Menschensöhne - Christusfiguren in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts

21
( 1 ) Menschensöhne - Christusfiguren in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts ( 2 ) /home/website/convert/temp/convert_html/55cf8f6c550346703b9c3eb7/ document.doc, 0 Wörter, 07.12.2006 01:31:00 vorm.) (100 W ~ 1 Minute) 1 ( 3 ) Magie, Mythos, Christentum Es ist jetzt ungefähr 40 Jahre her, dass die lateinamerikanische Literatur – und zwar vor allem in der Gattung des Romans – das Interesse einer breiteren europäischen Leserschaft auf sich zog. Ich möchte exemplarisch nur das 1967 auf spanisch und 1970 auf Deutsch erschienene Werk Cien años de soledad oder Hundert Jahre Einsamkeit des kolumbianischen, späteren Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez nennen. Was war das Faszinosum dieser Literatur? Warum interessierte man sich in Europa plötzlich für die Fiktionen von Autoren aus der Dritten Welt, die oft in einem ausladenden, mitunter als „barock“ bezeichneten Stil daherkamen? Gewiss war es die Zeit der Studentenproteste, der revolutionären Gesinnung, des Engagements für die Unterdrückten – aber diese Themen standen gar nicht mal im Vordergrund des Interesses jener neuen Generation von Romanciers. Nicht eine bestimmte politische Überzeugung, sondern eine fast naive Freude am Erzählen sind in diesen Texten als Triebfeder des Schreibens erkennbar. Die Literaturkritik hat dann bald diesen so genannten ( 4 ) Boom der lateinamerikanischen Literatur analysiert und ihn mit ein paar Etiketten versehen, die bis heute als Qualitätsmerkmal Gültigkeit haben und eine erste Antwort auf diese Frage geben:

description

Vortragstext KHG Mainz Dezember 2006

Transcript of Menschensöhne - Christusfiguren in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts

Cacique: Kurzversion fr Vortrag

Wolf Lustig: Menschenshne 12

(1) Menschenshne - Christusfiguren in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts (2) D:\TEXT\Publ\KHG_2006\Menschensoehne.doc, 5487 Wrter, 07.12.2006 12:51 )(100 W ~ 1 Minute)1 (3) Magie, Mythos, ChristentumEs ist jetzt ungefhr 40 Jahre her, dass die lateinamerikanische Literatur und zwar vor allem in der Gattung des Romans das Interesse einer breiteren europischen Leserschaft auf sich zog. Ich mchte exemplarisch nur das 1967 auf spanisch und 1970 auf Deutsch erschienene Werk Cien aos de soledad oder Hundert Jahre Einsamkeit des kolumbianischen, spteren Nobelpreistrgers Gabriel Garca Mrquez nennen.Was war das Faszinosum dieser Literatur? Warum interessierte man sich in Europa pltzlich fr die Fiktionen von Autoren aus der Dritten Welt, die oft in einem ausladenden, mitunter als barock bezeichneten Stil daherkamen? Gewiss war es die Zeit der Studentenproteste, der revolutionren Gesinnung, des Engagements fr die Unterdrckten aber diese Themen standen gar nicht mal im Vordergrund des Interesses jener neuen Generation von Romanciers. Nicht eine bestimmte politische berzeugung, sondern eine fast naive Freude am Erzhlen sind in diesen Texten als Triebfeder des Schreibens erkennbar.Die Literaturkritik hat dann bald diesen so genannten (4) Boom der lateinamerikanischen Literatur analysiert und ihn mit ein paar Etiketten versehen, die bis heute als Qualittsmerkmal Gltigkeit haben und eine erste Antwort auf diese Frage geben:Zum einen verwendete man den Begriff des Magischen Realismus, der eigentlich zunchst von dem guatemaltekischen Autor Miguel ngel Asturias (Nobelpreistrger von 1967) auf seinen eigenen, bereits 20 Jahre frher erschienenen Roman bezogen wurde. Wunderbare Wirklichkeit - lo real maravilloso ist ein anderer Terminus, der verdeutlicht, was an dieser exotischen Realitt fr uns so interessant ist. Er stammt von dem kubanischen und wirklich sehr barocken und schwierig zu lesenden Autor Alejo Carpentier.Beide Begriffe drcken etwas aus, das uns zu unserem eigentlichen Thema hinfhrt. Es ist, dass die lateinamerikanische Literatur in der 2. Hlfte des 20. Jahrhunderts zwar zum einen die sicher leidvolle Realitt des Subkontinents nicht aus dem Auge verliert, dass sie aber zum anderen diese nicht mit den Mitteln eines denunziatorischen Realismus abbildet, anklagt und verbessern will. Vielmehr drckt der Bezug auf Magie und Wunder aus, dass ein abgezirkeltes, rationalistisches Wirklichkeitsverstndnis hier durchbrochen wird. Man knnte nun einfach sagen: ja das ist die Phantasie, die spielt natrlich immer in der Dichtung eine Rolle und macht ja das eigentlich Kreative an ihr aus. (5) Asturias und Carpentier wollen damit aber auf eine spezifische, bodenstndige Form der Phantasie verweisen, die an kulturelle Traditionen Lateinamerikas anknpft: Da ist zunchst jene magische Auffassung von Wirklichkeit, die Ereignisse und Sachverhalte, die wir Europer fr unmglich oder zumindest wunderbar halten wrden, als relativ normal hinnimmt zum Beispiel, dass in einem Dorf pltzlich alle Kinder mit Schweineschwnzchen geboren werden oder dass ein unschuldig gestorbenes Mdchen gleich der Jungfrau Maria in den Himmel aufgefahren ist. Dann gibt es jene Erinnerung an die Mythen der indianischen Urvlker, die bis heute in die Deutung der Welt hineinwirken, wie zum Beispiel, dass die Gtter den Menschen aus Mais geschaffen haben oder dass man der Mutter Erde als erster Schpferin danken muss, in dem man ihr von jedem Schnpschen ein paar Tropfen opfert.Dass die magisch-mythischen Vorstellungen der Maya, Inkas, Azteken und anderer Vlker Amerikas einen attraktiven Nhrboden der lateinamerikanischen Literatur darstellen, wurde in der Literaturkritik bald zum Gemeinplatz und erweckte eben das Interesse von Lesern auerhalb Lateinamerikas . Wir mssen uns dabei vergegenwrtigen, dass Mythen, magische Vorstellungen und religise Symbole, wie sie damals in der Literatur eine Art Renaissance erfuhren, gerade in einer Epoche, die von Rationalismus, wissenschaftlichem Denken und Utilitarismus geprgt ist, eine Antwort auf tief verwurzeltes menschliches Verlangen nach Transzendenz darstellen ein Verlangen, das durchaus auch bei Lesern vorhanden ist, die sich nicht als religise Menschen bezeichnen wrden.Mehr noch als in Europa waren in Lateinamerika Christentum und Kirche in der Mitte des 20. Jahrhunderts bei Intellektuellen und Menschen, die Bcher lesen, suspekt oder zumindest ziemlich aus der Mode geraten aus Grnden, die ich spter noch ansprechen werde.

So erklrt sich, dass in diesem nach landlufiger Auffassung so katholischen Lateinamerika in der Literatur eher auf ein indigenes Kulturerbe und seine Symbolik rekurriert wurde, als auf Christliches, obwohl die indianischen Kulturen, der Mayas, Azteken, Inkas und anderer, noch berlebender ursprnglicher Vlker in Wirklichkeit im Alltagsleben und -denken der gebildeten Schichten wenig prsent waren und sind.

2 (6) Christus und Kirche in der neuen Welt: der encontronazo2.1 Utopie der Jesuitenmission

Dennoch ist das Christentum mit seiner Symbolwelt und ich spreche jetzt eben von Symbolen und nicht von der Kirche als politisch-historischer gesellschaftlicher Gre in jenen groen Romanen prsent quasi als verlorene Spur und manchmal als Utopie oder Antizipation, und diesen literarischen Manifestationen eines lateinamerikanischen Christentums, die auch an ein spezielles Christusbild geknpft sind, mchte ich heute nachgehen. Los pasos perdidos oder Verlorene Spuren ist in der Titel eines 1953 erschienen Romans des schon erwhnten Alejo Carpentier. Die Protagonisten, die eine mythische Zeitreise ins Herz des Kontinents zu den Wurzeln der lateinamerikanischen und der Kultur berhaupt unternehmen, stoen hier an einer vom Urwald berwucherten Kirche aus den Anfngen der Indianermission auf ein Relief, das einen ngel con las maracas zeigt einen katholischen Engel mit indianischen Kultrasseln aus Krbissen, wie sie bis heute zum Beispiel bei den Guarani in Paraguay und Brasilien bei zeremoniellen Anlssen im Gebrauch sind. Der Erzhler zeigt sich zutiefst berrascht angesichts dieses ausdrucksstarken Symbols einer vergangenen Epoche, das von der verpassten Chance einer Kultursynthese kndet. Es ist ein harmonisches, utopisches Bild, das ein gewaltfreie, spielerische Verschmelzung des christlichen Glaubens mit indianischer Religion, ihren Riten und Symbolen suggeriert. Leider hat es diese fast nicht gegeben, wenn wir eben einmal von den positiven Anstzen in den Jesuitenmissionen absehen, die im 17. und 18. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Paraguay florierten.2.2 (7) Waman Poma: der Indio als leidender Christus

Aus der Sicht der indigenen Bevlkerung stellt sich die Realitt vollkommen anders dar. Keine Kulturbegegnung, sondern ein brutaler Kulturschock: ein encontronazo. Mit diesem Begriff belegten kritischere Stimmen die euphemistische Sicht der Entdeckung Amerikas die 1992 noch einmal frhliche Urstnde feierte, als man ein schein ausgewogenes encuentro de las culturas beschwor. Der indianische Autor einer Bilderchronik aus Peru, Waman Poma de Ayala, verfasste um 1615 ein Werk mit dem Titel Nueva Cornica y Buen Gobierno (Neue Chronik und Gute Regierung), das als Klageschrift an den spanischen Knig gehen sollte. Wie schon Las Casas denunziert er die himmelschreienden bergriffe der Spanier gegen die indianische Bevlkerung. Dabei ist fast ein Fnftel des umfangreichen Werkes den padres und anderen Kirchenvertretern gewidmet. Waman Poma ist ein nur halb-akkulturierter Abkmmling der inkaischen Kultur und hat groe Schwierigkeiten mit der spanischen Sprache und dem Medium Schrift. Seine wesentlichen Aussagen drckt er daher in Bildern aus.

(8) Auf f. 694 (s. Abbildung) sieht man einen Indio umringt von Bestien, die die spanischen Honoratioren darstellen. Unter ihnen erscheint der Priester als Fuchs. Weinend fleht der Indio: Beraubt mich nicht, um Gottes Liebe willen; ich gebe dir mehr"; und dazu der Kommentar des Autors: Diese Tiere, die Gott nicht frchten, schindet [sic!] die armen Indios in diesem Knigreich, und man kann nichts dagegen tun. Es folgt der Klageruf pobre de Jesucristo. Waman wendet ihn leitmotivisch auf die gedemtigten Indios an. Damit zielt er ab auf die Nhe gerade der armen und leidenden Indios zu Christus, und er unterstreicht den Gegensatz zwischen den im Grunde gottlosen Vertretern der kirchlichen Obrigkeit und den wahrhaft frommen indios cristianos (denen das Abschlusskapitel gewidmet ist).

Bei Waman Poma erscheint erstmals ein Motiv, - freilich eher bildlich als schriftlich-literarisch, durch das gleichzeitig die Kirche kritisiert und ein wie Christus leidender Menschensohn als Identifikationsfigur des ebenso leidenden indianischen Volkes gedeutet wird.Zugleich haben wir damit ein aufrttelndes Bild vor Augen ein leider sehr reales Gegenbild zum Engel mit den Maracas, das uns deutlich macht, wie sich die Kulturbegegnung im Zeichen des Christentums fr die Entdeckten und Eroberten darstellte und wie sie doch die Symbolsprache des Christentums annahmen, um ihre eigene Situation zu deuten.3 (9) Der indigenismo und die Kirche der MchtigenRichten wir unser Augenmerk nun zunchst auf die Geschichte der Kirche in Lateinamerika und vor allem auf ihr Image, wie es sich in der Literatur widerspiegelt. Gab es bis ins 18. Jahrhundert einzelne Anstrengungen, die leidvolle Situation der indianischen Bevlkerung durch Missionsprojekte und Einfluss auf die Gesetzgebung zu verbessern, so stellt sich das nach der Unabhngigkeit der amerikanischen Staaten ganz anders dar. Seit dem 19. Jahrhundert geht die Amtskirche in allen Lndern eine Allianz mit den Mchtigen ein, mit Grogrundbesitzern und korrupten Militrregierungen.

Als spte literarische Reaktion bildete sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Mittelamerika und in den Andenlndern, wo der indigene Bevlkerungsanteil bis heute hoch ist, die Gattung des so genannten indigenistischen Romans heraus. Die hufig von marxistischen und anderen revolutionren Strmungen beeinflussten Autoren denunzierten die ungerechten wirtschaftlichen und politischen Verhltnisse. Diese Literatur kann man durchgngig als antiklerikal und oft auch antireligis bezeichnen, trotzdem bzw. eben deshalb geraten die Kirche als Institution und die Dorfpfarrer als ihre Handlanger immer wieder ins Visier. Und Christus bleibt lebendig als Symbol des leidenden Volkes.Der Bolivianer (10) Alcides Arguedas hat in seinem Roman Raza de bronce (1919, Endfassung 1941) eine Szene gestaltet, die ich stellvertretend fr andere Werke dieser Gattung kommentieren mchte:

Die Indio-Gemeinde deren Leiden und deren Kampf gegen einen Hacienda-Besitzer hier erzhlt wird, pflegt bei einer alljhrlichen Prozession einen hlzernen Christus mit sich zu fhren, der in der Zeit von einem Fest zum anderen in den Husern der armen Bauern aufbewahrt wird. Das Haus des patrn, des Grundbesitzers bleibt ihm verschlossen, zumal dieser sich nicht mit den Kosten fr das Indiofest belasten mchte. Das heilige Symbol der Erlsung, tragen die Indios auf ihren Schultern zur Kirche, zusammen mit der Wiphala, der Symbolfahne der indianischen Vlker Boliviens. Die Figur wird beschrieben als ein

an sein Kreuz genagelter Christus, blass, blutarm, an der Brust eine klaffende Wunde vom Stich der Lanze und die Augen zum Himmel gerichtet mit einem Ausdruck unendlicher Traurigkeit.

Es besteht kein Zweifel, dass diese Menschen sich mit dem leidenden Christus identifizieren, und dass auch der Erzhler dem Leser sagen mchte: dieses Volk ist der geschundene Christus Amerikas. Und wer sind seine Peiniger? Nicht zuletzt die Vertreter der Kirche!

Im gleichen Kapitel wird die Predigt des Dorfpfarrers referiert. Fr den aufmerksamen Leser entlarvt sie die ganze Heuchelei der Kirchenvertreter in den Indiogemeinden:

Nichts lsst sich erreichen ohne Unterwerfung und Nchstenliebe. Unterwerfung gegenber denen, die - von Gott gesandt - auf Erden seine Macht reprsentieren. Nchstenliebe gegenber seinen Vertretern, den Priestern, die wie alle Menschen ihre Bedrfnisse haben und hungrige Mnder ernhren mssen. [...]

Der Priester wirft den versammelten Indios ihren Ungehorsam vor: Unwillig, aufmpfig und ruchlos besen sie die Frechheit, die Befehle ihrer Herren, der Grundbesitzer, zu missachten, widersetzten sich ihren Anordnungen [...] und vergen, dass Gott die Welt so geschaffen habe, dass es eine Klasse von Menschen gebe, deren Aufgabe es sei zu befehlen, und eine andere, die nichts anderes zu tun htte als zu gehorchen.

Diese zweifellos berzeichnete und vergrbernde Darstellung ist typisch fr den indigenistischen Roman. 3.1 (11) Mein Reich ist nicht von dieser Welt

Noch einen Blick auf einen anderen Roman des gleichen Typs, El mundo es ancho y ajeno (1940) des Peruaners Ciro Alegra (1909-1967). Einer Indiogemeinde droht die Enteignung ihres Gemeinschaftslandes durch einen Grogrundbesitzer. In ihrer Not wenden sich die Bauern an einen Priester, dem sie eigentlich vertrauen, weil er sich bisher zumindest nicht als Ausbeuter und Heuchler der klassischen Sorte erwiesen hat. Doch auch er verteidigt die soziale und politische Ungerechtigkeit mit theologischen Scheinargumenten: es sei nicht seine Aufgabe zur politischen Spaltung der Gemeinde beizutragen. Seine Botschaft lautet: Betet, habt Vertrauen zu Gott, viel Vertrauen; nur das kann ich euch raten. Die irdischen Gter sind vergnglich."

Bemerkenswert ist dabei, dass Alegra, der eher kirchenfeindlich eingestellt ist wie alle Indigenisten, einen unvollendeten Roman mit dem Titel Lzaro (Lazarus) hinterlassen hat, der eine Geschichte von der Unterdrckung und Befreiung des peruanischen Volkes werden sollte. Hier erscheint das Auferstehungs-Motiv ins Politisch-Soziale gewendet, als Aufstand und Revolution. Erstaunlich ist nur, dass hier der arme und gelhmte bzw. ausstzige Lazarus als Symbol der Auferstehung gewhlt wurde und nicht Christus vermutlich deshalb weil der auferstandene Christus vor dem Hintergrund der kirchlichen Praxis der damaligen Zeit, als zu weltenthoben und jenseitig empfunden wurde. Das entspricht aber auch der Doktrin der lateinamerikanischen Kirche, deren Vertreter immer wieder deutlich machen, dass Befreiung erst im anderen Leben zu erwarten ist und Priester sich hier nicht engagieren drfen.

3.1.1 Caballero Caldern

Literarisch ausgearbeitet finden wir diese Forderung nach Nichteinmischung der Kirche, nach Abstinenz von jeglichem Engagement bei dem Kolumbianer Eduardo Caballero Caldern (1910-1993):

Christus sah zweifellos die unheilvollen Konsequenzen voraus, die eine absurde Verallgemeinerung seiner Lehren haben knnte, die ja dem Individuum und nicht der Masse gepredigt wurden: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Diese Doktrin illustriert Caballero mit seinem Roman El Cristo de espaldas (1952). Er reflektiert die Rolle der Kirche gegenber der brgerkriegshnlichen violencia im Kolumbien der 40er und 50er Jahre. Zwar ist der hier auftretende Priester nicht mehr Komplize der politischen Repression, und er versucht auch nicht beschnigend oder spitzfindig sich seiner menschlichen Verantwortung zu entziehen. Aber man hat den Eindruck, dass Christus sich notwendigerweise von einem Geistlichen abwendet, der versucht, die Prinzipien des Evangeliums auch in politisch-soziales Engagement umzusetzen. Bezeichnenderweise war es dann gerade in Kolumbien Camilo Torres, der in den 60er Jahren erstmals als Kirchenmann durch seinen Griff zur Waffe weltweit Aufsehen erregte.

Bei Caballero Caldern erkennt man unschwer die Parallelen zwischen Christus und dem priesterlichen Protagonisten des Romans. Sie beschrnken sich jedoch auf die Passion. Das sterliche Geschehen, die Auferstehung, wird nicht erzhlerisch umgesetzt. Das Christentum hat hier noch keine Chance, sich als ein Glaube zu etablieren, der auch in historisch-politischer Hinsicht eine befreiende Dimension entfaltet. Vielmehr erscheinen Gewalt, Ungerechtigkeit und Armut als ein fataler Zyklus, zu dessen berwindung von der Kirche keine Impulse zu erwarten sind. Nichtsdestoweniger war El Cristo de espaldas einer der ersten Romane, in denen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der politischen Dimension des Christentums versucht wurde.

3.1.2 Droguett

(12) Ein ganz anders geartetes Beispiel fr eine ernsthafte literarische Auseinandersetzung mit dem Christentum, in dem vor allem Christus als zentrale Symbolfigur des christlichen Glaubens zur Sprache kommt, liefert der Chilene Carlos Droguett (1912-1996) mit seinem Roman El compadre (Der Pate 1952). Der Protagonist dieses Romans ist ein armer Zimmermann, der sich bei der harten Arbeit auf seinem Baugerst selbst wie gekreuzigt vorkommt. (evtl. lesen) Er empfindet durchaus eine innige Beziehung zu Christus. Sie wird aber dadurch gestrt, dass Christus einfach zu weit von den Menschen entfernt ist. Der von der Kirche verkndete Jesus erscheint blutarm und ist nicht Mensch genug, nicht zuletzt, weil er keine Frau krperlich lieben durfte. Schuld daran - so die phantasmagorische Theologie des Zimmermanns - ist nun gerade Gottvater, der seinen Sohn tyrannisch unterdrckt und ihn deshalb auch selbst ans Kreuz gebracht hat. Also ein Hijo de hombre, ein Menschensohn, bei dem Kind Gottes zu sein, aber gerade als lhmende Unmndigkeit verstanden wird. Wir begegnen hier einer sehr eindrcklichen Umsetzung des Bildes vom Bsen Gott. Ein in der lateinamerikanischen Literatur gngiges Symbol fr die unheilvolle Verquickung von politischen, konomischen und kirchlichen Machtstrukturen. Immerhin formuliert Carlos Droguett die Sehnsucht nach Erlsung in einer - wenn auch verqueren - christlichen Bildsprache. Erlsung wird hier verstanden als eine Entkreuzigung der Menschen, die freilich in erster Linie Befreiung von politischen und sozialen Unrechtsverhltnissen zu sein htte.

4 (13) Paradigmenwechsel in Literatur und Theologie (4.1 La Teologa de la Liberacin

Ich mchte nun die Interpretation der einzelnen Werke kurz unterbrechen und Ihren Blick auf diese literatur- und kirchengeschichtliche bersicht lenken. Es ist ein Versuch die Entwicklung in der lateinamerikanischen Kirche mit der Romanliteratur zu korrelieren und die bisher besprochenen Werke und die nun noch folgenden im zeitlichen Kontext zu situieren. Um 1960 und da befinden wir uns jetzt findet nmlich sowohl in der Theologie als auch in der Literatur etwas statt, das man heute gerne als Paradigmenwechsel bezeichnen wrde.Zum einen bildet sich u. a. ermuntert durch die kirchliche ffnung nach dem II. Vatikanischen Konzil in Lateinamerika die so genannte Teologa de la Liberacin heraus. (14) Vor allem der peruanische Priester Gustavo Gutirez postuliert hier theologisch und auf biblischer Grundlage erstmals genau das, was in der Literatur beklagt oder als groes spirituelles und auch politisches Manko empfunden wird: eine explizite Option der Kirche fr die Armen, die pobres de Jesucristo und ein Verstndnis von Erlsung und Auferstehung, das auch Konsequenzen fr die konkrete Lebenssituation der Menschen haben muss.4.2 (15) Magischer Realismus und symbolisches Erzhlen

Fast gleichzeitig findet auch die Literatur in Lateinamerika zu neuen Ausdrucksformen. Die Autoren lassen den naturalistischen Erzhlstil hinter sich, der primr auf die konkrete Erfahrungswirklichkeit gerichtet ist, der diese abbilden, analysieren und denunzieren will und entwickeln jene Formen des Schreibens, die ich eingangs angesprochen habe. Indem sie die magische, mythische, wunderbare Wirklichkeit Lateinamerikas nun in den Blick nehmen, berschreiten sie die Grenzen des Realismus und finden ebenfalls zu einer Art knstlerischer Befreiung. Da viele Mythen und Symbole archetypischen Charakter haben und intuitiv auch von Europern verstanden werden, legen sie auch die regionale und kulturelle Beschrnktheit ab und stoen eben auf Interesse auch in Europa. Von der reinen Analyse der soziokonomischen Realitt gelangen sie zu einem schpferischen, oft auch visionren Schreiben. Erprobte Denk- und Interpretationsschemata werden aufgebrochen auch in dem Sinne, dass in der vom Christentum geerbten Symbolik ein neues Potential entdeckt wird.5 (16) Los Cristos literarios: gekreuzigt und auferstehend5.1 Erzhlerische Umsetzung der Befreiungstheologie

5.1.1 Arguedas

Die Theologen von Medelln hatten ein Bewusstsein davon, dass ihre Arbeit als Exegeten teilweise hnliche Methoden und Grundlagen hat und oft auf das gleiche Ziel zusteuert wie die lateinamerikanischer Erzhler. So heit es im Abschlussdokument dieser Lateinamerikanischen Bischofskonferenz:

Teniendo en cuenta el importante papel que los artistas y hombres de letras estn llamados a desempear en nuestro continente especialmente en relacin a su autonoma cultural como intrpretes naturales de sus angustias y esperanzas y generadores de valores autctonos que configuran la imagen nacional, esta Conferencia Episcopal considera particularmente importante la presencia de la Iglesia en estos ambientes.

(17) Gustavo Gutirrez schickte seinem grundlegenden Werk Teologa de la Liberacin eine Passage aus dem Roman seines Freundes Jos Mara ARGUEDAS' Todas las sangres voraus, in welchem der Autor zum Ausdruck bringt, da es die Armen sind, aus denen Gott spricht. Die folgende Passage (lesen!) lsst erkennen, dass auch fr die Literaten die Zeiten des Bsen Gotts vorbei zu sein schienen. Die zeitgenssische Roman erweist sich damit als eine der Inspirationsquellen der Befreiungstheologie und zugleich als Spiegel aktueller Entwicklungen in der lateinamerikanischen Kirche. Eine Form der Umsetzung, deren Anstzen wir schon bei Caballero Caldern begegnet sind. Liegt in dem vermehrten Auftauchen von priesterlichen Romanfiguren, die obendrein noch im symbolischer Weise als Christusfiguren gestaltet sind.

Dass Romanciers sich mit christlich-religisen Themen befassen oder sich gar fr Theologie interessieren, war allerdings in den 60er/70er Jahren eher die Ausnahme. Fast alles, was aus theologischer Perspektive interessant sein knnte, hat sich in die Werke der zumeist agnostischen und antiklerikalen Autoren sozusagen eingeschlichen. Dennoch ndert sich in dieser Zeit auch das Bild des Priesters in der Literatur. Zunehmend tauchen engagierte, solidarische und manchmal sogar revolutionre Priester nach dem Vorbild des Camilo Torres in den Romanen auf. ber diesen ist brigens 1968 sogar ein sehr erfolgreicher hollndischer Roman von Wim Hornman erschienen, der in viele Sprachen bersetzt wurde. Solche Reflexe der Befreiungstheologie, der sich in einem Wandel des literarischen Priesterbildes niederschlagen, finden wir in einigen Roman, die auf der Liste zu finden sind. Diese will ich jetzt aber nicht kommentieren, sonder mich jener besonderen Form der Gestaltung zuwenden, bei der die Protagonisten unter den neuen Vorzeichen selbst in symbolischer Weise zu Christusfiguren werden, die aber nicht mehr nur das Leiden der Armen als gottgewolt predigen sondern zum Vorzeichen von Befreiung und Vernderung werden.

5.2 (18) Befreite Menschenshne

5.2.1 Antnio Callado

Zu diesem Thema mchte ich als ein Beispiel aus der brasilianischen Literatur anfhren, nmlich Quarup von Antnio Callado. Es ist die Geschichte des jungen Ordenspriesters Nando, der sein Kloster in Recife verlsst, um im amazonischen Urwald eine Utopie zu verwirklichen: nach dem Vorbild der Jesuitenreduktionen mchte er mit einer Gruppe von noch frei Lebenden Indianern eine gerechte, urchristliche Gemeinschaft begrnden. Im Laufe des Geschehens identifiziert er sich in unterschiedlichen Projekten immer mehr mit der Rolle eines neuen Menschheitserlsers, auch nachdem er dieses erste Unterfangen aufgegeben hat:

So wie Christus sammelt auch Nando Jnger um sich, die ihr Elternhaus und ihren Beruf aufgeben, um ihm zu folgen. Um seinen Opfertod in der Nachahmung Christi zu inszenieren, veranstaltet er ein Gedenkmahl fr einen Revolutionr, der bei einer Gutsbesetzung gettet worden war. Eine seiner Jngerinnen bernimmt die Rolle des Judas und verrt ihn an die Militrpolizei (wir befinden uns in den ersten Monaten nach dem Militrputsch von 1964). Wie erhofft, werden er und seine Gste whrend des Gedenkmahls von der Militrpolizei und von aufgebrachten Brgern berfallen, wobei sich Nando widerstandlos mihandeln und zusammenschlagen lt.

Noch deutlicher als bei Droguett wird spter auch in diesem Roman die Palastrevolution gegen den bsen Gott erzhlerisch umgesetzt. Hier stt in einer apokalyptischen Vision Maria Gottvater vom Himmelsthron [] weil er die Kreuzigung ihres Sohnes, der ebenfalls unwiederbringlich tot ist, zugelassen hat. Damit verbindet sich auch die Kritik an einer als frauen- und krperfeindlichen empfundenen patriarchalischen Kirche. Am Schluss des Romans zieht Nando als Guerrillero in den Serto, um fr die rechte der landlosen Bevlkerung zu kmpfen. Eine sicher etwas abstruse Romankonzeption, die aber offensichtlich eine vielleicht verzweifelte Antwort auf die alte Kirche in Lateinamerika darstellt, die natrlich hoffnungsvollen Anstzen fortbesteht.5.2.2 Roa Bastos

(19) Als konsequente Weiterentwicklung dieser Vision eines von seinem Kreuz befreiten Christus ist der groe Roman Hijo de hombre (Menschensohn) des Paraguayers Augusto Roa Bastos (1917-2005) zu begreifen. Der Roman erschien erstmals 1959 und wurde 1983 von Roa nochmals berarbeitet, was sicher als Indiz dafr gedeutet werden kann, dass der Autor seinem Werk eine neue Realitt beima. Hier scheint die Korrelation von Christus als einem Symbol der Menschen in Lateinamerika mit dem Geschehen eines Romans in ganz berzeugender Weise gelungen.

Paraguay ist der kulturelle und historische Hintergrund dieses Werks, was insofern entscheidend ist, als es sich wohl um das mestizischste Land Lateinamerikas handelt. Wenn auch die indianische Bevlkerung auf fast 1% dezimiert wurde, ist doch das Guarani, die Sprache der Ureinwohner, die allgemeine Umgangssprache geblieben und findet Eingang in das spanischsprachige Werk von Roa Bastos. Aber nicht nur die Sprache der indigenen Vlker ist hier erhalten geblieben. Auch deren Mythen und Glaubensvorstellungen leben fort in der paraguayischen Volksreligiositt, die uerlich natrlich katholisch ist. Roa Bastos bezieht seine Stoffe aus der historischen Wirklichkeit seines Heimatlandes, verwendet aber ebenso Guarani-Mythen und populre Versionen biblischer Erzhlungen.

(20) Schon der Titel seines Romans Menschensohn unterstreicht, dass - wenn es hier um Christus geht - eine extrem humanisierte Christussymbolik im Vordergrund steht. Das zentrale Thema des sehr komplexen Romans umreit Roa Bastos selbst mit diesen Worten:

Einmal abgesehen vom anekdotischen Gehalt [der historische Hintergrund des Romans ist der Chacokrieg 1932-1935] geht es um die Kreuzigung des einfachen Menschen, der sich um Solidaritt mit seinen Mitmenschen bemht - also das uralte Drama der Passion des um seine Freiheit kmpfenden Menschen, der in einer unmenschlichen Welt und Gesellschaft, von der er negiert wird, allein auf seine eigenen Krfte angewiesen ist.

Kristallisationspunkt dieses Gedankens ist Cristbal/"Kirit Jara. Er is nur einer von vielen Protagonisten in diesem ausgesprochen kollektiven Roman, und fast alle Figuren haben etwas Christushnliches. Die Frauengestalten erinnern an Maria Magdalena. bersetzt man Kirito Jra aus dem Guarani, bedeutet das Christus, der Herr. Kiritos Christushnlichkeit besteht unter anderem darin, dass er sich fr seine Kameraden an der Chaco-Front opfert. Sein Kreuz ist der Tanklastwagen, mit dem er Trinkwasser zu den an der Kampflinie Eingeschlossenen befrdert. Als er schwer verletzt seine Hnde nicht mehr zum Steuern verwenden kann, lsst er sich mit Draht an Lenkrad und Schaltknppel festbinden. Kurz vor seinem Tod zelebriert er mit dem Lebenssymbol Wasser quasi ein letztes Abendmahl.

Er stirbt in dem Augenblick, als er das Ziel erreicht - getroffen durch einen Schuss aus den eigenen Reihen; aber sein Tod scheint nur ein kurzes Ausruhen zu sein. Wie Christus ist er durch den Tod gegangen, um das Leben zu bringen:

Cristbal Jaras Lastwagen hat nicht den Tod durchquert, um das Leben eines Verrters zu retten. Von Flammen umlodert rollt er weiter durch die Nacht, ber die Pisten der Einde, und bringt das Wasser fr den Durst der berlebenden.

(21) Die in dem Roman dargestellten menschlichen Schicksale knden von einem Glauben daran, dass die Leiden und Opfer, denen sich diese Menschen unterziehen oder denen sie unterworfen werden, nicht vergeblich sind und davon, dass aus dem Tod Leben entstehen kann. Nhrboden dieses Glaubens an Auferstehung und Unsterblichkeit ist in diesem Roman allerdings nicht das Christentum, wie es von den Vertretern der Kirche vermittelt wird. Vielmehr verankert Roa Bastos das Denken, Handeln und Fhlen seiner Figuren in der vorspanischen Religiositt und setzt es zu Mythenwelt der Guarani in Bezug. Bei diesen Theologen des Urwalds findet sich seit jeher der Glaube an Unsterblichkeit der Seele und an das inspirierte Wort, begleitet von einem Hang zum Messianismus. Von daher ist eine groe Nhe zu christlichen Vorstellungen gegeben. Einen deutlichen Hinweis darauf gibt der Autor mit einem Motto, das dem Text vorausgeht und einem indianischen Totengesang entnommen ist:

... Ich will machen, dass die Stimme wieder durch die Knochen fliee... Und ich werde machen, dass die Sprache wieder Fleisch werde...Nachdem diese Zeit vorbei ist und eine neue Zeit anbricht...

(22) Auch in diesem Roman ist Christus als eine ans Kreuz geschlagene Figur ein zentrales Symbol. Das erste Kapitel (nochmals mit dem Untertitel Menschensohn versehen) erzhlt von der Person Gaspar Moras, einem im Dorf sehr beliebten Musiker, Holzschnitzer und Zimmermann, der, als er an Lepra erkrankt, sich in die Wildnis zurckzieht. Nach Gaspar Moras Tod findet man in seiner Urwaldhtte eine hlzerne Christusfigur, auf die sich die ganze Persnlichkeit ihres Schpfers bertragen zu haben scheint. Bald wird sie fr das ganze Dorf zum Gegenstand der Verehrung und findet ihren Platz auf einem Hgel ber dem Dorf. Der Erzhler hilft bei der Deutung:

die Herkunft jenes Christus vom kleinen Berg [hat] in ihren Seelen jenen seltsamen Glauben an einen Erlser erweckt, der zerlumpt war wie sie, der immer wieder verhhnt, verspottet und gemordet wurde wie sie, seit die Welt Welt war. Ein Glaube, der eine Umkehrung des Katechismus bedeutete, der ein unablssiger Versuch der Auflehnung war.

Die Verehrung dieses Christus ist also der Ausdruck eines verzweifelten Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeit und Unterdrckung. Es findet seinen Ausdruck in der Form, wie die Bauern im Dorf den Karfreitag begehen. Sie tun es in Form einer Prozession zur Christusfigur des Gaspar Mora, die das ganze Jahr ber im Freien an einem schwarzen Holzkreuz hngt. Der spirituelle Hhepunkt des vorsterlichen Rituals ist, dass Christus von diesem Kreuz herabgerissen wird, mit einer Art grollender Ungeduld". Doch seine Freiheit ist von kurzer Dauer - nach Ostern findet er wieder seinen Platz am Kreuz.

Erstmals findet hier ernstzunehmende und diesseitsbezogene Auseinandersetzung mit dem christlichen Heilsversprechen statt. Mit Christus ist die Hoffnung eines ganzen Volkes auf eine auch diesseitige Erlsung verknpft. Noch mehr als Hoffnung verbindet sich mit der Figur der Protest, die Rebellion, weil eine groe Verheiung nicht eingelst wird. Das Christusgeschehen wird nicht nach den Vorgaben der kirchlichen Katechese gedeutet, sondern aus dem Geist der paraguayischen Volkskultur und einer indianisch inspirierten Religiositt.

5.2.3 Leero

(23) Als letzten Roman noch ein Beispiel aus Mexiko, das nun ganz explizit eine literarische Umsetzung der Befreiungstheologie darstellt. Es handelt sich um Vicente Leeros (*1933) El Evangelio de Lucas Gaviln (1979) - auf deutsch 1987 erschienen unter dem Titel Das Evangelium des Lukas G. Im Unterschied zu den bisher besprochenen Werken, die freilich auch auf Biblisches zurckgreifen, handelt es sich hierbei aber um eine durchgngige und konsequente bertragung des Lukas-Evangeliums ins heutige Mexiko. Kapitel fr Kapitel nimmt Leero eine Aktualisierung und Mexikanisierung des biblischen Erzhlstoffs vor. Die gesellschaftlich-politische Komponente tritt auch hier deutlich hervor, ohne die religise zu verdrngen: ein auf wundersame Weise zur Welt gekommener Maurersohn, Jesucristo Gmez, wchst zum lder popular heran, schart um sich eine Art Basisgemeinde, verkndet den Armen und Entrechteten die Frohe Botschaft der Gerechtigkeit, die nur durch selbstlosen persnlichen Einsatz realisiert werden kann. Er gert durch sein Tun und Predigen mit der etablierten Macht in Konflikt, wird gefangen genommen, gefoltert und stirbt; nach seinem Tod erscheint er seinen Jngern nochmals auf geheimnisvolle Weise und setzt damit ein endgltiges Zeichen der Hoffnung.

(24) Die erzhlerischen Realisierung der Auferstehung im Diesseits, der wir bisher nur in der absonderlichen Vision der Entkreuzigung begegnet sind, stellt sich so dar: Ein Leichengrber verkndet den Frauen, die in einem Massengrab nach Jesucristo suchen die Botschaft: Fr mich sterben solche Leute niemals. [...] man kann sie zwar tten, aber sie sterben nicht. Im Gegenteil, sie werden von Tag zu Tag lebendiger, wie man so sagt." Wie in Hijo de hombre wird Auferstehung also als ein Weiterleben des Geistes in anderen Menschen gedeutet.

Eine unspektakulre Lsung sucht Leero auch bei der Umsetzung der Erscheinungen auf dem Weg nach Emmaus und in Jerusalem. Auf einer Busreise werden zwei von Jesucristos Gefolgsleuten von einem Mitreisenden angesprochen, der ihnen irgendwie bekannt vorkommt. Dass es Christus sein muss, erkennen die Jnger daran, dass er ihnen - statt Brot - Mandarinen anbietet, von denen man wei, dass es Jesucristos Lieblingsfrchte waren. Der Mann mit den Mandarinen ist ein Priester, der im Geiste der Befreiungstheologie mit den Armen und Hilflosen arbeitet. Sein Grundsatz lautet: Die einzige Mglichkeit zu verhindern, dass Jesucristo stirbt, besteht darin, sein Werk fortzufhren.

Ein aus den anderen Werken vertrautes Motiv ist nun wieder die Konfrontation der Christusfigur mit dem institutionellen Katholizismus Mexikos; Leero kritisiert aber auch Formen der Volksreligiositt, sofern sie seinem Anspruch der concientizacin, der sozialen und politischen Bewusstseinsbildung zuwiderlaufen. Gegenber Roa Bastos tritt dieses aufklrerische Anliegen viel deutlicher in den Vordergrund. Somit ist die geistige Quelle hier nicht eine indianisch inspirierte Volksreligiositt, sondern eine in Lateinamerika entwickelte kritische theologische Konzeption. So beleuchtet Leero den gigantischsten Auswuchs des mexikanischen Volkskatholizismus, nmlich den Kult der Jungfrau von Guadalupe. Jesu Streitgesprch mit den jdischen Gesetzeslehrern im Tempel wird zur Diskussion mit jungen Vertretern der mexikanischen Amtskirche vor der Kulisse des Guadalupe-Heiligtums. Nicht die intime, individuelle Frmmigkeit will Jesucristo frdern, sondern es geht ihm um soziale Gerechtigkeit, und er kritisiert den besonders am Wallfahrtsort zum Himmel schreienden Reichtum der Kirche. Seine Widersacher sehen in ihm einen Protestanten und Hretiker.

Besonders deutlich wird die Gegenberstellung von altem und neuem Christentum durch die Predigt des Dorfpfarrers Faras, die als Umsetzung von Jesu Auftreten in der Synagoge von Nazareth gestaltet ist (Lk 4, 16-30). In einem Tenor, der uns schon vertraut ist, predigt der Geistliche die Ergebung, das klaglose Hinnehmen auch ungerechter gesellschaftlicher Strukturen. Fr einigen Aufruhr in der Kirche sorgt Jesucristo, als er dem laut widerspricht. Er bestreitet, dass Christus in die Welt gekommen sei, um uns zu lehren, die Last des Lebens zu tragen, und um uns zu sagen, dass wir im Himmel mit seiner Liebe belohnt werden".

Jesus wird allerdings nicht auf den sozialrevolutionren Aspekt seiner Lehre reduziert, sondern sein Handeln ist immer symbolisch und daher in seiner Bedeutung schwerlich rational zu gltten. Die Tendenz der biblischen Erzhlungen, gngige Wahrnehmungsschemata zu durchkreuzen, entspricht ja auch einem generellen Anliegen des neuen lateinamerikanischen Romans eben seinem transgressiven, berrealistischen Charakter.

5.3 Christus und Christentum: Literarische Perspektiven(25) Damit sind wir am Ende eines Gangs durch die Geschichte der spanischamerikanischen Literatur angelangt. Ein Eindruck, der zurckbleibt, ist, dass die lateinamerikanischen Autoren Christus von Anfang an bis heute als einen der Ihren angesehen und dargestellt haben, und damit in ihrer Art die Inkulturation verwirklichten. Das Verhltnis zu Gott, Kirche und Christentum ist hingegen erst von Angst, dann von Feindschaft und Rebellion, und spter lange von Indifferenz bestimmt.In vielen Werken wichtigen und weniger bedeutenden gibt es neben magischen und mythischen Elemente, denen durchaus auch eine religis ansprechende Dimension eignet, eine Bedeutungsschicht, die der christlichen Kulturtradition verpflichtet ist und die immer wieder ein schpferisches Potential entfaltet. In den letzten Jahrzehnten wurden zunehmend Impulse aufgegriffen, die von der theologischen Diskussion ausgingen, besonders aber auch von einem Kirchenvolk, das Antworten von oben auf genau ihre Fragen und Probleme vermisst.In dieser Hinsicht sind einige Autoren ohne das anzustreben zu visionren Vorboten oder Propheten einer neuen Kirche geworden, auch bevor die Befreiungstheologie und andere Entwicklung breit wahrgenommen wurden.Auch wenn wir Vicente Leero, der ganz explizit aus dem Geist der Befreiungstheologie schreibt und brigens 1986 noch mal groen Erfolg mit einer Theaterfassung seines Romans hatte, als letzten behandelt haben, stellt er sicher keinen Schlusspunkt dar. Jesucristo wettert gegen Volksreligiositt und magische Praktiken und offenbart dadurch ein sehr europisches und rationalistisches Denken, das die lateinamerikanische Theologie bis in jngste Zeit nun einmal kennzeichnet..

Eine neu anstehende Fragestellung, der ich heute nur in Anstzen nachgegangen bin, ist die Frage, ob und wie auch die neue Entwicklung in Richtung einer teologa indgena literarisch aufgegriffen wird. Anstze findet man in einigen neueren historischen Romanen und Theaterstcken, vor allem aus Brasilien und Paraguay, die noch einmal den verpassten Mglichkeiten eines friedlichen Dialogs der Kulturen und Religionen nachspren. Das wre dann ein Thema fr eine neue Begegnung.

, Ed. de John V. Murra, Madrid 1987, Tomo B, S.749.

Alcides Arguedas, Raza de bronce 244, 250.

Ciro Alegra (Peru), El mundo es ancho y ajeno (1940) (1909-1967)

Ciro Alegra: Novelas completas. Madrid: Aguilar, 1959, S.585f.

Ders.: Lzaro, Buenos Aires: Losada, 1973. Geschrieben wurde der Roman hauptschlich 1953.

Eduardo Caballero Caldern (Kolumbien, *1910)

Carlos Droguett (Chile *1912) El compadre (Der Pate) 1952/1967

Nach Gmez, http://www.ensayistas.org/filosofos/argentina/aguinis/gomez0.htm

Hornman, Wim: Der Guerilla-Priester. Roman um Camilo Torres, Freiburg i. Br., Herder, 1969 (Orig. De Rebel, Haarlem 1968)

KLL, Bd. 3, 516f.

Augusto Roa Bastos (Paraguay, *1917): Hijo de hombre (Menschensohn) 1959/1983

Augusto Roa Bastos zit. nach: Adriana Valds/Ignacio Rodrguez, Hijo de hombre: El mito como fuerza social, in: Helmy F. Giacoman [Hg.].: Homenaje a Augusto Roa Bastos. Variaciones interpretativas en torno a su obra, Madrid 1973, S.109.

Augusto Roa Bastos: Hijo de hombre, Madrid 41990, S.404 (bersetzung der Zitate vom Vf.- Auf deutsch erschienen unter dem Titel:Menschensohn, Mnchen; Wien: Hanser, 1991 [S. 356].

Ebd., S.25 [10].

Hijo de hombre, S.23f. [9f.].

Ebd., S.(306)/350.

Ebd., S.36 ff(44 f.).

Ebd., S.61 f/(65 f.).