Übersicht

Was ist Achtsamkeit?

Anwendungsbereiche von Achtsamkeit in der Psychotherapie

Wirksamkeit und Wirkmechanismen

Ausblick

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Was bedeutet Achtsamkeit („Mindfulness“)?

„Achtsamkeit meint seine Aufmerksamkeit in einer bestimmten Weise auszurichten: absichtsvoll, im gegenwärtigen Augenblick und nicht wertend.“ (nach Jon Kabat-Zinn, 1994)

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Achtsamkeit („Mindfulness“)

Kabat-Zinn, 1990: "present moment, on purpose and nonjudgemental" auf den aktuellen Moment bezogen (vs. "Autopilot") absichtsvoll (vs. "Selbstvergessenheit") nicht-wertend (keine Kategorisierung der

Wahrnehmung)

Verwurzelt in östlichen Meditationstraditionen (insb. buddhistisch), aber auch in westlichen Traditionen auffindbar

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Achtsamkeit als allgemeinmenschliche Fähigkeit („Trait“)

Seit den 50iger Jahren wurde Meditation auch immer wieder im Bereich der Psychotherapie erprobt (z. B. Erich Fromm: Psa und Zen-Buddhismus)

Durch Arbeiten von Jon Kabat-Zinn und Marsha Linehan in den letzten Jahren immer weitere Verbreitung

Historische Entwicklung

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Achtsamkeit I: Buddhistische Wurzeln

„Wenn er geht, muss der Übende sich bewusst sein, dass er geht. Wenn er sitzt, muss der Übende sich bewusst sein, dass er sitzt. Wenn er sich hinlegt, […]. Wenn er so übt, lebt der Übende in der unmittelbaren und fortwährend auf den Körper gerichteten Achtsamkeit.“

Sutra über die vier Grundlagen der Achtsamkeit

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Achtsamkeit II: Christliche Wurzeln „Betrachtung der Zeit“

„Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen, Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen, Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht, So ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht.“

Andreas Gryphius (1616 - 1664)

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Achtsamkeit III: Philosophische Wurzeln „Bedenke oft die Schnelligkeit des

Vorüberzugs und Entschwindens des Seienden und Geschehenden und das Dir nahe unendliche Gähnen der Vergangenheit und der Zukunft, in dem alles verschwindet.“

Mark Aurel (121 – 180)

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Psychoanalyse/Tiefenpsychologie:

„gleichschwebende Aufmerksamkeit“ – achtsame Haltung

„kritiklose Selbstbeobachtung“ – nicht-wertende Haltung

Gesprächspsychotherapie/Humanistische Therapie:

„unbedingte positive Wertschätzung“, „empathisches Verstehen“, „Kongruenz“

„Präsenz“ und „Focusing“

Achtsamkeit und therapeutische Traditionen I

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Kognitive Verhaltenstherapie

systematische Selbstbeobachtung; umfassende Wahnehmung

Dialektisch-behaviorale Therapie: Linehan (1993; Borderline-PS)

Acceptance and Commitment Therapy: Hayes, Strosahl & Wilson, 1999)

Weitere therapeutische Traditionen Gestalttherapie Hakomi …

Achtsamkeit und therapeutische Traditionen II

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„Ich möchte Achtsamkeit als eine Grundhaltung definieren, die jeder Form von Psychotherapie zugute käme und als eine Weise, wie man an psychische Prozesse heran gehen kann.“

Luise Reddemann auf einem Vortrag an

der Uni Witten Herdecke im April 2006

Achtsamkeit als Grundhaltung

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Achtsamkeit in der Psychotherapie: Fokus der Intervention 1. PatientIn übt unter Anleitung Achtsamkeit 2. TherapeutIn übt Achtsamkeit

1. Auswirkung auf Wohlbefinden etc. (Self-Care) 2. Auswirkung auf Therapieeffekt (Studie von

Grepmaier und Nickel, 2007) 3. Achtsamkeit in der therapeutischen Beziehung

(z. B. Jeremy Safren)

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PatientIn übt unter Anleitung Achtsamkeit Vgl. ausführliche Darstellung im weiteren

Verlauf Intensität unterscheidet sich deutlich Bis zu ca. 45 Minuten täglich (z. B.

MBSR/MBCT) Einzelne Übungen von wenigen Minuten (z.

B. DBT)

Achtsamkeit in der Selbstfürsorge von PsychotherapeutInnen

Hochschule Esslingen

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Selbstfürsorge

nach L. Reddmann: „Ich verstehe darunter einen liebevollen, wertschätzenden, achtsamen und mitfühlenden Umgang mit mir selbst und das Ernstnehmen meiner Bedürfnisse“. (Reddmann, 2005, S. 565)

nach F. Potreck-Rose: „aktives Handeln, das mit der

Selbstverpflichtung einhergeht, die Verantwortung für die eigene Person und das eigene Wohlergehen zu übernehmen…ein Prozess positiver Selbstzuwendung“. (Potreck-Rose, 2006)

Achtsamkeit für Psychotherapeuten und Berater

Einführung in Achtsamkeit

Spezifische Übungen und Inhalte für therapeutischen Alltag

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TherapeutIn übt Achtsamkeit: Auswirkungen auf Therapieeffekte Studie von Grepmair und Nickel (2007) Ausbildungsteilnehmer per Zufall auf 2 Gruppen

verteilt Tägliche Übung von Achtsamkeit (ca 1 h) unter

Anleitung Reguläre Behandlung

Ergebnis: Patienten, die von Therapeuten behandelt wurden, die regelmäßig Achtsamkeit üben profitieren stärker von Therapie

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Gespräche mit Menschen (ob in Therapie, Beratung oder Pflege) setzen komplexe Wahrnehmungsprozesse voraus Verhaltensweisen des Gegenübers Eigene (körperliche) Reaktion

Jeremy Safren: „Alliance Ruptures“, d.h. achtsame Wahrnehmung von Störungen in der therapeutischen Beziehung

Wichtige Variable: Präsenz, d.h. im gegenwärtigen Augenblick der Begegnung zu bleiben

Achtsamkeit in der therapeutischen Beziehung

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Einzelne Achtsamkeitsübungen

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Die formellen

Übungen

Achtsame Körperwahrnehmung (Body-Scan)

Achtsames Yoga

Achtsames Sitzen

Achtsames Gehen

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Rosinenübung

Als Einstieg in der ersten Sitzung Rosine wird langsam gegessen, Fokus auf

Aussehen, Tasten, Geruch, Geschmack Herausarbeiten des Gegensatzes

„automatischen“ und bewußten Essens Aufforderung, im Alltag zumindest eine

Mahlzeit achtsam zu essen

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Body Scan

In der Regel auf dem Rücken liegend, warmer und ruhiger Ort

Aufmerksamkeit wird durch den Körper gelenkt (von linkem Fuß bis Schädeldecke)

Keine Entspannungsinstrution! Bei Auftreten unangenehmer

Emfindungen: diese achtsam wahrnehmen

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Sitz/Atemmeditation

Aufmerksamkeit wird auf den Atem gerichtet

Bei Erleben anderer Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Geräusche: wahrnehmen und Aufmerksamkeit wieder zurück zur Atmung lenken

„choiceless awareness“: wahrnehmen, was ins Bewußtsein dringt

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„Atempause“

Aufrechte Haltung einnehmen und Dinge wahrnehmen, die aktuell vorhanden sind (Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen)

Sammeln: Aufmerksamkeit auf den Atem lenken Ausdehnen: Aufmerksamkeit vom Atem

ausgehend auf den Körper und Wahrnehmungen ausdehnen

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Die informellen Übungen

Achtsame Verrichtung von Alltagstätigkeiten:

Achtsames Essen Achtsames Spülen Achtsames Duschen Achtsame Morgentoilette Achtsames Putzen

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Achtsamkeitsbasierte Ansätze Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR): Kabat-

Zinn (2001) unterschiedliche Anwendungsbereiche: z.B. bei

Ängsten, Schmerzen, Hauterkrankungen

Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT): Segal, Williams & Teasdale (2002) Rückfallprophylaxe bei Depression

Mindfulness-Based Relapse Prevention (MBRP) bei Abhängigkeit (Marlatt) -> Workshop Nachmittag

Ansätze mit Achtsamkeits-Elementen: DBT, ACT

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Mindfulness-based stress reduction (MBSR)

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Mindfulness-Based Stress Reduction - Stressbewältigung durch Achtsamkeit - Das MBSR-Programm wurde 1979 von Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn et al entwickelt. Im gleichen Jahr Gründung der Stress- Reduction-Clinic der Universität Massachusetts. Die Methode wird heute weltweit an Kliniken und verschiedenen Institutionen sowie ambulant erfolgreich angeboten. Seit Anfang der neunziger Jahre in Deutschland.

MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction

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Das Programm ist stark strukturiert und hat sich grundsätzlich seit 1979 kaum verändert: 8 Sitzungen à 2-3 Stunden Achtsamkeitstag zur Vertiefung Heterogene Gruppen Individuelles Vorgespräch oder Orientierungsveranstaltung und evtl. Nachgespräch (90% der Interessenten nehmen teil, 85% beenden den Kurs (z.B. Kabat-Zinn & Chapman-Waldrop, 1988)

MBSR

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Jede Sitzung beginnt mit einer gemeinsamen Achtsamkeitsübung von ca. 30 – 40 Minuten. Jede Sitzung gibt Raum für Austausch über die Erfahrungen während der Übung sowie mit der Praxis der Achtsamkeit im Alltag. Jede Sitzung hat ein Schwerpunktthema mit bestimmten Übungen.

MBSR - Überblick

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Schwerpunktthemen sind: Stress und Stressreaktion Stressbewältigung Achtsamer Umgang mit Emotionen Achtsame Kommunikation Achtsame Selbstsorge

MBSR - Überblick

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Achtsamkeit bei Depression:

Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT)

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Mindfulness-Based Cognitive Therapy (Segal et al., 2002) Störungsspezifischer Ansatz zur

Rückfallprophylaxe bei rezidivierenden depressiven Störungen

Starke kognitiv-theoretische Fundierung

Kombiniert MBSR-Prinzipien sensu Kabat-Zinn mit kognitiven Therapieprinzipien

8 wöchentliche Sitzungen à 2 Stunden

max. 12 Patienten pro Gruppe

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Zindal Segal University of Toronto

Mark Williams University of Oxford

John Teasdale University of Cambridge

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Inhalte der einzelnen Sitzungen

Sitzung 1: „Autopilot“

Sitzung 2: „Barrieren“

Sitzung 3: „Achtsamkeit auf den Atem“

Sitzung 4: „Hier und Jetzt“

Sitzung 5: „auch schmerzhafte Dinge zulassen“

Sitzung 6: „Gedanken sind keine Tatsachen“

Sitzung 7: „Selbstfürsorge“

Sitzung 8: „Abschluss“

Forschung zu Achtsamkeit in der Psychotherapie

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Stand der Forschung In den letzten Jahren und Jahrzehnten

erschienen eine große Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten zu Achtsamkeit

Bedeutsame Bereiche Wirksamkeit v.a. im klinischen Bereich Wirkmechanismen Psychometrische Erfassung (kontrovers!) Neurobiologische Grundlagen

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Forschungsmethodik Prüfung von Wirksamkeit,

Wirkmechanismen und neurobiologischen Grundlagen setzt ein hohes Maß an Transparenz der Intervention voraus Manualisierung Adhärenz (machen Anleiter das, was

vorgesehen ist bzw. tun sie Dinge nicht, die nicht Bestandteil sind

Kompetenz (wie gut werden Interventionen durchgeführt?)

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Konsequenzen der Forschungsmethodik Experimentelle Studien v.a. mittels

standardierter Programme wie MBSR, MBCT, MBRP

Informeller Einsatz in multipmodalen Therapien ist schwer prüfbar

Studien an langjährig Meditierenden weisen naturgemäß niedrige interne Validität auf (Nachweis, dass Unterschiede durch Achtsamkeitsübungen zustandekommen ist nicht zu führen)

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Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Interventionen

2011 erschienen einige Metaanalysen in renommierten Journals (Journal of Consulting and Clinical Psychology, Clinical Psychology Reviews)

Methodische Qualität der Studien ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen

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Review Keng, Smoski, & Robins, 2011, Clinical Psychology Review

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„We conclude that mindfulness brings about various positive psychological effects, including increased subjective well-being, reduced psychological symptoms and emotional reactivity, and improved behavioral regulation.”

Reviews im Journal of Consulting and Clinical Psychology

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Review Coelho, Canter & Ernst, 2007, JCCP „The current evidence from the randomized trials suggests that, for

patients with 3 or more previous depressive episodes, MBCT has an additive benefit to usual care. However, because of the nature of the control groups, these findings cannot be attributed to MBCT-specific effects.“

Review Hofmann et al., 2010, JCCP “MBT in patients with anxiety disorders and depression was

associated with large effect sizes (Hedges’ g) of 0.97 (95% CI: 0.72-1.22) and 0.95 (95% CI: 0.71-1.18) for improving anxiety and depression, respectively.”

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Wirkmechanismen von Achtsamkeit

am Beispiel von MBCT bei rezidivierender depressiver

Störung

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Veränderung der kognitiven Reaktivität

Modell der Veränderung von Rückfallgefährdung durch Änderung kognitiver Reaktivität (Segal et al., 2002)

Veränderung durch

Therapie ?

EPISODE negatives Denken

REMISSION weniger

neg. Denken

GEDRÜCKTE STIMMUNG

Reaktivierung negativer Gedanken

Assoziation: negative

Informations-verarbeitung –

depressive Stimmung

Geringfügige Alltagsbelastungen

Dep. Episode

Wirkmechanismen von MBCT (Kuyken et al., 2010; Hargus et al., 2010; Jain et al., 2007; Keng et al., 2011; Williams et al., 2002, Segal et al., 2006, 2010)

Reduktion von Rumination Erhöhung der Self-Compassion Entkoppelung von kognitiver Reaktivität

und Rückfallgefahr Entspannung Reduktion des übergenerellen

autobiografischen Gedächtnisses Zunahme der „Metacognitve Awareness“

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Zusammenfassung der Mechanismen

Klare Hinweise, dass MBCT erwünschte Einflüsse auf differentielle Aktivierung, Rumination, Metacognitive Awareness und autobiografischen Gedächtnisabruf hat

Mehr Studien notwendig, die Veränderung von Achtsamkeit (durch MBCT) in Bezug zu Therapieerfolg setzen

Komponenten und Befunde (Hölzel, et al., 2011)

Zusammenfassung und Ausblick

Achtsamkeit ist bedeutsames Prinzip in psychotherapeutischen Behandlungen

Wirksamkeit mittlerweile gut belegt Wirkmechanismen werden intensiv

untersucht ABER: Achtsamkeit ist weder

„Wundermittel“ noch „Allheilmittel“

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

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