Post on 29-Jun-2022
Ines Rayen Paloma Peinhaupt
Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen
Diktaturen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Master of Arts
der Studienrichtung Global Studies
an der Karl-Franzens-Universität Graz
Betreuerin: O. Univ.-Prof. Dr. phil. Renate Pieper
Institut: Geschichte
Leoben, Dezember 2018
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Inhalt Tabellenverzeichnis .................................................................................................................... 3
Abkürzungen .............................................................................................................................. 4
Einleitung ................................................................................................................................... 5
Kapitel 1: Theoretische Grundlagen......................................................................................... 13
Wohlfahrtsstaatliche Idealtypen: Das System ...................................................................... 14
Was bedeutet Sozialgesetzgebung? ...................................................................................... 17
Teile der Sozialgesetzgebung 20. Jahrhundert: Die Rechtsordnungen ................................ 19
Sozialgesetzgebung europäischen Stils im 20. Jahrhundert ................................................. 27
Kapitel 2: Analyse der Gesetze ................................................................................................ 28
Arbeitslosengeld VS Beschäftigungspolitik ......................................................................... 28
Unfallversicherung und Invaliditätspension ......................................................................... 36
Pensions- und Krankenversicherung .................................................................................... 40
Streik- und Gewerkschaftsrecht ............................................................................................ 49
Öffentliche Primär- und Sekundärbildung............................................................................ 54
Mutterschutz ......................................................................................................................... 61
Familienbeihilfe (finanziell) ................................................................................................. 66
Wohnbau und Wohnbeihilfe ................................................................................................. 71
Kapitel 3: Conclusio ................................................................................................................. 78
Bibliographie ............................................................................................................................ 89
Anhang ..................................................................................................................................... 95
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Wohlfahrtstypen ...................................................................................................... 14
Tabelle 2: Ratifizierungsjahr des Internationaler Pakt es über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte ...................................................................................................................... 20
Tabelle 3: Verankerung sozialer Rechte in Verfassung ........................................................... 20
Tabelle 4: Eingeführte Sozialgesetze je Staat .......................................................................... 22
Tabelle 5: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitslose .................................................... 35
Tabelle 6: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitsunfälle und Invaliditätspension......... 40
Tabelle 7: Pensions- und Gesundheitssysteme 1940er – 1970er ............................................. 43
Tabelle 8: Reform der Pensions- und Gesundheitssysteme ..................................................... 46
Tabelle 9: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Streik- und Gewerkschaftsrecht ................... 54
Tabelle 10: Bildungsindikatoren .............................................................................................. 56
Tabelle 11: Staatsausgaben für Bildung als % des BIP ........................................................... 58
Tabelle 12: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bildungspolitik ........................................... 60
Tabelle 13: Karenzregelungen.................................................................................................. 62
Tabelle 14: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Mutterschutz ............................................... 65
Tabelle 15: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Familienbeihilfe ......................................... 70
Tabelle 16: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Wohnbau .................................................... 77
Tabelle 17: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sozialgesetzgebung, Politik und
Wirtschaft ................................................................................................................................. 79
Tabelle 18: Lateinamerikanische Präsidenten und Militärregierungen im 20. Jahrhundert..... 95
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Abkürzungen
AFJP Administradoras de Fondos de Jubilaciones y Pensiones (Pensionsfondverwalter)
AFP Administradora de Fondos de Pensiones (Pensionsfondverwalter)
AG Arbeitgeber
AN Arbeitnehmer
AUV Arbeitsunfälle-Versicherung
CORVI Körperschaft für Wohnbau
ESFBH Einheitliches System für Familienbeihilfe
FBHF Familienbeihilfe
FONASA Fondo Nacional de Salud (nationaler Gesundheitsfond = staatlicher Sektor)
FONAVI Nationaler Wohnbaufond
ILO International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation)
ISAPRE Institucion de Salud Previsional – private Krankenversicherungsanbieter
ISI Importsubstituierende Industrialisierung
IWF Internationaler Währungsfond
KV Krankenversicherung
ML Monatslohn
PEM Programa de Empleo Minimo (Mindestbeschäftigungsprogramm)
POJH Programa de Ocupación para Jefes de Hogar (Beschäftigungsprogramm für
Haushaltsvorstände)
PV Pensionsversicherung
SERMENA Servicio Médico Nacional de Empleados (nationaler Gesundheitsdienst der
Angestellten)
SNS Sistema Nacional de Salud (nationales Gesundheitssystem)
SNSS Sistema Nacional de Servicios de Salud (nationales System der Gesundheitsleistungen)
SV Sozialversicherung
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Einleitung
Dass Staaten ihren Bürgern irgendeine Form des sozialen Schutzes gewähren (z.B. durch
Kodifizierung des Arbeitsrechts), war eine Reaktion auf die Ausbreitung des freien Marktes
und der damit einhergehenden Urbanisierung und Industrialisierung. Diese waren in Europa
verantwortlich für den Verfall von vorkapitalistischen Sicherungssystemen und sozialer Netze,
wie etwa den Versorgungsheimen der Kirchen oder Unterstützungen innerhalb bestimmter
Berufsgruppen. Wer aus unterschiedlichen Gründen nicht im Stande war seine Arbeitskraft
anzubieten, konnte keine Hilfe von staatlicher Seite erwarten. Einige Politiker erkannten
jedoch die Kombination von Ausbeutung, Verelendung großer Bevölkerungsteile und des
Aufkommens marxistischer Lehren als systemgefährdend, was sie dazu bewegte, die ersten
Sozialversicherungen einzuführen, um mögliche Unruhen zu verhindern. Die
„Industriestaaten“ des späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts - allen voran Deutschland unter
Bismarck - versuchten die neuen Arbeiterschichten in die Gesellschaft einzubinden, ohne dass
der Staat dabei an Autorität oder hierarchischer Struktur verlor, und sie schufen so die erste
Sozialgesetzgebung, um auf die soziale Unsicherheit und wachsende Unzufriedenheit der
Unterschichten zu reagieren. Zu den ersten Policies gehörten vor allem Kranken-, Pensions-,
Unfall- und Arbeitslosenversicherungen (Esping-Andersen 1990: 21 & 40f; Garland 2016:
18ff). Die meisten europäischen Staaten und manche europäisch geprägten Staaten (v.a. in
Südamerika) hatten bis 1950 bereits eine weitreichende Zahl an sozialpolitischen Gesetzen
eingeführt, selbst wenn sie vom heutigen Standpunkt aus nur einen minimalen Schutz
gewährten. Die Vollendung der Wohlfahrtsstaaten erfuhren die meisten Länder zwischen den
1960er und 1970er Jahren. Ab den 1980ern kamen jedoch ernsthafte Zweifel an der
Finanzierbarkeit der Systeme und erste Reformvorhaben auf. Herauszustreichen ist, dass diese
jungen Wohlfahrtsstaaten meist nicht in Demokratien entstanden, wobei der öffentliche Druck
durch die Arbeiter natürlich eine wichtige Rolle spielte.
Sozialpolitik ist auch heute ein höchst umstrittenes Politikfeld, schon allein, weil es auf
irgendeine Weise fast alle Mitglieder der Gesellschaft betrifft, entweder durch
Transferleistungen oder durch Steuern, über welche sie finanziert werden. Unabhängig davon,
in welcher Form heute zu Wohlfahrtsstaaten und Sozialpolitik geforscht wird (z.B.
Policyanalyse, Institutionen, vergleichende Methode, etc.), gehen fast alle Autoren wie
Garland (2016) oder Jensen (et al. 2017: 161) auf die Variable des politischen Systems gar
nicht ein oder nehmen implizit an, dass Sozialpolitik ein Phänomen demokratischer Systeme
sei. Das merkt man vor allem daran, dass es kaum vergleichende Studien gibt, die Fälle aus
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autoritären Systemen inkludieren. Für Petring et al. (2012: 12ff) ist die Trennung von
Sozialpolitik und Demokratie gar unmöglich. Das beruht nicht zuletzt auf dem Schluss, dass
Wohlfahrtsstaaten auf den zentralen demokratischen Werten der westlichen Welt basieren:
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (Takada 2001: 69). Es scheint jedoch bei Betrachtung
zahlreicher historischer Fälle ein klarer Fehlschluss zu sein, dass autoritäre Systeme niemals
Sozialsysteme für die Bevölkerung aufbauen und Demokratien dies immer effektiv tun.
Beispielsweise wurde im Dritten Reich bewusst Sozialpolitik betrieben, auch wenn diese im
Zeichen der Rassenpolitik stand und gleichzeitig vom Ausschluss ganzer
Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet war (Ostheim und Schmidt 2007: 150). Bestätigt wird
diese Sicht auch von einer Studie Abu Sharkhs und Goughs (2010: 45), die zwischen
Wohlfahrtsstaatlichkeit und Demokratie in Entwicklungsländern um 2000 keine Korrelation
entdecken können. Auch bezüglich der Höhe der Sozialausgaben fanden Mulligan et al. (2004:
59) keine signifikanten Unterschiede zwischen Diktaturen und Demokratien, selbst wenn die
Verteilung der Gelder variierte. Bisher hat sich die Literatur zu Sozialpolitik in autoritären
Systemen vor allem mit Einzelfallstudien über bestimmte Policygebiete (z.B.
Krankenversicherung) beschäftigt oder mit der Frage „warum“ es in autoritären Systemen zu
Sozialpolitik kommt. Die meisten Autoren wie Gandhi und Przeworski (2006: 12f) oder
Gallagher und Hanson (2009: 668) nehmen an, dass Sozialpolitik in Diktaturen als
Schutzmechanismus dient, um potentielle politische Gegner zu besänftigen. Generell weist
Olsen (1993: 567) darauf hin, dass kein politisches System – auch kein autoritäres – ohne
sozialen Frieden auskommt und an zu starken Protesten scheitern kann. Darauf weist auch die
bereits angesprochene Entstehung der Wohlfahrtsstaaten in Europa Ende des 19. Jahrhunderts
im deutschen Kaiserreich und der Habsburg-Monarchie hin. Duckett und Wang (2017: 95)
nehmen andererseits an, dass Sozialgesetze durchgesetzt werden, wenn Akteure die
Regierung davon überzeugen können, dass diese das nationale Wirtschaftswachstum fördern
würden.
Wegen der oft unterschätzten und wenig beachteten Forschung zu Sozialpolitik unter
autoritären Regierungen soll diese Arbeit einen Beitrag auf diesem Gebiet leisten. Betrachtet
man Politik als System, so gibt es von der Umwelt Anstöße, die im System verarbeitet werden
und nach dem Entscheidungsfindungsprozess als Gesetze wieder an die Umwelt abgegeben
werden (Eaton 1965: 32). Der Entscheidungsfindungsprozess in demokratischen und
autoritären Systemen ist unterschiedlich aufgebaut, daher soll eine qualitative
Zeitreihenanalyse ausgewählter Sozialgesetze Aufschlüsse über mögliche Unterschiede
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zwischen den Systemen geben. Die gegenständliche Untersuchung beschäftigt sich deshalb
mit der Fragestellung:
„Welchen Einfluss hatte das politische System auf die Sozialgesetzgebung?“
Noch ist diese Frage allgemein gehalten, doch sie wird in Kürze noch präzisiert. Um sich
dieser Frage zu nähern, wurden aufgrund der bestehenden Literatur und ihrer Diskrepanzen
mit den erwähnten geschichtlichen Beispielen in Folge drei Grundannahmen für die
vorliegende Arbeit getroffen. Demokratie ist keine notwendige Variable für die Schaffung
von Sozialgesetzen (H1). Dennoch stellt ein politischer Umsturz einen klaren Bruch mit dem
vorhergehenden politischen System dar. Wären alle Gesellschaftsgruppen mit der
vorherrschenden Sozialpolitik einverstanden, käme es nie zum Putsch. Daher wird
angenommen, dass das politische System die Sozialgesetzgebung beeinflusst (H2).
Nichtsdestotrotz überwiegen in der Literatur negative Einschätzungen gegenüber der
Sozialpolitik von Diktaturen. Das hängt wohl auch mit der Annahme zusammen, dass die
Einschränkung von Bürgerrechten implizit auch zu einer Einschränkung sozialer Rechte führt,
wenn man beispielsweise nicht mehr gegen Maßnahmen protestieren kann. Daher lautet die
letzte Annahme, dass autoritäre Regime einen negativen Einfluss auf den Wohlfahrtsstaat
haben (H3).
Es gibt viele Beispiele anhand derer man den Einfluss des politischen Systems auf die
Sozialgesetzgebung erörtern könnte. Um langfristige Trends zu analysieren, ist es wichtig
Fälle zu wählen, die genügend Zeit hatten ihre Sozialpolitik zu entwickeln. So läge es aus
geschichtlichen Gründen, nahe Fälle aus Europa zu wählen, da der Kontinent am Ende des 19.
Jahrhunderts der Geburtsort der Wohlfahrtsstaaten war. Außerdem haben einige Länder wie
Deutschland oder Spanien den Wandel zwischen Demokratie und Diktatur durchgemacht.
Allerdings ist es schwerer diese Staaten wegen ihrer ausgeprägten kulturellen, wirtschafts-
politischen und geschichtlichen Eigenheiten zu vergleichen, was Esping-Andersen (1990)
auch zur Erarbeitung seiner drei Wohlfahrtsstaat-Typen angeregt hat. Zudem bieten die
europäischen Nationen nur einen kürzeren Untersuchungszeitraum, da der Wechsel zwischen
den politischen Systemen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah. Daher
werden in dieser Arbeit zwei Fallbeispiele aus Lateinamerika analysiert. Argentinien und
Chile wurden gewählt, da sie sowohl kulturelle als auch geschichtliche Parallelen aufwiesen.
So entwickelten beide Andenstaaten während des 19. Jahrhunderts die Institutionen moderner
Nationalstaaten, die für die Durchsetzung von Gesetzen unabdingbar sind. Gleichzeitig mit
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der Ausweitung demokratischer Rechte im frühen 20. Jahrhundert, begann in beiden Staaten
der Aufbau eines umfassenden Sozialsystems. Die historischen Bindungen zu Europa und die
starken Migrationsströme vom alten Kontinent halfen zudem bei der Verbreitung
sozialstaatlicher Ideen. Trotz demokratischer Wahlen waren die Regierungen von Argentinien
und Chile bis in die 1920 noch stark von den Interessen der alten Oligarchie beeinflusst, was
zum Teil auch am limitierenden Wahlrecht lag, das besonders ärmere und ungebildete
Gesellschaftsschichten ausschloss (z.B. Analphabeten und Frauen). Erst nach und nach
wurden breitere Bevölkerungsschichten an der Politikgestaltung beteiligt, wenn auch auf eine
paternalistische Art und Weise. Vor der Weltwirtschaftskrise von 1929/30 betrieben beide
Staaten eine vom laissez-faire Liberalismus geprägte, exportorientierte Wirtschaftspolitik.
Durch die Krise war diese Wirtschaftsdoktrin jedoch stark in Verruf geraten. Natürlich waren
die geschichtlichen Erfahrungen in beiden Ländern nicht gänzlich identisch, was sich im
Aufbau der staatlichen Institutionen wiederspiegelte. Argentinien litt unter der Krise, doch
schaffte es wegen der erfolgreichen Wirtschaftspolitik und noch existierenden Nachfrage von
Agrarprodukten, die Depression schnell zu überwinden. Im Gegensatz dazu wurde Chile
stärker getroffen und erholte sich erst langsam vom erlittenen Schock (Hänsch und
Riekenberg 2008: 60f, Hartmann 2017: 197). Geprägt von der Krise kam es ab den 1930ern in
beiden Staaten zur allmählichen Einführung der importsubstituierenden Industrialisierung
(ISI), um ihre Abhängigkeit von externen Märkten zu reduzieren (Silva 2007: 72 & 79). Die
Förderung der heimischen Produktion traf zudem den politischen Zeitgeist des Nationalismus,
der nicht nur in Europa an Zustimmung gewann (Rinke 2007: 102). Einen wesentlichen
Einfluss auf die Wirtschaftspolitik übten dabei auch die Theorien des
Wirtschaftswissenschafters John M. Keynes aus, die ab den 1930ern weltweit Anhänger
gewannen. Im Gegensatz zum Liberalismus sah der Keynesianismus die staatliche
Intervention in die Wirtschaft durch die Nachfragesteuerung vor. Die staatlich geleitete
Industrialisierung vollzog sich meist in den Städten, was insbesondere in Chile zur
Massenmigration der ländlichen Bevölkerung in urbane Ballungszentren führte. Die daraus
resultierende Urbanisierung erfolgte oft unkontrolliert und es kam zur Zunahme von
Armenvierteln, denen es an jeglicher sanitärerer Infrastruktur fehlte. Parallel dazu stieg auch
die soziale Ungleichheit weiter an (Rinke 2007: 109). All dies geschah in Chile seit 1930
unter demokratisch gewählten Präsidenten, die aus verschiedenen Parteien kamen.
Durch die starke gewerkschaftliche Tradition war Partizipation breiter Gesellschaftskreise am
politischen Geschehen in Argentinien in gewisser Weise bereits seit Anfang des Jahrhunderts
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gang und gebe. Dennoch wurde die Arbeiterschaft erstmals von Juan Perón als wichtige
Interessensgruppe erkannt. Er nutzte seine Position als Arbeitsminister der Militärjunta von
1943 und später als Präsident, um die Arbeiterschaft durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen
an sich zu binden (Silva 2007: 79). Sein populistischer Führungsstil übte eine derartige
Strahlkraft aus, dass sie zur Schaffung einer neuen politischen Strömung - des „Peronismus“ -
führte. Obwohl in dieser Arbeit die Diktaturen der 1970er im Fokus stehen werden, kann man
nicht in Abrede stellen, dass in den Jahren nach Perón neben demokratischen Regierungen
auch einige Militärjuntas den argentinischen Staat lenkten. Diese Gegebenheit wird in Folge
berücksichtigt und hilft einen Kontrast zu Chiles stabilem demokratischem System zu liefern.
Die erste Hälfte der 1970er war sowohl in Argentinien als auch in Chile eine von Konflikten
geprägte Zeit. In Chile wurde während des Höhepunkts des Kalten Kriegs mit Salvador
Allende ein Sozialist und deklarierter Marxist auf demokratischem Weg ins Präsidentenamt
gewählt. Wegen der Nationalisierung großer Teile der Industrie und einer galoppierenden
Inflation kam es in kürzester Zeit zu massiven Protesten bessergestellter Schichten, die ein
zweites Kuba fürchteten. Indes verstärkte sich in Argentinien die tiefgehende Spaltung
zwischen der emanzipierten Arbeiterschaft und konservativen Bevölkerungsteilen. Nicht
einmal Juan Perón, der aus seinem Exil zurückgeholt wurde, um die Gesellschaft zu einen,
vermochte es, die Bevölkerungsgruppen zu versöhnen. Die Lage eskalierte bis
bürgerkriegsähnliche Zustände im Land herrschten. Die USA beobachteten die Situation in
Lateinamerika genau und mischten sich durch Spenden für ihre gewünschten Kandidaten in
Wahlen ein, wenn auch nicht immer mit Erfolg (Hartmann 2017: 18 & 229f). Es lag im
Interesse der Supermacht, dass kein zweiter kommunistischer Staat in ihrem
„Hinterhof“ entstand und so trugen ihre Destabilisierungsmaßnahmen in Chile zum Putsch am
11. September 1973 bei (Rinke 2007: 157). Weniger als drei Jahre später folgte am 24. März
1976 Argentinien denselben weg.
In erster Linie ging es den Militärregierungen allerdings darum, die Ordnung und interne
Sicherheit im Staat wiederherzustellen indem sie versuchten, die kommunistische Bedrohung
zu bekämpfen. Es begann eine Zeit des Staatsterrors, der nach Schätzungen in Chile über
3.000 und Argentinien sogar 9.000 – 30.000 Menschen das Leben kostete. Das Verschwinden
von Personen, Folter und Verfolgung wurden Teil des Alltags (Delano 2011, Cue 2016,
Romero 2006: 218, Riekenberg 2009: 184). Auch andere Bürgerrechte wie die Presse- und
Vereinigungsfreiheit wurden stark beschnitten. Die wirtschaftliche Lage war in beiden Staaten
angespannt und verschlechterte sich durch die Schuldenkrise 1982 noch, die von der zweiten
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(internationalen) Ölpreiskrise ausgelöst wurde. Chile schwankte bis dahin zwischen
Staatsinterventionismus und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Durch unter dem Einfluss
einer Gruppe junger Wirtschaftsexperten (Chicago Boys), die unter Milton Friedman studiert
hatten, wurden ab 1980 die Märkte endgültig liberalisiert und der Arbeitsschutz flexibilisiert.
Chile wurde zum größten neoliberalen Wirtschaftsexperiment der Welt. Zusätzlich kam es zu
einer progressiven Verkleinerung der Zentralverwaltung und folgenden Dezentralisierung der
Administration (Rinke 2007: 162ff). Auch in Argentinien wurden mit der Diktatur viele
gesetzliche Preiskontrollen (z.B. Mietpreise) aufgehoben, und es kam zu einer teilweisen
Dezentralisierung, allerdings war das Militär in Argentinien in der Frage der
Wirtschaftsdoktrin gespaltener. Viele Liberalisierungen und Privatisierungen wurden in
Argentinien erst in den 1990ern nach der Rückkehr zur Demokratie unter Präsidenten Menem
durchgeführt.
Wie gezeigt, wiesen beide Staaten während des 20. Jahrhunderts genug gesellschaftliche,
politische und wirtschaftliche Parallelen auf, um sie vergleichbar zu machen. Speziell die
autoritären Systeme der 1970er stellten wegen ihrer Härte, Dauer, sowie ihrer zeitlichen Nähe
und ideologischen Ähnlichkeit eine klare historische und politische Zäsur dar. Das kann selbst
für Argentinien behauptet werden, das bereits davor einige Militärregierungen durchlebt hatte.
Diese Umstände machen Argentinien und Chile zu guten Fallbeispielen für ein most similar
case scenario im Bezug auf die Auswirkungen auf die zuvor ausgebauten Sozialsysteme. Nun
bleibt die Frage der Eingrenzung der Sozialgesetze, die für diesen Zeitraum überprüft werden
sollen. Leider bleibt die Literatur eine universell gültige Definition von
„Sozialpolitik“ schuldig. In Anlehnung an Arbeiten anderer Autoren wird deshalb im
folgenden Kapitel eine vergleichende Analyse von zehn Ländern durchgeführt. Diese soll
helfen Bereiche des Sozialrechts zu konkretisieren, die essenziell für Sozialsysteme sind. Die
gefundenen elf notwendigen Komponenten der Sozialgesetzgebung wurden dabei im Großteil
der untersuchten Staaten während des 20. Jahrhunderts vorgefunden. Unter anderem handelt
es sich dabei um die Bereiche der Sozialversicherung, des Arbeitsrechts, der öffentlichen
Bildung, der Beschäftigungspolitik und einiger Transferleistungen. Das Augenmerk dieser
Untersuchung wird auf den erlassenen Gesetzen liegen, da sie eine bessere Basis für die
Einforderung sozialer Rechte geben. Im Gegensatz zu temporären Programmen und
Förderungen, erwirbt der Bürger durch Gesetze niedergeschriebene Anrechte, die in
funktionierenden Rechtsstaaten auch eingeklagt werden können. Selbst autoritäre
Regierungen haben ein Interesse daran, ein gewisses Maß an Rechtssicherheit zu erhalten, da
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den Bürgern sonst der Anreiz zur Produktivität und Investition fehlt (Olsen 1993: 571).
Aufgrund der vorhergehenden Informationen soll die Forschungsfrage nun nochmals
präzisiert werden:
„Wie beeinflusste der Wandel des politischen Systems die notwendigen Komponenten der
Sozialgesetzgebung in Argentinien und Chile während der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts?“
Natürlich gibt es bereits Literatur, die bei der Interpretation der Gesetze hilfreich ist, doch sie
leidet oft an den bekannten Nachteilen von Einzelfallstudien. So sind die Ergebnisse oft
schwer generalisierbar. Der Großteil der bestehenden Forschung zu Sozialpolitik in
Argentinien und Chile beschäftigt sich mit einer einzelnen Komponente der
Sozialgesetzgebung (z.B. Krankenversicherung, Mutterschutz, etc.) in einem einzelnen Staat.
Meist untersuchten Autoren wie Ortúzar (2013) zu Arbeitsunfällen in Chile oder De Luca
(2013) zur Bildung in Argentinien auch eher kurze Zeiträume, in denen das politische System
unverändert blieb. Nur wenige wie Grondona (2014) zur Abwesenheit einer
Arbeitslosenversicherung in Argentinien wagten sich an ausgedehntere Analysen, wobei das
politische System auch hier als Variable oft vernachlässigt wird. Noch weniger Forscher
stellten sich dem Vergleich von Policies zwischen zwei Staaten, wie es Gilbert (2001) für den
sozialen Wohnbau oder Barrientos und Lloyd-Sherlock (2000) für die Gesundheitsreformen
taten. Larrañaga (2010) veröffentlichte eine prägnante Zusammenfassung des Sozialsystems
in Chile des 20. Jahrhunderts, blieb jedoch wegen der Kürze der Arbeit einige Details
schuldig. Eine wichtige Ausnahme bildete Mesa-Lagos (1978) herausragendes Werk zur
Sozialversicherung in Lateinamerika, das auch einen Vergleich zulässt. Das
Veröffentlichungsdatum bedeutete allerdings, dass nur die Zeit vor den Diktaturen der 1970er
betrachtet wurde. Das einzige Gebiet, in dem die vergleichende Methode häufiger zum
Einsatz kommt, ist die Typologisierung lateinamerikanischer Wohlfahrtsstaaten (Barrientos
2004, Aspalter 2001, Fleury 2017, Del Valle 2010). Basierend auf Esping-Andersens (1990)
Grundlagenwerk sind diese Systemvergleiche unerlässlich, um einen ersten Eindruck zum
Aufbau von Wohlfahrtsstaaten zu bekommen. Ihre Nachteile sind die fehlenden Details,
wodurch sie zur Untersuchung einzelner Policy-Bereiche wenig beitragen können. Gerade
deswegen ist ein länderübergreifender Vergleich mehrerer Komponenten der Sozialsysteme
von Argentinien und Chile erforderlich. Er bietet zudem die Möglichkeit, Merkmale und
Faktoren ans Licht zu bringen, die bei der Untersuchung einzelner Komponenten als
„unwichtig“ übersehen wurden. Der Zeitraum des 20. Jahrhunderts wurde einerseits gewählt,
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da die Staaten erst zu diesem Zeitpunkt anfingen Sozialpolitik gesetzlich zu regulieren und
weil diese Zeit andererseits von gesellschaftlichen, sowie politischen Umbrüchen geprägt war.
Der Anspruch an diese Arbeit ist, dass diese Untersuchung neue Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen den Staaten an Licht bringen wird, die sich nicht auf einen bestimmten
Policy-Bereich beschränken. Bei der Interpretation des Ausmaßes von Gesetzesänderungen
sind Halls (1993: 278) Kriterien hilfreich. So kann sich das Endziel bzw. die Intention der
Policy ändern, die Instrumente, um das Ziel zu erreichen (z.B. Pensionserhöhung gegen
Altersarmut) oder auch nur die genaue Einstellung (setting) des Instruments (z.B. Erhöhung
um x %). Je nach der Art der Umgestaltung können daher drei Ergebnisse auftreten:
(1) das Policy-Ziel und das Instrument bleiben gleich, aber die Einstellung wird für ein
besseres Ergebnis verändert.
(2) Das Policy-Ziel bleibt gleich, aber man verändert das Instrument, wenn vergangen
Ergebnisse unbefriedigend waren.
(3) Durch einen radikalen Wandel verändern sich alle drei Komponenten inklusive des
Policy-Ziels.
Die Annahme liegt nahe, dass ein Wechsel des politischen Systems von einer demokratischen
zu einer autoritären Regierung am ehesten den radikalen Wandel eines Sozialgesetzes
hervorbringen könnte, weswegen auch der Fokus dieser Arbeit auf dieser vernachlässigten
Variable liegt.
Bevor nun die einzelnen Gesetzesbereiche beider Staaten für das 20. Jahrhundert dargestellt
und analysiert werden, soll im ersten Kapitel der Forschungsstand zu Sozialpolitik dargestellt
werden, um einige Grundinformationen zu etablieren. Es folgt die bereits erwähnte Analyse,
in der die notwendigen Komponenten der Sozialgesetzgebung anhand von zehn Ländern
eruiert werden. Im zweiten Kapitel folgen die geschichtliche und politische Interpretation der
Policy-Bereiche und ihrer Änderungen. Die meisten Policies bekommen dabei ein eigenes
Unterkapitel. Um die Forschungsfrage besser beantworten zu können, wird jedes Unterkapitel
in die Zeit vor und nach dem Beginn der Diktaturen geteilt. Schließlich werden die
Gemeinsamkeiten und markante Unterschiede zwischen den Policies im letzten Kapitel
zusammengeführt und verglichen.
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Kapitel 1: Theoretische Grundlagen
Verwandte Konzepte
Bevor man sich der Beantwortung der Forschungsfrage widmen kann, müssen einige
verwandte Begriffe und Konzepte der Sozialgesetzgebung geklärt werden. Einerseits ist das
notwendig, da die Forschung - wie beschrieben - keine befriedigende einheitliche Definition
für Sozialgesetzgebung gefunden hat, und viele in der Literatur verwendete Begriffe ähnliche
Bedeutungen haben, die von unterschiedlichen Autoren bzw. in verschiedenen Kulturkreisen
anders verstanden werden.
Die Sozialgesetzgebung ist das Ergebnis der Sozialpolitik einer Regierung. Diese Gesetze
bilden in ihrer Gesamtheit die Grundlage für die Sozialleistungen, sowie die dafür
zuständigen Institutionen. Das daraus entstehende System ist der Sozialstaat. Doch bereits
hier kommt es zu einem ersten Definitionsproblem. Im englischen Sprachgebrauch wird der
„Sozialstaat“ zum „Wohlfahrtsstaat“ (welfare state), der pauschal auf alle Systeme
angewendet wird, während im Deutschen beide Begriffe durchaus unterschiedliche Konzepte
behandeln. Der Wohlfahrtsstaat in der deutschen Literatur galt lange als inhaltlich
umfassender als der Sozialstaat, da er ab den 1970er Jahren vor allem die skandinavischen
Wohlfahrtsstaaten im Blick hatte, die deutlich mehr Gebiete und Unterstützungen beinhalteten
als andere Sozialsysteme (Ullrich 2018: 521). Zudem sind dort „soziale Rechte“ viel stärker
ausgeprägt als im Sozialstaat und gelten in der Regel „universell“ d.h. sie sind für alle Bürger
gleich gültig. Damit ist der Bürger mehr als nur passiver Empfänger von willkürlich
angebotenen, staatlichen Leistungen, er kann diese Leistungen vielmehr aktiv vom Staat
einfordern (Blank 2011: 38). Oft wird der Begriff „soziale Rechte“, jedoch breiter verwendet
und meint alle gesetzlichen Bestimmungen, die aus der Sozialpolitik hervorgehen. In dem Fall
wird er also synonym mit Sozialgesetzgebung verwendet. Für viele Autoren sind diese soziale
Rechte untrennbar mit dem normativen Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden und
leiten sich oft aus diesem ab. Dem Staat fällt dabei die Aufgabe zu, zu definieren was
„gerecht“ ist, weswegen eine klare Definition von sozialer Gerechtigkeit laut den meisten
Autoren kaum möglich ist (Petring et al. 2012: 27; Reiter 2017: 51). Entgegen der deutschen
Tradition wird in dieser Arbeit jedoch für alle politischen Sozialsysteme der Begriff
Wohlfahrtsstaat verwendet, um sie der internationalen Wohlfahrtsliteratur anzupassen. Der
Begriff „Sozialleistungen“ wird, wenn nicht anders angeführt, als Sammelbegriff für
finanzielle oder materielle Leistungen, sowie Serviceleistungen verwendet werden. Dabei
werden in der Regel staatliche Sozialleistungen gemeint sein.
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Wohlfahrtsstaatliche Idealtypen: Das System
Innerhalb der Staaten führt eine Kombination aus Pfadabhängigkeit, Institutionen sowie der
Akteure und deren Ziele zur Bildung verschiedener Arten von Wohlfahrtsstaaten. Dabei
stehen ihnen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung (Hall 1993: 275). Da diese sozialen
Systeme zentral für das Verständnis der aus ihnen hervorgehenden Sozialgesetzgebung ist,
sollen im Folgenden einige zentrale Idealtypen beschrieben werden.
Das Standardwerk zu Wohlfahrtsstaaten und ihrer Klassifizierung ist bis heute „The Three
Worlds of Welfare Capitalism“ (1990) von Gøsta Esping-Andersen, der erstmals eine
wissenschaftliche Typologie von Wohlfahrtsstaaten erstellt hat und diese sowohl durch eine
qualitative, als auch statistische Analyse untermauerte. Seine drei Idealtypen (liberaler,
konservativer und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat) wurden von anderen
Wissenschaftlern um weitere Typen ergänzt, wobei die grundlegende Typologie in der
Fachliteratur kritisiert, aber kaum angezweifelt wird. Diese Typen stützen sich auf zwei
Merkmale und deren Ausprägungen, die gemeinsam das Kräftedreieck zwischen Markt-Staat-
Familie beeinflussen: Erstens wird der Grad der Dekommodifizierung gemessen. Das bedeutet
wie sehr die Marktabhängigkeit der Bürger durch staatliche Sozialleistungen verringert wird.
Ein zweites Merkmal ist die soziale Stratifizierung, welche den Grad der sozialen
Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft betrifft. Bei der Analyse von Wohlfahrtssystemen in
Entwicklungsländern (spez. Lateinamerika) kommt auch der Anteil des informellen Sektors
und dessen Integration in den Wohlfahrtsstaat als Merkmal hinzu (Barrientos 2004). In der
anschließenden Typologie werden der osteuropäische (Fenger 2007) und ostasiatische Typ
(Aspalter 2011: 740f) nicht behandelt, da der Hauptfokus der Arbeit auf dem 20. Jahrhundert
und europäischen bzw. Systemen europäischer Prägung liegt.
Tabelle 1: Wohlfahrtstypen
Liberal Konservativ Sozial-
demokratisch
Mediterran LA
Pionierstaaten
Dekommodifizie
rung
gering hoch sehr hoch Mittel Mittel-gering
Stratifizierung hoch mittel gering Mittel sehr hoch
Staat unwichtig wichtig wichtig eher wichtig eher wichtig
Markt wichtig unwichtig unwichtig weniger wichtig wichtig
Familie VS
Eigen-
verantwortung
individuell Familie wichtig individuell Familie zentral Familie zentral
Inklusion
informeller
Sektor
n/a n/a hoch mittel Mittel-gering
Beispiele USA,
Australien
Deutschland,
Österreich
Schweden,
Dänemark
Spanien, Italien Argentinien,
Chile Quelle: Aspalter (2011): 738f // Del Valle (2010) // Gal (2010)
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Liberaler Wohlfahrtsstaat: Diese Form findet man vor allem im englischsprachigen Raum
(Großbritannien, Australien, etc.). Der Fokus des Kräftedreiecks liegt bei diesem Typ
eindeutig auf dem Markt. Die Dekommodifizierung ist im Vergleich nur wenig
Fortgeschritten. Da die staatlichen Sozialleistungen eher gering ausfallen und mit vielen
Bedingungen zusammenhängen, werden Bürger ermutigt, diese auf dem freien Markt zu
erwerben (z.B. Privatärzte), was ihre Marktabhängigkeit natürlich vergrößert. Die familiäre
Wohlfahrtsversorgung ist auch weniger stark ausgeprägt, da die Verantwortung für das eigene
Wohlergehen primär beim Individuum selbst liegt. Das staatliche Sozialnetz greift nur im
Extremfall und richtet sich eher an die Ärmsten. Der Aufbau der Gesellschaft (sprich die
soziale Stratifizierung) bleibt grundlegend unverändert und ist sehr hoch. Durch die
Sozialgesetzgebung wird keine Angleichung der Gesellschaft durch den Staat angestrebt.
Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat: Generell wurden die skandinavischen Staaten nach
dem zweiten Weltkrieg diesem Typ zugeordnet. Er gilt als ausgeprägtester Wohlfahrtsstaat.
Die Marktabhängigkeit wird durch die Intervention des Staates deutlich verringert, da dieser
weitreichende, universelle soziale Rechte gewährt - d.h. alle Bürger haben dieselben Rechte
unabhängig von ihrer sozialen Schicht und Berufsgruppe. Zudem sucht der Staat die soziale
Ungleichheit zu verringern, was zum Beispiel durch großzügige Umverteilung der Steuern in
Sozialleistungen geschehen kann. Dadurch weisen diese Staaten eine geringere soziale
Stratifizierung auf. Im Gegensatz zum konservativen Modell ist auch die Abhängigkeit von
der Familie als Wohlfahrtsversorger geringer, da der Staat diese Verantwortung übernimmt.
Die durch die Sozialgesetzgebung garantierten sozialen Rechte sind in diesem Modell
besonders stark ausgeprägt.
Konservativer Wohlfahrtsstaat: Diesen Typ findet man vor allem in Mitteleuropa bzw. unter
den Staaten die stark von der bismarckschen Tradition geprägt waren. Es besteht eine
eindeutige Dekommodifizierung, jedoch ist traditionell die primäre Quelle von
Sozialleistungen die Familie (z.B. Kinder- und Altenpflege), während der Staat meist nur
unterstützend eingreift (Subsidiaritätsprinzip). Der Staat garantiert viele an den sozialen
Status oder die Arbeitsbranche gebundene Sozialleistungen. Das begünstigt die
Aufrechterhaltung einer mittel bis stark stratifizierten Gesellschaftsstruktur mit traditionellen
Rollen. So begünstigt die Sozialgesetzgebung das Modell des männlichen Alleinverdieners
und der Hausfrau (Trifiletti 1999: 56). Zusätzliche Leistungen können am freien Markt
erworben werden (Esping-Andersen 1990: 22ff & 41). Typisch ist für diese Staaten auch eine
Präferenz für finanzielle Transferleistungen, die wiederum vom Arbeitsverhältnis abhängig
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sind. Hier ist die Sozialgesetzgebung weit ausgeprägt und garantiert universelle
Mindeststandards, weitere Leistungen sind jedoch von bestimmten Konditionen abhängig.
Mediterraner Wohlfahrtsstaat: Esping-Andersen ordnete die mediterranen Staaten
ursprünglich dem konservativen Typ zu. Die Wohlfahrtsversorgung ist allerdings noch viel
stärker von der traditionellen Familie abhängig. Das trifft besonders Frauen. Ihr zusätzlicher
Verdienst ist zwar oft unerlässlich für den Familienunterhalt, doch die Berufsausübung wird
ihnen durch fehlende staatliche Unterstützung für Kindererziehung oder Pflege erschwert
(Trifiletti 1999: 54ff). Die soziale Stratifizierung bleibt aufrecht, da viele Berufssparten
eigene Versicherungspläne haben, was zu einer höheren institutionellen Fragmentierung führt
als beim konservativen Modell. Ein weiterer Unterschied ist laut Ferrara (1996: 16) der
extreme Dualismus zwischen den großzügigen Bestimmungen der Sozialgesetzgebung für
Arbeitende mit offiziellen Arbeitsverträgen, während Arbeiter im informellen Sektor oder
Unbeschäftigte nur minimale Leistungen erwarten können. Im Zentrum des staatlichen
Wohlfahrtsstaates stehen Transferzahlung die weniger großzügig und effektiv sind als beim
konservativen Modell. Zwar haben fast alle Bürger Zugang zu Sozialleistungen, doch wer es
sich leisten kann, nimmt meist die weitreichenderen und oft qualitativ besseren Angebote des
Marktes an (z.B. Privatärzte). Daraus kann geschlossen werden, dass die
Dekommodifizierung geringer ist als beim konservativen Modell. Außerdem herrscht ein
ausgeprägter Klientelismus um Beihilfen zu erhalten (Gal 2010: 293f).
Lateinamerikanische Pionierstaaten: Es gibt keinen einheitlichen Typ lateinamerikanischer
Wohlfahrtsstaaten gibt, daher wird hier der am besten entwickelte - den europäischen
Modellen ähnlichste - Typ hervorgehoben. Je nach Autor inkludiert diese Gruppe Argentinien,
Chile, Uruguay und manchmal Costa Rica. Diese Wohlfahrtsstaaten entstanden rund um die
1920er und 1930er Jahre und basieren meist auf der bismarckschen Tradition (konservativer
Typ). Eine wichtige Rolle spielt der informelle Sektor, der zwar im regionalen vergleich
kleiner ist, aber trotzdem aus dem System der sozialen Sicherheit fällt (Martinez 2005: 69).
Das System zeichnet sich durch eine extreme Stratifizierung der Gesellschaft aus, die durch
branchen- und berufsabhängige Ansprüche noch verstärkt wird. Die Versicherungsdeckung ist
am lateinamerikanischen Kontinent die Beste, dennoch fallen einige Bevölkerungsteile dabei
komplett aus dem Sozialsystem. Personen ohne Arbeitsvertrag wurden erst langsam oder gar
nicht in Sozialversicherungssystem eingebunden (Haggard und Kaufmann 2008: 32). Durch
die neoliberale Wende der 1970er kam es neben einer Perpetuierung der starken
Stratifizierung auch zu einer wieder zunehmenden Kommodifizierung d.h. einer stärkeren
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Abhängigkeit der Bürger gegenüber dem Markt. Ähnlich wie im mediterranen Typ ist die
Familie weiterhin ein Eckpfeiler der sozialen Sicherheit. Durch die Sozialgesetzgebung
konnten eine relativ universelle Sozialversicherung und öffentliche Bildung einführen werden,
andere Leistungen sind jedoch eher minimal gehalten und bedarfsorientiert (z.B.
Transferleistungen). Mesa-Lago (2004: 13f) nennt diesen Typ „Pionierstaaten“. Für die Zeit
zwischen ihrer Entstehung und den 1970ern wurden sie als „Universalisten“ (Barba 2004: 18)
und „Typ mit stratifiziertem Universalismus“ (Filgueira 1998) bezeichnet, während die Zeit
nach der neoliberalen Wende ab den 1970er Jahren und der damit einhergehenden
Privatisierung von Sozialleistungen „anti-wohlfahrts-konservativer Wohlfahrtsstaat“ (Aspalter
2011: 742ff) oder „staatlich-produktivistischer Typ“ (Martinez 2008:113ff) genannt wird.
Wegen dieser problematischen Benennung wird der Typ im Folgenden als
„lateinamerikanische (LA) Pionierstaaten“ bezeichnet werden.
Was bedeutet Sozialgesetzgebung?
Garland (2016: 46ff) hat eine sehr ausführliche Aufzählung der Bereiche der
Wohlfahrtsleistungen aufgestellt und unterscheidet sie grundsätzlich in fünf Felder. (1) Die
gesetzlich verpflichtende Sozialversicherung schützt Bürger vor Einkommensausfällen, die
aufgrund von Unfällen, Krankheit, Alter, Invalidität oder Arbeitsverlust auftreten. Im
Unterschied zu privaten Versicherungen sind die Einzahlungen nicht vom Risikoprofil des
Bürgers abhängig. (2) Mit Sozialhilfe sind beitragsfreie, meist finanzielle Unterstützungen wie
Wohnbeihilfen, Steuerabsatzbeträge, Familienbeihilfe gemeint. In seltenen Fällen kann es
sich auch um Services und Güter handeln (z.B. Essensmarken, Geschenkkorb für junge
Eltern). Oft sollen sie das Einkommen von finanziell besonders gefährdeten Personen auf ein
Minimum anheben und werden nur im Bedarfsfall bereitgestellt. In manchen Fällen werden
sie jedoch universell gewährt. (3) Öffentliche Güter sind staatlich unterstützte oder frei
zugängliche Dienstleistungen. Dazu gehören öffentliche Bildung, Gesundheitswesen,
Kinderbetreuung, rechtlicher Beistand, aber auch Arbeitsrechtsbestimmungen (Mindestlohn,
Mutterschutz, bezahlter Urlaub, Streikrecht) werden laut Garland (2016: 49) dazu gezählt.
Ihnen haftet am wenigsten Stigmatisierung an. Sie sind aber auch von Staat zu Staat sehr
unterschiedlich geregelt. (4) Sozialarbeit stellt eine auf die Bedürfnisse der einzelnen
Hilfsempfänger angepasste Form von Sozialleistungen dar, wie Unterstützung von Familien
oder Pflege von älteren Personen. Einige solcher Dienste können für Bürger, die wegen
problematischem Verhalten amtskundig geworden sind auch verpflichtend sein oder als
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Kondition für Transferzahlungen dienen. (5) Im weiteren Sinne zählt auch Wirtschaftsplanung
zur Sozialpolitik, da sie die größten Probleme des Marktes ausgleichen soll. Dies geschieht
beispielsweise durch Steuern und deren Umverteilung, Beschäftigungspolitik, Geldpolitik,
Ausbildungsprogramme, einen Mindestlohn, etc.
Auch Schmidt (2008: 424) nennt eine breite Auflistung der Politikfelder, bestehend aus:
Sozialversicherung, Witwen- und Waisenpension, Familienbeihilfe (finanziell), aktive
Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosenversicherungsleistungen, Wohnbeihilfe, Ausgaben für
Gesundheitsversorgung und Transferleistungen für Niedrigeinkommen. Steuern spielen in der
Form von Besteuerung der Sozialleistungen, indirekter Steuern und steuerlichen Vorteilen
(z.B.: für Familien) in vielen Staaten eine große Rolle, sie sind allerdings in ihren
unmittelbaren finanziellen Umverteilungswirkungen schwer messbar. Schmidt lässt allerdings
das Arbeitsrecht und die Bildung außer Betracht. Takada (2001) sieht re-distributive
Programme (z.B. Pension- und Pflegeversicherung), Beschäftigungspolitik, Beziehungen
zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber (z.B. Gewerkschafts- und Streikrecht), Gender-
Politik (z.B.: Mutterschutz, Familienpolitik zur Verbesserung der Beschäftigung von Frauen)
als zentrale Inhalte der Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts. Die verschiedenen Komponenten
der Sozialversicherung (Unfalls-, Pension, Kranken-, Invaliditäts- und
Arbeitslosenversicherung) werden von fast allen Autoren als notwendige Inhalte der
Sozialpolitik nicht einmal hinterfragt und stehen oft im Zentrum von Analysen (SPIN 2018,
CWED 2018, Esping-Andersen 1990: 47). Garay (2016: 29) reduziert die Politikfelder
tendenziell auf die bereits beschriebene Sozialversicherung, Sozialhilfe und Sozialarbeit.
Besonders im deutschsprachigen Raum wird oft auch die Pflegeversicherung als Teil der
Sozialpolitik genannt (Schmidt 2016: 666).
Bildung ist traditionellerweise im deutschsprachigen Raum ein von der Sozialpolitik
unabhängiger Politikbereich und auch in manchen statistischen Erhebungen (z.B. Eurostat)
wird sie nicht als Teil der sozialen Rechte begriffen, doch in vielen anderen Ländern (z.B.
englischsprachiger Raum, Lateinamerika, etc.) ist das Gegenteil festzustellen. Bereits vor
rund 100 Jahren pries Capen (1923: 26) den öffentlichen Zugang zur Bildung in den USA als
wichtigste staatliche Leistung. Der Zugang zu Bildung hat einen ausgleichenden Effekt auf
die Gesellschaft, da erstens Grundfähigkeiten wie lesen, schreiben und rechnen erworben
werden, die gleichzeitig die Grundvoraussetzungen zur Teilnahme am sozialen und
politischen Leben nötig sind. Sie ist aber auch ein präventives Instrument um Armut
vorzubeugen, da eine eindeutige Korrelation zwischen Bildungsgrad und Einkommen besteht.
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Schlussendlich geht es bei Bildungspolitik gleich wie bei Sozialpolitik auch um die Frage der
Umverteilung von Ressourcen, und sie dient damit ebenfalls als Instrument um soziale
Gleichheit voranzutreiben (Allmendinger und Leibfried 2005: 45f, Zohlnhöfer 2007: 382).
Durch diese Auflistung bekannter Literatur zum Thema sieht man, dass es einen
Zusammenhang zwischen dem Verständnis der Sozialpolitik und der Traditionen eines
Wohlfahrtsstaates gibt (z.B. Pflegepension in Deutschland). Das kann bei Ländervergleichen
zu Problemen führen. Es gibt allerdings auch Policy-Bereiche, die man unabhängig vom
geographischen Forschungsschwerpunkt immer wieder findet. Zu ihnen gehören:
(1) Sozialversicherung: Pensions-, Kranken-, Invaliditäts-, Unfall- und
Arbeitslosenversicherung
(2) Arbeitsrecht: Streik- und Gewerkschaftsrecht, Mindestlohn, Mutterschutz
(3) Beschäftigungspolitik: anhand von Gesetzen schwer darzustellen (z.B. Beschäftigung
durch den Staat, staatliches Arbeitsamt, Flexibilisierung der Arbeitsverträge etc.)
(4) Öffentliche Bildung: v.a. Pflichtschulbildung, aber auch Hochschulbildung
(5) Familienpolitik: unterschieden in finanzielle Transferleistungen (z.B. Familienbeihilfe)
und Service-Leistungen (staatliche Kinderkrippen, Kindergärten,
Schulfreifahrtsscheine, etc.)
(6) Sozialhilfe: meist finanzielle Transferleistungen (z.B. Wohnbeihilfe)
Im folgenden Abschnitt wurden zehn Staaten, die repräsentativ für die fünf Wohlfahrtstypen
stehen, untersucht.
Teile der Sozialgesetzgebung 20. Jahrhundert: Die Rechtsordnungen
Internationales Recht
Als normative Komponente der sozialen Rechte könnte die Ratifizierung oder
Unterzeichnung des Internationaler Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
(OHCHR 1966) gesehen werden. Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag
der 1966 verabschiedet wurde und 1967 in Kraft trat. Der Pakt wird deswegen als normative
Komponente bezeichnet, da die Rechte im Vergleich zu nationalem Recht nur dann
einklagbar sind, wenn der Staat auch das Zusatzprotokoll von 2008 unterschrieben hat oder
der Pakt in nationales Recht übertragen wurde. Wie in Tabelle 2 ersichtlich, haben alle
ausgewählten Staaten in den 1970ern und 1980ern den Pakt ratifiziert.
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Tabelle 2: Ratifizierungsjahr des Internationaler Pakt es über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Ö D FR SPA IT GB CL AG SE NO
1978 1973 1980 1977 1978 1976 1972 1986 1971 1972
Quelle: UN Treaty Collection (2018)
Der Pakt ist sehr weitreichend und beinhaltet Rechte wie: Recht auf Arbeit,
Gewerkschaftsbildung, Streik, angemessenen Lebensunterhalt durch Arbeit, soziale Sicherheit,
Mutterschutz, medizinische Versorgung, allgemeine (unentgeltliche) Grundschulbildung,
Recht auf Zugang zu unentgeltlicher Hochschulbildung, Recht auf Wohnen etc. Nachdem alle
ausgewählten Staaten den Pakt unterschrieben haben, wird dessen Inhalt bei der Erstellung
der Liste der Komponenten der Sozialgesetzgebung einfließen, da anzunehmen ist, dass
zumindest die meisten Rechte von den Staaten als Anspruch des Bürgers akzeptiert wurden.
Verfassungsrechtliche Grundlage
Die verfassungsmäßige Verankerung von sozialen Rechten wird oft gefordert, da
Verfassungsgesetze die „stärksten“ Normen in der Rechtsordnung darstellen, die nicht
derogiert und nur schwer abgeändert werden können. Das bedeutet natürlich nicht, dass
Staaten, die soziale Rechte nicht in den Verfassungsrang erheben, keine Sozialpolitik mit
daraus resultierenden Gesetzen betreiben. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass
diese - in demokratischen Systemen – durch einfache Mehrheiten abänderbar sind. So lautet
zumindest die generelle Annahme. Ein kurzer Blick auf die Verfassungen einzelner Staaten
im 20. Jahrhundert, die repräsentativ für die verschiedenen Typen von Wohlfahrtsstaaten
stehen, zeigt jedoch eine andere Realität.
Tabelle 3: Verankerung sozialer Rechte in Verfassung
Ö D FR SPA IT GB CL AG SE NO
/ 1919-
1933
19581 1978 1947 / 1925-80² 1949-55³;
1994
1974 /
1durch einbeziehen der Präambel von 1946, ²de facto seit Putsch 1973 außer Kraft, ³abgeschafft, aber einige soziale Garantien
danach beibehalten
Die Staaten mit den traditionell ausgeprägtesten Rechten und Sicherheiten aus dem
sozialdemokratischen und konservativen Modell haben jeweils keine oder nicht näher
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präzisierte soziale Rechte in der Verfassung. In Schweden ist die Inklusion sozialer Rechte in
die Verfassung beispielsweise eher vage. Bezüglich sozialer Sicherheiten und Gesundheit
wird nur festlegt, dass diese vom Staat „gefördert“ werden sollen (RF Art 1§2 1974). Explizit
abgesichert sind vor allem arbeitsrechtliche Belange wie etwa das Streik- oder
Versammlungsrecht (RF Art 2 §2 1974) und das Recht auf freie Schulbildung (RF Art 2 §18
1974). Einige soziale Rechte, die in der deutschen Weimarer Reichsverfassung (z.B. WRV
Art 119/123/161/162 1919) garantiert wurden, behielten trotz ihres fehlenden Einganges ins
Grundgesetz als einfache Gesetze der Bundesrepublik ihre Geltung. Im Gegenzug, haben die
schwächeren mediterranen Wohlfahrtsstaaten wie Spanien (CE Art 39-52 1978) und Italien
(CI Art 17/18/29-34 1947) weitreichende soziale Rechte in ihren Verfassungen verankert, was
die faktischen Wohlfahrtsleistungen dieser Staaten aber nicht verbesserte. Chile hatte soziale
Rechte seit 1925 55 Jahre lang in der Verfassung, doch daraus resultierte während ihrer
Gültigkeit in der sozialen Realität nur ein mäßiger Schutz des Individuums durch die
Sozialgesetzgebung. Obwohl Argentiniens Verfassung nach der Reform Perons nur kurz
gültig war, ist beispielsweise das dort etablierte Prinzip der freien Primärbildung bis heute
erhalten geblieben (CA Art 37 1853), während die Verfassungsänderung von 1957 das gleiche
für das Gewerkschafts- und Streikrecht tat (CA Art 14 bis. 1853). Großbritannien ist
bezüglich des Verfassungsrechts ohnehin ein Sonderfall, da es keine kodifizierte Verfassung
hat. Doch auch in den unterschiedlichen Gesetzen, die das britische
„Verfassungsrecht“ ausmachen, werden keine expliziten sozialen Rechte genannt. Demnach
kann die verfassungsmäßige Verankerung der sozialen Rechte nicht als alleinig
ausschlaggebende Erklärung für den Ausbau der Sozialgesetzgebung gesehen werden. Es
zeigte sich auch kein Zusammenhang zwischen der verfassungsrechtlichen Inklusion sozialer
Rechte und der Qualität sozialer Leistungen.
Gesetze und Instrumente
Auf Basis, der in der Literatur oft genannten Bereiche und Instrumente der Sozialpolitik wird
in der Tabelle 4 dargestellt, welche Staaten im 20. Jahrhundert gesetzliche Vorschriften in den
dargestellten Policy-Feldern erließen. Im Falle Deutschlands bezieht sich die Analyse nach
1945 auf Westdeutschland. Eine Policy wird in dieser Arbeit erst ab einer Einführungsrate in
mindestens 70% der Fälle als notwendiger Teil der Sozialgesetzgebung erachtet.
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Tabelle 4: Eingeführte Sozialgesetze je Staat
Ö DL FR SPA IT GB CL AG SE NOR
Staatlich (S)/ privat (P) S P S P S P S P S P S P S P S P S P S P
Arbeitslosenversicherung
bzw. Arbeitslosengeld
● ● ● ● ● ● ● x1 ●2 ●
Krankenversicherung ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Alterspension ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Unfallversicherung ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Invaliditätspension ● ● ● ● ● ●3 ● x ● ●
Streik- und
Gewerkschaftsrecht
●8 ●4 ● ●4 ●4 ● ●4 ●4 ● ●
Mutterschutz ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Mindestlohn x x ● ● x x ● ● x x
Beschäftigungspolitik ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Unentgeltliche Bildung
(primär + sekundär)
● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Unentgeltliche Bildung
(tertiär)
● ●5 x6 x x ●7 x ● ● ●
Familienhilfe (finanziell) ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Familienhilfe (Leistungen) ● x ● x x ● ● x ● ●
Wohnbeihilfe/Wohnbau ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● 1erst 1991, 2
durch Gewerkschaften und Staat verwaltet, 3fiel unter Krankenversicherung, 4 mit Ausnahme unter Diktaturen,
5bedingt freier Zugang (Entscheidung der Bundesländer); 6 Immatrikulationskosten; 71962-1998, 8kein Streikrecht in Ö.
Tabelle 4 zeigt, dass die meisten untersuchten Staaten einen Großteil der untersuchten
Maßnahmen kodifiziert haben. Man könnte daher vordergründig annehmen, dass die
resultierenden Wohlfahrtsstaaten ähnlich strukturierte Gesellschaften und Werte an
Dekommodifizierung erreicht hätten. Dem ist aber nicht so. Wie Garay (2016: 32)
verdeutlicht, sind die Unterschiede zwischen erlassenen Gesetzen auf drei Elemente
zurückzuführen: (1) die Reichweite d.h. wie groß der Teil der Bevölkerung ist, der davon
profitiert, (2) wie großzügig die Leistungen sind, und (3) die Inklusion gesellschaftlicher
Wohlfahrtsakteure und NGOs in Entscheidungen der Sozialpolitik und deren Umsetzung.
Die Arbeitslosenversicherung wurde in allen Staaten außer Argentinien eingeführt, wo nur es
nur ein System von Abfertigungen pro Arbeitsjahr gibt. Die Versicherung wurde in den
untersuchten Staaten zu sehr unterschiedlichen Zeiten, aber meist vor 1950 eingeführt.
Jedenfalls muss dazugesagt werden, dass diese Versicherung meistens von vorhergehenden
Beiträgen abhängig war und im Leistungsumfang gering ausfiel, um so den Empfänger zur
Arbeitssuche zu motivieren. Personen die im informellen Bereich arbeiteten waren somit aus
der Leistung ausgeschlossen.
Die meisten verpflichtenden Krankenversicherungen wurden Anfang des 20. Jh. eingeführt.
Besonders in den „konservativen Wohlfahrtsstaaten“ waren diese oft von der Branche des
Beschäftigten abhängig oder deckten primär die Basisbedürfnisse armer, sonst unversicherter
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Haushalte ab. Der universelle Zugang zu Gesundheitsversorgung folgte meist durch Reformen
um die 1950en. In Chile, Argentinien und auch in Italien spielen in der zweiten Hälfte des 20.
Jh. jedoch private Krankenversicherungsanbieter neben der staatlichen Varianten eine
wichtige Rolle. Das ist entweder auf die schlechten Leistungen des öffentlichen Systems oder
auf beabsichtigte staatliche Anreize zum Abschluss einer privaten Versicherung
zurückzuführen.
Eine der bedeutendsten Versicherungen ist die Alterspension, wobei bei ihrer Einführung
aufgrund der damals geringeren Lebenserwartung die meisten Versicherten das gesetzliche
Pensionsantrittsalter oft gar nicht erreichten. Die meisten Staaten haben eine Form der
Alterspension, die zumindest den zuvor formell Beschäftigten Teil der Bevölkerung
absicherte, zwischen 1890 und 1919 eingeführt. Sie zählt zu den Policy-Bereichen, die am
ehesten einen universellen Charakter erreichten. Gerade in europäischen Staaten sind
Alterspensionen in den letzten Jahrzehnten wegen der steigenden Lebenserwartung zur
größten Kostenposition im Sozialbudget avanciert (Garland 2016: 122). Um dem
Generationsproblem des Umlageverfahrens zu entgehen wurde in Chile 1980 eine
grundlegende Pensionsreform durchgeführt, bei der das Pensionssystem komplett privatisiert
und durch das Kapitaldeckungsverfahren ersetzt wurde (d.h. man zahlt während der Tätigkeit
in einen Fond ein, der nach der Pensionierung ausgezahlt wird).
Die gesetzliche Unfallversicherung wurde als erstes Ende des 19. Jh. in den
deutschsprachigen Ländern und Frankreich eingeführt. Bis 1916 hatten alle Staaten aus der
Stichprobe außer Norwegen (1957) entweder eine Unfallversicherung oder Gesetze zu
Entschädigungszahlungen für Arbeitsunfälle eingeführt. Dabei war der zentrale Punkt jener,
dass die Beweislast nun nicht mehr beim Arbeiternehmer sondern dem Arbeitgeber lag (d.h.
dieser musste beweisen, dass der Unfall wegen fahrlässigen Handelns des Arbeiters zustande
gekommen war). Damit zählt diese Art der Sozialgesetzgebung zu den ältesten, die sich
international durchgesetzt haben.
Bis 1950 hatten die meisten Staaten aus der Stichprobe mit Ausnahme von Norwegen (1960)
bereits eine staatliche Invaliditätspension oder einer Beihilfe für Behinderte Personen
eingeführt, wobei Deutschland 1889 unter Bismarck wieder die Vorreiterrolle einnahm. Nicht
offensichtlich als solche ausgewiesen war sie ab 1948 in Großbritannien, da sie unter die
Krankenversicherung fiel und die darin inbegriffene finanzielle Unterstützung zur „Heilung
der Krankheit“ nicht zeitlich begrenzt war. Dabei musste im Regelfall eine staatliche Stelle
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die Behinderung und den Behinderungsgrad feststellen. Ab welchem Behinderungsgrad die
Pension ausgezahlt wurde und wie hoch diese war, wurde von Staat zu Staat sehr
unterschiedlich geregelt. Argentinien wies als einziges Land keine Versicherung auf, sondern
zahlte verunfallten Arbeitern stattdessen eine Entschädigung.
Im Bezug auf den Mindestlohn muss klargestellt werden, dass dabei ein staatlich einheitlicher,
garantierter Mindestlohn gemeint ist, den nur eine Minderheit der untersuchten Staaten in
dieser Form eingeführt hat. Viele Staaten (z.B. Norwegen, Österreich) setzten auf kollektive
Vereinbarungen, die von den einzelnen Branchen verhandelt werden. Diese
„Kollektivverträge“ enthalten durchaus Mindestlöhne, die für die jeweiligen Branchen
verbindlich sind, was jedoch den Mindestlohn vom Verhandlungsgeschick und den
Druckmitteln der Gewerkschaftsführer abhängig macht, was zu suboptimalen Ergebnissen
führen kann. Bei den untersuchten Ländern fällt auf, dass gerade jene Staaten einen
gesetzlichen Mindestlohn eingeführt haben, die an sich einen schwächer ausgebauten
Wohlfahrtsstaat haben. Das lässt zwei Schlüsse zu: (1) Mindestlöhne haben sich nicht als
probates Mittel der Sozialgesetzgebung etabliert und (2) wenn doch, dienen sie in schlechter
ausgebauten Wohlfahrtsstaaten als Schutzmechanismus.
Die Legalisierung von Streik- und Gewerkschaftsrecht entwickelte sich zu sehr
unterschiedlichen Zeiten. Das erste Land das 1870 Gewerkschaften zumindest teilweise
legalisierte war die Habsburger Monarchie. Bis 1919 folgten die meisten Staaten außer denen
des mediterranen und lateinamerikanischen Typus. Allerdings gab es in der Stichprobe
zumindest seit Anfang des 20. Jh. nicht formell legalisierte Gewerkschaften die Streiks
organisierten. Diese waren, wie beispielsweise in Chile und Argentinien, eher geduldet oder
wurden je nach Regierung legalisiert bzw. auch wieder verboten. In Spanien schuf Franco
seine eigene Gewerkschaft, die zur Kontrolle der industriellen Beziehungen diente während
alle anderen Gewerkschaften verboten wurden. Offiziell wurden Gewerkschaften in Spanien
erst 1977 legalisiert, womit das Land das Schlusslicht in der Analyse darstellt. Das Streikrecht
wurde unter Diktaturen in jedem Land verboten (z.B. Italien, Deutschland). Abgesehen davon
gab es keinen eindeutigen Trend beim Streikrecht.
Erste Gesetze bezüglich des Mutterschutzes wurden in den meisten Staaten zwischen 1880
und 1920 erlassen, auch wenn die (unbezahlte) Karenzzeit damals meist nicht mehr als 3-4
Wochen betrug. Großbritannien sticht aufgrund später (1975) und lascher Regulierungen - zu
einem Zeitpunkt als anderorts weitgehend die Rechte auf bezahlte Karenz und geschützte
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Arbeitsplätze geschaffen wurden - negativ hervor. Auch Norwegen führte 1956
vergleichsweise spät ein erstes Karenzgesetz ein, wobei die Rechte ab den 1970ern stark
verbessert wurden. Am anderen Ende des Spektrums steht Italien, das recht früh
weitreichenden Schutz für Mütter einführte und diesen kontinuierlich ausbaute (DICE 2015).
Vollbeschäftigung oder zumindest eine geringe Arbeitslosenquote gehören seit jeher zum Ziel
von modernen Nationalstaaten, und um dieses zu erreichen, greift der Staat intervenierend in
den Arbeitsmarkt ein. Aus der Perspektive der Bürger wird das auch durch die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte verdeutlicht, die das Recht auf eine „frei gewählte Arbeit,
gerechte, befriedigende Entlohnung und Beitritt zu Gewerkschaften zum Schutze der eigenen
Interessen“ (Art 23 AEMR 1948) einräumt. Das Problem bei der Messung von
Beschäftigungspolitik ist, dass sie stärkeren Veränderungen unterworfen ist als andere Policy-
Bereiche. Sie kann auch verschiedenste Formen annehmen. Beeinflusst wurde sie lange Zeit
durch den Keynesianismus (Hall 1993: 284). Eine deutliche Maßnahme ist die unmittelbare
Beschäftigung durch den Staat, beispielsweise durch Arbeitsprogramme (z.B. Chile), die
jedoch kaum auf Basis von Gesetzen beschlossen werden. Dasselbe gilt für Subventionen, die
an Unternehmen zur Einstellung neuer Arbeiter vergeben werden. Ein weiteres Mittel ist die
Schaffung eines staatlichen Arbeitsamtes, wie es in vielen europäischen Staaten der Fall war.
Flächendeckend wurde Anfang des 20. Jh. - in manchen Fällen sogar davor - die Schulpflicht
und der unentgeltliche Zugang zu Primärbildung eingeführt. Diese Schulpflicht wurde im
Laufe der Jahre entweder in Form von einer verlängerten Grundschulpflicht oder dem
ausweiten der Schulpflicht auf die Sekundärbildung ausgeweitet, die dadurch auch
unentgeltlich gemacht wurde. Wie lange die Schulpflicht gilt, ist von Staat zu Staat
unterschiedlich geregelt. Der Staat muss jedoch garantieren können, dass jedes Kind einen
Zugang zu Bildung hat. Dennoch spielt in manchen Staaten aufgrund der schlechten Qualität
oder Unterfinanzierung der öffentlichen Schulen der private Bildungssektor eine große Rolle.
Der unentgeltliche Zugang zu Bildung im Tertiärbereich hat sich als eines der Felder
herausgestellt, dass nicht notwendiger Weise Teil der wohlfahrtsstaatlichen
Sozialgesetzgebung ist. Nur 60% der untersuchten Staaten hatten einen kostenlosen
Studienzugang während des 20. Jh. eingeführt. In vielen Staaten war die Bildung im tertiären
Bereich zwar subventioniert (z.B. Frankreich, Italien), was zu relativ geringen Studienkosten
führte, doch unentgeltlich war die Hochschulausbildung eher in den nordischen Ländern. In
Deutschland ist Bildung und auch die Einführung von Studiengebühren Ländersache,
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wodurch die Bewertung schwerfällt. Die meisten Bundesländer hatten keine oder nur geringe
Studiengebühren eingeführt. Überraschend ist, dass eines der Länder mit der längsten
Tradition von unentgeltlicher Universitätsbildung Argentinien ist.
Eine Form der finanziellen Familienbeihilfe gab es in allen untersuchten Ländern. Zuerst
wurde sie in den mediterranen Staaten und in bedingtem Umfang in Chile in den 1930ern
eingeführt. Sie war meist von der Branche abhängig, in der der Kindsvater beschäftigt war.
Zentral- und Nordeuropa, sowie Argentinien folgten in den 1940ern und 1950ern (Bikkal
1958). Die einzelnen Policies waren allerdings sehr unterschiedlich geregelt, so wurde
beispielsweise in Deutschland anfangs die Familienbeihilfe erst ab dem dritten Kind gewährt,
während andere Staaten sie bereits ab dem ersten Kind gewährten. Zudem wurde das Geld in
manchen Staaten an alle Familien mit Kindern bezahlt, während andere Regelungen eher
bedarfsorientiert waren.
Die Familienbeihilfe in Form von Leistungen ist indes weit weniger verbreitet gewesen. In
einigen Ländern wie Chile, Großbritannien oder Schweden wurden vor allem in der zweiten
Hälfte des 20. Jh. Essensprogramme oder Schulmilch für Kinder gefördert, um
Mangelernährung zu bekämpfen. Länder wie Österreich oder England führten die freie
Schulfahrt ein. Eher in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten findet man auch
öffentliche Kinderkrippen und Kindergärten, während die Kinderbetreuung in konservativen
und mediterranen Wohlfahrtsstaaten als Aufgabe der Familie gesehen wird. Eine
hervorzuhebende Ausnahme bildet auch Chile, das bereits 1917 ein Gesetz einführte, wonach
Arbeitgeber in der Industrie mit mehr als 50 beschäftigten Arbeiterinnen eine verpflichtende
Betriebskinderkrippe haben mussten. Dennoch fallen Sach- und Serviceleistungen unter die
gewählte 70% Grenze, wodurch sie nicht als notwendige Leistung der Sozialgesetzgebung
gesehen werden.
Es ist interessant, dass die meisten Staaten unter ihren ersten sozialen Gesetzen auch
Bestimmungen zum Wohnen berücksichtigten. Zwischen 1880 und 1910 hatten die meisten
Staaten Gesetze und Dekrete für leistbaren oder gesundheitlich unbedenklichen Wohnraum
für Arbeiter geschaffen, da die ihre Wohnsituation oft besorgniserregend war. Anfangs ging
es bei diesen Gesetzen meist um den sozialen Wohnbau. Besonders in Südamerika war dies
während des gesamten 20. Jh. die Hauptstrategie des Staates, während man in Europa nach
dem zweiten Weltkrieg eher zur finanziellen Mietbeihilfe überging, auch wenn es weiterhin
sozialen Wohnbau gab.
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Sozialgesetzgebung europäischen Stils im 20. Jahrhundert
Wie bei der Analyse deutlich geworden ist, konnte man den Großteil der untersuchten
Policies während des 20. Jahrhunderts bei einer Mehrheit der Staaten vorfinden, obwohl diese
natürlich nicht immer die gleichen „Einstellungen“ für die gewählten Instrumente anwandten.
Die meisten Sicherungssysteme entstanden - angefangen mit Bismarcks Sozialgesetzen –
sogar sehr früh, wobei Norwegen seinen Wohlfahrtsstaat eindeutig am spätesten ausgebaut
hat. Wie bereits dargelegt, sagt das Vorhandensein eines Gesetzes nicht viel über die Qualität
der damit geregelten Leistungen und deren Reichweite aus. Um der Analyse der Gesetze mehr
Kontext zu verleihen, wurde deswegen im Teil zu den Typen von Wohlfahrtsstaaten skizziert,
welche leitenden Prinzipien und Ziele die Ausprägung der staatlichen Sozialgesetzgebung
beeinflussen. Für die Definition der Gebiete der Sozialgesetzgebung zählt jedoch allein die
Existenz eines Gesetzes, denn dies bedeutet, dass der Staat sich ab einem bestimmten
Zeitpunkt gezwungen sah, diese Materie zu regulieren, da der freie Markt in vielen Bereichen
der Regelung sozialer Grundbedürfnisse versagt und nicht für alle Bürger entsprechende
Angebote und garantierte Mindeststandards bereit hält.
Die Policies die laut der Analyse in mindestens 70% der Länder gesetzlich geregelt wurden
waren und für Staaten demnach als unerlässlicher Teil der Sozialgesetzgebung eingestuft
werden können sind:
Arbeitslosenversicherung
Krankenversicherung
Alterspension
Unfallversicherung
Invaliditätspension
Streik- und Gewerkschaftsrecht
Mutterschutz
Beschäftigungspolitik
Unentgeltliche Bildung (Primär +
sekundär)
Familienhilfe (finanziell)
Wohnbeihilfe/Wohnbau
Die Policies die durch die Analyse als nicht notwendige bzw. nur optionale Elemente der
Sozialgesetzgebung gesehen werden können sind: der Mindestlohn, die tertiäre Bildung und
die Familienbeihilfe in Sachleistungen und Services. Diese Policies werden allerdings nicht
im Zentrum der Untersuchung stehen und höchstens am Rande erwähnt. In den folgenden
Kapiteln werden mithilfe von Halls Elementen der Policygestaltung (1993: 278f) die
notwendigen Komponenten der Sozialgesetzgebung anhand der Fallbeispiele (Argentiniern
und Chile) analysiert. Die acht Unterkapitel sind chronologisch geordnet und es wird ein
besonderes Augenmerk auf die Variable des politischen Systems gelegt
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Kapitel 2: Analyse der Gesetze
Arbeitslosengeld VS Beschäftigungspolitik
Entstehung
Weder in Chile noch in Argentinien gab es bis zum Ende des 20. Jahrhundert eine allgemeine
Arbeitslosenversicherung, wie man sie aus europäischen Staaten kennt. In Argentinien wurde
eine solche zwar 1991 eingeführt, doch sie wird nur am Rande in die Analyse einfließen, da
sie erst nach der Rückkehr zur Demokratie und kurz vor dem Ende des
Untersuchungszeitraums geschaffen wurde. Gleichermaßen begann sich die Forschung erst ab
diesem Zeitpunkt mit dem Thema der Arbeitslosenversicherung auseinanderzusetzten,
wodurch es kaum Literatur zu den Maßnahmen während des 20. Jahrhunderts gibt.
Beschäftigungspolitik ist wiederum schwer an Gesetzen zu zeigen, da sie meist einen
Ausfluss der Wirtschaftspolitik darstellt und eher als nicht legal bindendes Programm
betrieben wird.
Die ersten Gesetze, die in den Arbeitsmarkt eingriffen, betrafen die Schaffung staatlicher
Arbeitsämter in Argentinien 1913 und in Chile 1919. Es ist anzunehmen, dass in beiden
Fällen die mit dem ersten Weltkrieg verbundene Wirtschaftsrezessionen eine Rolle spielten.
Der Wegfall des Atlantikhandels lies Argentiniens Agrarexporte massiv Schrumpfen.
Europäische Saisonarbeiter konnten nicht zurückreisen und die Arbeitslosigkeit stieg
(Riekenberg 2009: 12f). Chiles Bergbauindustrie lief derweil wegen des Kriegsmaterials
Salpeter gut. Nach Ende des Krieges und der Entdeckung des Haber-Bosch-Verfahrens zur
Herstellung von Kunstdünger brach der Salpeterhandel weg, wodurch auch in Chile die
Arbeitslosigkeit und Arbeiterproteste anstiegen (Collier und Satter 2004: 205). Der Erlass des
Privatangestellten-Gesetzes von 1925 hatte wiederum weniger mit der Rezession, sondern
mehr damit zu tun, dass sie zu den Interessengruppen gehört hatten, die Präsidenten
Alessandri fünf Jahre davor gewählt hatten. Es erlaubte ihnen sich während der
Arbeitslosigkeit ein Darlehen bei ihrer Sozialversicherung zu aufzunehmen, dass beim
Wiedereinstieg in einen neuen Beruf vollständig zurückgezahlt werden musste.
Im Hinblick auf den Schutz vor Arbeitslosigkeit im Gesetz wiesen Argentinien und Chile
grundsätzlich drei wichtige Gemeinsamkeiten auf. Erstens stellte die Weltwirtschaftskrise von
1930 einen Wendepunkt im staatlichen Umgang mit dem Thema Arbeitslosigkeit dar, obwohl
die Länder unterschiedlich hart von der Krise getroffen wurden. Erstmals verloren große
Bevölkerungsteile ihre Arbeit und der Staat konnte wegen der steigenden Mobilisierung der
Arbeiterschaft nicht länger untätig bleiben. Als Antwort auf dieses Problem entstand in den
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1930ern daher die „Entschädigung für Arbeitsjahre“. Diese ähnelt der Abfertigung nach
österreichischem Recht, die nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bezahlt wird. Zweitens
unterschieden sich die Regelungen nach Berufsgruppen, was ein Ergebnis klientilistischer
Praktiken war. Drittens priorisierten beide Andenstaaten die Beschäftigungsstabilität vor der
Hilfe während der Arbeitslosigkeit. So war etwa die neue Entschädigung nicht primär als
finanzielle Überbrückung während der Arbeitslosigkeit gedacht, sondern sollte Entlassungen
für Arbeitgeber wegen hoher Abfertigungszahlungen erschweren (Ramos und Acero 2010: 7).
Chile war laut einem Bericht des Völkerbundes das Land, das am schwersten von der Krise
getroffen wurde. Das lag vor allem an den primären Exportgütern des Landes - Salpeter und
Kupfer – die während der Krise einen massiven Preisverfall am internationalen Markt erlitten.
Es gibt keine eindeutigen Arbeitslosenzahlen aus dieser Zeit, aber aus verschiedenen Quellen
lässt sich schließen, dass sie so hoch waren wie nie zuvor, besonders im Bergbau wo 60 % der
Arbeiter entlassen wurden (Riveros 2009: 8ff). Unter Präsidenten Ibañez wurden daher als
Gegenmaßnahme 1930 für Staatsbedienstete und 1931 für alle Angestellten die Abfertigung
von einem Monatslohn (in Folge: ML) pro gearbeitetem Jahr erlassen. Selbst diese
Zugeständnisse konnten die Regierung von Ibañez jedoch nicht retten. Protestwellen führten
schließlich zu seiner Flucht ins Exil (Rinke 2007: 97f). Argentiniens Wirtschaft kam
wiederum im Vergleich zu anderen Staaten glimpflich davon, da das Land primär
landwirtschaftliche Produkte produzierte, die trotz eines Einbruchs weiterhin Abnehmer
fanden. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte dennoch nicht vermieden werden. Die
Abfertigung wurde 1934 vorrangig für Arbeitnehmer im Handel eingeführt, die die Erhöhung
ihrer Beschäftigungsstabilität gefordert hatten (Queirolo 2016: 146 & 168, Aiolfi et al. 2011:
223). Pro gearbeitetem Jahr stand den Entlassenen nun ein halber Monatslohn (in Folge ML)
zu. Unterstützt wurde die Maßnahme durch die erstmalige Beschränkung der Immigration und
der Schaffung des Nationalen Rates für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – kurz JNCDA
(Grondona 2014: 109f).
Die Staaten unterschieden sich allerdings danach in der Entwicklung neuer Instrumente.
Während in Chile in den folgenden vier Jahrzehnten weitere Formen der Unterstützung bei
Arbeitslosigkeit geschaffen wurden (Darlehen, Abfertigung, Arbeitslosengeld), blieb die
Entschädigung in Argentinien die einzige finanzielle Absicherung über alle Berufsgruppen
hinweg. Ab 1932 versuchte man der Massenarbeitslosigkeit in Chile mit aktiver
Beschäftigungspolitik beizukommen. So wurde beispielsweise gesetzlich der Etat für
öffentliche Bauten deutlich erhöht, um bei staatlichen Bauprojekten Arbeitslose einzustellen.
Zusätzlich hoffte man durch das neue Wirtschaftsmodell der importsubstituierenden
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Industrialisierung Arbeitsplätze zu schaffen. Die geförderte Kupferindustrie zeigte zwar in
den 1930er Jahren tatsächlich leichte Anzeichen sich zu erholen, doch sie konnte bei weitem
nicht alle Arbeitslosen der Salpeterindustrie absorbieren (Silva 2007: 71, Collier und Satter
2004: 264, Riveros 2009: 15). In den 1930ern und 1940ern gestand man die Entschädigung
bei unverschuldeter Entlassung weiteren kleinen Berufsgruppen wie den Eisenbahnern oder
Gemeindeangestellten zu. Privatangestellte waren ab 1937 die einzigen, für die je eine
Arbeitslosenversicherung geschaffen wurde. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, dass
Alessandris zweite Präsidentschaft sich vor allem auf die Wähler der Mittelschicht stützte, die
somit für ihre Treue belohnt wurde. Sie finanzierte sich über Arbeitnehmerbeiträge (1 %) und
Arbeitgeberbeiträge (8,33 %), schloss die Versicherten aber gleichzeitig von den
Abfertigungszahlungen aus. Im Jahr 1942 reduzierte man den Bezugszeitraum auf 90 Tage
und führte mehrere einschränkende Bedingungen für den Erhalt ein. Obwohl der Staat
während der 1950er kontinuierlich Budgetdefizite produzierte, wurde für die große
Berufsgruppe der Arbeiter 1953 unter der zweiten Regierung von Ibañez erstmals das
Arbeitslosengeld eingeführt. Es wurde nur maximal vier Monate gewährt und finanzierte sich
rein durch Arbeitgeberbeiträge (2 %). Die Maßnahme folgte auf die enorme Inflation, die
unter Ibañez‘ Vorgänger zu einer verstärkten Streikaktivität geführt hatte und auf die
Gründung des größten Gewerkschaftsverbands des Landes – der Central Unitaria de
Trabajadores (Collier und Satter 2004: 275f, Rinke 2007: 110). Die letzte gesetzliche
Entwicklung vor der Diktatur war 1971 in Chile eine Verfassungsänderung, die den Schutz
bei Arbeitslosigkeit als Teil der Sozialversicherung vorsah. Zudem betrieb die Regierung
Allendes viel stärker als vorhergehende Regierungen die staatliche Intervention in den Markt.
So kam es zu einem massiven Anstieg der staatlichen Bauvorhaben, um im Sinne der
antizyklischen Investition, die Wirtschaft anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit durch
Schaffung neuer Arbeitsplätze zu reduzieren. Hiervon sollten besonders armutsgefährdete
Schichten davon profitieren (Colllier und Satter 2004: 344). Die Ausweitung des
Arbeitslosengeldes auf verschiedene Berufsgruppen war demnach entweder auf die Erhaltung
des sozialen Friedens oder der Belohnung treuer Interessensgruppen zurückzuführen.
In Argentinien blieb die Abfertigung die einzige Absicherung beim Verlust des Arbeitsplatzes.
Die Unterschiede der verschiedenen Regelungen lagen meist in der Höhe ihrer
Unterstützungen. Als Juan Perón als Teil einer Militärjunta an die Macht kam, führte er 1943
für die Staatsbediensteten und 1945 den einen Großteil der restlichen Arbeitnehmer die
Entschädigung für Arbeitsjahre bzw. die Abfertigung ein. Eine wichtige gesetzliche Neuerung
war dabei die Einführung der „gerechtfertigten Gründe“ (justa causa) bei Entlassungen. Die
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Abfertigung wurde nur bei einer Entlassung ohne justa causa gewährt, was wohl ein
Zugeständnis an die Arbeitgeber war. Während Peróns fast zehnjähriger Regierungszeit lief
die Wirtschaft gut und viele Arbeitslose wurden einfach in den Staatsdienst aufgenommen.
Zwar stiegen unter Perón dadurch die Beschäftigung und der Beschäftigungsschutz, doch
spätere Wirtschaftsanalysen gingen davon aus, dass seine Beschäftigungspolitik maßgeblich
zum wachsenden Budgetdefizit des Staates beigetragen hatte. Die Regierung der 1950er und
1960er kümmerten sich wiederum kaum um Beschäftigungspolitik und sahen die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eher als Teil der Konjunkturpolitik (Grondona 2014: 117f,
Bethell 1993: 291). Eine Ausnahme bildeten Hausangestellte, die 1956 das Recht auf die
Abfertigung bekamen. Als Perón 1973 wieder an die Macht kam, war es in seinem Interesse
die Staatsbediensteten erneut zu privilegieren, die bis 1970 bereits 19,2 % der versicherten
Arbeitnehmer ausmachten (Mesa-Lago 1978: 182). Ihnen wurden gesetzlich die bisher
höchsten Abfertigungen zugestanden. Letztlich wurde 1974 das zentrale Gesetz der
„Arbeitsverträge“ erlassen, das die Arbeitsbedingungen von fast allen Arbeitnehmern der
Privatwirtschaft regelte. Für Abfertigungen für Entlassungen ohne justa causa wurden
verdoppelt und die Abfertigung musste in jedem Fall mindestens 2 ML betragen. Zusätzlich
integrierte das Gesetz weitere Normen, die die Beschäftigungsstabilität erhöhten, wie
beispielsweise das seit 1938 bestehende Entlassungsverbot für Frauen aufgrund der Heirat.
In Argentinien ging die Einführung der Abfertigungen zwar von einer Interessensgruppe aus
(Arbeitnehmer im Handel), doch es fand bereits unter Perón eine teilweise Vereinheitlichung
statt. Diese relativ universelle Gültigkeit der Normen war für damalige Sozialgesetze eher
ungewöhnlich. In Chile waren die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen indes markanter.
Dennoch besaßen beide Staaten besonders privilegierte Berufsgruppen (z.B. Staatsbedienstete
in Argentinien, die Privatangestellte in Chile), die für ihre jeweiligen Regierungen von
besonderer Bedeutung waren. Die Ausweitung der Rechte war demnach ein Ausfluss des
politischen Klientelismus und diente auch Unruhen dieser Gruppen zu vermeiden. Eine
weitere Gemeinsamkeit beider Staaten war, dass die Politik der Arbeitslosigkeit in erster Linie
die Politik ihrer Vermeidung war d.h. sie sollte vor allem die Beschäftigungsstabilität erhöhen.
Das zeigt sich nicht zuletzt an der Vorliebe für das Instrument der Abfertigung. Das Problem
dieser Präferenz war, dass sie Berufe mit hoher saisonaler Arbeitslosigkeit oder mit kurzen
Arbeitsverträgen nicht schützt (Ramos und Acero 2010: 7f). Die Beschäftigungspolitik
beschränkte sich meist auf die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Konjunkturpolitik oder die
Anstellung beim Staat. Diese verstärkte Intervention in den Mark war aber letztlich eine Folge
des international dominierenden Wirtschaftsdogmas des Keynesianismus.
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Während der Diktatur
Während der Diktaturen der 70er Jahre drifteten die Instrumente der Beschäftigungspolitik in
Argentinien und Chile noch weiter auseinander. In beiden Staaten wurden damals neoliberale
Wirtschaftsreformen durchgeführt und die Märkte wieder für internationale Importe geöffnet.
Man hoffte dadurch die stagnierenden Wirtschaften zu beleben. Der Unterschied war, dass in
Argentinien die Liberalisierung nach der Schuldenkrise der 1980er wieder gestoppt wurde,
während Chile konsequent an dieser Politik festhielt. Zusätzlich wollte die argentinische
Regierung keinen Anstieg der Arbeitslosen riskieren und behielt den Beschäftigungsschutz
durch Abfertigungen fast unverändert bei (Marshall 1997: 9ff, Bethell 1993: 332). Das Gesetz
der Arbeitsverträge blieb das zentrale Instrument und wurde 1976 nur minimal verändert.
Beispielsweise wurde die Mindesthöhe der Abfertigung von 2 ML auf 1 ML gekürzt. Durch
die Aufnahme der Agrararbeiter in die Norm kam es zur Ausweitung und somit auch einer
kleinen Vereinheitlichung der Rechte. Mit der Einschränkung der Abfertigungs-Privilegien
der Staatsbediensteten, wurden die Unterschiede zwischen den Gruppen weiter verkleinert.
Grondona (2014: 120) hielt fest, dass es während der Diktatur kaum Arbeitslosigkeit gab und
man fürchtete, dass durch die Schaffung einer „Arbeitslosenversicherung“ Entlassungen
gefördert würden. Generell wurde also am Prinzip der Beschäftigungsstabilität festgehalten,
was laut Marshall (1997: 10) mitunter soziale Unruhen verhindern sollte. Sowohl der Abbruch
der Wirtschaftsreformen und der Widerwille den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren deuten darauf
hin, dass die Junta sich nicht sicher genug in ihrer Position fühlte, um die unpopulären
Änderungen umzusetzen. In Chile wurden wiederum wurde der Arbeitsschutz flexibilisiert,
was einer Abkehr von der Beschäftigungsstabilität entsprach. Erst nach der Rückkehr zur
Demokratie konnte ein ähnlicher Paradigmenwechsel für Argentinien festgestellt werden.
Als 1973 in Chile die Militärjunta die Macht übernahm, befand sich das Land bereits in einer
Wirtschaftskrise, die sich aufgrund der ersten Ölpreiskrise noch verschärfte. Das BIP sank seit
1972, es herrschte eine hohe Inflation und der Staatshaushalt musste dringend wieder ins Lot
gebracht werden. Um diese Situation zu berichtigen, beauftragte die Junta eine Gruppe
neoliberaler Wirtschaftsexperten. Sie verordneten den sofortigen Rückzug des Staates aus der
Wirtschaft und die Liberalisierung der Märkte – so auch des Arbeitsmarktes (Collier und
Satter 2004: 365, Sepúlveda 2014: 223). Die vollzogene Flexibilisierung des
Arbeitnehmerschutzes stellte eine radikale Abkehr vom bisherigen Prinzip der
Beschäftigungsstabilität dar. Die Flexibilisierung sollte laut Theorie die Kosten der Arbeit
reduzieren und dadurch die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Campero (2004: 10 & 27)
kam allerdings zum Schluss, dass die Maßnahmen nicht zur Reduktion der Arbeitslosigkeit
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beigetragen hatten, obwohl sich durch die Wirtschaftsreformen ab 1976 bereits ein deutliches
Wirtschaftswachstum einstellte. Stattdessen stiegen die Arbeitslosenzahlen ab 1975 stark an
und fielen bis 1981 nie unter 15,7 %. Durch die Rezession der 1980er kam es erneut zu einer
drastischen Verschlechterung. 1983 erreichten die Arbeitslosenzahlen den historischen Wert
von 28,5 % und befanden sich erst ab 1988 wieder im einstelligen Bereich.
Bereits vor der Explosion der Arbeitslosenzahlen wurde 1974 das "einheitliche System des
Arbeitslosengeldes" für alle Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft
geschaffen. Die Finanzierung oblag vorerst der jeweiligen SV und dem Staat. Das
Arbeitslosengeld wurde in der Höhe von 75 % des letzten Einkommens für 90 Tage gewährt
und konnte maximal dreimal verlängert werden. Sein Erhalt war zusätzlich an mehrere
Konditionen gebunden. Beispielsweise durfte man keine vom Arbeitsamt zugewiesene Arbeit
verweigern, sonst verlor man die finanzielle Hilfe. Als eigentliche Notfalls-Maßnahme gegen
die steigende Arbeitslosigkeit wurden drei Beschäftigungsprogramme geschaffen: die
freiwillige versicherte Gemeindearbeit, das Mindestbeschäftigungsprogramm (PEM) und das
Beschäftigungsprogramm für Haushaltsvorstände (POJH) (Marshall 1997: 10). Laut
Etchemendy (2004: 281, 2001: 228) waren diese Programme wichtiger bei der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit als finanzielle Fördermittel wie das Arbeitslosengeld. Im Gegensatz zu
anderen Bereichen der Sozialpolitik stieg das Budget für Beschäftigungsprogramme während
der Diktatur, was die zentrale Stellung dieser Policy zeigte. Man galt jedoch bei allen drei
Programmen nicht als Arbeiter, sondern als "Begünstigter". Diese Begünstigten wurden nicht
in die offizielle Arbeitslosenstatistik miteingerechnet, wodurch die Statistiken geschönt
wurden (Sepúlveda 2014: 214 & 217f). Von den drei Programmen hatte nur die versicherte
Gemeindearbeit seit 1974 eine gesetzliche Grundlage. Es handelte sich dabei um eine
geringfügige Arbeit, die zur minimalen Aufbesserung des Arbeitslosengeldes diente. Obwohl
die staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt von den Wirtschaftsexperten als einer der
Auslöser für Arbeitslosigkeit kritisiert wurde, sah sich der Staat zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit gezwungen 1975 das PEM und 1983 wegen der erneuten Rezession das
POJH zu schaffen (Collier und Satter 2004: 366). Man war bei keinem der beiden Programme
versichert, die erhaltene Förderung war geringer als der Mindestlohn und man hatte mit der
sozialen Stigmatisierung zu kämpfen, die diese Programme mit sich brachten. Heute würde
man die Arbeitsverhältnisse als prekär beschreiben, doch damals fanden viele Menschen
schlichtweg keine fixe Arbeit. Die endgültige Vereinheitlichung des Arbeitslosengeldes fand
1980 statt als der Staat die gesamte Finanzierung übernahm. Auch eine überarbeitete Version
des Gesetzes zum Arbeitslosengeld von 1982 schien die gestiegenen Arbeitslosenzahlen zu
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berücksichtigen, da man nun während der Arbeitssuche zur unentgeltlichen Gemeindearbeit
verpflichtet werden konnte. Da die Situation am Arbeitsmarkt anfing sich ab Mitte der 1980er
zu normalisieren, ließ man auch die Beschäftigungsprogramme bis 1988 auslaufen.
In beiden Andenstaaten von Kürzungen betroffen, war der Staatdienst. Wie bereits erwähnt,
war der öffentliche Dienst in Argentinien seit Perón stark gewachsen und verursachte dem
Staat hohe Kosten. Daher wurde bereits 1976 wurde ein Gesetz erlassen, das Entlassungen
von Staatsbediensteten erleichterte und ihre bisherigen Privilegien beschränkte. Die Höhe der
Abfertigung wurde reduziert und konnte sogar ganz gestrichen werden, wenn die Person
durch „subversive Tätigkeiten“ auffiel oder sie als potenzieller Störfaktor für den Betrieb
gesehen wurde. Neben der Kosteneinsparung erleichterte das dem Staat auch die Entlassung
unliebsamer Beamten. Zur Reduktion der Kosten trugen auch die deutlichen
Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst bei, die erst nach der Diktatur wieder das Level von
1975 erreichten (Dieguez und Gerchunoff 1984: 10). In der gesamten öffentlichen
Verwaltung wurden zwischen 1976 und 1983 um die 120.000 öffentliche Bedienstete
entlassen, was einer Quote von ca. 6,6 % entsprach (Lewis 2000: o. S.). Auch in Chile kam es
zur gleichen Zeit zur Reduktion des öffentlichen Dienstes von rund 15 % aller Arbeitnehmer
zu Beginn der Diktatur auf 7 % im Jahr 1980 (Campero 2004: 11). In beiden Fällen deutete
dies auf eine partielle Abkehr vom Credo der Beschäftigungsstabilität hin, da man die erhöhte
Arbeitslosigkeit unter Beamten in Kauf nahm, um eine Senkung der Staatsausgaben zu
erreichen.
Nach dem Ende der Diktatur stagnierte die argentinische Wirtschaft und schlitterte ab den
1990ern in eine neue Krise. Der begonnene De-Industrialisierungsprozess wurde fortgesetzt
und die Arbeitslosenrate stieg von 3,9 % im Jahr 1983 auf 6,3 % am Ende des Jahres 1990.
Um die Wirtschaft zu stabilisieren nahm der Staat einen Kredit beim IWF auf. Als Kondition
für die finanzielle Hilfe wurden der Regierung Menems neoliberale Strukturreformen
auferlegt. Zusammen mit der De-Regulierung der Märkte wurde auch eine Flexibilisierung
des Arbeitnehmerschutzes beschlossen. Wie in Chile zuvor nahm man an, dass durch die
gesenkten Entlassungskosten wieder mehr Personen eingestellt werden würden. Die
Reformen führten allerdings zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahlen, was noch
1991 zur Schaffung der Arbeitslosenversicherung führte (Marshall 1997: 12 & 15ff).
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Tabelle 5: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitslose
Argentinien Chile
Vor 1970er Auslöser Weltwirtschaftskrise 1929/30
sozialer Frieden gefährdet
Fokus auf Beschäftigungsstabilität
System eher einheitlich
Instrument: Abfertigung
Auslöser Weltwirtschaftskrise 1929/30
sozialer Frieden gefährdet
Fokus auf Beschäftigungsstabilität
System stark fragmentiert
Instrumente: Abfertigung, Versicherung,
Arbeitslosengeld
Nach 1970er
Abbau Staatsdienst
Fokus auf Beschäftigungsstabilität (trotz
Neoliberalismus wegen sozialem Frieden)
Abbau Staatsdienst
Flexibilisierung Arbeitnehmerschutz
Instrument: einheitliches Arbeitslosengeld,
Beschäftigungsprogramme (trotz
Neoliberalismus wegen sozialem Frieden)
Ab 1990er Flexibilisierung Arbeitnehmerschutz
Instrument: einheitliche
Arbeitslosenversicherung
Leichte Änderungen im System, sonst gleich
Quelle: Autor
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Vereinheitlichung des Arbeitslosengeldes in
Chile erst unter der Diktatur möglich wurde, da während der Demokratie zu viele
Interessensgruppen gegen den Verlust ihrer Privilegien (z.B. Privatangestellte) gestimmt
hätten (Segura-Ubiergo 2007: 57, Mesa-Lago 1978: 29). Eine kleine Vereinheitlichung bzw.
Verkleinerung der Unterschiede konnte auch in Argentinien festgestellt werden. Der
Vergleich der Länder fällt allerdings schwer, da in Chiles Nachbarland nie eine bedeutsame
Fragmentierung der Regelungen zwischen den Berufsgruppen herrschte. Eine Gemeinsamkeit
unter den Diktaturen war die Entlassung vieler öffentlichen Bediensteten, die vor allem aus
Kostengrüden vollzogen wurde, aber auch der Entfernung unliebsamer Beamter diente.
Autoritäre Systeme haben einen größeren Spielraum bei der Umsetzung unbeliebter Reformen,
doch auch sie sind ähnlich wie demokratische Regierungen auf den Erhalt des sozialen
Friedens angewiesen. Das zeigte sich am Festhalten der argentinischen Militärjunta am
Prinzip der Beschäftigungsstabilität und an Chiles Implementierung der
Beschäftigungsprogramme PEM und POJH. Im Falle Argentiniens könnte dies allerdings auf
eine schwächere Position der Junta hingewiesen haben. Stattdessen waren es internationale
Faktoren, die für den Paradigmenwechsel hin zur größeren Flexibilisierung des
Arbeitnehmerschutzes verantwortlich waren. Die Militärregierung Chiles hat Reformen
möglicherweise erleichtert, doch es kann den Wechsel nicht erklären, da ähnliche Reformen
in Argentinien erst unter einer demokratischen Regierung stattfanden.
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Unfallversicherung und Invaliditätspension
Meist werden Unfall- und Invaliditätspension in Argentinien und Chile in Arbeitsunfall-
Gesetzen zusammengefasst. Dennoch bekamen einzelne Berufsgruppen über die SV eigene
Bestimmungen zur Invaliditätspension (z.B. zur Höhe). Obwohl die relevantesten SV-Gesetze
in die Analyse einfließen werden, wird der Fokus dieses Unterkapitels auf den Gesetzen über
Arbeitsunfällen liegen.
Entstehung
Die Bestimmungen zu Arbeitsunfällen gehörten nicht nur in Europa zu den ältesten
Sozialgesetzen, sondern auch in Argentinien (1915) und Chile (1916). In den Jahren vor der
Veröffentlichung des Gesetzes kam es in Argentinien zu massiven Streiks, die in der Elite des
Staates Ängste vor einer Revolution schürten. Daher ist anzunehmen, dass der Grund für den
Erlass die Befürchtung war, dass die hohe Anzahl der Arbeitsunfälle in neu entstandenen
Industriebetrieben zu Protesten seitens der Arbeiter bzw. der Gefährdung des sozialen
Friedens führen könnte. Es handelte sich also um einen paternalistischen top-down Prozess
(Segura-Ubiergo 2007: 27). Die Gesetze beider Staaten waren stark durch europäische
Gesetze inspiriert, doch sie wurden auch von einem inter-lateinamerikanischem
Ideenaustausch geprägt. Zusätzlich übten ab 1919 auch ILO-Abkommen zu diesen Themen
einen Einfluss auf Reformen der Gesetze aus (Ramacciotti 2015: 203, SsPS 2015: 5f, Mesa-
Lago 1978: 162). In ihren Grundzügen waren die Gesetze sich relativ ähnlich, denn sie galten
vorrangig für Arbeitnehmer in privaten Industriebetrieben. Arbeitgeber konnten sich der
Entschädigungspflicht nur entziehen, wenn der Unfall entweder auf das grob fahrlässige
Verhalten bzw. die Absicht des Arbeitnehmers oder eine „höhere Macht“ zurückzuführen war.
Dieser Punkt stellte eine Zäsur dar, da erstmals der Arbeitgeber die Beweislast bei Unfällen
am Arbeitsplatz trug. Ein Unfall konnte den Arbeitgeber viel Geld kosten, da er für die
Behandlungs- und Arzneikosten aufkommen musste. Das bewegte viele Arbeitgeber sowohl
in Argentinien als auch in Chile dazu die Gesetze zu umgehen. Beispielsweise zwangen sie
Arbeiter gegen ihre Kollegen auszusagen oder begründeten Unfälle durch den
„Alkoholismus“ der Opfer (Ortúzar 2013, Ramacciotti 2015: 208). Die Entschädigungen bei
temporär Arbeitsunfähigkeit waren bis zur Genesung in beiden Ländern mit 50 % des
Tageslohns bemessen. Doch während Chile für permanente Behinderungen Pensionen auf
Lebenszeit einführte, setzte Argentinien auch hier auf eine Entschädigung in einer maximalen
Höhe von 1.000 Tageslöhnen, die pro Monat ausgezahlt wurden. Einen Vorteil bot
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Argentinien allerdings bei arbeitsbedingten Krankheiten, die in Chile erst rund zehn Jahre
später (1924) gesetzlich berücksichtigt wurde. Dasselbe gilt für Hygiene- und
Sicherheitsstandards in Betrieben, die in Argentinien bereits 1916 definiert wurden, was in
Chile erst unter Präsidenten Figueroa 1926 geschah. Dennoch hatten beide Staaten eine
Vorreiterrolle in diesem Gebiet inne, da die ILO erst 1925 Bestimmungen zu arbeitsbedingten
Krankheiten veröffentlichte (SsPS 2015: 6). Argentinien konnte trotz der geringeren
Industrialisierung im Vergleich zu Chile bis in die 1920er Jahre einen besseren Schutz bei
Unfällen vorweisen. Das lag wahrscheinlich am größeren Einfluss europäischer Migranten,
die Unfall- und Invaliditätspensionen bereits aus ihrer Heimat kannten, sowie der höheren
Streikbereitschaft der Arbeiter. Aufgrund der Wahl Alessandris 1920 in Chile, der den
Arbeitern und der Mittelschicht Sozialreformen versprochen hatte, brachte Chile sein
Arbeitsunfälle-Gesetz auf den Stand Argentiniens und baute erstmals Bestimmungen zur
Unfallprävention ein. Dieses Gesetz galt in Folge auch für Staatsbedienstete, Land- und
Hausarbeiter, sowie Arbeiter in Werkstätten. Zugleich wurde mit der Schaffung der
verpflichtenden Arbeiterversicherung 1924 eine der größten chilenischen Berufsgruppen
geschützt, während der Arbeitgeber nicht für die gesamten Unfallkosten aufkommen musste.
In Chile bekamen einige kleinere Berufsgruppen ab Mitte der 1930er teils bessere
Invaliditätspensionen über eigene Versicherungen. Andere Gruppen wie Privatangestellte und
Selbständige (z.B. Einzelhändler) blieben lange ohne Schutz, allerdings war ihre Gefahr einen
Unfall zu erleiden meist geringer. Eine Ausweitung der Entschädigungen bei Invalidität auf
unterschiedliche Berufsgruppen konnte auch für Argentinien beobachtet werden, doch die
wenigsten hatten das Recht auf eine Invaliditätspension. Eine Ausnahme bildeten unter dem
späteren Präsidenten Perón die Industriearbeiter. Sie bekamen 1946 eine spezifische
Versicherungsregelung, was ohne Zweifel mit Peróns Ambitionen zusammenhing, die
Arbeiterschaft für die kommende Wahl auf seine Seite zu ziehen. Trotz der Schaffung
verschiedener SV-Regelungen blieben immer die Arbeitgeber für die Finanzierung der
Entschädigungszahlungen (über die Versicherungen) zuständig. Das argentinische
Arbeitsunfälle-Gesetz wurde hingegen zwischen 1940 und 1960 mehrfach reformiert.
Beispielsweise konnte man die Entschädigungen auch als Einmalzahlung verlangen. Einer der
größten Kritikpunkte am Arbeitsunfalls-Gesetz war laut Ramacciotti (2015: 213f) jedoch
weiterhin das Fehlen eines Krankenhauses, das auf Arbeitsmedizin spezialisiert war, wie es
eines seit 1937 in Chile gab. Stattdessen waren meist Gewerkschaftsspitäler (obras sociales),
die einen Großteil der krankenversicherten Bevölkerung abdeckten, für Arbeitsunfälle
zuständig. Nachdem Perón 1955 durch General Lonardi weggeputscht worden war, wurde
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noch im selben Jahr die Abdeckung des Arbeitsunfall-Gesetzes auf alle Unselbstständigen
ausgeweitet und auch der Arbeitsweg unter Schutz gestellt. Dass dies nicht bereits unter der
Regierung Perón geschehen war, lag mit deren Fokus auf ihre Hauptzielgruppe zusammen –
den Arbeitern. Diese waren trotz seines Exils weiterhin ihrem Präsidenten treu, während die
Mittel- und Oberschicht bereits angefangen hatten, Perón zu misstrauen. Die Ausweitung des
Schutzes unter der Militärregierung ist deswegen als Maßnahme zur Befriedung eines
politisch gespaltenen Landes zu verstehen. Chile ab den 1950ern war in dieser Materie erneut
hinter Argentinien zurückgefallen. Erst 1968 unter der christdemokratischen Regierung von
Eduardo Frei wurde die Schaffung der universellen, verpflichtenden Arbeitsunfälle-
Versicherung (in Folge: AUV) beschlossen. Sie wurde durch Arbeitgeberbeiträge finanziert.
Die AUV stellte in Chile eine der frühesten und einzigen Reformen zur Vereinheitlichung der
SV dar, die Präsident Frei erfolgreichen umsetzen konnte. Sie galt für alle Unselbstständigen,
mit Ausnahme des Militärs. Damals begann das seit dem Putsch in den 1930er Jahren
diskreditierte Militär wieder an Macht und Ansehen zu gewinnen. Präsident Frei stand durch
seine Agrarreform bereits mit der alten Elite der Großgrundbesitzer in Konflikt. Es ist deshalb
davon auszugehen, dass die Ausnahme für das Militär diese Gruppe davon abhalten sollte,
sich auf die Seite der Großgrundbesitzer zu stellen und somit die gesellschaftlichen
Spannungen zu vergrößern. Im Falle eines Unfalls, der zur temporären Arbeitsunfähigkeit
führte, wurden für die meisten Berufsgruppen, die finanziellen Zuschüsse auf 85 % des
Monatslohns deutlich erhöht. Schließlich wurden im letzten Regierungsjahr Allendes auch
Schüler unter den Schutz der Unfallversicherung gestellt. Es wurden auch finanzielle Anreize
für Unternehmer geschaffen, um in Sicherheit am Arbeitsplatz zu investieren, da
„unsichere“ Unternehmen höhere Versicherungsbeiträge zahlen mussten. Zu diesem
Zeitpunkt ähnelten sich die Gesetze beider Länder wieder.
Sowohl in Chile als auch in Argentinien entstand der gesetzliche Schutz bei Arbeitsunfällen,
gleich wie in Europa, im Zuge der entstehenden Industrien. In den ersten Jahren wird der
Einfluss internationaler Faktoren, wie europäischen Gesetzen und den Abkommen der
neugegründeten ILO deutlich. Danach studierten und implementierten beide Andenstaaten
gegenseitig jene Reformen des Arbeitsunfall-Gesetzes, die der Nachbarstaat voraushatte
(Ramacciotti 2015: 216f). Beispielsweise übernahm Chile so die arbeitsbedingten
Krankheiten und Argentinien die Präventionsmaßnahmen, die Chile bereits reguliert hatte.
Die Weiterentwicklung der Gesetze war je nach Zeitpunkt der Reform auch von zwei
weiteren Faktoren beeinflusst: die Wahrung des sozialen Friedens und der Privilegierung
regierungstreuer Interessensgruppen. Die beruflichen Interessensgruppen wurden meist durch
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die Schaffung von eigenen Invaliditätspensionen bedient (z.B.: Arbeiter in Chile,
Industriearbeiter in Argentinien). Auch in Zeiten von erhöhter Streiktätigkeit oder politischer
Spaltung konnten Erweiterungen festgestellt werden, die dazu dienen sollten, den sozialen
Frieden zu erhalten. Bis in die 1970er deckte der Schutz der Arbeitsunfälle-Gesetze in beiden
Staaten alle formell beschäftigten Unselbstständigen ab, schlossen jedoch den informellen
Sektor und Selbständige aus. Trotz der gezeigten Ähnlichkeiten unterschieden sich beide
Systeme in einigen zentralen Punkten. Während in Argentinien bis in die 1990er
Entschädigungszahlungen dominieren, gab es in Chile von Beginn an monatlich ausbezahlte
Invaliditätspensionen. Das Problem der Entschädigungszahlungen war, dass sie nicht lange
reichten und im Fall von Einmalzahlungen die Gefahr bestand, dass sie von den Empfängern
nicht vorausschauend genutzt oder investiert wurden (ibid. 2015: 210). Da in Chile seit der
Regierung Alessandris zudem für das SV-Wesen in vielen Berufssparten die Zahllast vom
Arbeitgeber genommen wurde, war die Motivation der Arbeitgeber, ihre Arbeitnehmer um
ihre Rechte zu betrügen, geringer. Wichtiger noch ist jedoch die Schaffung der einheitlichen
AUV in Chile unter Präsidenten Frei, denn durch die universelle Versicherung konnten
Ungleichheiten reduziert und die hohen administrativen Kosten gesenkt werden.
Während der Diktatur
In Chile blieb trotz der entscheidenden Veränderungen des Pensionssystems (siehe nächstes
Unterkapitel) und anderen Teilen der Sozialgesetzgebung das AUV-Gesetz von 1968 während
der gesamten Dauer der Diktatur gültig. Allein die Beiträge in die Unfallversicherung wurden
1980 zuerst von 1 % auf 0,85 % gesenkt, jedoch kurz vor dem Ende der Diktatur wieder auf
0,90 % angehoben. Das ebenfalls 1980 eingeführte privatisierte Pensionssystem deckte mit
seiner Invaliditätspension zusätzlich Unfälle, die in der Freizeit passiert waren, ab. Auch
Argentinien behielt die bestehenden Normen großteils bei. Allerdings wurde 1979 eine sehr
detailreiche Reglementierung zum Gesetz über Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz
erlassen. Dazu zählten beispielsweise Gebäudevorschriften, Lärmschutz, die sichere
Handhabung von Maschinen oder der Brandschutz. Es waren auch Sanktionen bei der Nicht-
Befolgung vorgesehen. Das Arbeitsunfälle-Gesetz (samt etlicher Änderungen) bildete seit
1915 eine Konstante in der argentinischen Sozialgesetzgebung, sowohl unter Demokratien als
auch unter Diktaturen. Es wurde erst im Jahr 1991 durch eine neue Version ersetzt.
Schließlich wurde das System 1995 unter einer demokratischen Regierung komplett
reformiert, und es wurde wie in Chile eine AUV eingeführt.
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Tabelle 6: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitsunfälle und Invaliditätspension
Argentinien Chile
Vor 1970er Auslöser: Industrialisierung, Streiks, Angst der
Elite sozialer Frieden
Internationale Einflüsse relevant
Finanzierung: Arbeitgeber
Gesetze relativ einheitlich
Instrumente: Entschädigung (bei Unfall und
Invalidität)
Auslöser: Industrialisierung, Streiks, Angst der
Elite sozialer Frieden
Internationale Einflüsse relevant
Finanzierung: Arbeitgeber + SV
Gesetze relativ einheitlich, Unterschiede bei
Invaliditätspension
Instrumente: Entschädigung bei Unfall, bei
Invalidität Pension, später einheitliche AUV
Nach 1970er kleine Änderung der Normen
Abkehr ISI-Modell (Arbeiterschaft schrumpft)
kleine Änderung der Normen
Abkehr ISI-Modell (Arbeiterschaft schrumpft)
Ab 1990er Einführung einheitliche AUV (internationale
Faktoren)
-
Quelle: Autor
Wie aus Tabelle 6 ersichtlich, wurde in der Zeit der Diktaturen offensichtlich keine
Notwendigkeit gesehen etwas in der Materie der Unfallgesetzgebung zu ändern. Das kann
natürlich auf die beginnende Abkehr vom Modell der importsubstituierenden
Industrialisierung zurückzuführen sein, da meist Arbeiter in Industriebetrieben dem größten
Unfallrisiko ausgesetzt sind. Außer den Selbständigen waren zudem bereits vor den
Diktaturen alle Berufsgruppen gesetzlich abgedeckt. Die Reform des teuren und
fragmentierten Pensionssystems Argentiniens war eine der Konditionen des IWF, um dem
Land nach der Schuldenkrise der 1980er einen Kredit zu gewähren. Deshalb wurde im Zuge
einer breiteren Reform des Sozialsystems erst 1995 eine Unfallversicherung geschaffen.
Pensions- und Krankenversicherung
Mesa-Lago (1978) hat für die Zeit bis Mitte der 1970er eine detaillierte Analyse der
Sozialversicherungssysteme Lateinamerikas erstellt, während erst danach die Privatisierung
der Pensions- und Krankenversicherungssysteme international das Interesse der Wissenschaft
an dem Thema weckte (Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000, Raczynski 2000, Larrañaga
2010, Kay 1999, Hujo und Rulli 2014, Mesa-Lago 2009). Deshalb stützt sich dieses
Unterkapitel vor allem auf die vorhandene Literatur.
Aufbau der Sozialversicherung (SV)
Bis in die 1920er Jahre erhielten in den Andenstaaten nur einige strategisch wichtige
Interessensgruppen wie das Militär und Staatsbedienstete eine SV. Die Ausweitung der SV-
Abdeckung auf breitere Bevölkerungsschichten ist dagegen untrennbar mit dem Aufstieg und
der Organisation der Arbeiterschicht während der Industrialisierung verbunden. Dieser Trend
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wurde in Argentinien und Chile durch den Umstieg auf das Modell der
importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) nach der Weltwirtschaftskrise 1930 verstärkt.
Sozialgesetze stellten ein Kompromiss der Politik dar, um die Arbeiter in den
Industrialisierungsprozess einbinden (MINSAL 1995: 17, Tobar 2012: 4). Wie in Europa
basierten auch die ersten SV-Systeme in Lateinamerika auf dem Umlageverfahren. Hierbei
landen alle SV-Beiträge in einem „Gemeinschaftstopf“ und sind nicht an eine Person
gebunden. Stattdessen erhält man den Anspruch auf SV-Leistungen, wenn gewisse
Konditionen erfüllt werden (z.B. Pensionierung). Das Risiko wird so auf alle Versicherten
aufgeteilt (= Solidaritätsprinzip). Verordnete Impf- bzw. Immunisierungskampagnen
markierten seit dem 19. Jh. wiederum den Einstieg der Staaten in die Gesundheitspolitik.
In Argentinien begannen die wachsenden Gewerkschaften wegen der fehlenden staatlichen
Versorgung medizinische Dienste für ihre Mitglieder anzubieten. Die Rolle des Staates
änderte sich erst mit der Wahl Juan Peróns zum Präsidenten. Er baute ab 1947 die staatliche
medizinische Versorgung aus und machte sie für Bedürftige (ca. 65 % der Bevölkerung)
unentgeltlich (Tobar 2012: 10f). Er führte die Krankenversicherung für vier kleine
Berufsgruppen wie die Eisenbahner ein und erhöhte die Qualität der Armeespitäler ungemein,
um das Militär zu befrieden (Mesa-Lago 1978: 165). Das Gesundheitssystem war seit damals
in öffentliche Spitäler, Gewerkschaftsspitäler (obras sociales), Privatkliniken und die
Armeespitäler aufgeteilt. Da staatliche Spitäler bereits seit Mitte der 1950er mit
Finanzierungsproblemen zu kämpfen hatten, genossen Gewerkschaftsspitäler einen besonders
guten Ruf. Das führte zu einem Anstieg der Gewerkschaftsmitglieder und somit auch der
politischen Macht der Gewerkschaften. In den 1970ern wurde der Zugang zu den obras
sociales gesetzlich auch für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder geöffnet. Im Gegenzug erhielten
die obras sociales alle KV-Beiträge ihrer jeweiligen Berufsgruppe (außer des Militärs),
wodurch sie zum quasi öffentlichen Gesundheitsversorger avancierten (Perelman 2006: 12,
Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000: 418). Die Hausangestellten und Selbständigen blieben
allerdings weiterhin vom KV-Schutz ausgeschlossen. Indes verfiel das staatlichen
Gesundheitssystems in Argentinien, das nur das ärmste Drittel der Bevölkerung versorgte
(Mesa-Lago 1978: 200f). Den Grund für den schleichenden Verfall dieses Systems sah Tobar
(2012: 9) im Fehlen eines universellen Gesundheitssystems, da beim Verfall eines
universellen Systems ein breiter politischer Protest entstanden wäre.
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1920 wurde Arturo Alessandri, von Arbeitern und der Mittelschicht gestützt, ins chilenische
Präsidentenamt gewählt und führte 1924 die verpflichtende Arbeiterversicherung inklusive
KV ein (MISNAL 1995: 17f). Der Gesundheitskodex von Ibañez führte 1931 zur Regulierung
der Gesundheitsdienste und der Festlegung universeller Leistungen der Präventivmedizin, die
1938 von Präsidenten Alessandri ausgeweitet wurde. Im Gegensatz zu Argentinien fand in
Chile ab 1942 eine Zentralisierungstendenz der Gesundheitsdienste statt, die mit der
Gründung des nationalen Gesundheitsdienstes für private und staatliche Angestellte (in Folge:
SERMENA) begann. Der SERMENA war vor allem für Vorsorgeuntersuchungen zuständig.
Erst die anhaltenden Arbeiterproteste wegen der wirtschaftlichen Rezession bewegten 1952
den Präsidenten Gonzales Videla zur Schaffung des nationalen Gesundheitsdienstes (in Folge:
SNS) für Arbeiter und Bedürftige. Gleichzeitig wurde die Arbeiterversicherung reformiert
und die Mitversicherung der Kernfamilie eingeführt, um die Arbeiter und ihre
Gewerkschaften zu besänftigen (MINSAL 1995: 20, Mesa-Lago 1978: 27f).
Finanzierungsprobleme des SV-Systems traten bereits in den 1960er Jahren auf. Die
Gesundheitsversorgung machte ein Fünftel der Sozialausgaben aus, wobei die Hälfte davon
allein auf Verwaltungskosten und Gehälter entfiel (ibid. 1978: 55). Präsident Frei führte auf
Wunsch vieler Angestellter 1968 im SERMENA die freie Wahl des Arztes ein und erweiterte
ihre KV-Leistungen um kurative Behandlungen. Im Gegenzug wurde ein Selbstbehalt für
Behandlungen eingeführt. Schätzungen zufolge lag der Anteil an Personen mit KV um 1970
bei ca. 69,5 % (ibid. 1978: 40f). Schließlich stiegen unter dem sozialistischen Präsidenten
Allende die Gesundheitsausgaben von 3,3 % des BIP im Jahr 1970 auf 4 % im Jahr 1972
(MINSAL 1995: 24).
Keiner der Staaten besaß einen universellen Gesundheitssektor (siehe Tabelle 7). Während in
Chile die Gesundheitsversorgung zwar auch von der Berufsgruppe abhängig war, führte die
Stärke der Gewerkschaften in Argentinien in eine Trennung zwischen Mitglieder und Nicht-
Mitglieder. In beiden Fällen waren somit der Aufbau des Gesundheitssystems und die
Ressourcenverteilung abhängig vom Durchsetzungsvermögen einzelner Interessensgruppen.
Indes hatten beide Staaten eine starke Variation der KV-Beiträge nach Berufsgruppe und die
unentgeltliche Behandlung für Bedürftige gemein. Außerdem konzentrierten sich die meisten
Ärzte und Krankenhausbetten pro Einwohner jeweils in den Hauptstädten Buenos Aires und
Santiago (Mesa-Lago 1978: 66 & 202). Dass der staatliche Gesundheitssektor in Chile besser
ausgebaut war als in Argentinien, lag an der früheren Industrialisierung des Landes und der
damit einhergehenden Integration der Arbeiterschaft in die Sozialpolitik.
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Tabelle 7: Pensions- und Gesundheitssysteme 1940er – 1970er
Argentinien Chile
Pensionssystem Umlageverfahren
(seit 1967 Vereinheitlichung der SV-Kassen)
Umlageverfahren
(fragmentiertes System, div. SV-Kassen)
Umverteilung SV zugunsten ärmerer Schichten zugunsten gutverdienender Schichten
Einteilung
Gesundheitssystem
Staat
Gewerkschaften (obras sociales)
Privatkliniken
Armee
Staat (SERMENA, SNS)
Privatkliniken
Arme
Beiträge KV in %1 Zwischen 3 – 7 % ² Zwischen 1- 5,5 %
Abdeckung für
Bedürftige
Ja (staatliche Krankenhäuser) Ja (SNS)
Quelle: Autor & Mesa-Lago 1978 1Daten: 1973 Argentinien, 1968 Chile; 2Beiträge gingen an Gewerkschaftsspitäler, da öffentlicher Sektor kostenlos
Die größte Ausweitung des SV-Schutzes fand in Argentinien während der Regierung von
Juan Perón (1943 – 1955) statt, als Arbeitnehmer im Handel (1944), der Industrie (1946),
sowie der Landwirtschaft (1954) inkludiert wurden und bestehende Leistungen für das Militär
ausgeweitet wurden (1946 - 1950). Perón verstand es, die Arbeiterschicht als mächtige
Interessensgruppe zu organisieren und sie durch sozialpolitische Maßnahmen an sich zu
binden, ohne dabei andere zentrale Gruppen wie das Militär oder die Polizei zu vergessen.
Die implementierten Maßnahmen führten zu einer deutlichen Umverteilung des Einkommens
zugunsten ärmerer Schichten. Was anfänglich wie ein wohlfahrtsstaatliches Erfolgsmodell
anmutete, wurde ab 1950 zunehmend schwerer zu finanzieren, als sich die wirtschaftliche
Lage Argentiniens verschlechterte (Mesa-Lago 1978: 164f). Das war auch ein wichtiger
Faktor für den Militärputsch von 1955 unter General Aramburu. Während dessen Regierung
wurde der letzten großen Berufsgruppe, den Hausangestellten, der SV-Schutz zugestanden.
Damals bestanden für alle Versicherungen unterschiedliche Beitragshöhen und
Leistungsumfänge. Die Folgen waren nicht nur für erhebliche Ungleichheiten im System,
sondern auch höhere administrative Kosten und Ineffizienz. Daher gab es seit der Regierung
Peróns Pläne zur Vereinheitlichung der SV-Kassen, die allerdings erst zwischen 1967 - 1968
unter der Militärregierung von General Onganía umgesetzt werden konnten. So konnten die
SV-Kassen schließlich auf zwei Fonds reduziert werden (Unselbstständige & Selbstständige).
Das Militär und die Polizei wurden von dieser Zentralisierung ausgenommen, was mit dem
Erhalt des „sozialen Friedens“ begründet wurde (ibid. 1978: 166f).
1920 verdankte in Chile Arturo Alessandri seinen Wahlsieg den Wählerstimmen der Arbeiter-
und Mittelschicht. Ohne die Polizei wäre hingegen der autoritäre Führungsstil des Präsidenten
Ibañez um 1930 nicht möglich gewesen. Die Loyalität ihrer Unterstützer belohnten beide
Präsidenten mit der Schaffung eigener Versicherungen (1924 Arbeiter, 1925 Angestellte und
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1927 Polizei). Mit hoher Wahrscheinlichkeit erreichten damals die meisten Versicherten das
Pensionsalter von ca. 65 Jahren allerdings gar nicht, da die Lebenserwartung 1920 bei nur
31,5 Jahren lag (Raczynski 2000: 142, Mesa-Lago 1978: 25). Bis Anfang der 1970er kam es
zur progressiven Ausweitung der SV auf kleinere Berufsgruppen wie die Handelsmarine,
Jockeys, Bankmitarbeiter oder die Selbstständigen. Das resultierende Problem war die hohe
Fragmentierung und Ineffizienz des SV-Systems mitsamt hohen administrativen Kosten.
Zusätzlich kamen Studien ab den 1950ern wiederholt zum Schluss, dass die
Ressourcenumverteilung zwischen den SV-Kassen eher zugunsten der gutverdienenden
Arbeitnehmer erfolgte. Die Kosten des Systems trugen indirekt vor allem Nicht-Versicherte
durch ihre Steuern (Mesa-Lago 1978: 54f). Als Gegenmittel wurde gleich wie in Argentinien
die Standardisierung und Vereinheitlichung der Systeme vorgeschlagen, doch alle
Reformversuche von Präsidenten Frei (1964 – 1970) scheiterten an der Opposition
verschiedener Interessensgruppen, die ihre Privilegien bedroht sahen. Präsident Allende, der
auf Frei folgte, sah sich hingegen wieder gezwungen die SV-Privilegien seiner Unterstützer
auszubauen, um den Frieden in seinem Wahlbündnis zu erhalten (ibid. 1978: 28f).
Strategisch wichtige Interessensgruppen bewirkten im Laufe des 20. Jh. in beiden Staaten die
Ausweitung der Pensions- und Krankenversicherung. Im Jahr 1970 lag die SV-Abdeckung
der Bevölkerung in Chile bei 71,9 % und in Argentinien bei 55,4 % (ibid. 1978: 41 & 180).
Die Ausweitung basiert entweder auf der Mobilisierungskraft der Interessengruppe oder
Privilegien aufgrund der Unterstützung während der Regierung. Das Resultat dieser
Klientelpolitik war sowohl in Argentinien als auch in Chile ein stark fragmentiertes SV-
System, das inneffizient und kostenintensiv war. Chile schaffte es in seiner demokratischen
Phase nicht das SV-System zu vereinheitlichen und auch die Reduktion der SV-Kassen in
Argentinien gelang erst unter der Militärregierung von General Onganía. Daraus lässt sich
schließen, dass Vereinheitlichungsprozesse im Sozialsystem unter autoritären Systemen
erfolgreicher sind. In Demokratien ist die Umgestaltung wegen politisch relevanter
Interessensgruppen, die um ihre Privilegien fürchten, schwieriger.
Entwicklungen ab Mitte der 1970er
In Argentinien wurden bereits während der Diktatur von General Videla erste Schritte für
neoliberale Reformen des Wohlfahrtsstaates gesetzt. Um die nationalen Gesundheitsausgaben
zu reduzieren, wurden im Zuge des Dezentralisierungsprozesses (1976 – 1990er) fast alle
staatlichen Gesundheitsdienste an die Provinzen abgegeben. Der Staat nahm erstmals seit
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1947 bewusst eine subsidiäre Rolle in der Gesundheitsversorgung ein und fokussierte seine
Leistungen auf Nicht-Versicherte (Tobar 2012: 12f). Die obras sociales blieben trotz der
Repression gegen Gewerkschaften der wichtigste Gesundheitsdienst im Land, doch sie
wurden 1980 formell von den Gewerkschaften getrennt und durften sich somit nur noch durch
KV-Beiträge finanzierten. Diese Maßnahme hatte zwei Ziele: die Position der
Gewerkschaften zu schwächen und die Reduktion der staatlichen Gesundheitskosten. Die
Gewerkschaftsmitgliedschaften gingen dadurch allerdings nicht zurück, was Marshall (2006:
20) auf die Untrennbarkeit der obras sociales von den Gewerkschaften in den Köpfen der
Menschen zurückführte. In den 1990ern war das Gesundheitssystem extrem fragmentiert
(über 300), da jede Berufsgruppe ihre eigene obra social hatte. Viele kleine obras sociales
waren nicht in der Lage, eigene Gesundheitsdienste zu unterhalten, was die Auslagerung an
private Kliniken erforderlich machte. Der private Gesundheitssektor profitierte in Form von
Gebühren von diesem Arrangement und wuchs auf eine beachtliche Größe. Tendenziell ist der
Anteil der Bevölkerung, der das staatliche Gesundheitswesen nutzt, seit Ende der 1960er
leicht gestiegen. Das lag zum Teil aber an der hohen Arbeitslosigkeit und der schlechten
wirtschaftlichen Situation in den 1990ern. Durch eine Reform wurden Mindeststandards und -
leistungen für die obras sociales festgelegt, da besonders jene einkommensschwacher Berufe
einen geringen Schutz boten (Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000: 418 & 422).
Die KV unterlag in Chile Anfang der 1980er der wirtschaftlichen und sozialen Strukturreform
der Diktatur, die den Prinzipien des Neoliberalismus folgte. Es kam zu einer
Dezentralisierung der Gesundheitsdienste, einer Vereinheitlichung der KV-Regelungen und
einer Privatisierungswelle. Das Ziel dieser Maßnahmen war die Stärkung privater Anbieter,
um die Ressourcenverteilung zu verbessern, sowie die Effizienz und Qualität der Leistungen
durch Wettbewerb anzuregen. Der SNS wurde 1979 in Folge des Dezentralisierungsprozesses
in 27 selbstverwaltende Regionen aufgespalten und die medizinische Erstversorgung wurde
an die Gemeinden abgegeben. Gleich wie in Argentinien ging die Finanzierungslast auf die
sub-nationale Ebene über, wodurch staatliche Ausgaben reduziert werden sollten. Neben der
öffentlichen Gesundheitsversorgung beschränkte sich der Staat durch das neue nationale
System der Gesundheitsdienst (SNSS) weitestgehend auf eine Koordinationsfunktion
nationaler Gesundheits-Policies. Anstatt die KV nach Berufsgruppen zu unterscheiden,
bestand die Trennung ab sofort zwischen der öffentlichen Gesundheitsversorgung (FONASA)
und privaten KV-Anbietern (ISAPRE). Fleury (2017: 3) bezeichnet dieses System „duales
Modell“, doch tatsächlich gab es für die Armee und Polizei noch ein drittes System.
Außerdem fand man selbst innerhalb der FONASA eine soziale Stratifizierung. Je nach
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Einkommenskategorie erhielt man Zugang zu mehr oder weniger Leistungen (Barrientos und
Lloyd-Sherlock 2000: 418f). 1986 wurde ein einheitlicher, verpflichtender
Arbeitnehmerbeitrag von 7 % eingeführt, der entweder an die FONASA oder eine ISAPRE
gezahlt werden konnte. Niedrige Einkommensschichten blieben de facto von ISAPREs
ausgeschlossen, da sie die Kondition der monatlichen Mindestzahlung meist nicht erfüllen
konnten. Für Personen mit einem erhöhten Krankheitsrisiko fielen hingegen höhere Prämien
an, was ISAPRES für sie unerschwinglich machte. Als das Land 1990 zur Demokratie
rückkehrte, war ein Viertel der Bevölkerung bei einer ISAPRE versichert. Meist waren es
Personen mit gutem Einkommen und geringem Gesundheitsrisiko (Larrañaga 2010: 12).
Kay (1999: 107) fasst die wichtigsten Merkmale des Kapitaldeckungsverfahrens prägnant
zusammen. Der Versicherte trägt das individuelle Risiko für Verluste, aber muss Gewinne
auch nicht teilen. Die Umverteilung beschränkt sich somit auf gezielte Sozialhilfe-Programme.
Prognosen über die Rentabilität des Kapitaldeckungsverfahrens sind ungewiss, da sie von der
gesamtwirtschaftlichen Situation abhängen. Durch oft niedrige Pflichtbeiträge fällt die Höhe
der Pension im Vergleich zum durchschnittlichen Erwerbseinkommen relativ gering aus. Die
Kosten der Systemumstellung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren sind
wiederum sehr hoch und lagen in Chile von 1981 - 1998 bei rund 5,7 % des BIP, während sie
in Argentinien von 1995 - 2001 zwischen 1 - 4 % des BIP lagen (Hujo und Rulli 2014: 5ff).
Neoliberale Strukturreformen führten zugleich zur Flexibilisierung von Arbeitnehmerrechten,
Tabelle 8: Reform der Pensions- und Gesundheitssysteme
Argentinien Chile
Start der Reform 1990er (Demokratie) bzw. im geringeren
Ausmaß seit 1976
1980er (Diktatur)
Reformen
Pensionssystem
Kapitaldeckungsverfahren (AFJP) und
reformiertes Umlagesystem:
Partielle Privatisierung (gemischtes System)
Kapitaldeckungsverfahren (AFP):
volle Privatisierung, Vereinheitlichung und
Standardisierung, ersetzte Umlagesystem
Einteilung und
Deckung
Gesundheitssystem
Staatlich (Unversicherte): 37,4 %1
obras sociales (KV): 52,6 %1
Privat: 8,6 %1
FONASA (staatlich): 60 %1
ISAPRE (privat): 25 %1
Andere (privat): 13 %1
Reformen
Gesundheitssystem
Dezentralisierung (Provinzen)
Dezentralisierung (27 Regionen, Gemeinden),
Anreiz für Privatversicherungen
Beiträge KV in %
des Einkommens
8 % (3 % Arbeitnehmer + 5 % Arbeitgeber) an
obra social, öffentl. System durch Steuergeld
7 % Arbeitnehmerbeitrag (an FONASA oder
ISAPRE) + zusätzliche Beiträge bei ISAPREs
Behandlungen für
Bedürftige
Ja, gratis (staatliche Krankenhäuser) Ja, gratis (FONASA)
Quelle: Raczynski 2000, Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000 1Daten: 1996 Argentinien, 1990 Chile;
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wodurch Personen öfter arbeitslos wurden und nicht ins Pensionssystem einzahlen konnten.
Somit verringerten sich auch das Kapital in ihren Pensionsfonds und in Folge ihre Pensionen.
Bekannte Probleme wie der demographische Wandel und beträchtliche staatliche SV-
Ausgaben bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation spielten bei Privatisierung der
Pensionsversicherung (in Folge: PV) eine große Rolle. Auch internationale Faktoren, wie der
verstärkte internationale Wettbewerbsdruck durch die Abkehr vom ISI-Modell und die
Förderung neoliberaler Marktreformen durch die Weltbank und den IMF, beeinflussten diese
Entscheidung maßgeblich (Kay 1999: 403ff). Mit der Schaffung der Pensionsfondverwalter
(in Folge: AFP) wurde Chile 1981 das erste Land, das nach der Weltwirtschaftskrise von 1930
das Kapitaldeckungsverfahren einführte und galt somit als großangelegtes Experiment (Hujo
und Rulli 2014: 2). AFPs sind private Versicherungsfirmen, die individuelle Pensionskonten
verwalten und versuchen mit dem Kapital Gewinne zu erzielen. Jeder neue Arbeitnehmer fiel
automatisch ins neue Pensionssystem, während Arbeitnehmer mit bestehendem
Dienstverhältnis freiwillig umsteigen konnten. Arbeitgeberbeiträge wurden eliminiert,
während die verpflichtenden Arbeitnehmerbeiträge nur 10 % betrugen, was beim Umstieg zu
einem sofortigen Anstieg des Nettolohns wegen geringerer Abzüge führte. Zusätzlich wurde
von den AFPs ein Beitrag von 3,4 % für Witwen- und Invaliditätspension verwaltet. Das galt
für alle Berufsgruppen gleichermaßen, wodurch die Fragmentierung des SV-Systems fast
komplett reduziert wurde. Die einzigen Ausnahmen bildeten das Militär und die Polizei (Kay
1999: 408, Larrañaga 2010: 12). Der damalige Wirtschaftsminister Jose Piñera (1991: 29ff)
beschrieb später den breiten Protest gegen die Reform durch Gewerkschaften, SV-Experten,
die alten SV-Kassen und mehreren hochrangige Mitglieder des Militärs, die einen
paternalistischen Staat bevorzugten. Doch im autoritären System konnten sie nur eine kurze
Einfrierung der Reform erwirken, nachdem die Junta überzeugt wurde.
In Argentinien waren die Gründe für die Reform der SV in den 1990ern dieselben wie in
Chile. Der wirtschaftliche Erfolg des Nachbarlandes diente als zusätzlicher Ansporn. Eine
kleinere neoliberale Öffnung der Wirtschaft war in Argentinien bereits während der Diktatur
von General Videla eingeleitet worden. Dessen ungeachtet wurde angenommen, dass eine
Privatisierung der SV unter einer demokratischen Regierung am Protest der Bürger scheitern
würde. Ihr Zustandekommen führt Kay (1999: 417) in Argentinien deswegen auf mehrere
Faktoren zurück. Die wichtigsten Gegner der Reform schafften es nicht eine geschlossene
Protest-Koalition zu bilden und hatten zudem wegen dem Aufbau der politischen Institutionen
wenige Möglichkeiten als Veto-Spieler aufzutreten. Die Volksabstimmung war als Instrument
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noch nicht ausgebaut und schließlich umging Präsident Menem den Kongress, indem er für
die Schaffung des neuen Pensionssystems Notstandsdekrete verwendete. So wurde eine
partielle Privatisierung des Pensionssystems erreicht. Arbeitnehmer bekamen weiterhin die
Möglichkeit, zwischen dem reformierten staatlichen Pensionssystem mit Umlageverfahren
und einer gemischten Version zu wählen. Letztere bestand aus einer staatlich garantierten
Grundpension, die durch einen Betrag aus einem individuellen Pensionsfond aufgewertet
wurde (Hujo und Rulli 2014: 6).
Das SV-System befand sich in beiden Staaten in einer Finanzierungskrise, was eine Reform
notwendig machte. Als Lösung präsentierten die internationalen Finanzinstitutionen den
Neoliberalismus, der zum dominierenden Wirtschaftsdogma geworden war. Doch erst eine
starke Exekutive konnte solche Reformen tatsächlich umsetzen. Dazu kam die Schwäche der
Reformgegner, entweder in Form von Machtlosigkeit (Chile) oder Zersplitterung
(Argentinien). Die Privatisierung der PV zeigte in beiden Staaten negative Auswirkungen auf
die Abdeckung, da bis zur Jahrhundertwende die Anteile der Pensionsempfänger und
Beitragszahler an der Bevölkerung gefallen sind. Auch der Gesundheitssektor hat in beiden
Staaten einen Wandel durchgemacht. Die Dezentralisierung begann bereits um 1980.
Verschiedene Maßnahmen zur Reduktion staatlicher Gesundheitskosten führten indes zum
Anstieg der Zahl der Privatversicherten (Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000: 421). Trotz der
„freien Versicherungswahl“ konnten sich de facto nur einkommensstarke Schichten den
Service privater Versicherungsdienste leisten. Das führte wiederum zur Kostenkonzentration
im staatlichen Gesundheitssystem, das für einkommensschwache Schichten und
Bevölkerungsgruppen mit höherem Krankheitsrisiko (z.B.: Pensionisten, Arbeitslose)
zuständig war. Daher blieb die Kostenreduktion durch die Privatisierungen weitgehend aus,
und es konnte nur eine geringe Effizienzsteigerung bei den obras sociales festgestellt werden.
Obwohl die Organisation der Gesundheitssysteme sich verändert hat, blieb die grundlegende
soziale Stratifizierung seit dem 20. Jh. fast unverändert. Sogar innerhalb einzelner
Teilsysteme (z.B. FONASA und obras sociales) ist der Zugang zu Gesundheitsleistungen
sehr ungleich verteilt. Die Reformen trugen im Endeffekt nicht zur Lösung bestehender
Probleme bei (ibid. 2000: 422). Da die Reformen sowohl in einer Demokratie als auch in
einer Militärdiktatur durchgeführt wurden, scheint das politische System die Entscheidung
nicht beeinflusst zu haben. Eine starke Exekutive findet sich zwar eher in einer Diktatur, doch
am Beispiel Argentiniens wird ersichtlich, dass auch ein demokratischer Präsident viel Macht
haben kann.
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Streik- und Gewerkschaftsrecht
Entstehung
Anfang des 20. Jh. wurden die ersten de facto Gewerkschaften gegründet, die bald auch eine
beachtliche Streiktätigkeit entwickelten. Das Wachstum der Organisationen wurzelte in der
beginnenden Industrialisierung und der damit entstehenden Arbeiterschicht. Aufgrund von
Chiles Hauptexportgütern – Mineralien – begann der formelle Prozess ihrer Legalisierung
dort früher. Gewerkschaften wurden in Chile bereits 1924 unter Präsidenten Alessandri
offiziell erlaubt. In Argentinien geschah dies erst 1945 unter Federführung des späteren
Präsidenten Perón (Rinkeberg 2009: 145). Sowohl Alessandri als auch Perón kamen mithilfe
der Arbeiterschaft an die Macht. Daher sind der Zeitpunkt der Legalisierung und die
Verankerung der Vereinigungsfreiheit in den jeweiligen Verfassungen zumindest teilweise
auf Klientelismus zurückzuführen. Das Gewerkschaftsrecht ähnelte sich in beiden Ländern
und veränderte sich in seinen Grundzügen bis in die 1970er Jahre kaum. Von besonderer
Bedeutung war für Gewerkschaften die Erlangung der juristischen bzw.
„gewerkschaftlichen“ Persönlichkeit, da diese die offizielle Anerkennung des Staates und
weiterreichende Rechte garantierte. Beide Länder sahen betriebsinterne und Berufsgruppen-
Gewerkschaften vor, wobei letztere sich zu Bündnissen zusammenschließen konnten. Durch
ihre Legalisierung hoffte man auch ein Werkzeug zur kontrollierten Interessensartikulation
und -aggregation zu schaffen. Es ist anzunehmen, dass dadurch soziale Unruhen vermieden
werden sollten. Die gewünschte Trennung von Gewerkschaften und Politik spiegelte sich in
der Bestimmung wider, dass „der Zweck von Gewerkschaften die Verbesserung der
Arbeitsbedingungen und Löhne zu sein hat“. In der Realität waren Gewerkschaften allerdings
nicht nur stark mit Parteien verbunden, sondern wurden selbst zu politischen Akteuren. Von
besonderer politischer Bedeutung waren die zwei größten Gewerkschaftsbünde. Die 1930
gegründete Confederación General del Trabajo (CGT) und die 1953 entstandene Central
Unica de Trabajadores (CUT), die jeweils unter Perón und Allende einen beachtlichen
politischen Einfluss hatten. Einigen Gruppen wie Landarbeitern blieb das Vereinigungsrecht
jedoch lange untersagt. Das chilenische Gesetz bevorzugte Betriebs-Gewerkschaften,
während in Argentinien auch Gewerkschaftsbünde Kollektivverträge aushandeln konnten.
Das führte laut Marshall (2006: 15) zur stärkeren Fragmentierung und folglich der
Schwächung der Gewerkschaften in Chile. Unabhängig von der politischen Einstellung der
Regierungen kam es später zu keinen großen Änderungen der Materie. Allein in Argentinien
wurde 1958 ein staatliches Einmischungsverbot in Gewerkschaften erlassen, sowie eine
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Reform des Gewerkschaftrechts, die 1973 nach Peróns Rückkehr aus dem Exil, durchgeführt
wurde (Romero 2006: 141).
Die Regelung von Arbeitskonflikten und das Streikrecht waren in beiden Ländern miteinander
verwoben. Bereits 1917 wurden Arbeitskonflikte in Chile gesetzlich geregelt, was indirekt
auch eine Legalisierung von Streiks zur Folge hatte. Erneut waren es jedoch die Gesetze der
ersten Regierung Alessandris, die den Kern späterer Gesetze bildeten (z.B. des
Arbeitsgesetzbuch 1931). Für die Schlichtung von kollektiven Arbeitskonflikten wurden
eigene Institutionen und Verfahren geschaffen, während Individualbeschwerden von neuen
Arbeitsgerichten behandelt wurden. Ab 1924 waren Streiks und „lock-outs“ (Streik durch
Arbeitgeber) gesetzlich nur erlaubt, wenn alle anderen Mittel bereits ausgeschöpft waren. Die
brutale Niederschlagung von Streiks gehörte in der Realität dennoch zum Alltag (Rinke 2007:
110). Dies änderte sich erst unter der Regierung Frei, während der es nicht nur zum
sprunghaften Anstieg der Gewerkschaften, sondern 1970 auch zur Aufnahme des Streikrechts
in die Verfassung kam (Marshall 2006: 16). Streiks wurden 1945 in Argentinien ebenso wie
Gewerkschaften wesentlich später als in Chile geregelt. Dies geschah zudem unter einer
Militärjunta. Es dauerte sogar bis 1957 – unter einer anderen Militärjunta – bis
Arbeitskonflikte reglementiert wurden. Die 1959 eingeführten Zwangsschlichtungen wurden
unter General Onganía 1966 bereits wieder aufgehoben. Wenn es dem „öffentlichen
Interesse“ entspracht, konnten sie allerdings weiterhin angeordnet werden. Zugleich wurden
das Streikrecht und die Vereinigungsfreiheit in die Verfassung aufgenommen. Erst 1974 kam
es zu einer wesentlichen Einschränkung des Streikrechts. Als „illegal“ deklarierte Streiks
konnten von da an mit Haftstrafen bedroht werden. Landarbeitern und Hausangestellten
wurde das Streiken zudem dezidiert untersagt. Es ist allerdings anzunehmen, dass dies als
Antwort auf die sozialen Unruhen zurückzuführen war, die das Land dem Chaos nahebrachten.
In beiden Ländern bauten Gesetze über die Jahre Schlichtungs- oder Schiedsverfahren auf.
Man konnte die Forderungen der großen und immer besser organisierten Interessensgruppe
der Arbeiter nicht länger ignorieren. Es ist daher anzunehmen, dass ihnen so die Möglichkeit
gegeben werden sollte, ihre Interessen in einem kontrollierten Prozess zu formulieren und
somit gewaltsame Proteste zu vermeiden. Dass Streiks in beiden Ländern als „ultima
ratio“ gesehen wurden, weist zusätzlich auf das Verlangen, hin die soziale Ordnung aufrecht
zu erhalten.
Ein eigenes Kapitel bildete in beiden Ländern das Streik- und Gewerkschaftsrecht des
öffentlichen Dienstes. So verbot Chile 1937, 1948 und 1958 den Streik im Rahmen der
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staatsinternen Sicherheit. Selbiges geschah auch in Argentinien 1945 und 1974 unter Peróns
Regierung, wobei die harten Strafen von 1974 auf die kritische innenpolitische Lage
zurückzuführen waren. Das Land stand damals kurz vor einem offenen Bürgerkrieg
(Riekenberg 2009: 173f). Doch auch im Rahmen einfacher Gesetze zum Arbeitskonflikt
wurde Beamten das Streikrecht ausdrücklich verboten. Im Unterschied zu Argentinien wurde
dem chilenischen öffentlichen Dienst anfänglich auch das Vereinigungsrecht untersagt.
Natürlich wiesen beide Staaten auch Eigenheiten auf. In Argentinien waren insbesondere der
Aufbau eigener Spitäler und anderer obras sociales für Gewerkschaftsmitglieder von
Relevanz. Dabei handelte es sich um Sozialleistungen, die nicht durch den Staat, sondern
primär von Gewerkschaften gestellt wurden. Wie bereits im letzten Unterkapitel angedeutet,
entstanden sie aufgrund des fehlenden staatlichen Schutzes, was die Arbeiterschaft zwang, die
Initiative zu ergreifen. Gegen Ende der 1960er galten sie bereits als besser als die staatlichen
Gesundheitseinrichtungen, und es ließ sich der Großteil der Bevölkerung dort behandeln
(Mesa-Lago 1978: 200f). Die obras sociales wurde somit sogar vom Staat gutgeheißen, da es
ihn finanziell entlastete. Darauf deutet auch ein Gesetz der obras sociales von 1970 hin, das
während der Diktatur der Revolución Libertadora entstand. Unabhängig von der
Gewerkschaftsmitgliedschaft durften nun alle Arbeitnehmer und ihrer Familien die obras
sociales benutzen. Als Perón 1973 aus dem Exil zurückkam, führte er Pflichtbeiträge für
Gewerkschaften ein, die auch Nicht-Mitglieder zahlen mussten. Wahrscheinlich wollte Perón
somit die Allianz zwischen seiner Partei und den Gewerkschaften aufrechterhalten. In Chile
wiederum wurden Normen für Gewerkschaften teilweise auch speziell für bestimmte
Berufsgruppen oder Wirtschaftssektoren erlassen. So wurden Bauerngewerkschaften erst
1947 legalisiert, waren aber im Vergleich zu Gewerkschaften in Industrie und im
Dienstleistungssektor stark eingeschränkt. Erst 1967 wurde unter Präsidenten Frei im Zuge
seiner Agrarreform die Bildung von Bauerngewerkschaften vereinfacht, und es wurde ihnen
sogar das Streikrecht zugesprochen.
Das Streik- und Gewerkschaftsrecht wurde in beiden Staaten zuerst als Delikt, danach als
tolerierte Freiheit und schließlich als schützenswertes Gut erachtet (Ackerman 1990), wobei
dieses Rech nie universell galt. Der (fast) kontinuierliche Ausbau der Rechte hing ähnlich wie
in Europa mit der Industrialisierung zusammen. Insbesondere nach dem Umstieg auf die
importsubstituierende Industrialisierung und der Weltwirtschaftskrise wuchs die
Arbeiterschaft, die als Interessensgruppe immer mehr an Bedeutung gewann. Unabhängig der
politischen Gesinnungen der folgenden Regierungen kam es Mitte der 1970er kaum zu
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größeren Rückentwicklungen, wobei in politisch turbulenten Zeiten kurze Verschärfungen der
Gesetze oder Repressionen möglich waren. Das Streikrecht blieb als „ultima ratio“ fast
durchwegs ein fester Bestandteil des Rechts und diente, zusammen mit den
Schlichtungsverfahren, der koordinierten und kontrollierten Artikulation der
Arbeitnehmerinteressen. Durch diese Kanalisierung der Anliegen sollte vor allem der soziale
Frieden erhalten werden. Ausgenommen davon war der Staatsdienst beider Staaten.
Unterschiede im Gewerkschaftsrecht führten dazu, dass Gewerkschaften in Chile
fragmentierter und tendenziell schwächer waren als in Argentinien. Es ist erstaunlich, dass in
Argentinien ein korporatistisches System vor allem unter Militärregimen geschaffen wurde.
Möglicherweise erlaubte ihnen das allerdings ihre Verhandlungspartner besser selektieren zu
können (Buchanan 2008: 84).
Während der Diktatur
Das Streikrecht wurde in beiden Ländern während der Diktaturen als Bedrohung der
Staatssicherheit und nicht als Instrument der Interessenartikulation verstanden. Im Gegensatz
zu Chile konnte die argentinische Junta allerdings auf ein Gesetz von 1974 zurückgreifen. Das
Streikrecht wurde in Argentinien nach dem Putsch für einige Monate komplett aufgehoben.
Danach behielt sich die Regierung das Recht vor, Streiks oder lock-outs jederzeit zu verbieten,
falls sie die nationale Sicherheit bedroht sah. Andererseits wurde in Chile 1979 ein Dekret
erlassen, das die legale Entlassung eines Arbeiters zuließ, falls der Streik länger als 60 Tage
dauerte. Diese Entlassung wurde per Gesetz als „freiwillige Kündigung“ interpretiert,
wodurch die Abfertigung entfallen wäre. Während dieser Zeit mussten Arbeitgeber auch
keine Sozialversicherungsabgaben für die Arbeiter zahlen. Das erhöhte die Streikkosten für
Arbeiter enorm und diente ohne Zweifel als Abschreckungsmaßnahme. Die wichtigsten
Gewerkschaftsbünde CUT und CGT wurden von beiden Regierungen sofort ins Visier
genommen. Die CUT wurde in Chile per Dekret 1973 verboten. Der argentinischen CGT
wurde vorgeworfen nicht mehr im Interesse der Arbeitnehmer zu handeln, und der Zugriff auf
alle ihre Konten wurde blockiert.
Noch im selben Jahr des Putsches wurden in Chile Übergangsnormen für Gewerkschaften
erlassen, die ihnen politische Aktivitäten ausdrücklich verboten und ihre Arbeitsbedingungen
durch Vorschriften deutlich erschwerten. Das Versammlungsrecht wurde so fast komplett
beschnitten. Es lag im Interesse der Militärregierung, organisierte Proteste gegen ihre geplante
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Wirtschaftsliberalisierung zu verhindern. Daher nutzte sie die Tatsache, dass Kommunisten
und Sozialisten in den Gewerkschaften die dominierende Kraft waren, um ihr Vorgehen
gegen sie zu rechtfertigen (Buchanan 2008: 65). Zwar genossen Gewerkschaftsmitglieder
oberflächlich einen Schutz vor Entlassung, doch Marshall (2006: 17) zeigt auf, dass ab
Beginn der Diktatur die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder bis 1979 um fast die Hälfte sank.
Die Neuordnung des Gewerkschaftsrechts im Jahr 1979 schwächte Gewerkschaften zusätzlich.
So wurden individuelle Verhandlungen und betriebsinterne Kollektivverhandlungen
begünstigt, indem Verhandlern die gleichen Rechte wie Gewerkschaftsführern zuteilwurden.
Dadurch sank nicht nur die Attraktivität einer Mitgliedschaft, sondern es schwächte auch das
Kollektivverhandlungsrecht der Gewerkschaften (Etchemendy 2004: 274f). Für
betriebsinterne Gewerkschaften wurde die Pflichtmitgliedschaft aufgehoben.
Bauerngewerkschaften wurden aufgelöst, und Bauern mussten sich nach einer der anderen
Arten zusammenschließen. Letztlich trat 1980 allerdings eine neue Verfassung in Kraft, die
zwar das Streikrecht nicht erwähnte, jedoch die Vereinigungsfreiheit proklamierte.
In Argentinien erlaubte ein Dekret von 1976 vorläufig die bis dahin verbotene staatliche
Intervention in Gewerkschaften. Diese Regelung wurde bis zum Ende der Diktatur über
diverse Normen verlängert. Ab 1977 wurde die Bestimmung, dass auch Arbeiter, die nicht
bei der Gewerkschaft waren, Beiträge zahlen müssen, aufgehoben. Das entzog den
Gewerkschaften natürlich ein erhebliches Maß an finanziellen Mitteln und setzte auch die
obras sociales unter Druck. 1979 wurde ein neues Gewerkschaftsrecht erlassen, dass die
Bildung landesweiter Gewerkschaften erschwerte, ihre Einmischung in die Politik verbot und
praktisch jegliche Finanzierung, außer über die Mitgliedsbeiträge, für illegal erklärte. Ein
weiterer schwerer Schlag folgte im nächsten Jahr, als die legale Verbindung zwischen obras
sociales und Gewerkschaften, inklusive ihrer Finanzierung, getrennt wurde. Ab sofort waren
obras sociales über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge finanziert, die von einer
staatlichen Oberbehörde verwaltet wurden. Auch das führte zu einer erneuten gesetzlichen
Schwächung der Gewerkschaften. Es ist daher erstaunlich, dass der Prozentsatz an
Gewerkschaftsmitgliedern kaum fiel. Marshall (2006: 20) erklärt dies mit dem
weitverbreiteten Fehlglauben, dass man nur durch die Gewerkschaftsmitgliedschaft Zugang
zu den obras sociales hatte, doch das scheint als alleinige Erklärung ungenügend.
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Tabelle 9: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Streik- und Gewerkschaftsrecht
Argentinien Chile
Vor 1970er Auslöser: Industrialisierung, Wahrung sozialen
Friedens (durch kontrollierten Prozess)
Gewerkschaften: tendenziell stärker, Recht
bevorzugt keinen Gewerkschaftstyp, obras
sociales für Gesundheitsversorgung zentral
Streik:„ultima ratio“, im Staatsdienst illegal
Auslöser: Industrialisierung, Wahrung sozialen
Friedens (durch kontrollierten Prozess)
Gewerkschaften: tendenziell schwächer, Recht
bevorzugt Betriebs-Gewerkschaften
Fragmentierung
Streik:„ultima ratio“, im Staatsdienst illegal
Nach 1970er
(Diktatur)
Eingriffe und Schwächung Gewerkschaften:
trotzdem weiter stärker als in Chile, Angst
vor Protesten und Kommunismus
Einschränkung des Streikrechts
de jure Rechte VS de facto Repression
Eingriffe und Schwächung Gewerkschaften:
Angst vor Protesten und Kommunismus
Einschränkung des Streikrechts
de jure Rechte VS de facto Repression
Quelle: Autor
Bis Mitte der 1970er kam es zu einem langsamen, aber kontinuierlichen Ausbau der Streik-
und Gewerkschaftsrechte, sogar in Argentinien, das mehrere Militärregierungen durchlebte.
Der Bruch, der sich ab den Militärregierungen der 1970er vollzog, zeigt sich sehr deutlich an
der Schwächung der Gewerkschaften. Sie wurden nicht generell verboten, doch ihre
Mitgliedschaft wurde unattraktiver gemacht. Dafür sprachen das (partielle) Verbot der
größten Gewerkschaftsbünde und die Repression gegen Gewerkschaftsmitglieder, die de facto
stattfand. Auch die Trennung der obras sociales in Argentinien und die Bevorzugung von
Individualverhandlungen in Chile sollte in diesem Kontext gesehen werden. Einerseits barg
die Organisationsfähigkeit der Gewerkschaften stets eine Bedrohung für das Militär, das
Massenproteste fürchtete. Andererseits war der Kalte Krieg im vollen Gange und das Militär
vermutete in Gewerkschaften Brutstätten des Kommunismus vorzufinden, den es zu
bekämpfen galt oder benutzten diese Annahme zumindest als Rechtfertigung für
Interventionen. Allerdings behielten die traditionell stärkeren argentinischen Gewerkschaften
auch während der Diktatur mehr Macht als ihre chilenischen Pendants. Eine weitere
Kontinuität ist das Vereinigungs- und Streikverbot des öffentlichen Dienstes. Letztlich ist
anzunehmen, dass trotz ihrer Entrechtung die Arbeiterschaft noch zu stark war, um Streiks
und Gewerkschaften de jure komplett zu verbieten.
Öffentliche Primär- und Sekundärbildung
Die Primärbildung wird in dieser Arbeit als erste bis sechste Schulstufe und die
Sekundärbildung als siebte bis zwölfte Schulstufe verstanden, was der gängigen
internationalen Norm entspricht. Die Einteilung in Argentinien und Chile weicht teilweise
von dieser Norm ab. Für das bessere Verständnis der Materie müssen als Ausnahme auch
Gesetze aus dem 19. Jahrhundert beachtet werden.
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Entstehung
Der Staat übernahm in Chile 1860 und Argentinien 1884 per Gesetz die Hauptverantwortung
für die öffentliche und zugleich unentgeltliche Grundschulbildung. Anfangs geschah dies aus
der Notwendigkeit in den sehr jungen Republiken eine gemeinsame nationale Identität zu
schaffen und die Gesellschaften so zu homogenisieren. Das galt besonders für Argentinien mit
seiner starken Immigration um 1900. Auch der Glaube, dass Bildung den Fortschritt der
Gesellschaft und das Wirtschaftswachstum vorantreiben würde, spielte eine Rolle (Newland
1994: 454). Es dauerte im Föderalstaat Argentinien bis 1905 die Bildungskompetenzen
gesetzlich von den Provinzen auf die nationale Ebene zu übertragen – der Konflikt zwischen
denn Regierungsebenen sollte später wieder aufflammen (Mauceri und Ruiz 2009 [online]).
Als Zentralstaat hatte Chile dieses Problem nie. King Hall (1942: 657) charakterisierte die
Entwicklung der Bildungssysteme bis 1940 durch die fast zwanghafte Standardisierung der
Bildung, was mitunter aus Gründen der Kostenreduktion geschah. Der Nachteil der gesetzlich
festgelegten Curricula war ihre Inflexibilität. Die Anforderungen des Marktes oder der
ländlichen Bevölkerung wurden nicht berücksichtigt. Trotz der unentgeltlichen Bildung führte
die Armut während der ersten Hälfte des 20. Jh. zum Schulabbruch vieler sozial
benachteiligter Kinder, die sich oft nicht einmal eine Jause oder Schulutensilien leisten
konnten (OEI 1993: 2, Larrañaga 2010: 7f). Das nächste Ziel war daher die
„Demokratisierung der Bildung“. Ab den 1950ern zeigten die Maßnahmen, allen Kindern den
Zugang zu Bildung zu erleichtern, Erfolg (siehe Tabelle 10). In Chile wurde unter dem
konservativen Präsidenten Ibañez 1953 erstmals ein Service für Schülerhilfe gegründet, der
unter der Regierung Frei 1964 erweitert wurde. Dieser unterstützte finanziell schwächere
Schüler beim Kauf von Schuluniformen und anderen Notwendigkeiten. 1951 wurde eine
Subvention pro Schüler eingeführt, die auch für Schulen einen Anreiz schuf, die Anwesenheit
der Schüler zu verbessern. Aufgrund dieser Gesetze konnte Chile bis 1975 seine anfänglichen
Rückstände aufholen. In Argentinien wurden keine dementsprechenden Gesetze erlassen, was
dazu führte, dass 1943 gar nur 14 % der Schüler die sechste Schulstufe erreichten. Durch
nicht-gesetzliche Maßnahmen gelang es allerdings die Zahl der Abschlüsse bis 1975 auf 91 %
zu erhöhen (Bernetti und Puiggrós 2006: 236, Muñoz und Bravo 2011: 14). Man sollte
beachten, dass auch andere Sozialgesetze einen positiven Einfluss auf den Anstieg der
Schulabschlüsse hatten. So erhöhte sich durch den Schulbesuch des Kindes in beiden Staaten
die Familienbeihilfe und man erhielt einmal jährlich einen zusätzlichen Betrag für den
Schulstart. Diese Sozialgesetze waren aufeinander abgestimmt. Bis Mitte der 1970er hatten
beide Staaten ein stark zentralisiertes Bildungssystem aufgebaut.
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Tabelle 10:
Bildungsindikatoren
Argentinien
Chile
1900 1930 19551 19751 1900 1930 19551 19751
Abgeschlossene
Primärbildung
80,9 % 91 % 57,7 % 88, 1%
Abgeschlossene
Sekundärbildung
24,3 % 41,9 % 23,9 % 44,6 %
Alphabetisierung 52 % 73 % 88 % 93 % 43 % 66 % 79 % 87,6 %
Schulpflicht (Jahre) 6 6 6 6 6 6 8
Quellen: Newland 1994, Muñoz und Bravo 2011 1Daten Alphabetisierung für 1950 und 1970
Der zweite Meilenstein in der Bildungspolitik war ohne Zweifel die Einführung der
Schulpflicht, mit entsprechender Sanktionierung bei Missachtungen. Ihre Auswirkung kann
von den gestiegenen Schulabschluss- und Alphabetisierungsquoten abgelesen werden
(Tabelle 10). In Argentinien wurde bereits 1884 die sechsjährige Schulpflicht eingeführt,
während in Chile erst 1920 nach jahrelangen Debatten unter der Regierung Alessandri die
Einführung einer vierjährigen Schulpflicht gelang. Das Land hatte um 1900 eine relativ hohe
Analphabetenquote von rund 60 %, und man wollte vermeiden, zivilisatorisch hinter die
Nachbarländer zu fallen (Larrañaga 2010: 4). Die Schulpflicht wurde in Chile 1930 zuerst auf
sechs und schließlich 1965 unter dem Reformer Eduardo Frei auf acht Jahre erhöht. Dadurch
dauerte die Primärstufe länger als im internationalen Schnitt und beinhaltete theoretisch zwei
Jahre der Sekundärstufe. Zusätzlich fand eine komplette Reorganisation des Schulsystems
statt (ibid 2010: 10). Im Gegensatz zu Chile wurde die sechsjährige Schulpflicht in
Argentinien bis in die 1990er nicht verlängert. Zweifelsohne trug die Schulpflicht bald zur
Reduktion des Analphabetismus bei, da in beiden Staaten bereits 1950 mindestens 79 % der
Bevölkerung lesen und schreiben konnte (Newland 1994: 452).
Die öffentliche Sekundärbildung wurde in Chile ab 1885 geregelt und war auch unentgeltlich.
Im Gegensatz zur Primärbildung war sie in keinem der Staaten verpflichtend. In Argentinien
wurden unter der Regie Peróns neue Schultypen geschaffen. „Fabrikschulen“ (Escuela
Fabrica) sollten beispielsweise die Berufsausbildung fördern und den Zugang zur
Sekundärbildung für die Arbeiterschicht attraktiver machen. Der Anteil der Bürger mit einem
Sekundärschulabschluss verdoppelte sich in beiden Staaten zwischen 1955 und 1975 und
erreichte beiderseits der Anden ein Ausmaß von rund 40 % der Bevölkerung. Es wird deutlich,
dass ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wandlung von der rein elitären Bildung
zu einer für alle Bevölkerungsschichten zugänglicheren vollzogen wurde (Larrañaga 2010:
10).
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Sowohl in Argentinien 1947 als auch in Chile 1951 wurden Grundlagen für Subventionen an
Privatschulen gelegt, die dem Staat aber gleichzeitig die stärkere Reglementierung dieser
Einrichtungen erlaubte. Während in Chile nur unentgeltliche Privatschulen subventioniert
wurden, durfte in Argentinien der Staat im Gegenzug für die Subvention die Gebühren
festlegen. Erstmals wurden diese Einrichtungen auch staatlich erfasst. Insbesondere in
Argentinien konnte man ab 1947 anhand von erlassenen Dekreten einen bedeutenden Anstieg
der Regulierung aller Bereiche der Privatschulen und deren Bindung an den Staat beobachten,
die mit dem Boom der Privatschulen zusammenhängt.
Seit 1884 kam es in Argentinien immer wieder zum Konflikt zwischen Staat und Kirche, da
der Religionsunterricht aus dem offiziellen Curriculum gestrichen wurde. Stattdessen
orientierte man sich bei der Bildung am Positivismus (Newland 1994: 455). Der
Religionsunterricht wurde erst unter der konservativen Militärjunta im Jahr 1943 an allen
Schulen wieder verpflichtend eingeführt. Ein Jahr nach dem Erlass des Dekrets hatten bereits
97,48 % der Grundschüler wieder katholischen Religionsunterricht. Allerdings schaffte Perón
den Religionsunterricht wegen Streitigkeiten mit der Kirche bereits 1955 wieder ab (Ramallo
1999 [online]; Hartmann 2017: 226f). Die säkulare Bildungstradition in Argentinien stand im
starken Kontrast zu Chile, wo der Religionsunterricht immer auf den Lehrplänen stand.
Der Ausbau der öffentlichen Bildung hing weniger mit Klientelismus, als mit dem nationalen
Interesse zusammen, eine nationale Identität mit gemeinsamen Werten zu schaffen. Das
erklärt auch die frühe Expansion und Regulierung der zentralistischen Bildungssysteme.
Gleichsam kam es deswegen ab den 1950ern verstärk zur Demokratisierung der Bildung,
unabhängig von der politischen Orientierung einer Regierung. Zwei argentinische Eigenheiten
waren der Konflikt zwischen nationaler und sub-nationaler Ebene, sowie der zwischen Staat
und Kirche. Privatschulen wurden in beiden Staaten zugelassen, aber gleichzeitig stark
reglementiert. Es ist anzunehmen, dass die Subventionen an Privatschulen finanzielle Vorteile
gegenüber einem rein staatlichen Schulsystem boten. Nichtsdestotrotz blieb der staatliche
Bildungssektor wichtiger und größer.
Reformen während der Diktatur
Es gab zwei Tendenzen, die sich in der Bildungspolitik beider Diktaturen wiederspiegelten:
die Dezentralisierung und die Repression. In beiden Regimen fand die Dezentralisierung der
Bildung um 1980 statt und hing mit der neuen neoliberalen Wirtschaftsstrategie unter den
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Militärregimen zusammen. Der Staat sollte sich zurückziehen und möglichst viele Leistungen
dem Markt überlassen. Diese Ideen wurden nicht nur durch nationale Wirtschaftsexperten,
sondern vor allem durch die internationalen Finanzinstitutionen, wie der Weltbank vertreten.
Die Dezentralisierung sollte offiziell für bessere Effizienz in der Verwaltung und geringere
Staatsausgaben sorgen. Zudem wollte man so das Curriculum besser auf lokale Bedürfnisse
abstimmen (Eaton 2006: 4, Parry 1997: 107, Diaz Rios 2013: 5). In Argentinien gab es bereits
seit den 1960ern unter Präsidenten Frondizi und der Militärregierung von Onganía Pläne zur
Dezentralisierung, die zwar keine großen Veränderungen brachten, doch den Weg für die
späteren Reformen ebneten. Erst die Junta unter General Videla übergab 1978 die
Kompetenzen für Vor- und Grundschulen an die Provinzen - inklusive der Verantwortung
ihrer Finanzierung. Ein Jahr später wurde der Föderalen Rat für Kultur und Bildung
geschaffen, der curriculare Mindeststandards koordinieren hätte sollen (Mauerci und Ruiz
2009, De Luca 2013: 83). Vorstöße zur Regionalisierung gab es in Chile bereits 1974, doch
wurden Schulen der Primär- und Sekundärstufe, sowie deren Personal erst 1980 effektiv an
die Gemeinden übergeben. Im Gegensatz zu Argentinien wurde ein System der Ko-
Finanzierung eingeführt. Die Bildungsausgaben sanken in Chile dank der Dezentralisierung
tatsächlich und auch rund zwei Drittel des vom Staat angestellten Bildungspersonals wurde
entlassen. Insgesamt aber stieg das Bildungspersonal pro Schüler, wenn man die von
Gemeinden eingestellten Lehrer hinzuzählt (Parry 1997: 111f). Eine Reduktion der
Bildungsausgaben konnte auch in Argentinien ab den 1980ern, also kurz nach der
Dezentralisierung, festgestellt werden. Es ist zudem hervorzuheben, dass auch nach der
Wiederkehr zur Demokratie die Staatsausgaben weiter sanken und die Policies des autoritären
Regimes nicht rückgängig gemacht wurden (siehe Tabelle 11) (World Bank 2018b). Die
Senkung der Ausgaben fiel in beiden Staaten zugleich mit der zweiten Ölpreiskrise und der
darauf folgenden lateinamerikanischen Schuldenkrise zusammen, daher ist anzunehmen, dass
sowohl die Krisen als auch die davor übernommenen neoliberalen Wirtschaftsideen diese
Entwicklung beeinflusst hatten. Trotz einem leichten Anstieg der Schulabschlüsse während
den Diktaturen führten die Dezentralisierung und Privatisierung in Chile zu einer größeren
Ungleichheit, da die Bildungsqualität für einkommensschwache Schichten zusammen mit
ihrer Einschulungsquote sank (Parry 1997: 128, Muñoz und Bravo 2011: 14).
Tabelle 11: Staatsausgaben für Bildung als % des BIP
1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1987 1990
ARG 1,92 % 1,84 % 1,17 % 1,72 % 1,94 % 2,4 % 2,61 % - 1,6 % 1,62 % 1,28 % 1,07 %
CH 3,75 % 3,6 % - - 3,07 % 3,48 % 4,22 % 4,91 % - - 2,28 % 2,25 %
Quelle: World Bank 2018b
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Das zweite Merkmal der Diktaturen war die staatliche Repression, die ihre Spuren im
Bildungssystem hinterließ. Es kam zur Verfolgung „subversiver Elemente“ an Schulen im
Namen der nationalen Sicherheit (Sardi 2006: 105). Das argentinische Regime legitimierte
das Vorgehen oft mit Dekreten zur internen Sicherheit von 1975. Beispielhaft für den teils
willkürlichen Staatsterror war die „Nacht der Stifte“, während der 1976 Schülervertreter
entführt und ermordet wurden, die gegen Preiserhöhungen der Schülerbustickets protestiert
hatten. Unter beiden Regimen kam es zudem zur Zensur der Medien inklusive der
Schulmaterialien, die laut den Regierungen „subversive Elemente“ enthielten. Die
argentinische Junta verbot unliebsame Bücher regelmäßig durch Dekrete, während Chile ab
1977 für solche Bücher einfach keine Publizierungserlaubnis ausstellte. Es kam zu teils
absurd wirkenden Verboten, wie beispielsweise das Verbot von „Geschichte der
Revolutionen“ in Argentinien, weil es „subversive Techniken darstellte“ oder von „Der
Aufstand der Massen“ in Chile, obwohl das Buch eine elitäre Gesellschaftsstruktur vertrat und
nur aufgrund des Titels verboten wurde (Pottlitzer 2001: 472). Mit der Repression ging
gleichzeitig eine „Rückbesinnung auf nationale Werte“ einher. In Chile wurden 1975 Schüler
verpflichtet, täglich vor der nationalen Fahne aufzumarschieren und dabei die Nationalhymne
zu singen. In Argentinien waren die Schulen ebenfalls damit beauftragt nationale Werte zu
vermitteln, was 1980 auch per Dekret festgelegt wurde (Sardi 2006: 107).
Neben der Dezentralisierung bestand der Kern der chilenischen Bildungsreform in der
stärkeren Einbindung des Marktes. Bereits 1975 wurde die Subvention pro Schüler bzw. das
„Voucher-System“ eingeführt, das dem Prinzip der freien Schulwahl folgte. Es spielte keine
Rolle, ob eine Schule privat oder öffentlich war, die Subvention wurde an die gewählte
Schule überwiesen, solange sie keine Schulgebühren forderte. Durch den erhöhten
Wettbewerb sollte die Qualität der Bildung verbessert werden. Wahrscheinlich halfen die
bereits davor bestehenden Subventionen bei der Einführung des Voucher-Systems und
erklärten auch die weiterhin starke Reglementierung der Privatschulen, die Gelder erhielten
(Parry 1997: 109). Privatschulen gab es in Chile schon immer, doch erstmals zog sich der
Staat als wichtigster Anbieter von Bildung zurück (Larrañaga 2010: 12). Die Privatisierung
der Bildung mag in Chile unter einem autoritären System vollzogen worden sein, doch in den
1990ern unternahm Argentinien unter einer demokratischen Regierung ähnliche neoliberale
Reformen im Bildungssektor. Die Fiskalpolitik und Dezentralisierung unter der Militärjunta
werden oft als ausschlaggebend dafür gesehen (De Luca 2013: 77). Laut Diaz Rios (2016: 11)
scheiterte die Privatisierung vor der Regierung Menems am normativen Wert, den die
öffentlichen, staatlichen Bildung innehatte. Zudem war die Militärführung in Argentinien
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intern gespalten und stand nicht geschlossen hinter neoliberalen Reformen. Daher wurde die
Privatisierung erst durch den externen Druck internationaler Finanzinstitutionen auf die
Regierung und deren Unterstützung des neuen Wirtschaftsdogmas möglich.
Tabelle 12: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bildungspolitik
Argentinien Chile
Vor 1970er Grund: Konstruktion nationaler Identität,
Fortschrittsglaube
System: zentralisiert, standardisiert, unentgeltlich,
laizistisch
Privatschulen: reglementiert, tlw. subventioniert
Schulpflicht: 6 Jahre
Grund: Konstruktion nationaler Identität,
Fortschrittsglaube
System: zentralisiert, standardisiert, unentgeltlich,
ab 1950er mehr Unterstützungen
Privatschulen: reglementiert, tlw. subventionier
Schulpflicht: 4 J. (1920), 6 J. (1930) 8 J. (1965)
Nach 1970er
Neoliberalismus Dezentralisierung (Effizienz,
Kostenreduktion)
Internationale Faktoren (Dogmen, Krisen)
Repression & Nationale Werte
Neoliberalismus Dezentralisierung und
Privatisierung (Effizienz, Kostenreduktion)
Internationale Faktoren (Dogmen, Krisen)
Repression & nationale Werte
Ab 1990er verstärkter Neoliberalismus: Privatisierungen
Schulpflicht 9 J.
kaum Änderungen
Quelle: Autor
Das Bildungssystem wandelte sich beeinflusst von internationalen Faktoren wie neuen
Wirtschaftsdogmen (Neoliberalismus), externem Reformdruck (durch Weltbank, IWF),
Wirtschaftskrisen und dem Kalten Krieg (Anti-Kommunismus) markant. Wo zuvor stark
zentralistische Strukturen herrschten, wurde in beiden Staaten nur eine Dezentralisierung
vorgenommen, um in erster Linie die staatlichen Bildungsausgaben zu senken. Die Angst vor
dem Kommunismus, die während des Kalten Kriegs herrschte, spiegelte sich in der massiven
Repression und der Zensur in den Schulen wieder. Der reaktionäre Charakter der autoritären
Systeme führte stattdessen zur Instrumentalisierung der Bildung um gewünschte „nationale
Werte“ zu verbreiten. In dem Sinne erfüllte die öffentliche Bildung ihren am Ende des 19.
Jahrhunderts angedachten Zweck der Homogenisierung der Gesellschaft. Die Privatisierung
der Bildung wurde hingegen nur in Chile während des Militärregimes durchgeführt, während
Argentinien solche Reformen erst nach der Rückkehr zur Demokratie vollzog. Das lag
wahrscheinlich vor allem daran, dass der Neoliberalismus in Argentinien erst damals breitere
Unterstützung in der Regierung fand und diese von den Krediten internationaler Geldgeber
abhängig war, die marktfreundliche Reformen forderten.
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Mutterschutz
Entstehung
Die Arbeit von Frauen war Anfang des 20. Jh. in Lateinamerika sehr kontrovers. Da mit der
beginnenden Industrialisierung ihre Integration in den Arbeitsmarkt unaufhaltsam
fortzuschreiten schien, wurde die Reglementierung ihrer Arbeit, gleich wie in Europa, als
unerlässlich erachtet. Es galt vor allem Frauen in ihrer Rolle als Mütter zu schützen (Lavrin
1998: 54f & 82). Der Mutterschutz, der während des letzten Jahrhunderts in Argentinien und
Chile geschaffen wurde, regelte im Grunde drei Hauptkomponenten: die Karenz, die
medizinische Betreuung und betriebliche Kinderkrippen.
Karenz-Regelungen unterschieden sich vorrangig durch ihre Länge und Entlohnung. Beides
wurde im Verlauf der Jahrzehnte sukzessive erhöht. Revolutionär in dieser Materie war das
1919 verfasste Abkommen No. 3 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), da es
erstmals genauere Normen vorschlug. Es wurde zwar erst 1925 von Chile und 1933 von
Argentinien unterzeichnet, doch es beeinflusste die Mutterschutz-Gesetze beider Staaten auch
davor. Das erste Gesetz in dieser Materie wurde in Argentinien 1924 erlassen, während Chile
nur ein Jahr später folgte. Die Normen hatten das das Recht auf Karenz, den Schutz des
Arbeitsplatzes während der Karenz und das Entlassungsverbot in der Industrie und im Handel
gemein. Allerdings waren Chileninnen zu einer verpflichtenden Ruhezeit von 40 Tagen vor
und 20 Tagen nach der Geburt bei 50 % ihres Lohns berechtigt, während Argentinierinnen
vorerst nur sechs optionale Wochen vor und sechs verpflichtende Wochen nach der Geburt
freigegeben wurde - ohne Entlohnung. Das führte jedoch dazu, dass besonders arme
Arbeiterinnen die Karenz nicht in Anspruch nahmen, da sie den Lohn brauchten. Ihre
Neugeboren nahmen sie einfach in die Arbeit mit (Nari 2004: 218). Da die politische
Ausrichtung der Regierungen beider Staaten sehr unterschiedlich war, dient sie nicht als
Erklärung für den fast zeitgleichen Erlass der Gesetze. Stattdessen bestand in Teilen der
nationalen Eliten (v.a. bei Ärzten bzw. higienistas) ein Konsens, dass Regulierungen
notwendig seien. Es ist daher anzunehmen, dass das Mutterschutz-Abkommen der ILO diesen
Eliten bei der Überzeugung der Regierungen half (Lavrin 1998: 80f). Chile erhöhte im
Arbeitsgesetzbuch von 1931 die verpflichtende Ruhezeit auf je sechs Wochen vor und nach
der Geburt. Argentinien unterzeichnete 1933 das ILO-Abkommen No. 3 und folgte 1934 mit
der Einführung der verpflichtenden Karenz für die 30 Tage vor und 45 Tage nach der Geburt.
Durch einen neu festgelegten Pflichtbeitrag für weibliche Arbeitnehmerinnen wurde ihnen
nun erstmals der volle Lohn während der Karenz zugestanden. Die Beiträge wurden von der
neuen Mutterschaftskasse verwaltet, wodurch sich diese ähnlich wie eine Versicherung
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verhielt. Im selben Jahr bekamen auch erstmals Staatsbedienstete das Recht auf eine Karenz
von jeweils sechs Wochen vor und nach der Geburt bei vollem Gehalt. Im Gegensatz dazu
wurde Arbeiterinnen in Chile erst 1952 der volle Lohn während der Karenzzeit ausbezahlt.
Das Recht auf eine adäquate Entlohnung, während der Karenz war auch Teil des im selben
Jahr erneuerten ILO Mutterschutz-Abkommen No. 103. Dafür wurde dieses Recht 1953 auf
die Arbeitnehmerinnen aller Berufsgruppen ausgeweitet und es wurden weitere
Schutzmaßnahmen erlassen. Die letzte Verlängerung der Karenz wurde in Chile 1973 unter
der sozialistischen Regierung des ehemaligen Arztes Salvador Allende erlassen. Sie dauerte
nun sechs Wochen vor und zwölf Wochen nach der Geburt bei vollem Nettolohn. In
Argentinien folgte die letzte Verlängerung nur ein Jahr später 1974 durch das
Arbeitsvertragsgesetz. Die Karenz dauerte seit damals insgesamt 90 Tage (45 + 45 oder 30 +
60) bei voller Entlohnung. Zudem wurde der Kündigungsschutz auf 7,5 Monate vor und nach
der Geburt ausgeweitet. Beide Staaten finanzierten die Entlohnung während der Karenz durch
Versicherungsbeiträge, wobei diese in Argentinien exklusiv von Frauen zu zahlen waren. Aus
einem OECD Bericht (2017, 1) ging hervor, dass die Karenzzeit 1970 international gesehen
durchschnittlich bei 17 Wochen lag. Argentinien lag trotz der Regelung von 1974 darunter,
während chilenische Arbeitnehmerinnen ab 1973 knapp darüber lagen. Der Trend zum fast
zeitgleichen Erlass der Gesetze und der ähnlichen Karenzzeiten setzte sich seit den 1920er
Jahren fort, was auf einen Wissenstransfer zwischen beiden Staaten hindeute (siehe Tabelle
13). Generell lagen die Bestimmungen sehr nahe an den Forderungen des Mutterschutz-
Abkommens der ILO von 1952, obwohl beide Staaten nur das weniger strenge Abkommen
von 1919 ratifiziert hatten.
Tabelle 13: Karenzregelungen
Argentinien Chile
1924: 6 W. (optional) + 6 W. (42 d + 42 d), kein Lohn 1925: 40 d + 20 d, 50 % des Lohns
1934: 30 d + 45 d oder 42 d + 42 d auch Staatsdienst, voller
Lohn (alle)
1930: 6 W. + 6 W. (42 d + 42 d), 50 % des Lohns
1952: voller Lohn
1953: alle Arbeitnehmerinnen universell gültig
1974: 45 d + 45 d oder 30 d + 60 d, voller Lohn 1973: 6 W. + 12 W. (42 d + 84 d), voller Lohn
Quelle: Autor
Ein weiterer Aspekt der früh reguliert wurde, waren betriebliche Krippen für Kinder der
Arbeitnehmerinnen, selbst wenn die Gesetze oft wegen mangelnder Kontrollen nicht
eingehalten wurden (Lavrin 1998: 83). Chilenische Privatunternehmen mit mehr als 50
Arbeiterinnen wurden bereits 1917 verpflichtet, eine Betriebs-Kinderkrippe bereitzustellen,
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um arbeitenden Müttern das Stillen zu ermöglichen. Kleinkinder bis zu einem Jahr konnten
dort abgegeben werden. Eine identische Norm wurde in Argentinien 1925 eingeführt und
blieb bis 1974 erhalten, als sie in ein anderes Gesetz integriert wurde. Da allerdings eine
genauere Regelung des Artikels fehlte, trat er nie in Kraft. Die Gesetze waren sich so ähnlich,
dass anzunehmen ist, dass Argentinien die Bestimmungen aus Chile übernahm. Gleichzeitig
mussten in Chile Unternehmen seit 1925 Kinderkrippen bereits ab 20 Arbeiterinnen
bereitstellen. Allerdings entgingen viele Arbeitgeber ihrer Verpflichtung durch die
Einstellung von maximal 19 Arbeiterinnen. Selbst Ende der 1960er berichteten
Gewerkschaften, dass 80 % der Arbeitgeber die Kinderkrippen nicht gesetzeskonform
umsetzten (Casas und Herrera 2012 2012: 142). In Bezug auf das Stillen wurde in Argentinien
erneut das chilenische Modell übernommen. Während der 1930er Jahre schrieben beide
Staaten Müttern gesetzlich vor, dass sie die Pflicht hatten ihr eigenes Kind bis zu einem
gewissen Alter zu stillen. In Chile ging dies 1968 gar soweit, dass die Muttermilch gesetzlich
als „Eigentum ihres Kindes“ deklariert wurde. Diese staatliche Bevormundung resultierte aus
der Tatsache, dass ärmere Mütter ihre Milch oft als Ammen für betuchte Familien anboten,
wodurch ihre eigenen Säuglinge dann an Mangelernährung litten (Lavrin 1998: 82).
Bezüglich der medizinischen Versorgung unterschieden sich beiden Länder stärker. Als 1924
unter der arbeiterfreundlichen Regierung von Arturo Alessandri in Chile die
Pflichtversicherung eingeführt wurde, bekamen Arbeiterinnen erstmals das Anrecht auf
medizinische Betreuung während der Schwangerschaft und eine professionelle Entbindung.
Während der Präsidentschaft des konservativen Carlos Ibañez bekamen größere
Bevölkerungsteile Zugang zu diesen Leistungen. Beispielsweise wurden mit dem
Gesundheitskodex von 1931 diese Rechte auf alle Frauen ausgeweitet, auch jene die sich
keine professionelle Hebamme leisten konnten. Daher liegt es nahe, dass das Thema nicht von
der politischen Partei abhängig war. Indes wurde in Argentinien erst 1934 festgeschrieben,
dass Arbeiterinnen das Recht auf professionelle Geburtshilfe und medizinische
Untersuchungen während der Schwangerschaft hatten. Finanziert wurde diese Leistung über
die bereits erwähnte „Mutterschaftsversicherung“. Da die Zahl der öffentlichen
Geburtenstationen nicht ausreichend war, gab die Versicherung den Schwangeren bis zu 100
Pesos, um in einer privaten Klink zu entbinden (Nari 2004: 220). Das Gesetz fiel nicht nur
zeitlich knapp mit dem chilenischen zusammen, sondern erfüllte auch den Art. 3b des ILO-
Abkommens No. 3, das ein Jahr zuvor von Argentinien ratifiziert worden war. Das System
deckte an sich nur arbeitende Frauen ab, doch in den staatlichen Krankenhäusern wurden ab
1947 auch Unversicherte gratis oder zu geringen Gebühren behandelt. Unter die
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medizinischen Leistungen fiel auch die Entbindung. Allerdings stellte Mesa-Lago (1978: 200f)
fest, dass die ärztliche Betreuung, sowie die Gerätschaften der öffentlichen Krankenhäuser
einen schlechten Ruf hatten. Wer es sich leisten konnte, ließ sich in einem
Gewerkschaftsspital behandeln. In Chile wurde während Ibañez‘ zweiter Präsidentschaft 1952
die Mitversicherung der Kernfamilie eingeführt, wodurch mehr Ehefrauen das Recht auf
zusätzliche Vorsorge- und Nachuntersuchungen bekamen. Zusammen mit dem damals neu
geschaffenen Nationalen Gesundheitsdienst führten diese Gesetze ab 1952 zu einem
markanten Anstieg der professionellen Entbindungen von rund 52 % auf 80 % im Jahr 1970
und einen starken Rückgang der Kindersterblichkeit (Casas und Herrera 2012: 141f,
Raczynski 2000: 144). Gleichzeitig kamen in Argentinien trotz der gesetzten Maßnahmen um
1970 nur rund 50 % der Kinder in Geburtenstationen auf die Welt und in ländlichen Gebieten
gar nur 25 % (Boletin Oficial 1973: 3).
Der Mutterschutz war in beiden Staaten das Resultat nationaler und internationaler sozio-
ökonomischer Veränderungen. Durch die Industrialisierung veränderte sich weltweit die
traditionelle Familienform bzw. Rollenverteilung und auch Mütter mussten immer öfter
arbeiten gehen. Meist geschah dies in ärmeren Schichten aus finanzieller Notwendigkeit. Die
Schaffung der frühesten Gesetze geschah als top-down Prozess, denn Teile der
gesellschaftlichen Elite erachteten Sozialreformen für den Fortschritt ihrer Länder als
unabdingbar. Befürworter des Mutterschutzes fanden sich vor allem unter sogenannten
Higienistas (meist Ärzte und Sozialwissenschaftler) (Lavrin 1998: 98). Sie sorgten sich um
die Gesundheit der arbeitenden Frauen als Mütter zukünftiger Generationen („Mütter der
Nation“) und wie hygienische Bedingungen ihre Gebärfähigkeit negativ beeinflussen könnten.
Diese Gedanken fanden bald auch unabhängig der politischen Ideologie Anklang in der
Gesellschaft. Der Schutz des (ungeborenen) Kindes wurde in den Gesetzen beiderseits der
Anden über den der Mutter gestellt (Biernat und Ramacciotti 2011: 20). Bei der Einführung
der Betriebs-Kinderkrippen ging es um die ausreichende Ernährung der Säuglinge.
Professionelle Entbindungen und Vorsorgeuntersuchungen sollten in erster Linie die
Kindersterblichkeit senken und die Gesundheit künftiger Staatsbürger garantieren. Im
Vergleich zu anderen Sozialpolitiken machten Mutterschutz-Gesetze kaum Unterschiede
zwischen Berufsgruppen und bedurften kaum einer größeren Vereinheitlichung. Nicht zu
unterschätzen waren bei der Entwicklung des Mutterschutzes und insbesondere der Karenz,
internationale Faktoren. So wurden in beiden Staaten die Gesetze nach dem Mutterschutz-
Abkommen von 1919 der ILO modelliert. Dasselbe konnte auch für das ILO Abkommen von
1952 beobachtet werden, obwohl es von Argentinien und Chile nicht bzw. erst am Ende des
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20. Jh. unterschrieben wurde. Des Weiteren waren die ähnlichen Inhalte und die zeitliche
Nähe, in der die nationalen Mutterschutz-Gesetze erlassen wurden, ein Indiz dafür, dass
zwischen Chile und Argentinien ein reger Ideenaustauch stattfand.
Reformen während der Diktatur
Der Mutterschutz wurde in Argentinien während der Militärdiktatur fast keiner Änderungen
unterzogen und wurde auch nach der Wiederkehr der Demokratie fast gleich fortgesetzt. Es
gab in Argentinien 1978 nur eine kleine Gesetzesänderung. Durch sie durften
Arbeitnehmerinnen bei einer Frühgeburt den weggefallenen Teil der Karenz vor der Geburt,
danach anhängen. In Chile wurden indes die bereits bestehenden Rechte für alle
Unselbständigen im öffentlichen Dienst, sowie der Privatwirtschaft 1978 nochmals geordnet
zusammengefasst, aber nicht verändert. Einzige Ausnahme war der Kündigungsschutz, der
auf die gesamte Länge der Schwangerschaft und ein Jahr danach ausgeweitet wurde. Letztlich
wurde 1985 durch ein Gesetz festgelegt, dass das Karenzgeld nun vom
„Familienfond“ verwaltet werden sollte, wodurch implizit die Finanzierung komplett auf den
Staat überging.
Tabelle 14: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Mutterschutz
Argentinien Chile
Vor 1970er Ideologie („Mütter der Nation“)
Elite-Interessen (Sozialreformer, higienistas)
Internationale Faktoren (ILO, Chile)
Ideologie („Mütter der Nation“)
Elite-Interessen (Sozialreformer, higienistas)
Internationale Faktoren (ILO, Argentinien)
Nach 1970er Kaum Änderungen Kaum Änderungen
Quelle: Autor
Bedenkt man wie politisch aufgeladen das Konzept arbeitender Mütter vor allem in
konservativen Kreisen ist, scheint die relative Untätigkeit in diesem Politikfeld während den
Diktaturen ungewöhnlich. Allerdings darf man nicht vergessen, dass traditionelle Frauen-
Rollenbilder sich vor den Systemumbrüchen nicht verändert hatten, was die Gesetze
widerspiegelten. Der Mutterschutz stellt also ein deutliches Beispiel der Kontinuität der
Sozialgesetze und Mentalitäten dar. Zudem muss festgehalten werden, dass die häufigsten
Reformen der Sozialleistungen während der Diktaturen die Vereinheitlichung, Privatisierung
und Dezentralisierung waren. Nun fiel die Dezentralisierung eher in den Bereich der
Gesundheitsdienste und wurde dort bereits behandelt, doch die Gesetze waren bereits vor den
untersuchten autoritären Regimen vereinheitlicht und standardisiert worden, wodurch
Reformen, ähnlich wie bei den Arbeitsunfalls-Gesetzen, nicht mehr notwendig waren.
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Letztlich stellte der Bereich des Mutterschutzes auch kein großes Risiko für den sozialen
Frieden dar - zumindest solange gewisse Regelungen galten.
Familienbeihilfe (finanziell)
Entstehung
Die Familienbeihilfe wurde in Argentinien und Chile nur etwas später als in den meisten
Industrieländern eingeführt und war an einen gültigen Arbeitsvertrag gebunden. Die
Entstehung dieser Transferleistung glich dem zuvor besprochenen Mutterschutz, da sie dem
sozialen Ideal der traditionellen Familie entsprang, in der die Frau bei den Kindern zuhause
blieb. Um dies umzusetzen, musste das Einkommen des Familienvaters allerdings die gesamte
Familie erhalten können. Tatsächlich fielen die Beihilfen zu keinem Zeitpunkt dafür
ausreichend großzügig aus (Rosemblatt 2000: 64, Nari 2004: 223). Genauso wie der
Mutterschutz beschränkte sich die Schaffung und Ausweitung der Familienbeihilfe nicht auf
eine bestimmte politische Richtung (Falappa und Mossier 2014: 176 & 184).
1937 wurde in Chile unter der zweiten Regierung Alessandris das erste Gesetz zur
verpflichtenden Familienbeihilfe in Lateinamerika erlassen. Sie beschränkte sich vorerst auf
Angestellte und Journalisten des privaten Sektors und blieb in der Fassung von 1942 mehrere
Jahrzehnte gültig. Die uniforme Beihilfe konnte nicht nur für jedes eheliche Kind bis zum 18.
Lebensjahr, sondern auch für andere Unterhaltspflichtige wie die Ehefrau beantragt werden.
Finanziert wurde das System über einen Arbeitgeberbeitrag (1 %) und Arbeitnehmerbeitrag
(2 %). Während der Präsidentschaft von Juan Antonio Ríos in den 1940er Jahren bekamen
weitere Berufsgruppen, wie das Militär oder die Gemeindebediensteten, eigene Regelungen
zu Familienbeihilfen. Zuvor war eine von Ríos geplante Verfassungsreform gescheitert, die
dem Präsidenten mehr Macht verliehen hätte (Rinke 2007: 128), daher ist es möglich, dass
Ríos sich so die Loyalität der staatlichen Institutionen sichern wollte. Wichtiger war
allerdings 1953 die Einführung der Familienbeihilfe für alle versicherten Arbeiter und
Angestellten, für die keine andere Regulierung vorlag. Dies geschah unter der zweiten
Präsidentschaft des Populisten Ibañez, die sich von Beginn an mit Streiks aufgrund der hohen
Inflation konfrontiert sah (ibid. 2007: 110). Die Arbeitgeberbeiträge waren mit 11 % im
Vergleich zu den Arbeitnehmerbeiträgen von 2 % relativ hoch. Der Anspruch auf Beihilfe
erlosch bereits mit dem 15. Lebensjahr des Kindes und verlängerte sich nur, falls es sich noch
in Ausbildung befand. 1961 wurde für private Angestellte eine jährliche Schülerbeihilfe für
einkommensschwache Familien eingeführt. Auch Mesa-Lagos (1978: 63f) Untersuchung der
Familienbeihilfe machte die großen Unterschiede in der Höhe der Beihilfe je nach
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Berufsgruppe deutlich. Besonders Angestellte bekamen verhältnismäßig hohe Summen,
gefolgt vom öffentlichen Dienst, während die der Arbeiter viel geringer ausfielen. Erst 1968
konnten auch pensionierte Arbeiter den Beihilfsantrag stellen. Im selben Jahr wurde auch
festgelegt, dass die Auszahlung vorzugsweise an die Mutter zu zahlen sei, wobei dies in der
Realität kaum umgesetzt wurde. Zwischen 1970 und 1971 glich die Regierung der links
Regierung Allendes die Unterschiede in der Familienbeihilfe allerdings aus, indem vor allem
die Beihilfe für die Arbeiterschicht erhöht wurde.
Auch in Argentinien existierten verschiedene Familienbeihilfen je nach Sektor. Die ersten
Familienbeihilfen kamen in den 1940er Jahren auf, doch sie waren auf
Kollektivvertragsvereinbarungen beschränkt. Eine Ausnahme bildete das Bankenstatut, dass
1940 in ein Gesetz übernommen wurde (Falappa und Mossier 2014: 180). Die autoritäre
Regierung der Revolución Libertadora führte erstmals von sich aus 1957 die
Familienbeihilfen ein. Das Gesetz begünstigte Arbeiter und Angestellte im privaten Handel
und Industrie. Der öffentliche Dienst kam noch im selben Jahr hinzu. Vergeben wurde die
uniforme Familienbeihilfe für Kinder bis 15 Jahre oder ab 1959 bis 18, wenn das Kind noch
zur Schule ging. Finanziert wurden sie allein über einen Arbeitgeberbeitrag von 4 % im
Handel bzw. 5 % in der Industrie und dem öffentlichen Dienst. Verwaltet wurden die Mittel
durch die neu gegründeten Familienbeihilfsfonds. Gründe für diese Maßnahmen waren die
fallenden realen Löhne ab 1957 und der ungebrochen populäre Peronismus, der für viele
Argentinier damals als Inbegriff des Wohlfahrtsstaates galt. Obwohl das Ziel der
Militärregierung vor allem die Produktivitätssteigerung war, bemühte sie sich im Namen des
Gleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit um den Einbezug der Arbeitnehmerinteressen
(ibid. 2014: 200, Romero 2006: 136). Man wollte zeigen zeigen, dass Sozialleistungen nicht
vom Peronismus abhängig waren. In den Folgejahren wurden weitere Familienbeihilfen wie
beispielsweise für die Hafenarbeiter eingeführt. Zur größten Reform kam es erneut unter einer
Militärregierung, 1969 mit dem Gesetz 18.017, das knapp 30 Jahre gültig war. Es handelte
sich um die Vereinheitlichung der Familienbeihilfe über alle Berufsgruppen hinweg, mit
Ausnahme der Heimarbeiter und Selbstständigen. Landarbeiter wiederum waren zwar auch im
Gesetz enthalten, bekamen aber nur deutlich geringere Beihilfen. Finanziert wurde das
System über einen Arbeitgeberbeitrag von 10 %. Neue Beihilfen, wie beispielsweise
einmalige Förderungen für Heirat und der Geburt eines Kindes wurden eingeführt. Diese
Maßnahmen zielten ohne Zweifel auf die Steigerung der Geburtenrate und die Fortführung
traditioneller Rollenbilder ab, da sie insbesondere für kinderreiche Familien eine
Einkommenserhöhung darstellten (Falappa und Mossier 2014: 213). Im Gegensatz zu Chile
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waren die Beihilfen je nach Unterhaltspflichtigem unterschiedlich hoch. Beispielsweise wurde
für die Gattin weniger Geld überwiesen als für ein Kind. Einige der neuen Beihilfen waren an
den Schul- oder Universitätsbesuch der Kinder gebunden, was einen Anreiz schaffen sollte,
die Einschulungsquote zu erhöhen und zur höheren Bildung anzuspornen. Der Trend, die
Bildung der Bevölkerung zu erhöhen, kann auch aus dem Gesetz von 1972 entnommen
werden, dass eine jährliche Schülerbeihilfe ins Gesetz 18.017 aufnahm. Ab 1973 durften auch
Schwangere und Pensionisten die Beihilfe beantragen.
Neben sozialen Idealen zur traditionellen Familie (männlicher Brotverdiener), sah man die
Familienbeihilfe bei ihrer Einführung auch als Investition in gesunde zukünftige Staatsbürger
(Rosemblatt 2000: 67). Der Wunsch die Bevölkerung zu beeinflussen oder zu erziehen,
konnte auch an Anreizen wie spezielle Beihilfen für den Schulbesuch oder für die Heirat
abgelesen werden. Bei ihrer Entstehung waren die Beihilfen in beiden Staaten allerdings stark
fragmentiert, da sie aufgrund der Klientelpolitik vor allem politisch wichtigen Berufsgruppen
zugestanden wurde. Ihre Ausweitung auf größere Berufsgruppen war hingegen neben einem
politischen Schachzug auch ein Mittel, um den sozialen Frieden in den Gesellschaften zu
erhalten, wobei Arbeiter trotzdem geringere Leistungen erhielten. Im Gegensatz zu Chile,
kam es in Argentinien bereits in dieser Periode zu einer großen Standardisierung. Die
administrative Fragmentierung blieb in Chile weiter ein Problem, doch die finanziellen
Ungleichheiten konnten unter der Regierung Allendes etwas ausgeglichen werden. Ein
Interessanter Unterschied zwischen den Ländern bestand in der Finanzierung der Beihilfe. In
Argentinien geschah dies allein durch Arbeitgeberbeiträge, während in Chile sowohl
Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberbeiträge das System speisten. Das könnte auf die damals
relativ größere Macht der Arbeiterschaft in Argentinien hinweisen (Mesa-Lago 1978: 169f).
Reformen während der Diktatur
Unter den jeweiligen Militärdiktaturen differenzierten sich die Regelungen der
Familienbeihilfe deutlich stärker als zuvor. In Argentinien beschloss die Junta nur eine leichte
Dezentralisierung der Gelder, indem sie 1979 zuließ, das Geld der Familienbeihilfsfonds auch
in Gemeinde- und Provinzbanken anzulegen. Ansonsten variierten nur die jährlichen
Erhöhungen der Beihilfen. Insbesondere die Beihilfe für Großfamilien stieg auf deutlich über
100 % des gesetzlichen Mindestlohns. Da dieser allerdings im Vergleich zu den Jahren vor
der Diktatur deutlich gefallen war, sank der wahre Wert der normalen Familienbeihilfe, als
auch der Beihilfe für Großfamilien tendenziell (Falappa und Mossier 2014: 230f). In Chile
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wiederum kam es zu einer grundlegenden Reformphase, die vier zentrale Veränderungen mit
sich brachte: die Vereinheitlichung des Systems, gleichzeitig eine
Verwaltungsdezentralisierung, eine Änderung der Finanzierung und eine neue Beihilfe.
Bereits 1973 wurde per Dekret das „einheitliche System der Familienbeihilfe“ (ESFBH)
geschaffen und schließlich 1974 genauer reguliert. Zusammengefasst waren darunter alle
staatlichen und privaten Arbeitnehmer, manche Selbständige, pensionierte Arbeiter, sowie
Witwenpensionsempfängerinnen. Damit wurden erstmals die großen Unterschiede zwischen
verschiedenen Berufsgruppen abgeschafft. Laut Borzutsky (1998: 37) wollte bereits Präsident
Frei in den 1960ern eine ähnliche Reform durchführen, scheiterte jedoch am Widerstand
einiger Interessensgruppen wie den öffentlich Bediensteten, die ihre Privilegien nicht
aufgeben wollten. Der autoritäre Charakter des Militärregimes war also eine
Grundvoraussetzung für die Durchsetzung des neuen Systems. Die Definition von
„Unterhaltspflichtigen“ wurde erneut erweitert. Sie galt für Kinder auch länger bis zum 18.
Lebensjahr bzw. bis 24. Lebensjahr, wenn sie sich noch in Ausbildung befanden. Die
ausgezahlte Beihilfe war, wie bereits im alten System, pro Unterhaltspflichtigem einheitlich
hoch. Einzige Ausnahme bildeten behinderte Kinder, für die es erstens keine Altersgrenze und
zweitens den doppelten Betrag gab. Zudem wurde ein Schwangerschaftsgeld in der Höhe der
Familienbeihilfe für Arbeitnehmerinnen und Ehefrauen von Arbeitern eingeführt. Die
Feststellung der Schwangerschaft oder der Behinderung oblag ab 1974 einem staatlichen Arzt,
wobei letztere alle drei Jahre überprüft werden musste. Die Kriterien dafür waren allerdings
nicht einfach zu erfüllen. Finanziert wurde das System erstmals allein über
Arbeitgeberbeiträge. Diese Beiträge werden auch für die Finanzierung anderer sozialen
Programme, wie dem Rat für Schülerbeihilfe verwendet. Obwohl diese Regelungen auf den
ersten Blick eine größere Abdeckung garantieren, sank laut Cortazar (1983: 371) der reale
Wert der Beihilfe zwischen 1970 und 1982 um mehr als 40 %. Ähnlich wie in Argentinien
konnte man sich für die Beihilfe unter der Militärregierung also weniger leisten.
Ab 1980 startete die Militärregierung einen grundlegenden, neoliberalen Umbau des gesamten
Staates inklusive des ESFBH. 1980 wurde zuerst der Arbeitgeberbeitrag für die
Familienbeihilfe abgeschafft und stattdessen die staatliche Finanzierung über Steuern
eingeführt. Ein Jahr später wurde eine neue Familienförderung (subsidio familiar) für
Familien in extremer Armut eingeführt. Diese Regelung sollte jene Familien einschließen, die
bis zu diesem Zeitpunkt aus diversen Gründen (z.B. Arbeitslosigkeit) keine Familienbeihilfe
(asignación familiar) erhielten. Für die Vergabe der Förderung, in derselben Höhe der
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Familienbeihilfe, waren die Gemeinden verantwortlich, was mit der
Dezentralisierungstendenz der Junta in Einklang war. Die Auszahlung sollte laut Gesetz
bevorzugt an die Mutter erfolgen. Zuerst bestand der Anspruch auf die Familienförderung nur
für Kinder bis 5 Jahre und wurde sukzessiv bis 15 Jahre (1984) angehoben. Das hing
wahrscheinlich mit der damals stark ansteigenden Arbeitslosigkeit zusammen, durch die viele
Familien das Recht auf die Familienbeihilfe verloren und drohten, in die Armut zu schlittern.
Um die Bevölkerung zu „erziehen“ wurde die Förderung bei Kindern an den Schulbesuch und
verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen gekoppelt. Da die Zahl der vergebenen Förderungen
bis zum Höchststand von 1.085.461 im Jahr 1986 rasant anstieg, wurde 1986 eine Obergrenze
pro Gemeinde festgelegt. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 12,3 Millionen bekam
demnach 8,8 % der Bevölkerung die Förderung. Neue Förderungen durften ab da nur in der
Höhe vergeben werden, in der alte Ansprüche erloschen. Die Deckelung führte bis 1990 zu
einem Rückgang der vergebenen Förderungen um 19 %. Es bekamen nur noch 6,7 % der
Gesamtbevölkerung die Förderung (Superintendencia de Seguridad Social 2013: 9, World
Bank 2018). Durch die Gesetzesänderung von 1987 wurde eine neue Verteilungsgrundlage
bestimmt, die besonders finanziell benachteiligten Familien zugutekommen sollte. Zusätzlich
wurde die Beihilfe auf drei Jahre beschränkt, konnte aber erneuert werden, und um die
Geldmittel zu verwalten, wurde ein eigener Fond geschaffen.
Tabelle 15: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Familienbeihilfe
Argentinien Chile
Vor 1970er Grund: soziales Ideal (Vater versorgt Familie)
Fragmentierung, Ungleichheit starke
Vereinheitlichung während Diktatur 1969
Ausweitung: sozialer Frieden, Schwächung des
Peronismus
Grund: soziales Ideal (Vater versorgt Familie)
Fragmentierung, Ungleichheit (Anfang 1970er:
leichte Angleichung) Klientelismus
Arbeiter wegen Sorge um sozialen Frieden
Nach 1970er
(Diktatur)
Beschränkte Dezentralisierung
Anpassung Beihilfshöhe (tendenziell sinkend)
Vereinheitlichung
Dezentralisierung (subsidio familiar)
Stärkere Fokussierung (auf Mittellose)
Quelle: Autor
Die Einführung der Familienbeihilfe hing in beiden Ländern, ähnlich wie der Mutterschutz,
mit den sozialen Werten der Gesellschaften (d.h. traditionelle Arbeitsteilung in Familie)
zusammen und weniger mit politischer Ideologie. Allerdings resultierte der Klientelismus der
Regierungen in einem teuren und fragmentierten System der Beihilfen, in dem einige
regierungsnahe Berufsgruppen bevorzugt wurden. Auf große und weniger gut organisierte
Gruppen, wie Arbeiter, wurde das Recht hingegen eher aus Gründen des sozialen Friedens
ausgeweitet. Um die Ungleichheiten und Kosten der Systeme zu reduzieren, gab es in beiden
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Staaten Reformvorhaben, welche die Familienhilfe vereinheitlichen sollten. In Chile
scheiterten diese allerdings unter demokratischen Voraussetzungen am Widerstand einzelner
Interessensgruppen. Während die Vereinheitlichung in Argentinien unter der Diktatur von
General Onganía Ende der 1960er durchgeführt wurde, passierte dies in Chile kurz nach dem
Putsch von 1973. Da beide Systeme unter autoritären Systemen vereinheitlicht wurden, kann
man daraus schließen, dass diese Regierungsform unpopuläre (wenngleich sinnvolle)
Reformen begünstigt, da es weniger Veto-Spieler gibt. Die argentinische Junta von 1976
zeigte erstaunlich wenig Interesse am Instrument der Familienbeihilfe, während Chile das
System komplett reformierte und 1981 durch die neue Familienförderung sogar eine
Ausweitung der Rechte erreichte, die speziell auf die Förderung mittelloser Familien abzielte.
Wohnbau und Wohnbeihilfe
Entstehung
Die Entwicklung der sozialen Wohnbaupolitik in Argentinien und Chile lässt sich bis zu den
politischen Umstürzen der 1970er in zwei Phasen einteilen. In der ersten Phase von 1900 bis
1940 wurde der wirtschaftliche Nutzen des sozialen Wohnbaus in den Vordergrund gestellt
und in der zweiten von 1940 bis ca. 1973, der soziale Nutzen. In der ersten Phase war die
Wirtschaft geprägt durch den klassischen Liberalismus, der sich in einem wenig
interventionistischen Staat widerspiegelte. Daher versuchten die Regierungen den Markt –
ohne Erfolg – durch günstige Kredite, sowie Steuererleichterungen für Baugesellschaften oder
Privatinvestition zur Handlung zu bewegen. Dieses Marktversagen führte in Folge zum
kumulativen Wohnungsdefizit. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1930 wurde die
Industrialisierung als Weg aus der Depression gesehen. Die staatliche Intervention in die
Wirtschaft wurde durch den aufkommenden Keynesianismus verstärkt, während die staatliche
Einmischung in das Leben der Bürger durch die wichtiger werdende „soziale
Frage“ gerechtfertigt wurde (Silva 2007: 69, Goncalves et al. 2016: 4f). Daher begann der
Staat in dieser Phase selbst leistbare Wohnungen zu bauen und Subventionen für den privaten
Bau zu erhöhen, um das Wohnungsdefizit zu reduzieren. Wie schwer diese Aufgabe
allerdings war, zeigt das Beispiel Chiles. Ab der Regierung Frei in den 1960ern wurden
immer mehr soziale Wohneinheiten gebaut wurden, dennoch stieg das Wohnungsdefizit in
Chile 1952 von 156.205 Wohnungen auf 592.324 im Jahr 1970 (Hidalgo 1999: 73).
Angetrieben von der entstehenden Industrialisierung kam es seit Anfang des 20. Jahrhunderts
zur Massenmigration in die Großstädte und in Folge zur Verknappung des Wohnraums.
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Deshalb wurde der Ausbau des leistbaren und hygienischen Wohnraums erstmals zu einem
Thema in der Politik (Goncalves et al. 2016: 1). In den überfüllten Mietshäusern (conventillos)
der Städte herrschten teils desaströse hygienische Zustände. Durch das Fehlen von adäquater
Infrastruktur wie Kanalisation oder eines Mülldienstes brachen regelmäßig Epidemien aus,
die auch den Rest der Bevölkerung gefährdeten (Cravino 2016: 9, Rinke 2007: 72f).
Argentinien antwortete erstmals mit dem Gesetz der „billigen Häuser“ von 1905 auf das
Problem und ließ Wohnraum für „Personen mit geringem Einkommen“ schaffen. Chile folgte
nur ein Jahr später mit einem ähnlichen Gesetz der „Arbeiterwohnungen“. In Argentinien
konnte die Kommission für billige Häuser in knapp 30 Jahren allerdings nur unter 1.000
Wohneinheiten schaffen. Sogar die Stadtverwaltung von Buenos Aires baute im selben
Zeitraum mit knapp 5.000 Wohneinheiten mehr (Gaite 2006: 12f). In Chile konnte der Rat für
Arbeiterwohnungen zwischen 1906 und 1925 nur knapp 20.000 Zimmer bereitstellen
(Hidalgo 1999: 71). Beide Gesetze waren angesichts der Migration und des folgenden
Bevölkerungswachstums allerdings nicht mehr als einen Tropfen auf dem heißen Stein. Dafür
bauten in dieser Phase beide Staaten erstmals Institutionen auf, die zur Aufgabe hatten, den
privaten Sektor über Kredite, Subventionen und Steuervorteile zur Investition anzuregen, die
bestimmten Mindeststandards entsprachen.
Es kam in Argentinien und Chile bis Mitte der 1970er Jahre zu einem kontinuierlichen
Wandel der staatlichen Institutionen für Wohnbau, wobei in Chile die Gründung der
Körperschaft für Wohnbau kurz CORVI (1953) und in Argentinien der Nationale
Wohnbaufond kurz FONAVI (1972) hervorzuheben sind. Sie führten zu einer Zentralisierung
der Zuständigkeit in einer Oberbehörde. Ihre Hauptaufgabe war die Koordination der
Wohnbaupolitik, ihre Förderung und Kontrolle. Die Vergabe billiger Wohnbraukredite und
staatlicher Bausparverträge gewann ab Mitte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung und sollte
Bürgern die Eigenfinanzierung des Wohnbaus erleichtern. Das war mitunter nötig, da den
Staaten die Ressourcen fehlten, um die Kosten des sozialen Wohnbaus allein zu tragen. Chile
setzte in dieser Phase vermehrt auf den staatlichen Wohnbau, während Argentinien große
Förderungen an den Markt als Anreize setzte und damit zugleich versuchte, die Wirtschaft in
Manier des Keynesianismus anzukurbeln (Goncalves et al. 2016: 6, Gilbert 2001: 43).
Eines der Instrumente, um Wohnen leistbar zu machen, war die Mietpreisregulierung, da die
einzige Wohnmöglichkeit für viele Bürger der Unter- und Mittelschicht in der Miete bestand.
Chile erließ erstmals 1925 ein solches Gesetz unter der arbeiterfreundlichen Regierung des
Präsidenten Alessandri, als Eigentum in armen Schichten noch die Ausnahme war. So wurden
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Mieten in „gesundheitlich bedenklichen“ Gebäuden um 50 % gekürzt, während kurzfristige
Delogierungen der Bewohner verboten wurden. Über die Jahre kamen weitere Mieterschutz-
Regeln hinzu, die beispielsweise die grundlose Mietkündigung verboten.
Mietpreisregulierungen blieben durch verschiedene Gesetze bis in die Diktatur erhalten.
Argentinien setzte dieses Instrument erst ab 1943 unter Präsidenten Castillo als Reaktion auf
die stark gestiegene Binnenmigration während der 1940er Jahre ein (Riekenberg 2009: 140).
Die Miete war bis zu diesem Zeitpunkt deswegen so verbreitet gewesen, weil ein Gebäude
gesetzlich nur einen Besitzer haben konnte. Die Aufteilung einer Immobilie in einzelne
Wohneinheiten mit unterschiedlichen Besitzern (z.B. Wohnungen) wurde in Chile 1937 und
in Argentinien erst 1949 gesetzlich ermöglicht. Das erleichterte den Zugang von
einkommensschwachen Schichten zum Privateigentum deutlich. Kleinere Wohneinheiten
waren einerseits leistbarer und sollten andererseits den Immobilienmarkt zur Investition in
neue Wohnungen motivieren (Quijada 2011). Trotzdem verloren in Argentinien die
Mietpreisregulierung und der Mieterschutz nicht an Bedeutung. Unter den Regierungen von
Juan Perón kam es 1949 sogar zu Zwangsvermietungen von leerstehenden Immobilien. Ein
argentinisches Unikum war die Einführung des Rechtsstatus des „Familienguts“ (bien de
familia) im Jahr 1954. Jede Familie konnte eine Immobilie als solches Familiengut eintragen
lassen, wodurch die Familie weitgehend vor dem Verlust der Immobilie geschützt war. So
konnte ein Familiengut nicht ohne Einwilligung des Ehepartners verkauft werden oder wegen
Schulden gepfändet werden. Um 1970 wurden regelmäßig Mietvertragsverlängerungen
erzwungen und Mietkündigungen „vorübergehend“ verboten. In beiden Staaten ging der
Trend ab 1940 aber deutlich hin zum Eigentum. Während in Santiago und Buenos Aires um
1950 nur ca. 26,5 % der Bewohner Eigentümer ihrer Wohneinheiten waren, stieg dieser Wert
bis Anfang der 1970er auf ca. 59 % an (Gilbert 2001: 22).
Das Element der zentralen Stadtplanung begann ab den 1950ern in beiden Ländern eine
größere Rolle beim Neubau von Siedlungen zu spielen. Soziale Wohneinheiten mussten seit
damals zumindest über einen Anschluss ans Wasser-, Strom- und Kanalisationsnetz verfügen.
Dies war auch eine Reaktion auf die steigende Anzahl an illegal errichteten Elendsvierteln
(campamentos) und Landnahmen in ganz Lateinamerika ab den 1960er Jahren. Meist
wohnten dort Menschen, denen es sogar an genug Geld für die monatliche Miete mangelte. In
den campamentos fehlte es an jeglicher Infrastruktur, was wie zuvor in den conventillos zu
sanitären Missständen führte. Wegen der Illegalität der Besetzung fühlten sich die
Regierungen zur Räumung der Grundstücke über „Enteignungsgesetze“ berechtigt. 1956
leben in Argentinien rund 110.000 Personen in derartigen Vierteln und in Chile 1965 bereits
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500.000 (Ducci 2000: 150, Torre und Pastoriza 2002: 287, Rinke 2007: 110). 1952 wurde
deswegen in Chile erstmals ein Dekret zur Soforthilfe für Bewohner von Elendsviertel
erlassen, dessen langfristiges Ziel es war irregulären Wohnverhältnisse zu eliminieren und
den Bewohnern zu Eigentumstiteln zu verhelfen. Noch umfassender war ein ähnliches Gesetz
von 1968. In Argentinien kam es laut Ochsenius (et al. 2016: 197f) bereits unter der Diktatur
Aramburus 1956 wegen Gefährdung der „Hygiene und Moral“ zu ersten Aktionen gegen
Elendsviertel. Der erste gesetzliche „Plan zur Abschaffung von Elendsvierteln“ wurde jedoch
1964 unter der Diktatur von Onganía vorgelegt und beinhaltete ein staatliches
Wohnbauprogramm. Durch den Plan kam es tatsächlich zu zahlreichen Umsiedelungen in
„temporärere Unterkünfte“, bevor man eine permanente Wohnung bekam. Zur permanenten
Umsiedelung kam es allerdings nur selten und die temporären Unterkünfte wurden zu neuen
sozialen Brennpunkten (ibid. 2016: 200). Um die so gebauten Wohneinheiten zu erwerben,
brauchte man neben dem Wohnbaukredit eine gewisse Eigenkapitalquote, was die
einkommensschwächsten Schichten benachteiligte.
Das Wohnungsdefizit entstand am Anfang des Jahrhunderts und vergrößerte sich wegen der
inadäquaten Lösungen der Regierungen zunehmend. Die Industrialisierung und damit
einhergehende Migration in die Städte trug das ihre zur Verschärfung der
Wohnungsknappheit bei. Unabhängig vom vorherrschenden Wirtschaftsdogma oder der
politischen Orientierung der Regierungen war der Anlass für den staatlichen Eingriff in den
Wohnbau oft das sanitäre Risiko, das ausgehend von ärmeren Vierteln (conventillos bzw.
campamentos) auch gesundheitliche Probleme für die restliche Bevölkerung verursachen
konnte. Präferenzen für bestimmte Policy-Instrumente hingen durchaus mit der politischen
Strömung zusammen. Marktfreundliche Instrumente wie Steuererleichterungen für Baufirmen
oder die Anregung der Privatinvestition (z.B. Wohnbaukredite, Bausparversträge) waren eher
typisch für konservative Regierungen und solche, die der alten Oligarchie nahestanden.
Mietpreisregulierungen und der Mieterschutz, die den freien Wettbewerb hingegen deutlich
beschränkten, fanden hingegen bei arbeiterfreundlichen und populistischen Regierungen
Anklang. In Argentinien stand besonders Präsidenten Perón für diese neue Wohnbaupolitik
und ermöglichte durch diverse Gesetze der Unter- und Mittelschicht erstmals
realistischerweise den Zugang zu Eigentum (Torre und Pastoriza 2002: 286). Auch das
dominierende Wirtschaftsdogma spielte insofern eine Rolle, als dass es den Grad der
staatlichen Intervention in den sozialen Wohnbaumarkt beeinflusste. Ein markanter
Unterschied bestand zwischen Argentinien und Chile im Umgang mit Elendsvierteln. Trotz
Versuchen sie aufzulösen, nahmen chilenische Regierungen bis 1973 und Argentinien unter
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Perón eine permissivere Haltung ihnen gegenüber ein. Unter den autoritären Systemen von
Aramburu und Onganía kam es wiederum zur Auflösung vieler Viertel und einem Scheitern
der geplanten Umsiedelungsprogramme. Generell war das Verhalten von Diktaturen
gegenüber der sozial schwächsten Schicht demnach viel rücksichtsloser.
Reformen während der Diktatur
In Chile kam es einerseits ab 1975 zur Dezentralisierung der Administration und
Entscheidungsfindung, die durch die Schaffung des regionalen Wohnbau- und
Urbanisierungsservices (SERVIU) 1977 noch verstärkt wurde. Im Rahmen der
marktfreundlichen Politik wurde nach dem Putsch auch im Wohnbau das Prinzip der
Subsidiarität eingeführt. Das bedeutete, dass der Staat sich nur um jene
Bevölkerungssegmente kümmerte, die der Markt nicht bediente. Neue soziale
Wohnbauprogramme (1975, 1979) konzentrierten sich demnach stärker auf besonders
einkommensschwache Familien. Das zeigte sich auch in der Einführung eines Punktesystems,
um die Häuser der neuen Programme zu vergeben. Neben der sozialen Situation (d.h.
Familienmitglieder, Einkommen) war als Bedingung für die Teilnahme an solchen
Programmen immer eine Eigensparquote notwendig. Generell wurde die Eigenfinanzierung
durch Förderungen für Bausparverträge (1984) oder durch billige staatliche Wohnbaukredite
angeregt. Die Ober- und Mittelschicht wiederum konnte Kredite am freien Markt erwerben.
Durch diese Maßnahmen mussten die Bittsteller mehr Verantwortung für die Lösung der
Wohnungsfrage übernehmen (Arriagada 2004: 184f). Im Gegensatz zu Chile war in
Argentinien mit der Schaffung des Nationalen Fonds für Wohnbau (FONAVI) der Wohnbau
bereits kurz vor der Diktatur auf der nationalen Ebene gebündelt worden. Die Konzentration
der nationalen Ressourcen in FONAVI wurde 1977 durch ein Gesetz zu dessen Re-
Organisation noch verstärkt. Gleichzeitig wurde für die Finanzierung des Fonds ein
Arbeitgeberbeitrag von 5 % eingeführt. Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel
verdoppelten sich dadurch, allerdings wurde die Maßnahme bereits 1980 wieder rückgängig
gemacht (Gaite 2006: 79). Für die Vergabe der gebauten sozialen Wohneinheiten wurde
ebenfalls ein Punktesystem eingeführt, das besonders große Familien begünstigte. Die
Dezentralisierung von FONAVI wurde erst in den 1990ern unter einer demokratischen
Regierung durchgeführt.
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Zwangsräumungen bzw. „Enteigngungen“ blieben weiterhin ein probates Mittel, um die
Politik des Staates voranzutreiben und wurden insbesondere gegen illegale Siedlungen
(campamentos) eingesetzt. Oft wurde dies mit Hinweis auf „Gesundheitsrisiken“ begründet.
Die argentinische Junta ging einen Schritt weiter und erlies 1977 ein Gesetz, das alle
Enteignungen im, nicht näher definierten, „öffentlichen Interesse“ zuließ. Der Anlass dafür
war wahrscheinlich die Fußball WM 1978, die in Argentinien ausgetragen wurde. Speziell in
Buenos Aires wurde radikaler gegen campamentos vorgegangen, da man sich als
„entwickeltes Land“ präsentieren wollte. Die Zahl der Bewohner solcher Viertel wurde ab
dem Jahr der Machtübernahme von 225.000 auf 12.600 Einwohner im Jahr 1983 reduziert
(Kullock und Murillo 2010: 41). Daneben galt das Interesse des Staates der Wiedergewinnung
der illegal besetzten Flächen, um sie wieder dem Markt zuzuführen. Die verdrängten
Bewohner mussten entweder die Stadt verlassen oder wurden in minderwertigen Quartieren
untergebracht. In Chile waren Enteignungen eher in soziale Wohnbauprogramme eingebettet
und dienten meist der Räumung von campamentos. So wurde 1974 ein weitreichendes
Regelwerk zu „Notstandsvierteln“ erlassen, das nicht nur feststellte, dass 20 % der
chilenischen Bevölkerung in Elendsvierteln und campamentos wohnte, sondern grundlegend
zwei Vorgehensweisen im Umgang mit ihnen vorsah. Viertel des Typs A durften bestehen
bleiben und bekamen eine sanitäre Infrastruktur, während Viertel des Typs B wegen der
schlechten sanitären und sicherheitstechnischen Zustände geräumt werden konnten. Ab 1980
nahm auch die Weltbank das „Upgrading“ der campamentos in seine Empfehlungen auf, da
Land für Neubesiedelung meist knapp war (World Bank 1980: 18). Dennoch kam es oft zu
Räumungen wegen der Wahrnehmung der Viertel als Horte des Kommunismus oder wegen
des Grundstücksnutzens wie in Argentinien. In Santiago konnten zwischen 1974 und 1986 64 %
der Familien aus Notstandvierteln in neue soziale Wohnbauten umgesiedelt werden. Die
Lösungen waren trotzdem suboptimal, da die Menschen häufig in periphere Stadtviertel
verdrängt wurden und die Segregation der Bevölkerung verstärkt wurde (Hidalgo 1999: 74).
Unter der Militärregierung von General Videla wurden in Argentinien die Mietpreise 1976,
erstmals seit knapp 30 Jahren, wieder vollends liberalisiert. Das hatte zufolge, dass viele
Familien plötzlich ohne Unterkunft dastanden. Das neue Gesetz sah keine Kündigungsfrist für
die bestehenden Mieter vor, deren zuvor eingefrorene Mietverträge nun de facto abgelaufen
waren. Somit wurde der Mieterschutz drastisch eingeschränkt. In Chile wurde die
Mietpreisregulierung 1975 einstweilen noch geändert fortgeführt. Erst 1982 wurde der Markt
der Mietwohnungen dort wieder komplett liberalisiert. Gleichzeitig beinhaltete das Gesetz
jedoch auch einen sehr strengen Mieterschutz, der fast gänzlich bis heute gültig ist.
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Die Wohnbaupolitik war im 20. Jahrhundert in Lateinamerika eine der wichtigsten Materien
Sozialgesetzgebung, was sich nicht zuletzt in der stetigen Weiterentwicklung der Policy-
Instrumente widergespiegelt hat. Die politische Orientierung der Regierung bestimmte im
Wohnbau nicht nur die bevorzugten Policy-Instrumente, sonder auch wie stark man sich bei
Problemlösungen auf den Markt verließ. Da sich dieses Verhalten sowohl für demokratische,
als auch autoritäre Regierungen feststellen ließ, kann man davon ausgehen, dass Policy-
Instrumente eher vom vorherrschenden (internationalen) Wirtschaftsdogma abhängig waren.
Tabelle 16: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Wohnbau
Argentinien Chile
Bis 1940
(Phase 1)
Grund: Wohnraummangel durch Immigration,
hygienische Bedenken
Wirtschaftsdogma: Liberalismus, daher
Wohnbaupolicies marktfreundlich
Miete: nicht reguliert (erst wegen Notwendigkeit)
Grund: Wohnraummangel durch
Binnenmigration, hygienische Bedenken
Wirtschaftsdogma: Liberalismus, daher
Wohnbaupolicies marktfreundlich
Miete: reguliert (Klientelismus)
1940-1970er
(Phase 2)
Grund: kumulatives Wohnungsdefizit,
hygienische Bedenken (campamentos)
Wirtschaftsdogma: Keynesianismus (ISI), daher
interveniert Staat stärker
Policy-Instrumente: abhängig von politischer
Orientierung der Regierung
Elendsviertel: unter Diktatur Zwangsumsiedlung
Grund: kumulatives Wohnungsdefizit,
hygienische Bedenken (campamentos)
Wirtschaftsdogma: Keynesianismus (ISI), daher
interveniert Staat stärker
Policy-Instrumente: abhängig von politischer
Orientierung der Regierung
Elendsviertel: eher Hilfsmaßnahmen
ab 1970er Wirtschaftsdogma: Neoliberalismus
Wohnbaupol.: administrative Zentralisierung,
Miete liberalisiert, internat. Ruf
Wirtschaftsdogma: Neoliberalismus
Wohnbaupol.: Dezentralisierung, gezielt bzw.
subsidiär, marktfreundlich
1990er Dezentralisierung -
Quelle: Autor
Der Neoliberalismus begann ab den 1970ern international an Popularität zu Gewinnen und
den davor herrschenden Keynesianismus abzulösen. Die marktfreundliche Einstellung zeigte
sich in beiden Staaten insbesondere durch die Aufhebung der Preiskontrollen bei den Mieten
und in der stärkeren Fokussierung der staatlichen Wohnbauprogramme auf die
einkommensschwächsten Schichten (durch Punktesysteme). In gewisser Weise sollten auch
die Enteignungen der Grundstücke in Elendsviertel den Markt anregen, indem die
Grundstücke ihm wieder zugeführt wurden. Die administrative Dezentralisierung des
staatlichen Wohnbaus in Chile entsprang auch dem Effizienzgedanken, der für neoliberale
Wirtschaftspolitik üblich ist und auch in anderen Bereichen der Sozialpolitik beobachtet
werden konnte. Es ist daher etwas erstaunlich, dass in Argentinien das genaue Gegenteil
geschah und die Gelder und administrative Aufgaben eher zentralisiert wurden, obwohl
derartige Schritte in anderen Sozialbereichen (z.B. Bildung, KV) durchaus der Fall waren.
Einzig im Umgang mit dem Elendsviertel, scheint das politische System (autoritär vs.
demokratisch) ein entscheidender Faktor zu sein. Zu Massenräumungen solcher Viertel kam
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es vermehrt unter Diktaturen, während sie von demokratischen Regierungen eher toleriert
wurden. Wie ein roter Faden zieht sich wiederum die Sorge um sanitäre Zustände, zuerst in
den Mietskasernen und später in den Elendsvierteln, durch die Gesetze. Heute wird nur die
soziale Wohnbaupolitik unter der chilenischen Diktatur international als Erfolg gefeiert.
Allerdings konnten die Resultate mit denselben Maßnahmen in anderen Ländern nicht
reproduziert werden (Ducci 2000: 149).
Kapitel 3: Conclusio
In dieser Arbeit ging es um die Frage, wie sich das politische System eines Staates auf seine
Sozialpolitik auswirkt. Nach der gängigen Lehrmeinung zu Wohlfahrtsstaaten wäre die
Demokratie die Grundvoraussetzung für die Sozialpolitik, da Werte wie Gleichheit und
Brüderlichkeit bzw. Solidarität sich in der Umverteilung widerspiegeln. Zahlreiche
geschichtliche Beispiele lassen diese Annahme allerdings fehlerhaft erscheinen. Deshalb
wurden im ersten Teil der Arbeit die notwendigen Elemente der Sozialgesetzgebung
festgestellt und anschließen anhand der Fälle Chile und Argentinien analysiert. Dies geschah
immer in Bezug auf Veränderungen nach einem politischen Systemwechsel (demokratisch VS
autoritär). Die Hypothese, dass Demokratie keine notwendige Voraussetzung für
Sozialgesetzgebung ist (H1), konnte im Laufe dieser Arbeit für beide Fälle ohne Zweifel
bestätigt werden. Es konnten durchaus einige Gemeinsamkeiten zwischen den Staaten über
alle Gebiete der Sozialgesetzgebung hinweg festgestellt werden. Es kam zwar während der
Diktaturen zu tiefgreifenden Reformen, doch diese Änderungen basierten großteils auf den
gleichen Faktoren wie Änderungen zu Zeiten der Demokratie.
Beim Vergleich der Sozialsysteme zwischen Demokratien und Diktaturen müssen
grundlegend zwei Faktoren unterschieden werden: die Ursachen und ihre Auswirkungen.
Viele Ursachen bzw. Anlässe für Gesetze und ihre Änderungen blieben über Systemwechsel
hinweg gleich, doch die Resultate konnten sich stark verändern. Die häufigsten Anstöße für
Sozialgesetze gaben internationale Faktoren, soziale Normen und das Streben nach sozialem
Frieden. Beispielsweise konnte die dominante internationale Wirtschaftstheorie (Ursache) zur
stärkeren Zentralisierung von Leistungen (Wirkung) führen, während eine andere die
Dezentralisierung (Wirkung) begünstigte. Das politische System konnte für diese Faktoren
zwar als Katalysator oder Bremse agieren, doch die meisten erklärenden Variablen wurden
nur sekundär vom Regierungstyp beeinflusst.
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Tabelle 17: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sozialgesetzgebung, Politik und Wirtschaft
Gemeinsamkeiten Unterschiede
Demokratie Aufbau Wohlfahrtsstaaten
Klientelismus: Fragmentierung SV &
Leistungen
(SV, FBHF)
Zentralisierung d. Verwaltung: administrative
Machtkonzentration
(Bildung, Wohnbau)
Akteure: verschiedene, mehr Vetospieler
Sozialleistungen in Chile fragmentierter
Lebensstandard in Argentinien bis 1950er
deutlich höherer
Policy-Instrumente von polit. Richtung der
Regierung abhängig
Policy-Instrumente in beiden Staaten tlw. sehr
unterschiedlich z.B. bei Invalidität
Diktatur²
Dezentralisierung: admin. Macht geschwächt
(Bildung, Gesundheit)1
Vereinheitlichung der Sozialleistungen
(Familienbeihilfe, SV)2
Repression & interne Sicherheit
(Gewerkschaften, Schulen)
Vorteil beim Durchsetzen unbeliebter
Maßnahmen (weniger Vetospieler)
Akteure: Regierung, Wirtschaft,
Polizei/Militär, int. Finanzinstitutionen
Junta (1976) in Argentinien weniger
interventionistisch Kontrolle/Macht
der Junta in Arg. Geringer
Junta Chile: Strukturreform nach „Masterplan“
Argentinien Dezentralisierung tlw. unter
Demokratie (1990er)
Unabhängig der
Periode bzw. des
politischen Systems
Internationale Faktoren: Dogmen, Trends,
Krisen, Verträge, Migration,
Institutionen, Lerneffekt Nachbarstaaten
Sozialer Frieden: entscheidend für alle
Regierungsarten
Soziale Ideale/Normen
Soziale Stratifizierung bleibt hoch
Demokratie in Chile stabiler
Zentralisierung VS Dezentralisierung der
Verwaltung als Folge int. Faktoren
(Wirtschaftsdogma)
1nach Ende der Diktaturen fortgesetzt 2Argentinien tlw. früher (1967-69 Diktatur Onganía)
Quelle: Autor
Ein Punkt, der oftmals unterschätzt wurde, war der große Einfluss den internationalen
Faktoren auf die Entwicklung der Sozialsysteme ausgeübt haben. Internationale Faktoren
können in diesem Zusammenhang vieles einschließen und verschiedene Faktoren sind oft
miteinander verbunden. Dazu gehören unter anderem Wirtschaftsdogmen und -trends, Krisen,
internationale Verträge, der Einfluss von Institutionen und grenzüberschreitende
Migrationsbewegungen. So können Krisen und Kriege weit über Landesgrenzen hinaus durch
Interdependenzen Volkswirtschaften beeinflussen, die wiederum Auswirkungen auf das
Steueraufkommen, die Kaufkraft und den Arbeitsmarkt haben. Insbesondere die
Weltwirtschaftskrise der 1930er hatte massive Folgen für die Entwicklung der argentinischen
und chilenischen Wohlfahrtsstaaten, indem sie international zum Fortschreiten der
Industrialisierung beitrug. Durch die Industrialisierung vergrößerte sich die Arbeiterschaft,
wodurch sie an politischer Macht gewann und weder von autokratischen, noch von
demokratischen Regierungen ignoriert werden konnte. Die Variable des leitenden
internationalen Wirtschaftsdogmas und damit einhergehende wirtschaftliche Trends, waren in
dieser Arbeit von zentraler Bedeutung. Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte weltweit der
Liberalismus, der in Lateinamerika traditionell vor allem auf Exporten basierte. Nach der
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Krise von 1930 und ihren schweren Folgen für die untersuchten Exportwirtschaften,
übernahm man schrittweise keynesianische Ideen, die sich im Aufbau der
importsubstituierenden Industrialisierung äußerte. Während in Chile all dies unter
demokratischen Bedingungen geschah, entwickelte sich der Keynesianismus in Argentinien
sowohl unter demokratischen, als auch autoritären Regierungen. Schließlich kam ab den
1970ern ausgehend von den USA der Neoliberalismus auf, zu einer Zeit als die Sozialsysteme
vieler Staaten bereits mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen hatten. Die propagierte Idee
des „subsidiären Staates“ kam den neuen Diktaturen gelegen. Chile wurde zum berühmtesten
neoliberalen Experiment weltweit, und man zog die Öffnung der Märkte dank der Machtfülle
der autoritären Regierung konsequent durch. Der argentinischen Junta, die ebenso versuchte
ihre Staatsausgaben zu verkleinern und neoliberale Reformen umzusetzen, fehlte es einerseits
an Einstimmigkeit über die Policies innerhalb des Militärs und andererseits an der hohen
Machtkonzentration, die die chilenische Junta in sich vereinte. Dennoch setzte sich der
internationale Trend zur Liberalisierung fort und erfasste nach der Rückkehr zur Demokratie
auch Argentinien. Vor allem in den 1990er Jahren kam es im Sozialsystem zu weiteren
Vereinheitlichungen, Dezentralisierungen und Privatisierungen von Leistungen (z.B. KV). Im
Falle Argentiniens kam noch hinzu, dass internationale Organisationen wie der IMF eine
neoliberale Reform des Sozialsystems zur Kondition für Kredite machte. Ein anderes Beispiel
bietet die zweite Ölpreiskrise, die in den 1980ern in Chile zum extremen Anstieg der
Arbeitslosenzahlen führte, was die Junta zwang, mit neuen Leistungen auf die Not der
Menschen zu reagieren (Beschäftigungsprogrammen, Beihilfen). Wie bereits angesprochen
konnten auch internationale Institutionen und Organisationen einen gewissen Einfluss auf
nationale Sozialgesetze ausüben. Die ILO, der beide Staaten bereits früh angehörten,
veröffentlichte seit ihrer Gründung Normen zum Schutz der Arbeitnehmer. Viele der Punkte,
die in den ILO-Verträgen (z.B. zum Mutterschutz) vorgeschlagen wurden, wurden von
Argentinien und Chile übernommen. Nach dem zweiten Weltkrieg erlangten vor allem die
internationalen Finanzinstitutionen in Entwicklungsländern an Bedeutung, da sie im
Gegenzug für Geldmittel und Expertise eine bestimmte Politik durchzusetzen versuchten –
den Washington Consensus. Letztendlich geht es bei der Reform von Sozialgesetzen auch um
einen Lernprozess, der nicht an Landesgrenzen halt macht. Das spiegelte sich einerseits im
Wohlfahrts-Typ der lateinamerikanischen Pionierstaaten, der dem Mediterranen bzw.
konservativen Wohlfahrtsstaat aus Europa nachempfunden war, sowie der Implementierung
erfolgreicher Policies aus Nachbarstaaten wieder (z.B. Unfallschutz, Mutterschutz,
Mietpreisderegulierung unter Diktaturen).
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Der zweite Faktor, der unabhängig von der Zeit und dem politischen System eine Rolle spielte
war der soziale bzw. gesellschaftliche Friede. Bereits in der Einleitung wurde angesprochen,
dass manche Autoren wie Gandhi und Przeworski (2006) diesen Faktor als systemrelevant
erkannt hatten, was sich schließlich auch in Bezug auf die analysierte Sozialgesetzgebung
zeigt. Ein Weg, um Interessensgruppen oder die Gesellschaft als Ganzes zu besänftigen, ist es,
ihnen sozialen Schutz zu gewähren, vor allem vor den häufigsten (unverschuldeten)
Problemen: Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, etc. Bei Protesten und Streiks hatte eine
Regierung, egal ob demokratischer oder autoritärer Natur, zwei Optionen. Sie konnte
entweder mit Repression antworten oder auf die Forderungen der Protestierenden eingehen.
Punitive Maßnahmen können allerdings, wenn sie zu häufig eingesetzt werden zu einer
Zuspitzung der Lage beitragen und auf lange Sicht ein Regime zu Fall bringen. Deswegen
wurden in Fällen, in denen Proteste sehr große Ausmaße annahmen (z.B. Generalstreik) oder
von einem besonders systemwichtigen Akteur durchgeführt wurden (z.B. Militär und Polizei
in Militärdiktaturen), meist Besserungen vorhandener oder die Schaffung neuer Gesetze
erwirkt. Ersteres konnte beobachtet werden, als in Chile nach ausgedehnten Arbeiterprotesten
ein eigener Gesundheitsdienst (SNS) für Arbeiter und eine eigene Familienbeihilfe für sie
geschaffen wurde. Dass Gewerkschaften einen legalen Status erhielten, kann auch als
Maßnahme verstanden werden um den sozialen Frieden zu erhalten, da sie der großen Masse
der Arbeiterschaft eine Möglichkeit gab, ihre Interessen ins politische System einzubringen.
Über die Gewerkschaften passierte dies in einem geordneten Prozess. Manchmal reichte auch
allein die Angst vor zukünftigen Aufständen, um Gesetze zu erlassen, wie es beim Erlass der
Unfallsregelungen geschah. Im 20. Jahrhundert ging es oftmals auch darum, das
Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital zu erhalten, denn hätten die Arbeitgeber nicht
einen Teil ihrer Gewinne über Arbeitgeberbeiträge ins Sozialsystem investiert, wäre es
vermutlich zum Zusammenstoß mit den emanzipierten Arbeitern gekommen. Nun hatten die
untersuchten autoritären Regime teils einen größeren Spielraum bei der Umgestaltung des
Sozialsystems, da das Militär in Kooperation mit dem Polizeiapparat das absolute
Gewaltmonopol im Staat besaß (Olsen 1993: 568). Es wäre für Bürger also durchaus
gefährlicher gewesen, Kritik an Reformen von Sozialgesetzen zu äußern. Dennoch wäre es für
ein Regime fatal gewesen, das sehr breite Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen.
Eine komplette Privatisierung oder die Abschaffung wichtiger Teile der Sozialgesetzgebung
hätte durchaus das Potential für breite gesellschaftliche Proteste gehabt, die zudem dem
bereits schlechten internationalen Image der Diktaturen weiter geschadet hätten. Daher
erließen die Diktaturen teilweise sogar Gesetze, die im Gegensatz zu ihren eigentlichen Zielen
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standen. In Chile sah sich die Junta gezwungen, Beschäftigungsprogramme zu schaffen und
somit gegen die neoliberale Theorie in den Markt einzugreifen. Ohne diese Programme hätten
die hohen Arbeitslosenzahlen die Menschen aus Not zweifellos zu Protesten angeregt. In
Argentinien wiederum wollte man trotz neoliberaler Ideen die Beschäftigungsstabilität nicht
antasten. Auch die Privatisierungsversuche der Bildung mussten unter dem demokratischen
System der 1990er abgebrochen werden, da die Bevölkerung sich heftig dagegen wehrte.
Andererseits sind manch sinnvolle Reformen ebenso an sozialen Unruhen gescheitert.
Beispielsweise schaffte es Präsident Frei in Chile nicht die SV zu vereinheitlichen.
Schließlich beeinflussen auch soziale Ideale und Normen die Sozialgesetzgebung. Diese
können, wenn überhaupt, nur sehr langsam geformt und geändert werden. Daher sind sie
gegenüber kurzfristigen gesetzlichen Änderungen oft immun. Das zeigte sich beispielsweise
in den Versuchen der argentinischen Junta die Gewerkschaften zu schwächen. Diese hatten
über Jahrzehnte hinweg durch die obras sociales einen so hohen Stellenwert in der
Gesellschaft erlangt, dass die Maßnahmen der Junta kaum Erfolg zeigten. Ansonst konnte die
Relevanz von sozialen Normen und Ideologien vor allem in Bereichen festgestellt werden, die
mit der Familie und Kindern zu tun hatten. Zu Beginn der Wohlfahrtsstaaten wurde die
Bildung der Kinder gezielt eingesetzt, um den zukünftigen Bürgern eine gemeinsame
nationale Identität zu vermitteln. Es handelt sich hierbei um das beste Beispiel wie Politik
langfristig gesellschaftliche Werte beeinflussen kann (z.B. über Schulbücher). Auch die
Buchverbote oder die Förderung einer nationalistischer bzw. patriotischer Einstellung unter
Schülern während der Diktatur geben einen Hinweis auf die Macht der Bildung in der
Gestaltung sozialer Normen. In Südamerika hatte die Familie stets einen hohen Stellenwert.
Die ideale Familie war vom traditionellen Bild des alleinverdienenden Familienvaters und der
Mutter, die zuhause für die Kinder sorgte, geprägt. Diese normative Prägung war
mitverantwortlich für die Schaffung der Familienbeihilfe (in Folge: FBHF), die dem Vater
helfen sollte, seine Rolle als Erhalter der Familie wahrzunehmen. Die zusätzliche finanzielle
Last, die durch Kinder und die Hausfrau entstanden, sollte so gemildert werden. Da derartige
Transferleistungen oft an Bedingungen wie den Schulbesuch der Kinder geknüpft waren,
konnte der Staat die Maßnahme gleichzeitig zur Sozialdisziplinierung nutzen. Ungewünschtes
Verhalten wurde mit dem Entzug der Leistung bestraft, während positives Verhalten belohnt
wurde. Beispielsweise fiel die FBHF für kinderreiche Familien in Argentinien während der
Diktatur besonders großzügig aus. Die Maßnahme hatte demnach zum Ziel, die Geburtenrate
zu steigern. Die Reform der FBHF gehörte in Chile unter Pinochet zu den ersten Maßnahmen
der Regierung. Es wurde sogar eine neue Beihilfe für besonders Arme eingeführt, was darauf
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hinwies, dass auch die Militärführer der Familienpolitik eine große normative Bedeutung
zukommen ließen. Dennoch konnten viele Familien nur überleben, wenn beide Eltern
arbeiteten. Das zwang die Gesetzgeber dazu, Normen zu schaffen, welche zum Ziel hatten,
die Gesundheit der Föten und Säuglinge zu wahren und zu schützen. Auch die
vorgeschriebenen Kinderkrippen in Betrieben dienten in erster Linie dazu, die Ernährung der
Babys zu gewährleisten. Dies geschah zum Teil auch als top-down Prozess, in dem sich
gesellschaftlichen Eliten moralisch dazu verpflichtet sahen, die weniger gebildeten Schichten
und deren Kinder „zu schützen“.
Wie bereits erwähnt konnten sich die drei oben genannten Faktoren je nach ihrer Ausprägung
unterschiedlich auf die Sozialgesetzgebung auswirken (z.B.: Keynesianismus VS
Liberalismus). Sie können beispielsweise die Präferenzen für bestimmte Policy-Instrumente
beeinflussen, sowohl im selben, als auch in unterschiedlichen politischen Systemen. Doch es
konnten auch einige Merkmale vorgefunden werden, die deutlich häufiger in demokratischen
bzw. autoritären System vorkamen und mit dem politischen System zu verbinden sind.
Demokratien zeichneten sich durch einen wesentlich höheren Grad an Klientelismus und die
Zentralisierung der administrativen Macht aus. Auch die in den politischen Prozess
eingebunden Akteure unterschieden sich deutlich von denen in den Diktaturen. Der Aufbau
der staatlichen Sozialsysteme begann in beiden Ländern in jungen Demokratien. Daher war es
nicht verwunderlich, dass soziale Rechte anfänglich nur zugunsten regierungsnaher
Interessengruppen (z.B. SV für Beamte) geschaffen wurden. Da Präsidentschaftskandidaten
mit Wahlversprechen oft um bestimmte Gruppen buhlten, wurden die Rechte mit der Zeit auf
mehr und mehr Gruppen ausgeweitet, um sich deren Stimmen zu sichern (z.B. Arbeiter unter
Alessandri und Perón). Diese schrittweise Integration neuer Gruppen in das Sozialsystem
erklärt auch die hohe Fragmentierung der Leistungen nach Berufsgruppen. Diese
Vorgehensweise konnte beispielsweise in den Bereichen der SV, FBHF, Invaliditätspension
und der Gesundheitssysteme festgestellt werden. Darin spiegelt sich natürlich auch die
Tradition der konservativen und mediterranen Wohlfahrtsstaaten wieder, die die
lateinamerikanischen Pionierstaaten während ihrer Entstehungsperiode beeinflussten. In Folge
verursachte der Klientelismus allerdings auch hohe Kosten für den Staat, insbesondere im
Bezug auf die Ausgaben für den Beamtenapparat. Klientelismus konnte zum Teil zwar auch
in den Diktaturen beobachtet werden, doch er beschränkte sich dort vor allem auf die eigene
Interessensgruppe (Militär und Polizei), die oft trotz Vereinheitlichungen im restlichen
System bessere Sozialleistungen und Extra-Regelungen bekamen.
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Eine weitere Tendenz, die in demokratischen Systemen beobachtet wurde, war die
Zentralisierung der Entscheidungsmacht in nationalen Behörden. Das half nicht nur dabei
Doppelgleisigkeiten bei der Zuständigkeit zu vermeiden, sondern diente auch der Festigung
der Staatsstrukturen. Gleichzeitig konnte eine Regierung noch lange nach ihrer Amtsperiode
Gesetze und Entscheidungen beeinflussen, wenn sie es schaffte, ihren politischen
Vorstellungen verpflichtete Beamte in administrativen Schlüsselpositionen einzusetzen. Diese
Funktionäre blieben dabei nahe am Zentrum der Macht und waren mit dem
Regierungsapparat verwoben. Allerdings tendierten diese Systeme auch zu relativ großen und
schwer finanzierbaren Verwaltungsapparaten, die wegen des Klientelismus den dort tätigen
Beamten zusätzliche Privilegien zusprachen. Die Abgabe von Kompetenzen die sub-nationale
Ebene (z.B. Gemeinden) konnte so vermieden werden, was einerseits der Regierung, aber
andererseits auch der nationalen Verwaltung größere Macht verleiht. Doch nicht immer war
die strikte Zentralisierung von Vorteil. Da es sich bei Argentinien und Chile um besonders
flächenmäßig ausgedehnte Länder mit regionalen Eigenheiten handelt, führte die
Zentralisierung der Bildung (z.B. der Curricula) dazu, dass auf die Bedürfnisse der Regionen
und des Marktes nicht ausreichend reagiert werden konnte. Die strikte Standardisierung, die
mit der Zentralisierung einher ging, war in der Praxis zu unflexibel. In der Wohnbaupolitik
war wiederum das Gegenteil der Fall. Um mit dem Wohnungsdefizit umzugehen wurden über
die Jahrzehnte hinweg in beiden Staaten unterschiedliche Behörden geschaffen, die mit der
Materie betraut waren. Dabei entstand ein Chaos bei den Zuständigkeiten, das letztendlich
durch die Schaffung einer Oberbehörde beseitigt werden konnte.
Schließlich sollte erwähnt werden, dass in Zeiten demokratischer Systeme weitaus mehr
Akteure die Sozialpolitik beeinflussten. Demokratische Systeme sind schließlich per
Definition auf die Partizipation ihrer Bürger ausgerichtet. Das erkennt man auch an der
Anzahl der Vetospieler im System, die eine geplante Policy blockieren können. Weiters
müssen mehr Interessensgruppen bei der Schaffung der Policy berücksichtigt werden. Jeder
will ein Stück des Kuchens und kann auch versuchen, es über verschiedene Wege (z.B.
Intervention bei Politikern, Streiks, Gewerkschaften, Wahlen) zu erlangen. Das führte oftmals
auch zu problematischen Blockaden im System, denn selbst für die Allgemeinheit auf lange
Sicht sinnvolle Reformen konnten am Protest privilegierter Interessensgruppen scheitern, die
um ihre Sonderrechte fürchteten. Das war nicht zuletzt der Grund, der für das Scheitern der
SV-Reform in Chile unter Frei gesorgt hatte.
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Demgegenüber standen auch Merkmale, die vor allem unter autoritären Systemen vorzufinden
waren. Dazu zählten die Vereinheitlichung und Rationalisierungs-Maßnahmen, sowie eine
erhöhte Repression und die Sorge um die interne Sicherheit (bedroht durch den
Kommunismus). Es kam ab den 1970ern unter den Diktaturen auch vermehrt zu Wellen der
Dezentralisierung, doch dies ist wahrscheinlich nur teilweise auf das politische System
zurückzuführen und eher der Umstellung auf die neoliberale Wirtschaftspolitik geschuldet.
Vereinheitlichungen verschiedener Sozialleistungen (z.B. SV, FBHF) wurden unter den
Diktaturen vor allem als Sparmaßnahmen vollzogen. Die fragmentierten Systeme, die unter
den Demokratien geschaffen wurden, verursachten hohe administrative Kosten und ein
durcheinander an Regelungen. Wie bereits angesprochen, war dieses Problem bereits von den
demokratischen Regierungen erkannt worden, die allerdings aufgrund von Protesten keine
Reformen durchsetzen konnten. Obwohl eine Diktatur auch vom sozialen Frieden abhängig
ist, hat sie einen größeren Spielraum um unliebsame Policies durchzusetzen (z.B. Mietpreis-
Deregulierung), bevor sich die gesamte Gesellschaft gegen sie auflehnt. Die Limitierung des
Versammlungsrechts unter Diktaturen macht es zudem schwerer den Widerstand zu
organisieren. Durch die Vereinheitlichung fielen zahlreiche administrative Posten weg. Diese
Rationalisierung diente der Senkung der staatlichen Lohnkosten und der Verkleinerung des
Staatsdienstes. Zusätzlich passte dies auch zum damals aufkommenden Wirtschaftsdogma des
Neoliberalismus. Allerdings ist die Vereinheitlichung nicht ein ausschließliches Merkmal von
Diktaturen, da derartige Maßnahmen zum Teil auch unter Demokratien durchgeführt wurden
(z.B. KV in Argentinien 1990er). Des Weiteren waren manche Gebiete der
Sozialgesetzgebung bereits bei ihrer Schaffung relativ einheitlich, wodurch Reformen obsolet
wurden. Dies war beispielsweise beim Mutterschutz oder den Arbeitslosen- bzw.
Entlassungsregelungen in Argentinien der Fall.
Es ist wenig erstaunlich, dass autoritäre Systeme stärker zu Repression neigen, doch diese
Tendenz zeigt sich nicht ausschließlich in Form von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Sie spiegelt sich auch in gewissen Bereichen der Sozialgesetzgebung wieder. Primär waren
von Repression und Zensur Gewerkschaften und Bildungseinrichtungen betroffen, da man in
beiden Horte des Kommunismus vermutete. Als Orte, an denen eine große Zahl von
Menschen zusammenkommen und „gefährliche“ Ideen austauschen konnte, standen die
autoritären Regime ihnen skeptisch gegenüber. Der Sicherheitsgedanke nahm während Zeiten
der Diktatur einen höheren Stellenwert für die Regierenden ein und verschärfte deren
Vorgehen gegen vermeintliche Feinde im Inneren. An den Schulen äußerte sich dies an der
ideologischen Indoktrinierung durch neue nationalistische Schultexte, die Verbannung von als
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„subversiv“ erachteten Büchern, sowie der Warnung vor dem Kommunismus. In beiden
untersuchten Staaten wurden zudem Gesetze erlassen, die die Arbeit von Gewerkschaften
deutlich erschwerten und die Mitgliedschaft in diesen Organisationen für Arbeiter unattraktiv
machen sollten. Letzteres zeigte allerdings nur in Chile Erfolg, da Gewerkschaften in
Argentinien aufgrund ihrer Sozialleistungen einen höheren normativen und praktischen Wert
hatten. Der letzte Bereich, der in der Sozialpolitik mit Repressionen zu kämpfen hatte, war der
Staatsdienst. Viele der zuvor besprochenen Rationalisierungsmaßnahmen wurden mitunter zur
Säuberung des Verwaltungsapparats von Beamten verwendet, die dem alten System treu
waren. Gleichzeitig erleichterten sie die Postenbesetzung mit regierungstreuen Amtsträgen.
Auch in Diktaturen entschied nicht allein die Regierungsjunta über Policies. Normalerweise
hatte sie allerdings mehr Macht bei Entscheidungen als eine demokratisch gewählte
Regierung, da sie nicht von (Koalitions-)Partnern abhängig war und nicht um Mehrheiten im
Parlament kämpfen musste. Da es sich bei den untersuchten Fällen um Militärdiktaturen
handelte, mussten Militär und Polizei zufrieden gestellt werden, damit die Junta nicht von der
eigenen Institution weggeputscht wurde. Grund dafür ist der Druck, den sozialen Frieden zu
erhalten, was sich oft trotz der Vereinheitlichung von Sozialleistungen in eigenen (und
besseren) Regelungen für diese Interessensgruppen äußerte (z.B. Ausnahmen bei PV, eigene
Militärspitäler). Da es sich bei Generälen selten um Berufspolitiker handelte, bedienten sie
sich an externen Experten, die sie beauftragten, ihre sozio-ökonomischen Ziele umzusetzen.
Insbesondere die Wirtschaftsexperten nahmen in den Regierungen eine wichtige Rolle ein und
hatten durch das Fehlen einer politischen Opposition mehr Freiheit bei der Umsetzung ihrer
teils radikalen Reformen. Der einzige Vetospieler, der blieb, war das Militär selbst.
Aus dieser Analyse ging deutlich hervor, dass nicht nur demokratische Regierungen
Sozialpolitik betreiben (H1: Demokratie ist nicht notwendig für Sozialgesetzgebung). Auch in
Diktaturen erwarten Bürger, dass der Staat sich bis zu einem gewissen Grad um sie kümmert.
Allerdings liegt die Schwelle für Protest höher. Wenn es im Interesse der autoritären
Regierung ist, kann sie sogar neue Leistungen einführen oder bisher ausgeschlossene
Gesellschaftsgruppen in das System inkludieren, um beispielsweise die Produktionskraft
dieser Gruppen zu steigern (Olsen 1993: 569). Viel mehr beeinflussten die drei erklärenden
Variablen – soziale Normen, sozialer Friede und internationale Faktoren – unabhängig vom
politischen System, die Entstehung von Sozialgesetzen. Die zweite Annahme der Arbeit (H2:
das politische System beeinflusst die Sozialgesetzgebung) war auch am stärksten an die
Forschungsfrage gekoppelt und war gleichzeitig am schwersten eindeutig zu beantworten.
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Einerseits beeinflusste jede Regierung die Sozialgesetzgebung unabhängig von ihrer
politischen Ausrichtung und der Art ihres Zustandekommens. Andererseits konnten einige
Merkmale eher mit autoritären Regimen in Verbindung gebracht werden (repressive
Maßnahmen, Vereinheitlichung). Diktaturen hatten des Weiteren mehr Macht, unbeliebte
Reformen umzusetzen, wobei eine hohe Machtkonzentration in der demokratischen Exekutive
zu einer ähnlichen Durchsetzungskraft führen kann (z.B. Menem 1990er Argentinien). Doch
selbst Militärdiktaturen, die mit dem Einsatz von Gewalt drohen können, haben keine
absolute Freiheit in ihren sozialpolitischen Entscheidungen. Insbesondere müssen Akteure,
die existentiell wichtig für den Machterhalt der Regierung sind (z.B. Militär),
zufriedengestellt werden. In Chiles Fall konnten alle drei Arten der Policy-Reformen unter
Pinochets Regierung vorgefunden werden. Oft blieb das Endziel einer Policy gleich. Somit
wurden viele bestehende Policy-Instrumente beibehalten und nur ihre „settings“ verändert
(z.B. SV, FBHF, Wohnbau). In anderen Fällen verwarf man verbreitete Policy-Instrumente
als ineffektiv und änderte diese (z.B. Arbeitslosengeld, tw. Privatisierung Bildung & KV). Zur
angenommenen kompletten „revolutionären“ Umorientierung bei den Zielen der Policies kam
es allerdings selten. In diese Kategorie fiel höchstens die Einführung der neuen
Familienförderung und das Abweichen von Beschäftigungsstabilität als primärem Ziel der
Arbeitsmarktpolitik. In Argentinien wiederum wurden die meisten bestehenden Policies – mit
Ausnahme von Leistungen, die dezentralisiert wurden – übernommen und angepasst (Hall
1993: 278). Ebenso wie H1, konnte die Annahme, dass autoritäre Regierungen einen
negativen Effekt auf Sozialgesetze haben (H3), widerlegt werden. Es kam zum Vorschein,
dass das politische System nicht notwendigerweise mit dem Ausbau oder der Einschränkung
von sozialen Rechten in monokausal Verbindung steht. Betrachtet man lediglich die
Gesetzgebung, so kam es unter Diktaturen nicht grundsätzlich zu einer Reduktion des
Wohlfahrtstaates, sondern eher einer Angleichung von Leistungen über gesellschaftliche
Gruppen hinweg. Der Klientelismus, der unter demokratischen Regierungen vorherrschte,
erhöhte nicht nur die Kosten für den Staat, sondern führte auch zu einer ungleichen
Umverteilung der Ressourcen bzw. zu einer erhöhten Stratifizierung. Die Privatisierung von
Sozialleistungen, die von vielen Bürgern als eine Beschneidung ihrer sozialen Rechte
empfunden wurde, geschah sowohl unter einem autoritären (Chile) als auch einem
demokratischen System (Argentinien).
Wie festgestellt, kam es bei der Änderung des politischen Systems in Chile und Argentinien
zum Wandel bei den notwendigen Komponenten des Sozialsystems. Das traf allerdings nicht
für alle Komponenten gleichermaßen zu und selbst die tatsächlichen Veränderungen waren
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nur sekundär auf die Regierungsform zurückzuführen. Weit wichtiger waren internationale
Faktoren, soziale Normen und der Erhalt des sozialen Friedens, die unabhängig des
politischen Systems die Sozialpolitik erklären.
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Seite | 95
Anhang
Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenversicherung
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1925 DFL 857 Privatangestellte: Angestellte mit mind. 2
Beitragsjahren in Pensionsversicherung
dürfen Teil der Beiträge als Darlehen
während ersten 2 Jahren der
Arbeitslosigkeit beantragen (später
zurückzuzahlen)
1889 Ley 2.637 Handelsgesetzbuch: sieht bei Entlassung
und bei „tadellosem Verhalten“ des
Angestellten Entschädigung in Höhe
eines Monatslohns (ML) vor
1928 Dto. 2.148 Gewerkschaften in Industrie haben Recht
für Mitglieder eine
Arbeitslosenversicherung zu schaffen
1934 Ley 11.729 Ändert Ley 2.637: Recht auf Abfertigung
bei Entlassung (halber ML pro
gearbeitetem Jahr), bei fristloser
Entlassung Recht 2 ML bei über 5 Jahren
Anstellung, sonst ein ML 1930 Dto. 3.740 Öffentliche Bedienstete: Recht auf
Entschädigung bei Entlassung oder
Kündigung in Höhe von einem
Monatslohn pro gearbeitetem Jahr
1943 Dto. 16.672 Staatsbedienstete: Recht auf
Entschädigung bei nicht gerechtfertigter
Entlassung (50 % des ML/Arbeitsjahr,
min. 1 ML)
1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Angestellte bei
Entlassung Recht auf Entschädigung
(1 ML/Arbeitsjahr, max. 1000,- pro Jahr)
außer bei bestimmten Gründen,
Gewerkschaften dürfen für Mitglieder
Arbeitslosenversicherung anlegen
1945 Dto. 33.302 Aller unselbständigen Beschäftigter: bei
Entlassung ohne gesetzlich
gerechtfertigte Gründe oder bei
Auftragsmangel in zwei Jahren nach
Gesetzeserlass Recht auf doppelte
Abfertigung aus Ley 11.729, danach
einfache
1932 Dto. 2.259 Eisenbahner: Recht auf Entschädigung
bei Entlassung, voller Lohn im 1. Monat,
50 % im zweiten
1948 Dto. 14.133 Legt fest, dass AG Entschädigung
entweder direkt zahlen kann oder einen
Fond für Entschädigungszahlungen
anlegen kann (1 ML/Arbeitsjahr)
Tabelle 18: Lateinamerikanische Präsidenten und Militärregierungen im 20. Jahrhundert
Chile Argentina
1896 - 1901 Federico Errázuriz Echaurren 1898 - 1904 Julio Argentino Roca
1901 - 1906 Germán Riesco Errázuriz 1904 - 1906 Manuel Quintana
1906 -1910 Pedro Montt 1906 - 1910 José Figueroa Alcorta
1910 - 1915 Ramón Barros Luco 1910 - 1914 Roque Sáenz Peña
1915 - 1920 Juan Luis Sanfuentes 1914 -1916 Victorino de la Plaza
1920 - 1925 Arturo Alessandri 1916 - 1922 Hipolito Yrigoyen
1925 Putsch + Gegenputsch 1922 - 1928 Marcelo Torcuato Alevar
1925 - 1927 Emiliano Figueroa 1928 - 1930 Hipolito Yrigoyen
1927 - 1931 Carlos Ibañez 1930 - 1932 Jose Uriburu
1931 - 1932 Abfolge von sieben Präsidenten 1932 - 1938 Agustino Pedro Justo
1932 Sozialistische Republik (Militär): Puga & Dávila 1938 - 1942 Roberto Macelino Ortiz
1932 - 1938 Arturo Alessandri 1942 - 1943 Ramón Castillo
1938 - 1941 Pedro Aguire Cerda 1943 - 1946 Revolución del 43: Rawson, Ramírez & Farrell
(Perón)
1942 - 1946 Juan Antonio Ríos Morales 1946 - 1955 Juan Domingo Perón
1946 - 1952 Gabriel Gonzalez Videla 1955 - 1958 Revolución Libertadora: Lonardi & Aramburu
1952 - 1958 Carlos Ibañez 1958 - 1962 Arturo Frondizi
1958 - 1964 Jorge Alessandri 1963 - 1966 Arturo Illia
1964 - 1970 Eduardo Frei 1966 - 1973 Revolución Argentina:
Ongania, Levingston, Lanusse
1970 - 1973 Salvador Allende 1973 - 1974 Juan Domingo Perón
1973 - 1990 Augusto Pinochet 1974 - 1976 Maria Estela Martinez de Perón
1990 - 1994 Patricio Aylwin 1976 - 1983 Reorganización Nacional: Videla, Viola,
Galtieri, Bigone
1994 - 2000 Eduardo Frei (Sohn) 1983 - 1989 Raúl Alfonsin
1989 - 1999 Carlos Menem
Anm.: Militärregierungen in Kursiv
Seite | 96
1937 Ley 6.020 Schafft Spezialfond für Arbeitslosigkeit
für private Angestellte, Finanzierung
über Beiträge (1 % Angestellter, 8,33 %
Arbeitgeber, mit Obergrenze), bei
Beendigung des Arbeitsverhältnisses
ausbezahlt, Recht verfällt bei
Pensionierung (bleibt im Fond)
1956 DL 326 Hausarbeiter: bei Entlassung Recht auf
50 % des ML/Arbeitsjahr
1937 Ley 6.037 Handelsmarine: Schafft SV für HM,
Recht auf 2 Jahre Arbeitslosengeld in
Höhe des Monatslohns bei 10 Jahren
Beiträgen bzw. 15 Monate bei 5-10
Jahren Beiträgen, nur bei Entlassung
nicht Kündigung, bei Wiedereinstellung
Rückzahlung
1960 Ley 15.785 Privatangestellte: erhöht Obergrenze von
Ley 11.729, mind. 1 ML, Arbeitgeber
kann für Entschädigungen eine von
Gewinnsteuer befreite Reserve anlegen
(Einzahlung pro Jahr auf Basis der
jährlichen Entschäd. der letzten 3 Jahre
oder 2 % der Löhne pro Jahr)
1942 Ley 7.295 Ändert Ley 6.020: mindestens 12
Beitragsmonate für Auszahlung nötig,
nicht bei Kündigung durch Angestellten,
Arbeitslosengeld nur 90 Tage ausbezahlt,
darf pro Monat nicht 75 % unter
Mindestlohn liegen, Klausel zu
Pensionierung gestrichen
1966 Ley 16.881 Unselbstständige Privatwirtschaft:
Entschädigung bei Entlassung wegen
Auftragsmangel, Ablauf des
Arbeitsvertrags, Bankrott der Firma ist
50 % des ML/Arbeitsjahr (min. 1 ML)
bzw. 100 % des ML/Arbeitsjahr bei nicht
gerechtfertigtem Entlassungsgrund
(Höhe: min. 2 ML, max. in Höhe von 3
Mindestlöhne/Arbeitsjahr), bei fristloser
Kündigung 1 bzw. 2 ML
1943 Ley 7.390 Arbeiter in Gemeinden haben bei
Entlassung ohne Eigenverschuldung
Recht auf Entschädigung (30 Tageslöhne
pro Arbeitsjahr), finanziert durch
Gemeinden
1967 Ley 17.391 Derogiert Ley 16.881, ändert Ley 11.729:
Recht auf Entschädigung bei nicht
gerechtfertigter Entlassung (1
ML/Arbeitsjahr bzw. 50 % des ML/Jahr
bei Entlassung wegen Auftragsmangels),
neue Obergrenze
1946 Ley 8.569 Bankmittarbeiter: selbe Richtlinien wie
Gesetz 7.295, über Versicherung der
Bankangestellten geregelt
1973 Ley 20.172 Staatsbedienstete: bei Entlassungen
wegen Umstrukturierungen,
< 10 Dienstjahre = 1 ML/Jahr,
10-20 Dienstjahre = 1,5 ML/Jahr,
> 20 Dienstjahre = 2 ML/Jahr
1952 Ley 10.475
Dto. 2.588
Privatangestellte: ab 90. Tag ohne Arbeit
können Beiträge als Darlehen in Höhe
des Monatslohns ausgezahlt werden (nur
wenn kein Recht auf Alters- oder
Invaliditätspension besteht), muss ab
nächstem Arbeits-Verhältnis
zurückgezahlt werden
1974 Ley 20.744 Unselbstständige (außer Staatsbedienstete
und Hausarbeiter), gleich wie Ley
16.881, nicht bei Alterspension oder
Kündigung durch Arbeitnehmer,
Entschädigung min. 2 ML
1953 DFL 234 Arbeiter: Arbeitslosengeld erst ab 2.
Monat ohne Arbeit, 50 % des Lohns,
max. 4 Monate gewährt, mind. 280
Beitragswochen in SV, wird nur gewährt,
wenn Arbeiter sich beim staatl.
Arbeitsamt meldet, finanziert über
Arbeitgeberbeitrag (2 %)
1976 Ley 21.724 Entlassung Staatsbedienstete: Recht auf 1
ML/Arbeitsjahr monatlich ausbezahlt,
kein Anrecht, wenn Person
paramilitärischen Gruppen angehört,
durch subversive Tätigkeiten auffällt, die
eine reale oder potentielle Störung für
den Betrieb darstellen, die in laufenden
Verfahren verurteilt werden
1959 Ley 13.305 Ändert DFL 234: Unterscheidung: totale
und partielle Arbeitslosigkeit (letztere bei
Arbeitszeitreduktion), mind. 156
Beitragswochen, max. 6 Monate gewährt,
75 % des Lohns
1976 Dto. 390 /
Ley 20.744
Ähnlich wie Version 1974, aber gilt
zusätzlich nicht für Agrararbeiter:
Entschädigung min. 1 ML
1971 Ley 17.398
Dto. 1.333
Verfassungsänderung: jeder hat Recht auf
SV, Gesetz muss Schutz bei
Arbeitslosigkeit regeln
1974 DL 603 Schafft einheitliches System für
Arbeitslosengeld (öffentl. + privat): 75 %
des letzten Lohns für 90 Tage (max. 3-
mal verlängerbar), nur bei Entlassung,
Registrierung Arbeitslosenregister, bei
Ablehnung einer Stelle verloren
gestrichen, mind. 52 Wochen in eine SV
einbezahlt haben, freiwillige „versicherte
Mindestarbeit“ von max. 15 h/Woche bei
⅓ des Mindestlohns, schafft Fond für
Arbeitslose, keine extra Beitrag nötig, für
Staatsbedienstete gleich
1976 DL 1.588 Ändert DL 603: die 52 Wochen an SV
dürfen auch wenn man SV-System
gewechselt hat.
1980 DL 3.501 Neue SV-Beiträge: Arbeitslosenfond
ausschließlich durch Staat finanziert
1982 DFL 150 Einheitliche Version Arbeitslosengeld:
Seite | 97
man kann zu Gemeindearbeit verpflichtet
werden, bei Verweigerung Verlust des
Arbeitslosengeldes, Familienbeihilfe und
Arbeitslosengeld aus einem Fond bezahlt
1982 Ley 18.134 AG bekommt finanzielle Förderung,
wenn er Arbeitslose einstellt
1985 Ley 18.413 Ändert DFL 150: min. 30h/Woche
Gemeindearbeit zu leisten, min. 15
h/Woche bei versicherter Mindestarbeit,
Höhe des Geldes verringern sich je länger
man es in Anspruch nimmt
Unfallversicherung und Invaliditätspension
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1916 Ley 3.170 Unselbständige (privat): betrifft jeden
Arbeitsunfall, der arbeitsunfähig macht
(außer höhere Macht und grobe
Fahrlässigkeit Arbeiter), Arbeitgeber
muss für alle Behandlungs- und
Arzneikosten aufkommen bis Arbeiter
wieder arbeitsfähig, auch Entschädigung
(temporär: 50 % des Tageslohns/Tag
arbeitsunfähig // partielle Invalidität: bis
2 Jahreslöhne // totale Invalidität:
Pension 50 % des Lohns bzw. bei Tod an
Ehefrau oder Kinder)
1915 Ley 9.688
(bis 1991
gültig)
AN in Industrie inkl. Leiharbeiter (die
weniger als 3.000,-/Jahr verdienen): AG
verantwortlich für Unfälle am
Arbeitsplatz (außer grobe Fahrlässigkeit),
AG muss für Behandlungskosten
aufkommen bis Arbeiter wieder
arbeitsfähig, beinhaltet auch Krankheiten,
bezog sich eher auf Maschinenarbeit, AG
können freiwillig Versicherung für
Entschädigungen abschließen =
„Garantiekasse“ (temporär: 50 % des
Tagelohns bis Genesung // partielle
Invalidität: je nach Grad der Behinderung
// totale Invalidität: in Höhe von 1000
Tageslöhnen (bei Tod an Frau/Kinder)
1924 Ley 4.054 Arbeiterversicherung (inkl. Invalidität):
Beitragspflicht (2 % AN, 3 % AG, 1 %
Staat), nur wenn Unfall nicht Absicht
war, Entschädigung bei Arbeitsunfällen
lt. Ley 4.055 geregelt
1916 Dto. / Reglementiert Ley 9.688: beschränkt sich
auf Buenos Aires und abhängige
Territorien, definiert Arbeitsunfälle,
„Garantiekasse“ als Teil der
Pensionsversicherung (verwaltet
Entschädigung, bezahlt sie monatlich
aus), Hygiene und
Sicherheitsvorschriften
1924
(1925)
Ley 4.055
(Dto. 238 &
379)
Reform Ley 3.170: Staatsdienst auch,
fügt arbeitsbedingte Krankheiten hinzu,
Beweislast beim AG, AG zur
Unfallprävention verpflichtet,
Entschädigung (erhöht: Pension 60 % Jahreslohn bei permanenter Arbeitsunf.,
max. 30 % bei partieller Behinderung,
Angehörige bei Tod) außer wenn AN
gegen Arbeitsunfälle versichert ist
1925 Dto. 2.643 Provinzen müssen ab sofort auch
Bestimmungen von Ley 9.688 umsetzen
1926 Dto. 217 Regelt Unfallprävention aus Ley 4.055:
beinhaltet auch Hygienevorschriften
1940 Ley 12.631 Ändert Ley 9.688: Paragraf zu
Maschinenarbeit gestrichen, Familie oder
Bekannte, die gelegentlich aushelfen aus
Entschädigung ausgeschlossen
1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Normen aus 4.055
bleiben überwiegend erhalten und werden
geordnet
1944 Dto. 21.425 Neues Verfahren zur Einklage der
Entschädigung und deren Feststellung,
AN darf Arzt aussuchen, dessen Kosten
werden nur bedingt vom AG gedeckt
1941 Dto. 655 Aktualisierte Regelung zu Hygiene- und
Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz:
strengere Vorschriften, Prävention
1946 Dto. 13.937 Versicherung Industrie: deckt auch
Unfälle außerhalb der Arbeit ab (ab min.
10 Arbeitsjahren), auch mentale
Arbeitsunfähigkeit, sondern
temporärer/permanenter Arbeits-
unfähigkeit, min. 10 Dienstjahre (außer
bei Arbeitsunfällen), Definition
Behinderungsgrade, totale Behinderung:
3,33 % der normalen Pension mal min.
20 Arbeitsjahre // partiell: von
Behinderungsgrad Abhängig
1952 Ley 10.383 Reform Pflichtversicherung: Beiträge der
AN (5 %), AG (10 %) und Staat (5,5 %),
Anspruch auf Krankengeld bei Unfällen
außerhalb der Arbeit, Pensionshöhe min.
30 % des Durchschnittslohns im Beruf,
1955 DL 650 Ändert Ley 9.688: alle Unselbstständigen
abgedeckt, Arbeitsweg auch
eingeschlossen, Obergrenze für alle
Entschädigungen erhöht, AG muss
Kosten für Prothesen übernehmen
Seite | 98
Anspruch auf Pension auch bei Unfällen
außerhalb der Arbeit (wenn total/partiell
arbeitsunfähig), min. 52 Wochen
Beiträge, unter 65 Jahre
1968 Ley 16.744
(gilt bis
heute)
Schafft universelle, verpflichtende
Unfallversicherung für Unselbstständige:
Arbeitsvertrag als Basis, Finanzierung
über AG-Beitrag (1 %), auch Arbeitsweg
abgedeckt, auch während Gewerkschafts-
tätigkeit, ausgeschlossen durch höhere
Macht oder nicht arbeitsbedingt, starke
(finanzielle) Anreize zur Prävention z.B.
erhöhte Beiträge, Recht auf gratis
Behandlungen, Entschädigung und
Umschulung bei Invalidität vom ersten
Arbeitstag weg, Recht auf 85 % des
Lohns bei temp. Arbeitsunfähigkeit (max.
52 Wochen), Umschulung bei Invalidität,
(leichte partielle Invalidität: einmalige
Entschädigung // schwere partielle Inval.:
Pension 35 % des ML // totale Inval.:
Pension 70 % des Lohns, wird um 30 %
erhöht, falls Hilfskraft benötigt wird)
1958 DL 4.834
(Aramburu)
Ändert Ley 9.688: Volljährige AN
können Entschädigungen als einmalige
Zahlung verlangen
1968 DFL 1 Statut des Militärs: eigenes System für
Unfälle und Krankheiten durch Dienst,
tw. Je nach Schwere des Unfalls bis zu
gleichem Lohn eins gleichrangigen,
aktiven Mitgliedes, auch Recht auf
medizinische Versorgung
1960 Ley 15.448 Ändert Ley 9.688: Hebt Obergrenze bei
Todesfällen und totaler Behinderung an,
bei temporärer Arbeitsunfähigkeit wird
Tageslohn bezahlt
1973 Dto. 313 Reglementiert Art. 3 der Gesetzes 16.744
zur Unfallversicherung für Schüler und
Studenten (Unfälle zuhause
ausgeschlossen), Recht auf Behandlung
1968 Ley 18.018
(Ongania)
Ändert Ley 9.688: temporäre
Arbeitsunfähigkeit: Anspruch auf 75 %
des Tageslohns pro Tag; ab 30. Tag
100 %
1980 DL 3.500 Neues Pensionssystem: Beiträge AN
(10 %), nur bei Unfällen in Freizeit (bei
Arbeit gilt weiterhin Ley 16.744)
Invaliditätspension solang kein Recht auf
Alterspension, Recht auf min. 50 % des
ML, steigt pro Jahr um 5 %, Invalidität
muss von 3 Chirurgen festgestellt werden
1971 Ley 18.913 Ändert Ley 9.688: Schließt ab sofort
auch ausdrücklich öffentliche Bedienstete
ein, alle Unselbstständigen
1980 DL 3.501 Senkt Beiträge für Unfallversicherung
von 1 % auf 0,85 %
1972 DL 19.587
Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz:
gilt für jeden Arbeitsplatz, Schutz des
Lebens, Prävention, schafft Services für
Hygiene und Arbeitsmedizin (Check-
Ups, Statistiken, etc.), bei Umsetzung
Verpflichtungen für AN und AG
1988 Ley 18.768 Erhöht Beiträge für Unfallversicherung
von 0,85 % auf 0,90 %
1979 Dto. 351 Reglementiert DL 19.578: Gebäude-
vorschriften, Lärm, Handhabung von
Maschinen, Hygienevorschriften am
Arbeitsplatz, Brandschutz, Sanktionen
bei Nichterfüllung, etc., ab min. 150
Arbeitern muss einen internen medizini-
schen und hygienischen Dienst haben
Streik- und Gewerkschaftsrecht
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1917 Dto. 4.353 Arbeitskonflikt: Schlichtungsverfahren,
Streikankündigung 5 Tage zuvor (10
wenn Wasserversorgung, etc.), evtl.
Zwang zu Schlichtungsverfahren
1937 Dto. 15.772 Konditionen für Gewerkschaften, um
juridische Persönlichkeit zu erlangen z.B.
Interessensvertretung, dürfen sich nicht
in Politik und Religion einmischen
1924 Ley 4.056 Schafft Schlichtungsräte und
Schiedsgerichte für Streitfälle zw. AG
und AN, Verfahren, um Einigung zu
erreichen, Streiks als Mittel anerkannt,
aber nur ultima ratio, eher
unternehmensintern und nicht
übergreifend vorgesehen
1943 Dto. 2.669
(1943
derogiert)
Reglementiert Funktion von
Gewerkschaften: AN- oder AG-
Organisationen, freiwillige
Mitgliedschaft, um eigene Interessen zu
fördern, Einmischungsverbot in Politik,
dürfen keine Ideologie vertreten die nicht
„nationalen Werten“ entspricht, dürfen
nicht aus Ausland oder von Parteien
finanziert werden, AN-Gewerkschaften
dürfen nicht durch AG finanziert werden
Seite | 99
1924 Ley 4.057 „Industrielle Gewerkschaften“: nur
unternehmensintern, nur Ausnahmefälle
mehrerer Unternehmen, Arbeiter +
Angestellte (bis 4000 pesos), ab 25
Mitarbeitern, zwingend, Aufgaben sind
Verbesserung der Arbeitsbedingungen
und Löhne (Interessensvertretung),
vertreten durch gewähltes u. bezahltes
Direktorium, Kollektiv-verträge //
„Berufsgruppen-Gewerkschaften“:
Personen der gleichen Berufsgruppe,
freiwillig, ausgeschlossen öffentl. Dienst,
über Unternehmensebene hinweg,
Verteidigung gemeinsamer Interessen,
automat. Austritt bei Arbeitslosigkeit
1945 Dto. 23.852 Regelt Gewerkschaften:
Vereinigungsfreiheit (nach Beruf,
Industrie, Unternehmen, etc.),
Interessensvertretung (u.a.
Versicherung), Abstufung der
Gewerkschaften nach „Graden“,
„gewerkschaftliche Persönlichkeit“ als
rechtlicher Status
1927 DFL 2.100 Arbeitsgerichte (Privatwirtschaft):
Aufbau, Funktionsweise, in erster Linie
Konflikt zw. Arbeit und Kapital, wie bei
Klage vorzugehen ist,
Berufungsverfahren, etc.
1945
DL 536
(1955
derogiert)
Öffentliche Sicherheit: Anstachelung zu
Streik im öffentlichen Dienst mit 6
Monaten - 3 Jahren Haft geahndet, 1
Monat - 2 Jahren Haft bei Fortführung
eines illegal deklarierten Streiks in
Privatwirtschaft, 2 Monate – 3 Jahre Haft
bei Streiks in Privatwirtschaft, die aus
nicht mit Arbeitsbedingungen
zusammenhängen
1928 Dto. 2.148 Reglementiert Ley 4.057: Oberbehörde
Wohlfahrtsministerium, nur arbeitende
Mitglieder Gewerkschaft, administrative
Tätigkeiten und Werbung für
Gewerkschaft außerhalb der Arbeitszeit,
öffentl. Dienst ausgeschlossen,
1949 Verfassung
von 1853
Verfassungsreform: Vereinigungsfreiheit
(Gewerkschaften), Interessensvertretung
1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Vereinigungsrecht
(außer öffentl. Dienst, Staatsbetriebe,
Agrarsektor) und Streikrecht, industrielle
& Berufsgruppen-Gewerkschaft, Aufbau
(Direktorium), Gewerkschaftsführer
dürfen nicht grundlos entlassen werden,
reglementiert Arbeitsgerichte,
Schlichtungsverfahren verpflichtend
(durch permanenten Schlichtungsrat) vor
Streik, bei Gefährdung der Öffentlichkeit
durch Streik kann Regierung Arbeiter
einsetzen, Schiedsgericht wenn
Schlichtung fehlschlägt, Schiedsspruch
verpflichtend (min. 6 Monate)
1957 DL 10.596
(1958
derogiert)
(Aramburu)
Arbeitskonflikt: Arbeitsdirektion kann in
jeden Konflikt intervenieren, Schlichtung
angestrebt (innerhalb v. 15 Tagen), dann
Schiedsverfahren, Streik durch AN &
AG während Verfahren und im öffentl.
Dienste & Gesundheit illegal, sonst
Streik mit 3 Tagen Vorwarnung legal
1937 Ley 6.026 Interne Sicherheit: Anstiftung und
Aufrechterhaltung von Streiks, die Ziel
haben öffentl. Ordnung zu stören &
Streik im öffentl. Dienst sind Delikte
1957 Verfassung
von 1853
Verfassungsreform: Führt Art. 14 bis.
(über Arbeitsrechte) ein, Recht auf
Vereinigungsfreiheit und Streikrecht
1941 Ley 7.295 Privatangestellte: Gemischte
Mindestlohn-Kommission (AG & AN
bzw. Gewerkschaft pro Region)
1958 DL 934
(Aramburu)
Streikverbot für 40 Tage vor Wahl (durch
Übergangsregierung/Junta beschlossen),
auch Entlassungs- und Versetzungsverbot
1945 Dto. 839
(Rios)
Ändert Arbeitsgesetzbuch: regelt
Arbeitskonflikte, kein Streik oder „lock-
out“ solange nicht alle Mittel erschöpft
wurden, Verfahren für Forderungen
(zuerst Petition an AG, Schlichtungs-
verfahren und Schiedsgericht)
1958 Ley 14.455
(1973
derogiert
20.615)
Regelt Gewerkschaften: garantiert
Vereinigungsfreiheit, Gewerkschaften
haben Recht sich mit ähnlichen
zusammenzuschließen (auch
Konföderationen), Gewerkschaften um
Interessen den AN zu vertreten, zwei
Arten der Gewerkschaften
(unternehmensintern & nach
Berufsgruppen), zw. Mitgliedern darf
nicht diskriminiert werden, dürfen auf
soziale Dienste anbieten und
Mitgliedsbeiträge einheben,
Gewerkschaftsführer haben geschützten
Arbeitsplatz, nicht-Einmischung AG 1947 Ley 8.811
(Gonzalez-
Videla)
Gewerkschaften Agrarsektor: eigene
Normen, viele Restriktionen z.B. bei
Streikrecht, dürfen nur pro Farm
gegründet werden (ab 20 Arbeitern),
während Saat- und Erntezeit dürfen keine
Forderungen gestellt werden,
Forderungen einmal jährlich, Besitzer
darf Zusammenkunft auf Grundstück
verweigern, bei Verbesserungen, auf alle
Arbeiter anwendbar
1959 Ley 14.786 Arbeitskonflikt: bevor direkte
Kampfmaßnahmen ergriffen werden
Meldung an zuständige Behörde und
verpflichtendes Schlichtungsverfahren
(max. 15 Tage), nur wenn alle Mittel
erschöpft wurden legaler Streik möglich,
nicht Landwirtschaft & Hausarbeit
1948 Dto. 5.839 Gesetz zur Verteidigung der Demokratie: 1966 Ley 16.936 Arbeitskonflikt (Übergangslösung): Staat
Seite | 100
(Gabriel
Gonzalzs)
(derogiert
1958)
Organisationen und Aktionen, die
Kommunismus vertreten bzw. generell
anti-demokratisches Gedankengut
verbreiten, sind verboten, auch Personen
die öffentl. Sicherheit gefährden
(darunter auch Anstiftung zu illegalen
Streiks), hohe Geldstrafen, Streiks im
öffentl. Dienst illegal, Gewerkschafts-
recht wird hochgehalten
kann zu Schiedsgericht verpflichten wird
innerhalb von 5 Tagen begonnen
(gleichzeitig Verbot von Streiks), im
Falle das nationale Wirtschaft bzw.
sozialer Friede gefährdet sind oder wenn
mehrere Provinzen betroffen sind,
Beweise vorzubringen, Schiedsspruch
gleicht Kollektivvertrag (1 Jahr gültig)
1953
(1960)
DFL 256
(DFL 338
Alessandri)
Öffentlicher Dienst: Streikverbot bei
Androhung von fristloser Entlassung,
(dürfen sich nicht in Gewerkschaft
zusammenschließen oder beitreten)
1966 Dto. 969 Reglementiert Ley 14.455: Definition
Gewerkschaftsarten und -grade
1958 Ley 12.927 Innere Sicherheit: jeder Streik oder
„lock-out“ im Bereich öffentlicher
Dienstleistungen oder gilt als Delikt
(auch Anstiftung dazu), besonders bei
wichtigen Industrien
1970 Dto. 2.477 Gewerkschaften 1. Grades (AN gleicher
Berufsgruppen), Gewerkschaften 2.
Grades (Zusammenschluss mehrere
Gewerkschaften 1. Grades), Gewerk-
schaften 3. Grades (Zusammenschluss
mehrere Gewerkschaften 2. Grades)
1966 Ley 16.455 Arbeitsverträge: Gewerkschaftsführer
und -Vertreter, sowie Anwärter auf
solche Posten genießen
Entlassungsschutz,
1970 18.610 Regelt Obras Sociales: verbindet Obras
Sociales legal mit öffentl. Dienst oder
Gewerkschaften, Budget primär für
Gesundheitsversorgung zu verwenden,
Arbeitsvertrag notwendig (Familie
mitversichert), Beitragsfinanzierung (2 %
AG, 1 % AN + 1 % für Familie bzw. 2 %
bei Pensionisten)
1967 Ley 16.625 Bauerngewerkschaften: Vereinigungs-
freiheit, min. 100 bzw. 25 Mitglieder
(nicht auf Farm beschränkt, abhängig von
Region), dürfen Föderationen bilden, (Bis
1970 400 Gewerkschaften mit 100.000
Mitgliedern), auch AG Gewerkschaften,
verheiratete Frauen brauchen keine
Zustimmung zum Beitritt, Interessens-
vertretung, Kollektivverträge, Aufbau,
landwirtschaftl. Schlichtungsverfahren
und Schiedsgerichte, Streikrecht
(unabkömmliche Arbeiten müssen aber
gesichert sein z.B. Erhaltung Ernte),
Bildung in Arbeits-/Gewerkschaftsrecht
1973 Ley 20.615
(Peron)
(1979
derogiert)
Regelt Gewerkschaften:
Vereinigungsfreiheit, Grade, Aufgaben,
Struktur, Recht Beiträge von Mitgliedern
zu fordern bzw. Quote von denen, die
Sozialleistungen in Anspruch nehmen
wollen (nichts zu nicht-Mitgliedern),
„unredliche Praktiken“ nur auf Seiten der
AG (Subversion d. Gewerkschaften,
Einmischung, Verhandlung verweigern),
Gewerkschafter geschützter
Arbeitsplatz , verbietet staatl.
Intervention in Gewerkschaften
1970 Dto. 519
(Frei)
Verfassungsänderung Art 14: Freiheit der
Arbeit und Schutz Vereinigungsfreiheit
und Streikrecht, Gewerkschaften sind frei
1974 Dto. 1.045 Reglementiert Ley 20.615: auch Arbeiter,
die nicht Gewerkschaftsmitglieder sind,
müssen Beiträge zahlen
1970 Dto. 825 Reglementiert und schafft triparitätische
Kommission: für Kollektivlohn-
verhandlungen, je nach Berufsgruppe, 3
AN- & 3 AG-Vertreter und 3
Regierungsrepräsentanten
1974 Ley 20.638
(Peron)
Ley 16.936 retroaktiv ab 01.01.74 gültig:
leicht abgeändert, Gesetz wurde
permanent
1973 DL 12 Entzieht CUT (Central Unica de
Trabajadores) juristische Persönlichkeit
und verbietet sie komplett, wegen
Einmischung in Politik
1974 Ley 20.840 Nationale Sicherheit: gegen jede Form
der Subversion, 1 – 3 Jahre Haft bei
Anstiftung zur Fortführung eines illegal
deklarierten Streiks, 2 – 6 Jahre Haft bei
mutwilliger Beschädigung von Firmen-
eigentum
1973 DL 198
(Junta)
Übergangsnormen zu Gewerkschaften:
dürfen in keinem Fall polit. Aktivitäten
nachgehen, legt fest wie viel Arbeitszeit
Funktionär für Gewerkschaft aufwenden
darf, während Kriegs- oder Belagerungs-
zustand gilt, dürfen Gewerkschaften sich
nur für Informationsveranstaltungen oder
zur internen Organisation treffen
1976 Ley 21.261 Hebt übergangsmäßig das Streikrecht auf
bzw. verbietet alle Handlungen, die
Produktion behindern
1975 Dto. 890 Staatssicherheit: allgemeines Streikverbot
wenn nicht an Gesetz gehalten, Androhung von Haft bei illegalem Streik
und Haft oder Geldstrafe bei lock-out
1976 Ley 21.270 Intervention in Zusammenschluss der
Gewerkschaften (CGT): Vorwurf nicht mehr im Interesse der Arbeiter zu
handeln, blockiert alle Konten und Fonds
der CGT, erlaubt vorläufig staatliche
Intervention in Gewerkschaften
1979 DL 2.200 Arbeitsrecht: Ab 15 permanenten
Arbeitern, sollen diese für
Verhandlungen mit AG Vertreter stellen
(falls keine Gewerkschaft), Vertreter sind
auch vor Entlassung geschützt
1976 -
1982
Div. Suspendiert vorläufig Art. 18 (Ley
20.615), der Intervention staatliche in
Gewerkschaften verbietet
1979 DL 2.756 Organisation Gewerkschaften:
Vereinigungsfreiheit (privat & öffentl.),
1976 Ley 21.400 Streikrecht bzw. Fabrikschließung (AG –
„lock-out“) können jederzeit als
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Entlassung wegen Zugehörigkeit
unzulässig, neue Kategorien (Betriebs-
gewerkschaft, mehrerer Unternehmen,
Selbständiger, Bauwesen); Interessen-
svertretung und -artikulation,
Kontrollfunktion, min. Mitgliederzahl
erhöht, Bauerngewerkschaften aufgelöst
aufgehoben werden, falls nationale
Sicherheit gefährdet, bei Zuwiderhandeln
Geld- und Gefängnisstrafen (letztere nur
für AN)
1979 DL 2.758
(derogiert
1987)
Kollektivverhandlungen: einmal jährlich,
öffentliche Verwaltung ausgeschlossen,
kann von Gewerkschaft ausgehen, muss
es nicht, nicht an Verhandlungen
teilnehmen dürfen Lehrlinge und
Personen mit Führungsposten oder
Personen, die entlassen/einstellen dürfen,
Streikrecht wenn Verhandlungen
scheitern, AG Recht auf lock-out, AG
muss keine SV-Beiträge während Streik
zahlen, nach 60 Tagen Streik
„freiwillige“ Kündigung, Streikverbot in
öffentlicher Dienstleistungen (die
Wirtschaft, Gesundheit oder nat.
Sicherheit schaden können) in diesen
Fällen verpflichtender Schiedsspruch,
Gewerkschafts-föderationen und -
konföderationen dürfen nicht verhandeln,
Fokus eher auf Individualverhandlungen,
nur Lohn oder Arbeitskonditionen
verhandelbar, schützt Gewerkschaftsrecht
und Verhandlungsrecht,
1977 Dto. 385 Derogiert Dto 1.045/74: nur von
Gewerkschaftsmitgliedern Beiträge
1979 DL 2.950 Ändert DL 2.758: Streikende dürfen von
5. Tag vor Streik bis zum 60. Tag nach
Anfang nicht entlassen werden
1979 Ley 22.105
Gewerkschaftsrecht: Recht auf Bildung
v. Gewerkschaften (außer polit. Gründe),
Ausübung der Interessensvertretung eher
auf Provinz beschränkt, freiwilliger
Beitritt bzw. nicht Beitritt, Geldspenden
von externen Quellen unzulässig, Pflicht
zu verhandeln
1980 DL 3.464 Bestätigt neue Verfassung: Streikverbot
öffentliche Bedienstete, Vereinigungs-
freiheit bzw. Gewerkschaftsrecht
garantiert, Gewerkschaften dürfen nicht
in Politik eingreifen bzw. Partei ergreifen
1980 Ley 22.269 Obras Sociales: bleiben bestehen, dürfen
nicht mehr von Gewerkschaften
finanziert werden, Unabhängigkeit von
Gewerkschaften. öffentl. Dienst von
eigen Gesetz geregelt, Beitrags-
finanzierung (4,5 % AG, 3 % AN + 1 %
pro Familienmitglied), Budget von
Umverteilungsfond verwaltet, man kann
aus Obra Social austreten
Mutterschutz
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1917 Ley 3.186 Verpflichtende Kinderkrippen in
Unternehmen mit mehr als 50
Arbeiterinnen, Babies bis 1 Jahr, Stillen
erlaubt
1924 Ley 11.317 Reguliert Arbeit von Kindern und
Frauen, Industrie und Gewerbe,
verpflichtenden Karenz 6 Wochen nach
Geburt (außer Familienbetriebe) in
Gewerbe und Industrie, geschützter
Arbeitsplatz, Entlassungsverbot,
Kinderkrippen
1924 Ley 4.054 Schafft verpflichtende Versicherung für
Arbeitende, Arbeiterinnen haben
Anspruch auf medizinische Betreuung
während und nach der Schwangerschaft,
professionelle Geburtshilfe, 50 % Lohn-
zuschuss erste 3 Wochen nach Geburt
1925 Dto. 2.699 Reglementiert Kinderkrippen in
Unternehmen, ab 50 Arbeiterinnen
verpflichtend, Babies bis 1 Jahr, dürfen
stillen
1925 DL 442 Mutterschutz: Industrie und Gewerbe,
Recht auf Karenz (40 Tage vor + 20 Tage
nach Geburt), geschützter Arbeitsplatz,
Entlassungsverbot,
Kinderkrippen ab 20 Arbeiterinnen
1934 Ley 11.933 Mutterschutz: Industrie und Handel,
Arbeitsverbot (30 Tage vor + 45 Tage
nach Geburt), Karenz bei vollem Lohn,
Beitragsfinanzierung (Arbeiterin,
Arbeitgeber, Staat), geschützter
Arbeitsplatz, Entlassungsverbot
1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Arbeitsverbot (6
Wochen vor + 6 Wochen nach Geburt),
geschützter Arbeitsplatz,
1934 Ley 12.111 Mutterschutz für staatliche Bedienstete:
Karenz 6 Wochen vor + 6 Wochen nach
Geburt, volle Entlohnung, geschützter
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Entlassungsverbot, während Karen 50 %
des Lohns, Kinderkrippen und Stillrecht
Arbeitsplatz, Entlassungsverbot
1931 DFL 226 Gesundheitsgesetzbuch: kostenlose
medizinische Versorgung in allen
während Schwangerschaft bis nach
Geburt, Einkommensschwache auch ohne
Versicherung, Stillpflicht bis 5. Monat,
Verbot Muttermilch zu verkaufen
1936 Dto. 80.229 Schaffung der Mutterschaftskasse: davor
SV zuständig, Staatsbedienstete zahlen
nicht ein, Recht auf professionelle
Feststellung der Schwangerschaft,
Behandlungen für Schwangere,
Geburtshilfe
1952 Ley 10.383 Ändert Gesetz 4.054, Mitversicherung
Kernfamilie, med. Untersuchungen und
Geburtshilfe für Ehefrauen, Schwangere,
die mind. 6 Monate Beiträge gezahlt
haben, haben Recht auf vollen Nettolohn,
Arbeitsverbot 6 vor + 6 Wochen nach
Geburt, Heimarbeiterinnen
ausgeschlossen
1936 Ley 12.341 Schafft Direktion für Mutterschaft &
Kindheit: Oberbehörde, zuständig für
Statistiken, Hygienepropaganda,
Kontrolle der Leistungen an Schwangere
und Kinder, Servicezentren in allen
Provinzen, führt Stillpflicht von Müttern
ein
1953 Ley 11.462 Ändert Kapitel zu Mutterschutz in
Arbeitsgesetzbuch: ALLE Arbeiterinnen
+ Angestellte + Agrarsektor +
Hausarbeiterinnen stehen 6 Wochen
Karenz vor + 6 Wochen nach Geburt zu
bei vollem Lohn, während
Schwangerschaft und 3 Monate danach
schwere Arbeiten (z.b. schwer schleppen)
verboten
1947 Ley 13.012 Gesundheitsgesetzbuch: kostenlose
Gesundheitsversorgung für alle armen
und unversicherten Bürgern in staatlichen
Krankenhäusern, spezielle Leistungen an
Schwangere inbegriffen
1966 Ley 16.511 Ändert Arbeitsgesetzbuch: Kinder bis 2
Jahre dürfen in Kinderkrippen in
Unternehmen bleiben
1968 Ley 18.017 Finanzielle Transferleistungen:
einmaliger Betrag für Kind bei Geburt,
voller Lohn während Karenz als
„Mutterschaftsbeihilfe“
1968 DFL 725 Ändert Gesundheitsgesetzbuch: Gesund-
heitsversorgung der Mutter bis 6 Monate
nach Geburt, Muttermilch ist Eigentum
des Kindes, Stillpflicht (ohne Limit)
1968 Dto. 3.082 Inkludiert auch Staatsbedienstete in Ley
18.017
1973 Ley 17.928 Ändert Arbeitsgesetzbuch: Karenz auf 12
Wochen nach Geburt verlängert bei
vollem Lohn
1974 Ley 20.744 Arbeitsvertrags-Gesetz: Karenz 45 Tage
vor und 45 Tage nach Geburt (oder 30 +
60 Tage), Kündigungsschutz 7,5 Monate
vor und nach Geburt, Unternehmens-
krippen vorgesehen, aber nie geregelt
1978 DL 2.200 Änderung Arbeitsgesetzbuch:
Mutterschutz gilt für alle
Unselbstständigen im öffentlichen Dienst
und Privatwirtschaft, Kündigungsschutz
während gesamter Schwangerschaft und
1 Jahr nach Geburt, Finanzierung
Kinderkrippen allein Arbeitgeber
1975 Dto. 1.405 Kinderbeihilfe bereits während der
Schwangerschaft, Arbeitnehmerinnen im
öffentlichen Dienst werden bezüglich des
Mutterschutzes in Gesetz 20.744
inkludiert, nicht jedoch Arbeiterinnen in
Staatsbetrieben
1985 Ley 18.418 Lohn, der während Schwangerschaft
ausgezahlt wird, wird ab sofort durch
Familienbeihilfs- und Arbeitslosenfond
verwaltet, dadurch geht Finanzierung an
Staat
1978 Ley 21.824 Fügt bei Gesetz 20.774 hinzu, dass bei
Frühgeburt, die Karenzzeit, die wegen
verfrühter Geburt nicht in Anspruch
genommen wurde, nach Geburt
angehängt werden kann
Unentgeltliche Bildung
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1860 Lei Jeneral
de
Instruccion
Primaria
Primärbildung: staatlich, unentgeltlich,
für Jungen & Mädchen, 1 Schule/1000
Einwohner, KEINE Schulpflicht
1884 Ley 1.420 Grundschulbildung: 6 Jahre Schulpflicht,
Bildung unentgeltlich, säkular, vorerst
nur Großraum Buenos Aires und
abhängige Territorien
1885 Ley sobre
Instruccion
Secundaria
y Superior
Sekundär- und Tertiärbildung: min. 1
Bildungseinrichtung pro Provinz, beides
unentgeltlich
1905 Ley Láinez
(4.874)
Gesetz 1.420 auf gesamtes Staatsgebiet
ausgeweitet, „nationale Schulen“ in
Provinzen gebaut (lt. Verfassung Bildung
Kompetenz der Provinzen), hilft dabei
Nationalbewusstsein zu bilden
1920 Ley 3.654 Führt 4 Jahre Grundschulpflicht ein 1943 Dto. 18.411 Religionsunterricht wird in Primär- und
Sekundärbildung wieder in regulären
Lehrplan aufgenommen
1928 DL 7.500 Bildungsreform: Bildung ist Aufgabe des
Staates, Schulpflicht muss zw. 7 – 15
Jahren erfüllt werden
1944 Dto. 14.538 Regelt Berufsausbildung in
Sekundärstufe, neuer Schultyp
„Fabriksschulen“ (escuela fabrica)
1930 Dto. 5.291 Primärbildung: Schulpflicht 6 Jahre, 1947 Ley 13.047 Staatl. Subvention an private Bildung,
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muss bis zum 16. Lebensjahr erfüllt
werden, Arbeitsverbot bis 18 wenn dies
nicht gewährleistet ist, staatl. Subvention
an Privatschulen, die unentgeltlich sind
nur wenn Schule Regeln des Bildungs-
ministeriums akzeptiert, staatl. Lehrplan,
Schutz Lehrer vor unbegründeter
Entlassung, Mindestlohn, Register von
Privatschulen erstellt, Gebühren staatl,
geregelt
1949 Dto. 5.969 Regeln für Schülervertretung und extra-
curriculare Aktivitäten, letztere v.a. durch
Schüler organisiert, sollen
Persönlichkeitsbildung dienen und
fließen in „Charakternote“ ein
1952 Ley 14.184 Zweiter „Fünfjahresplan“ Regierung
Perón, mehr spezialisierte Schulen ab
Sekundärstufe, mehr Fokus auf
moralischer & ethischer Entwicklung
1951 Ley 9.864 staatl. Subvention pro Schüler (v.a. für
staatl. Primär- und Sekundärschulen, aber
auch unentgeltliche Privatschulen), deckt
50 % der Kosten pro Schüler ab
1952 Ley 14.126 Buch „Razon de mi Vida” der
„spirituellen Chefin der Nation“ Eva
Perón als Pflichtlektüre in Primär- und
Sekundärschulen
1953 DFL 191 Schafft Schülerbeihilfs-Service: für alles
was Schüler brauchen (Materialien,
Uniformen, etc.), 80 % des Budgets für
Nahrung reserviert
1955 Ley 14.401 Schafft Religionsunterricht wieder ab
1964 Ley 15.720 Schafft nationalen Rat für Schülerbeihilfe
und Stipendien: Ziel ist Chancen-
gleichheit für alle, richtet sich noch
stärker an arme Schüler & Großfamilien,
80 % Regelung für Nahrung gestrichen
1958 Ley 14.473 Das „Lehrendenstatut“: Legt
weitreichende Rechte und Pflichten des
Lehrpersonals fest (Reglementiert durch
Dto. 17.003)
1965 Dto. 27.952 Bildungsreform: Aufbauendes
Bildungskonzept (Kindergarten bis
Universität), 8 Jahre Schulpflicht
1960 Dto. 12.179 Privatschulen: legt Funktionsweise und
Prüfungsmodalitäten fest, staatliche
Inspektionen
1973 DL 179 Reorganisation des Bildungssystems
aufgrund „unhaltbaren Zustands der
Anarchie“ deklariert (sehr allgemein)
1964 Dto. 371 Privatschulen: Integration der
Privatschulen ins Bildungssystem,
Bedingungen für Anerkennung,
Mindeststandards, Lehrpläne, etc.
1974 DL 456 Subvention von unentgeltlichen
Privatschulen
1970 Ley 18.586 Kompetenztransfer zurück an Provinzen,
derogiert Ley Láinez (aber eher de jure
als de facto)
1974 Dto. 824 Dezentralisierung: regionale
Koordinationsstellen für Bildung werden
eingerichtet, sollen Dezentralisierung im
Schulbereich vorantreiben
1975 Dto. 2.770,
2771, 2772
Drei zentrale Dekrete zur internen
Sicherheit, Vorgehen gegen Subversion,
1975 Dto. 786 Verordnet Kosteneinsparung durch Staat,
besonders stark im Bildungsbereich
gespart
1978 Ley 21.809 Kompetenztransfer der Vor- und
Grundschule an Provinzen,
Effizienzargument (offiziell), auch
Finanzierung (geplante Kostensenkung)
1975 DL 1.131 Subvention DL 456 nun pro Schüler
bezahlt
1979 Ley 22.047 Schafft Föderalen Rat für Kultur und
Bildung: soll koordinieren, beraten und
die allgemeinen nationalen Bildungs-
prinzipien festlegen, Mindeststandards
1975 Dto. 29 Förderung des Patriotismus und
Nationalismus z.B. verpflichtendes
Aufmarschieren und singen der Hymne
1975-
1982
div. Dekrete Verbot zahlreicher Bücher (z.B. Historia
de la Revolución, La Historia Presente),
wegen subversiver Inhalte bzw.
„Glorifizierung des Terrorismus“
1978 Dto. 917 Schrittweise Kompetenzabgabe im
Bildungsbereich an Gemeinden:
1980 Dto. 2.620 Führt „Bildung in Moral und
Staatsbürgerkunde“ als verpflichtenden
Teil der Primär- und Sekundärstufe ein,
um nationale Werte zu stärken und
argentinische Geschichte zu lehren
1980 DL 3.476 Subvention an unentgeltliche
Privatschulen, müssen gewisse
Bedingungen erfüllen, monatl. Zahlung
1980 Dto. 8.144 Reglementiert DL 3.476: subventionierte
Schule muss staatl. Lehrplan akzeptieren,
min. & max. Schüleranzahl pro Klasse,
Subvention auch von tatsächlich
Anwesenheit abhängig
1990 Ley 18.962 Gesetz im Verfassungsrang über Bildung:
Mindeststandards Primär- und Sekundär-bildung, staatliche und Gemeinde-
kompetenzen, breite Definition von
„Bildungseinrichtung“, nationale
Ordnung und Sicherheit zentrale Punkte
des Gesetzes, nur Primärbildung
verpflichtend und unentgeltlich, Bildung
darf nicht politisch gefärbt sein, kein
ausdrückliches „Recht auf Bildung“,
Fokus auf Marktöffnung
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Familienbeihilfe
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1937 Ley 6.020 Private Angestellte: zur Verbesserung
ihrer wirtsch. Situation, Familienbeihilfe
für alle legitimen Kinder (für illegitime
Kinder optional), Frau und Mutter (ohne
anderes Einkommen), Kinder bsi 18 J.
außer behindert, Finanzierung über
Beiträge von AN (2 %) und AG (2 %),
von Versicherung verwaltet, Höhe von
Gehalt unabhängig und von Versicherung
festgelegt
1940 Ley 12.637 Bankenstatut: basierte auf
Kollektivvertragsvereinbarung, monatl.
Betrag, für abhängige Kinder bis 16
1941 Ley 6.915 AN Finanzamt: Recht auf
Familienbeihilfe 75 pesos pro Frau, 50
pro Kind
1957 DL 7.913 Handel: Familienbeihilfe für Arbeiter
und Angestellte, hängt mit
Versicherungspflicht zusammen, monatl.
150 pesos pro Kind unter 15 J.
(unabhängig von Gehalt), schreibt
Gründung des Familienbeihilfsfonds
finanziert durch AG-Betrag (4 % aller
Löhne) vor
1942 Ley 7.295 Reformiert Ley 6.020: Beiträge von AG
(1 %) und AN (2 %)
1957 DL 7.914 Industrie: gleich wie DL 7.913, finanziert
durch AG-Betrag (5 % aller Löhne) vor
1943 Ley 7.452 Militär: Recht auf 60 pesos pro Unter-
haltspflichtigen (inkl. uneheliche Kinder
und unverheiratete Töchter jeden Alters),
Kinder bis 21
1957 DL 14.984 Familienbeihilfe im öffentl. Dienst und
Staatsbetrieben (außer gewählte Politiker
und im Ausland arbeitende): gleich wie
DL 7.913, finanziert durch AG-Betrag
(5 % aller Löhne) vor
1943 Ley 7.562 Bildungsministerium: 60 p. pro Kind (bis
18), Frau und Mutter, Kinder bis 21 falls
noch in Ausbildung
1957 DL 16.811 Schafft und reguliert Familienbeihilfs-
kasse für Handel: Arbeitsvertrag als
Voraussetzung, wenn beide Eltern im
Handel tätig sind, wird Beihilfe an Vater
bezahlt
1944 -
1950
Div. Recht ausgeweitet auf Polizei,
Gemeindebedienstete, Bankmitarbeiter,
Hafenarbeiter und Landarbeiter in
Abhängigkeitsverhältnis,
Staatsbedienstete (1945)
1959 Dto. 10.382 Erhöht Familienbeihilfe auf 250,-/Kind
1952 Ley 11.051 Familienbeihilfe für Ehefrau und
gemeinsame Kinder muss vom AG direkt
an die Frau gezahlt werden
1959 Ley 15.223 Inkludiert weitere Gruppen in Privat-
wirtschaft (v.a. Transport) und erhöht
Beihilfe: zusätzl. 100,- wenn Kind Schule
besucht und Familienbeihilfe bis 18 bei
Weiterbildung
1953 DFL 245 Ausweitung: alle versicherten AN Recht
auf Familienbeihilfe, für Ehefrau, Kinder
bis 15, behinderte Kinder, Kinder bis 18
wenn in Ausbildung (erst 1957), für
abhängige Elternteile, gleicher Betrag pro
Unterhaltspflichtigem, Beträge der AG
(11 %) und AN (2 %), Selbständige trotz
Versicherung ausgeschlossen, SV als
Kontrollorgan
1966 Dto. 1.881 Öffentlicher Dienst: Familienbeihilfe pro
Kind & Ehefrau je 2.800,- , pro
abhängigem Elternteil 500,-
1956 Dto. 615 Auch Bezieher von Invaliditätspension
können Familienbeihilfe erhalten
1966 Dto. 2.967
Dto. 4.247
Familienbeihilfe von Dto. 1.881 wird auf
Militär, sowie Personal der Judikative
und Legislative ausgeweitet
1961 Ley 14.688 Ändert Ley 7.295: fügt Schülerbeihilfe
für Kinder (6 – 15) von AN hinzu, die
nicht mehr als 2 Mindestlöhne verdienen,
Beitragspflicht AG, AN, Staat je 2,5 %
1966 Dto. 2.798 Familienbeihilfskassen sollen Geld in
Nationalbank anlegen (Zentralisierung),
nicht Privatbanken
1964 Ley 15.966 Familienbeihilfe bereits während
Schwangerschaft, auch Frauen von
Arbeitern, nur Privatwirtschaft
1968 Ley 17.617 Industrie: Erhöhung Familienbeihilfe für
Kinder und Frau auf 2.700 pesos, + 400
wenn Kind zur Schule geht (dann bis 18),
AG-Beitrag erhöht (11 % aller Löhne)
1970 Ley 17.365
(FREI)
Ändert Ley 7.295: Beiträge AN (2 %)
und AG (21,5 %)
1968 Ley 18.017 Vereinheitlichung und Zentralisierung:
für alle Unselbstständigen (inkl. öffentl.
Dienst), AG-Beitrag (10 %) erhöht Beihilfe, neue Gruppen, extra Beihilfe
Großfamilien (ab 3. Kind unter 21),
Förderung bei Heirat (30.000,-),
Mutterschaftslohn während Karenz =
Lohn, Geburtsbeihilfe (20.000,-), 2.700
pro Ehepartner, 3.200 pro Kind, extra
wenn Kind Grundschule besucht, mehr
extra wenn in Sekundär- oder
Tertiärbildung, geringer für Landarbeiter,
Seite | 105
Heimarbeiter ausgeschlossen,
Familienbeihilfsfond darf Beiträge nur in
Nationalbanken anlegen
1973 DL 97 Schafft einheitliches System der
Familienbeihilfen (ESFB): Entweder
Monats- oder Tagessätzen
1972 Ley 19.523 Ändert Ley 18.017: Jedes Jahr zu
Schulanfang extra 60,- pro Grundschüler
1973 DL 307 Reglementiert ESFB: alle private und
öffentliche AN, alle Selbstständigen, die
bisher Recht darauf hatten, Pensionisten
&Witwenpensionsempfänger. Für
Ehefrau, Kinder bis 18 bzw. 24 (in
Ausbildung) usw., bei Invalidität
doppelter Betrag, Mutterschaftsgeld
während Schwangerschaft in Höhe der
Fbhf., Empfänger ist Person in Familie,
die für Kosten prinzipiell aufkommt,
Finanzierung AG-Beitrag, Schulbeihilfe
aufgehoben,
1973 Ley 20.568 Alle Familienbeihilfen werden auf alle
Pensionisten der Nation ausgeweitet
1974 Dto. 75 Regelt ab wann man als Invalid gilt, muss
alle 3 Jahre überprüft werden (um
Beihilfe weiter zu erhalten), während
Schwangerschaft Fbhf. + wenn arbeitend
Mutterschaftsgeld
1975 Ley 21.063 Personen die Invaliditäts- und
Alterspension beziehen, haben auch
Anrecht auf Familienbeihilfe
1975 DL 869 Behinderte über 18 können entweder
Invaliditätspension beantragen oder als
Unterhaltspflichtige angegeben werden
1976 -
1982
Div. Mehrmals Erhöhung der Beihilfen aus
Ley 18.017
1980 DL 3.501 Beiträge neues SV-system: Fbhf. Ab
sofort nur durch Staat finanziert,
1979 Ley 21.988 Ändert Ley 18.017, Dezentralisierung:
Familienbeihilfsfond darf ab sofort Geld
auch in Provinz- und Gemeindebanken
anlegen
1981 Ley 18.020 Schafft „subsidio familiar“ (SF:
Familienförderung): für Familien mit
geringem Einkommen, armutsgefährdete
Kinder, für Kinder bis 5 Jahre, Mutter
erhält Geld, gleich hoch wie „asignacion
familiar“ (AF: Familienbeihilfe), nur
wenn man nicht asignacion familiar
erhält (bzw. arbeitslos ist)
1981 –
1986
div. 1981: Für Kinder bis 8, ab 6 nur wenn
Schule besucht wird / 1982: auch
Schwangere dürfen für SF ansuchen /
1984: Kinder bis 15, Gesundheitschecks
bis 8 verpflichtend / 1986: Neuvergabe
SF wird begrenzt, nur so viele wie im
selben Jahr erlöschen
1982 DFL 150 Vereinheitlicht Normen zu AF:
Familienbeihilfe und Arbeitslosengeld
aus gleichem Fond, neue Empfänger
hinzugefügt
1987 Ley 18.611 Ändert Ley 18.020: schafft eigenen SF-
Fond, rein staatliche Finanzierung, Erhalt
der SF auf 3 Jahre begrenz, kann
verlängert werden, Mutter bei
Auszahlung bevorzugt
Wohnbaupolitik
Chile Argentinien
Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt
1906 Ley 1.838 Schafft Rat für Arbeiterwohnungen, legt
Kreditkonditionen fest, fördert Schaffung
von Baugesellschaften, Bau hygienischer,
leistbarer Unterkünfte
1905 Ley 4.824 Fördert Bau „billiger Wohnungen“ für
Arbeiter, Tagelöhner und Angestellte mit
geringem Einkommen
1907 Ley 1.969 Erlaubt Finanzierung von RAW über
staatliche Kredite
1911 Ley 8.172 Hypothekarbank darf ab sofort Kredite
für Wohnbau vergeben
1916 Dto. 2.491 Entfernung zw. Fabrik und
Siedlungsgebiet
1915 Ley 9.677 Schafft Nationale Kommission für billige
Häuser (NKBH), fördert Bau billiger,
hygienischer Wohnungen durch Private
und Gesellschaften, Steuerbefreiungen
etc.
1925 DL 261 Mietgesetz: Preisregulierung bei 1917 Dto. / Reglementiert Gesetz 9.677 (genau
Seite | 106
unhygienischen Unterkünften,
Delogierungsverbot, kreiert
Wohnbaugerichte
Bauvorgaben, NKBH darf Grundstücke
erwerben)
1925 DL 308 Zum Bau „billiger Wohnungen“, schafft
dafür Wohlfahrtsrat, unbebaute
Grundstücke in Stadtnähe müssen Bebaut
werden, sonst werden sie besteuert (10 %
p.a.), Wohnbaukredite
1943 DL 1.580 Mietgesetz: limitiert Mietpreise, alle
Delogierungsverfahren eingestellt,
Mindestvertragsdauer von 1,5 Jahren
1926 DL 765 Steuern zu Immobilien, „billige
Arbeiterwohnungen“ ausgenommen
1945 Dto. 11.157 Schafft Nationale Behörde für Wohnbau,
Bau leistbarer und hygienischer
Wohnungen, Wohnbauförderung,
Kredite, Mindeststandards
1931 DFL 33 Schafft zentralen Rat für
Volkswohnungen, Ziel hygienischen und
leistbaren Wohnraum zu schaffen,
verbieten Neugründung von Siedlungen
ohne Infrastruktur
1948 Ley 13.512 Lässt erstmals Aufteilung von Gebäuden
auf mehrere Besitzer zu („propiedad
horizontal“), Wohnungskauf über staatl.
Kredite gefördert, regelt Nachbarschaft
1932
1936
DL 402 Ley
5.950
Schafft Abteilung für Wohnbau
Schafft Kasse f. Volkswohnbau
1949 Ley 13.581 Leerstehende Gebäude müssen gemeldet
und vermietet werden
1934 Dto. 4.882 Baugesetz: Gemeinden für
Baubewilligung und –pläne zuständig,
Mindeststandards müssen vor Bau erfüllt
werden
1954 Ley 14.394 Schafft Rechtsstatus „Familiengut“ für
Eigentum, kann nicht wegen Schulden
gepfändet werden, Registrierung
notwendig, Ehepartner muss bei Verkauf
einwilligen
1937 Ley 6.071 Lässt erstmals Aufteilung von Gebäuden
auf mehrere Besitzer zu, reglementiert
Gemeinschaftsbereiche
1955 DL 6.404 Schafft Nationale Kommission für
Wohnbau, Erforschung der Wohn-
ungsmarktes, Ausarbeitung v. Strategien
für sozialen Wohnbau
1939 Ley 6.334 Schafft Körperschaft für Wiederaufbau
und Hilfe
1956 DL 89 Schafft Generaldirektion für Wohnbau
(eher für Buenos Aires)
1941 Ley 6.844 Mietgesetz: limitiert Mietpreis,
Mieterschutz, Familien mit Kindern
dürfen nicht ausgeschlossen werden
1963 DL 9.004 Schafft Sparkasse und Kreditinstitut für
Wohnbau, Kreditzugang für Bürger
erleichtern, soll Investition privater
Firmen ankurbeln
1948 Ley 9.135 Steuerbefreiungen für sozialen Wohnbau,
reguliert Preise für billige Wohnungen
1964 Ley 16.601 Plan zur Auflösung von Elendsvierteln
(kurz PEVE), staatl. Wohnbau stärken
um Elendsviertel zu verringern, bestimmt
Kreditkonditionen
1950 Ley 9.545 legt jährliche Förderung der Stiftung für
Notfallunterkünfte fest
1965 Ley 16.765 Schafft Sekretariat für Planung und
Wohnbau, Pläne auf Basis von Studien,
auch Infrastrukturprobleme
1952 Dto. 6.077 Soforthilfe für Bewohner in
Elendsvierteln (technische, sanitäre und
materielle Hilfsmaßnahmen bis
Umsiedelung möglich ist)
1967 Ley 17.605 Neue Version Plan PEVE,
Übergangsquartiere, langfristig
Wohnungsprogramm, Kredite für Kauf,
Enteignungen
1953 DFL 224 ändert Baugesetz: Stadtplanung
wichtiger, Enteignungen, Infrastruktur
muss vor Bau bestehen
1969 Dto. 8.468 Steuerbegünstigungen für Wohnbau je
nach Kategorien, auch Material-
vorschriften nach Kategorie
1953 DFL 150 Neues Statut für das umbenannte
„Ministerium für Wohnbau“
1971 Ley 19.124 Steuerbegünstigung für Vermietung in
sozialem Wohnbau
1953 DFL 285 Schafft Körperschaft für Wohnbau
(CORVI), staatlicher soz. Wohnbau,
Stadtplanung, auch Eigenfinanzierung
gefördert
1972 Ley 19.929 Schafft Nationalen Wohnbaufond
(FONAVI) , Zentralisierung sozialen
Wohnbaus, Kredite, stärkerer Fokus auf
arme Bürger
1954 Ley 11.622 Mietgesetz: Mietpreise limitiert,
Mieterschutz, maximale Kaution, Artikel
über Miete an Familien gestrichen, keine
grundlose Mietkündigung möglich
1974 Dto. 1.408 Technische Spezifizierungen für
Wohnbau der durch FONAVI
durchgeführt wird
1959 DFL 2 Reguliert Normen für „leistbare
Wohneinheiten“ (vivienda economica) ,
Material, max. Fläche,
Steuerbegünstigungen, Anreize für
privaten Sektor geschaffen, mehr
Kompetenzen an CORVI
1974 Ley 20.625 Verpflichtung zur Mietvertrags-
verlängerung selbst wenn Vertrag
ausgelaufen ist, Vertragskündigung
verboten, Preisregulierung
1960 DFL 20 Schafft „Zentrale Sparkasse und Kreditinstitut“
1974 Ley 20.686 Lässt Enteignungen im öffentlichen Interesse zu, um dort Wohnsiedlungen zu
errichten
1965 Ley 16.391 Schafft Ministerium für Wohnbau und
Stadtplanung (MINVU), soll alle staatl.
Wohnbauinstitutionen zentral verwalten,
Planung, Studien
1976 Ley 21.342 „Normalisierung der Mietsituation“:
Anpassung der Mietpreise an Marktwert,
bei Zahlungsunfähigkeit sofortige
Mietkündigung möglich
1968 Ley 16.741 Über irreguläre Wohnverhältnisse und
Eigentumstitel, definiert Rolle v. Siedlern
und Staat, Eigentumstitel nur wenn
Gebiet Infrastruktur besitzt, Schutz vor
illegalem Verkauf nicht
1977 Ley 21.498 Hebt Gesetz 20.686 zu Enteignungen
wieder auf
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„urbanisierter“ Gründe
1972 Ley 17.663 Regelt Konditionen für Wohnbaukredite,
regelt auch Vergabe v. Wohnbaukrediten
an Militär
1977 Ley 21.499 Lässt Enteignungen im „öffentlichen
Interesse“ zu, keine genaue Definition
was das bedeutet
1974 DL 519 Regulierung über „Notviertel“, definiert
zwei Arten: Typ A bekommt
Infrastruktur, Typ B wird abgerissen, soll
Wohnsituationen legalisieren
(Eigentumstitel), Umsiedlungspläne,
Enteignungen, für Umsetzung
Gemeinden verantwortlich
1977 Ley 21.581 Finanzierung und Reglementierung von
FONVI, primäres Ziel staatl. sozialer
Wohnbau, stärkere Zentralisierung,
Arbeitgeberbeitrag (5 %) zur
Finanzierung, 20 % bei Selbstständigen,
Punktesystem für Vergabe
Urbanisierungsmaßnahmen, Fokus auf
Einkommensschwachen
1975 Dto. 268 Reguliert Vergabe von soz. Wohnbauten
die Staat bauen lies, Punktesystem, je
nach Sparkraft zwei Kategorien, eigenes
Spar-guthaben als Grundvoraussetzung
für Programm, dann langfristige
Abbezahlung des Rests
1977 Dto. 699 Schafft Sekretariat des Staates für urbane
Entwicklung und Wohnbau, nationale
Hypothekarbank und Föderale Sparkasse
für Wohnbaudarlehen unterstehen dieser
Institution ab sofort
1975 DL 964 Weiterhin Mietspreisregulierung, keine
unbegründete Delogierung, Mieterschutz
1978 Ley 21.771 Soll Immobilienmarkt
„wiederaufbauen“ (Zusatz zu Ley
21.342), Steueranreize für Bau, Gewinn
für soz. Wohnbau nicht besteuert
1975 DL 1.088 Schafft „Programm für sozialen
Wohnbau“, Dezentralisierung,
Gemeindekomitee für Wohnbau als
Hauptorgan für Gestaltung und
Umsetzung von soz. Wohnbau
1980 Ley 22.293 Schafft Arbeitgeberbeitrag für FONAVI
wieder ab
1975 DL 314 Reglementiert DL 1.088 genauer, Regeln
für Enteignung im Namen des sozialen
Wohnbaus
1976 DFL 458 Neues Stadtplanungs- und Baugesetz,
beinhaltet Kapitel zu „leistbaren
Wohnungen“
1977 Dto. 355 Vereint vier staatliche Wohnbau
Institutionen in „Wohnbau und
Urbanisierung Service“ (SERVIU),
darunter auch CORVI
1977 Dto. 622
Dto. 1.292
Legt Bedingungen für Vergabe von
Aufträgen im soz. Wohnbau durch
öffentlicher Ausschreibungen fest
1978 Dto. 188 Reglementiert Vergabe von neuer
„Wohnförderung“ für Immobilien-kauf
am privaten Markt, f. Familien mit
geringem-mittlerem Einkommen, ohne
Rückzahlung
1979 DL 2.552 Derogiert DL 1.088 und schafft neues
Programm, dass sich noch spezifischer an
ärmste Familien richtet, statt
Gemeindekomitees nun SERVIU
zuständig, Spezifizierung der
Notstandwohnungen
1982 Ley 18.138 Übergibt Gemeinden weitreichende
Kompetenzen um soz. Wohnbau-
programme zu erstellen und umzusetzen,
Mindeststandards, Enteignungen nur in
illegalen Elendsvierteln möglich
1984 Dto. 62 System zur Vergabe von Wohnungen für
besonders bedürftige Familien,
Punktesystem, Bausparkonto bei staatl.
Bank nötig
1984 Dto. 74 Einmalige Wohnbauförderung für
Personen mit Bausparkonto, nicht
kompatibel mit anderen Wohnbau-
förderungen, ohne Rückzahlung
1986 Dto. 167 Wohnbauförderung für ländliche Gebiete,
auch an arme Familien gerichtet,
einmalige Zahlung, keine Rückzahlung
1988 Dto. 44 Schafft „einheitliches System für
Wohnbauförderungen“, trotzdem bleiben
andere Förderungen erhalten