VolleGläser undfauleEier · sind für das junge Paar ein will-kommener Zusatzverdienst. Für...

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Reisen 61sonntagszeitung.ch | 4. August 2019

Ulrike Hark

Anni Ninoschwili und ihr MannIrakli haben für uns gerade Natur-wein aus dem Boden geholt – ausdem Qvevri, der typischen Tonam-phore; eine uralte Methode desWeinmachens, welche die Unescoin ihr Kulturerbe aufgenommenhat. Degustationen für Touristensind für das junge Paar ein will-kommener Zusatzverdienst. Fürkonventionell geschliffene Zungenist dieser Wein eine Herausforde-rung, denn es weht einem einHauch wilder Moder in den Gau-men. Böse Zungen behaupten gar,die Georgier hätten kein Geld fürPestizide, deshalb der Naturwein.Wie auch immer: Unverfälscht wieer ist, hat er gerade auch bei unsim Westen Konjunktur, denn ertrifft präzise den ökologischen Zeit-geist. Nach dem russischen Wein-embargo, einer Reaktion auf Geor-giens Unabhängigkeit von 1991,standen viele Winzer vor dem Aus.Heute erfinden sie sich erfolgreichwieder neu.

Doch wie bei allem, was in Tif-lis passiert, werden die Traditionund der Stolz auf die eigene Ge-schichte hochgehalten. Alt undNeu, das Eigene und das Fremdebilden in der 1,4-Millionen-Stadteinen attraktiven Mix. Viele Häu-ser stammen aus dem 19.Jahrhun-dert; auf den kunstvoll geschnitz-ten Holzbalkonen flattert Wäscheim Wind, Zedern und Zypressenschmeicheln den alten Mauern. Ander Shota Rustaveli Avenue reihensich prächtige Gebäude aus der Za-renzeit, die tristen Plattenbautenaus der Sowjetzeit befinden sicherfreulicherweise an der Periphe-rie. Vieles in Tiflis bröckelt, denStrassenhunden ist das egal. Müdeund satt liegen sie vor der alten Ka-rawanserei und dösen vor sich hin.Sie sind geimpft, gechippt und kas-triert – die Fütterung übernehmenviele freiwillige Helfer. Und träge,als hätte er alle Zeit der Welt,

durchfliesst der Mtkvari die Stadt,bevor er langsam Kurs nimmt aufAserbaidschan. An seinen Ufernliegen anmutig auf Hügeln dieorientalisch geprägte Alt- und dieNeustadt. Punktuell blitzen futu-ristische Bauten auf, etwa die bei-den Riesenröhren, die als Konzert-häuser gedacht waren, heute aberleer stehen. Präsident Michail Saa-kaschwili hatte sie in den Nuller-jahren bauen lassen, bevor seineÄra 2012 vorbei war. Er war esauch, der die mächtige Dreifaltig-keitskirche errichten liess, die inAvlabari über dem linken Ufer desMtkvari steht. Mit ihrem goldenenDach ist sie weithin sichtbar. Sieist Sitz der georgischen Patriarchieund ein Fanal für die georgisch-or-thodoxe Kirche, die unter der70-jährigen Sowjetherrschaftkleingehalten wurde. Man bekreu-zigt sich oft in Tiflis und betet, dassGott es schon richten wird: DerWirtschaft geht es noch immernicht gut, die Arbeitslosigkeit isthoch und das Verhältnis zummächtigen Nachbarn Russland istneuerdings angespannt. Nicht Prä-sidentin Salome Surabischwilihabe das Sagen, meinen viele, son-dern Multimilliardär Bidsina Iwa-nischwili, dessen Villa wie einHightech-Labor auf dem Hügelthront.

Tbilisi bedeutet auf Georgisch«warmeQuellen»

Mit der Gondelbahn fahren wirzur Festung Narikala hoch, zu Fussgehts runter durch die Gassen vonSololaki mit seinen malerischen,kleinen Villen, bis wir im Bäder-viertel Abanotubani mit denSchwefelquellen ankommen, demältesten Teil der Stadt. Wacho,unser Guide, kennt sich hier bes-tens aus. Er ist in Sololaki aufge-wachsen, spricht perfekt Deutschund zeigt uns zusammen mit Bri-gitte, einer ausgewandertenSchweizerin, spezielle Orte. SeinGeheimtipp im Bäderviertel ist das

Volle Gläserund faule EierDie georgische Hauptstadt Tiflis bietetmodrigenWein und gutes Essen, schöneHolzbalkone und triste Bauten aus derSowjetzeit. In den Schwefelbädern lösen

sich dieWidersprüche auf

Bad Nr. 24. «Andere sind vielleichtschöner, aber dieses ist von allendas authentischste», weiss Wachoaus Erfahrung. Von oben sieht mannur die halbkugelförmigen Lüf-tungskuppeln im persischen Stil,alle Bäder liegen unterhalb derErde. 40 Grad heisses Wasser undden Geruch fauler Eier sollte manschon aushalten, dafür hat man aufWunsch einen persönlichen Bade-trakt mit Wanne plus Massage.Nicht umsonst bedeutet Tbilisi aufGeorgisch «warme Quellen». Über-all in der Altstadt schwefelt es einbisschen, so als wäre Luzifer heim-lich am Einfeuern.

Schon lange Sehnsuchtslandder reichen Russen

Gut durchwärmt sieht man allesnoch ein bisschen rosiger – dieStadt regt alle Sinne an. Unweitder Bäder feiern Aserbaidschanerein wichtiges Nationalfest. Mangeht respektvoll miteinander um,als kleines Land hat Georgien im-mer über das Schwarze Meer hin-ausgeschaut. Schon lange ist es dassonnige Sehnsuchtsland reicherRussen, wo einem die Trauben inden Mund wachsen und man her-vorragend isst: Teigtaschen mitFleischfüllungen, Kräuterpastenmit orientalischen Aromen, Fischund Fleisch an Granatapfelsauce.Alles kommt zusammen auf denTisch, «sharing plates» hat Tradi-tion. Dazu gibts roten Saperavi undviele emotionale Trinksprüche; dafällt so manche Träne in den Na-turwein. Besonderen Spass machtdas alles bei Keto und Kote, einemmärchenhaften Restaurant mitBlick auf die Stadt.

In letzter Zeit kommen ver-mehrt auch Besucher aus deutsch-sprachigen Ländern. GeorgiensGastspiel an der Frankfurter Buch-messe und der riesige Erfolg vonNino Haratischwilis Roman «Dasachte Leben» haben dem geheim-nisvollen Land im Kaukasus einenneuen Tourismusschub gebracht.

Hotels im Top-Segment gibts vie-le, etwa das Shota Rustaveli; dasNachtleben ist beachtlich, Tiflisgilt als sichere Stadt. Für Brigitte,die ausgewanderte Baslerin, sindes auch die persönlichen Freiräu-me, weshalb sie sich hier seit vierJahren wohl fühlt: «In Tiflis kannman noch durchatmen», sagt sie,«nicht alles ist durchreglemen-tiert.» Kleines Beispiel: Man darfsein Auto mit einem Lenkrad linksoder rechts steuern.

Auf der Strasse pflegen alleeinen dynamischen Fahrstil, auchunser Taxifahrer, der uns in rasan-tem Tempo zur geheimen Drucke-rei der kommunistischen Revolu-tionäre in Isani fährt. Ein aus derZeit gefallenes Museum, geradejetzt, da das Land in die EU will.Der Chef der Ausstellung trauertder heute verbotenen KP nach.Zwischen 1903 und 1906 druckteder junge Stalin in den Kellerräu-men seine Flugblätter gegen daszaristische Russland. Wer die stei-le Wendeltreppe zur Druckerpres-se hinuntersteigt, spürt den eisi-gen Hauch der Geschichte.

Viele Ältere hängen noch an derSowjetzeit, in der man mit wenigArbeit sein Auskommen hatte.Aber die junge Generation hat vielvor und ist gut vernetzt. Im Quar-tier Chugureti entstand zum Bei-spiel aus einer alten Textilfabrikdas hippe Projekt Fabrika, ein Hos-tel mit Läden und Internet-Café.Dass der Nachwuchs fit ist, zeigtauch unser Besuch einer Schulstun-de in einem Gymnasium – die13-jährigen Teenager sprechenperfekt Englisch. Nach der Matu-ra wollen alle reisen, in die USA,nach Paris, London. Dann aber zu-rückkehren und ihr Land weiter-bringen. «We love our country»,sagen sie unisono. Sie lieben ihrLand – gute Aussichten für die Zu-kunft.

Die Reise wurde unterstützt vonAtlas Reisen

Anreise:Mit Turkish Airlines über Istanbul, www.turkishairlines.com odermit Austrian Airlines über Wien, www.austrian.comUnterkünfte:Hotel: Shota Rustaveli, exzellentes Haus an zentraler Lage,www.shotahotels.comReiseveranstalter:AtlasReisen, Individual-undGruppenreisenTiflis/Geor-gien, www.atlas-reisen.ch. StadtführungenundExkursionen aufDeutsch:Brigitte Renz &Wacho Chvitschia, www.georgienwbtours.comRestaurants: Keto und Kote, moderne georgische Küche in alter Holz-villa, www.georgian-restaurant-159.business.site. Souvenirs, Handwerk:Maidan Bazaar, Gorgassali-PlatzEinreisebestimmungen: Schweizer Bürger benötigen für ihren Aufent-halt einen gültigen Reisepass.Beste Reisezeit: April bis Juni und September bis OktoberAllg. Infos:TourismusverbandvonGeorgien,www.tourism-association.ge

FabrikaFabrika

ShotaRustaveliAvenue

MTKVARI

MTKVARI

ShotaRustaveliAvenue

DreifaltigkeitskircheAvlabariDreifaltigkeitskircheAvlabari

BäderviertelAbanotubaniBäderviertelAbanotubani

FestungNarikalaFestungNarikala

IsaniMetro-StationIsaniMetro-StationSololakiSololaki

1 km

SoZmrue

T I F L I ST I F L I S Georgien

Tiflis

MITTELMEER

Tipps für Tiflis

Eine derThermen imBäderviertelAbanotubani

Die Altstadtvon Tiflis mitden typischenHolzbalkonenFotos: Alamy, Getty, Valeria

Scrilatti/contrasto/laif

Die hippeFabrikain einer

ehemaligenTextilfabrik