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INHALT A. DIE BEDEUTUNG DER MRK FÜR DIE STRAFVERTEIDIGUNG 1 Die Regeln der MRK haben unmittel- bare praktische Bedeutung für die Strafver- teidigung. Zum einen beziehen sich die inhalt- lichen Regelungen der MRK in weiten Berei- chen auf speziell strafprozessuale Problema- tiken, zum anderen haben diese Regelungen unmittelbaren Gesetzesrang, und letztlich stellt die MRK mit der Individualbeschwerde einen einmaligen völkerrechtlichen Rechtsbe- helf zur konkreten Durchsetzbarkeit dieser Regelungen zur Verfügung. Die MRK hat ei- nen internationalen Mindeststandard von Menschenrechten und Grundfreiheiten nor- miert. Sie schützt grundlegende Menschen- rechte, wie beispielsweise das Recht auf Leben, auf Freiheit und Sicherheit, auf Pri- vatsphäre, auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Sie formuliert darüber hinaus insbesondere in Art. 6 als selbständiges Menschenrecht das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren und doku- mentiert wesentliche Verfahrensgrundsätze. Damit reicht die MRK bis hin zu Detailregel- ungen unmittelbar in den Strafprozeß hinein. Die Konvention – konzipiert als ”Europäisches Grundgesetz” – wurde vom damals noch jung- en Europarat ausgearbeitet und am 4.11.1950 unterzeichnet. Mittlerweile haben die meisten Mitgliedstaaten des Europarates die MRK auch ratifiziert. Andere völkerrechtliche Ver- träge thematisieren ebenfalls auf den Straf- prozeß bezogene Fragen: Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), der 1966 im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeitet worden ist, hat wie die MRK unmittelbar gesetzliche Wirkung in der Bundesrepublik; ausführlich – und teilweise über die MRK hinausgehend – werden dort Rechte des Angeklagten im Strafprozeß kon- stituiert. Andere völkerrechtliche Verträge, wie z. B. die Europäische Anti-Folterkonven- tion, enthalten ebenfalls Garantien, die das materielle und formelle deutsche Strafrecht unmittelbar betreffen. Allen diesen Normen ist jedoch gemein, daß sie über kein wirk- sames Verfahrensinstrumentarium verfügen, das dem einzelnen Betroffenen Aussicht auf Durchsetzung seiner Rechte zur Verfügung stellt. Die MRK ist ihrer Natur nach ein völkerrecht- licher Vertrag, hat nach der Ratifizierung durch den Bundestag allerdings Gesetzes- rang. Mit ihren Garantien überlagert die MRK andere gesetzliche Vorschriften, insbesondere auch die StPO und das GVG. Verfassungsrang wird ihr zwar abgesprochen, ihre Regelungen haben aber oft maßgebliche Bedeutung bei der Auslegung von Normen des Grundgesetz- es. Bei der Auslegung des Konventionstextes sind nur die Vertragssprachen Englisch und Französisch verbindlich. Rechtsbegriffe der deutschen Übersetzung können daher als transformiertes völkerrechtliches Vertrags- recht eine andere Bedeutung als die in deut- schen Gesetzen haben. Die MRK ist autonom Dr. Ulrich Sommer: §13 Strafprozessordnung und Europäische Menschenrechtskonvention 1 von 46 Seiten § 13 Strafprozessordnung und Europäische Menschenrechtskonvention Dr. Ulrich Sommer, Rechtsanwalt in Köln Handbuch ”Strafverteidigung in der Praxis”, hrsg. von Rainer Brüssow, Wilhelm Krekeler, Volkmar Mehle; Deutscher Anwaltsverlag 1998, S. 647-704

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§ 13 Strafprozessordnung und

Europäische Menschenrechtskonvention

Dr. Ulrich Sommer, Rechtsanwalt in Köln

Handbuch ”Strafverteidigung in der Praxis”, hrsg. von Rainer Brüssow, Wilhelm Krekeler,Volkmar Mehle; Deutscher Anwaltsverlag 1998, S. 647-704

INHALT

A. DIE BEDEUTUNG DER MRK FÜR DIE STRAFVERTEIDIGUNG

■ 1 Die Regeln der MRK haben unmittel-bare praktische Bedeutung für die Strafver-teidigung. Zum einen beziehen sich die inhalt-lichen Regelungen der MRK in weiten Berei-chen auf speziell strafprozessuale Problema-tiken, zum anderen haben diese Regelungenunmittelbaren Gesetzesrang, und letztlichstellt die MRK mit der Individualbeschwerdeeinen einmaligen völkerrechtlichen Rechtsbe-helf zur konkreten Durchsetzbarkeit dieserRegelungen zur Verfügung. Die MRK hat ei-nen internationalen Mindeststandard vonMenschenrechten und Grundfreiheiten nor-miert. Sie schützt grundlegende Menschen-rechte, wie beispielsweise das Recht aufLeben, auf Freiheit und Sicherheit, auf Pri-vatsphäre, auf Gedanken-, Gewissens- undReligionsfreiheit, auf freie Meinungsäußerungund Versammlungsfreiheit. Sie formuliertdarüber hinaus insbesondere in Art. 6 alsselbständiges Menschenrecht das Recht aufein faires gerichtliches Verfahren und doku-mentiert wesentliche Verfahrensgrundsätze.Damit reicht die MRK bis hin zu Detailregel-ungen unmittelbar in den Strafprozeß hinein.Die Konvention – konzipiert als ”EuropäischesGrundgesetz” – wurde vom damals noch jung-en Europarat ausgearbeitet und am 4.11.1950unterzeichnet. Mittlerweile haben die meistenMitgliedstaaten des Europarates die MRKauch ratifiziert. Andere völkerrechtliche Ver-

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träge thematisieren ebenfalls auf den Straf-prozeß bezogene Fragen: Der internationalePakt über bürgerliche und politische Rechte(IPBPR), der 1966 im Rahmen der VereintenNationen erarbeitet worden ist, hat wie dieMRK unmittelbar gesetzliche Wirkung in derBundesrepublik; ausführlich – und teilweiseüber die MRK hinausgehend – werden dortRechte des Angeklagten im Strafprozeß kon-stituiert. Andere völkerrechtliche Verträge,wie z. B. die Europäische Anti-Folterkonven-tion, enthalten ebenfalls Garantien, die dasmaterielle und formelle deutsche Strafrechtunmittelbar betreffen. Allen diesen Normenist jedoch gemein, daß sie über kein wirk-sames Verfahrensinstrumentarium verfügen,das dem einzelnen Betroffenen Aussicht aufDurchsetzung seiner Rechte zur Verfügungstellt.

Die MRK ist ihrer Natur nach ein völkerrecht-licher Vertrag, hat nach der Ratifizierungdurch den Bundestag allerdings Gesetzes-rang. Mit ihren Garantien überlagert die MRKandere gesetzliche Vorschriften, insbesondereauch die StPO und das GVG. Verfassungsrangwird ihr zwar abgesprochen, ihre Regelungenhaben aber oft maßgebliche Bedeutung beider Auslegung von Normen des Grundgesetz-es.

Bei der Auslegung des Konventionstextessind nur die Vertragssprachen Englisch undFranzösisch verbindlich. Rechtsbegriffe derdeutschen Übersetzung können daher alstransformiertes völkerrechtliches Vertrags-recht eine andere Bedeutung als die in deut-schen Gesetzen haben. Die MRK ist autonom

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und konventionskonform auszulegen. Maß-geblich bei der Auslegung ist das auf der ge-meinsamen Rechtsüberzeugung aller Vertrags-staaten beruhende übernationale Ziel derKonvention, die Menschenrechte wirksamzu schützen. Der Sinngehalt der formulier-ten Freiheitsrechte hat sich an dem historisch-en Vorverständnis der beteiligten Staatenebenso zu orientieren wie an dem übergreifen-den Zweck des effektiven Schutzes der Men-schenrechte. Eine ausgefeilte Dogmatik undstreng systemkonforme Überlegungen habeneiner ”vernünftigen Auslegung” Platz zumachen, wenn im Einzelfall ein wirksamerSchutz der Menschenrechte dies erfordert. DieKonventionsorgane lösen sich bei ihrer Ausle-gung immer mehr von einem historisierendenAusgangspunkt und begreifen die Konventionals ”living instrument”. Verbürgte Rechte sol-len nicht theoretisch und illusorisch bleiben,sondern praktisch und effektiv unter gegen-wärtigen gesellschaftlichen Bedingungen wir-ken.

Die praktische Bedeutung der MRK für denStrafverteidiger besteht in der Möglichkeitder prozessualen Durchsetzbarkeit der for-mulierten Menschenrechte. Neben der soge-nannten Staatenbeschwerde verbürgt die MRKdas Recht jedes einzelnen Betroffenen, imRahmen der Individualbeschwerde sein Ver-fahren vor den Organen der MRK anhängigzu machen. Die Anzahl dieser Individualbe-schwerden ist stetig gestiegen. Die Statistikweist für das Jahr 1995 3481 registrierte Be-schwerden auf, 28 % hiervon sind anwaltlichvorbereitete Beschwerden. Daß gerade durchStrafverfahren Betroffene Individualbeschwer-den anhängig machen, zeigt die Tatsache, daßregelmäßig 10 %–20 % der Beschwerdeführeraktuell inhaftiert sind.

Auch die Bedeutung der Entscheidungen desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrech-te ist enorm gestiegen. Lagen in den 50er und60er Jahren weniger als ein Dutzend Entschei-dungen vor, stieg die Zahl zwischen 1974 und1990 auf insgesamt 241. Mittlerweile ergehenjährlich über 100 Urteile. Das Bewußtseinder prozessualen Durchsetzbarkeit hat auch

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bei Strafrichtern der unteren Instanzen dieSensibilität für die Regelungen der MRK er-höht. Allein die Existenz der Individualbe-schwerde und ihre verbreitete Nutzung ver-schafft dem Verteidiger vor der StrafkammerGehör, wenn er sich zur Begründung seinerAnliegen auf die Grundrechte der Konven-tion beruft.

re

B. DIE INDIVIDUALBESCHWERDE DER EUROPÄISCHEN MENSCHENRECHTSKONVENTION

I. Der Verfahrensgang

1. Historische Entwicklung

■ 2 Die Verfahrensvorschriften der Konven-tion hatten von Beginn an einen EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte etabliert,den jeder Bürger der Konventionsstaaten un-mittelbar anrufen kann. So mutig die Etablie-rung dieses revolutionären EuropäischenGerichtshofs seinerzeit war, so groß wargleichzeitig die Scheu der Staaten vor denunübersehbaren Konsequenzen. Praktischeund konzeptionelle Schwierigkeiten hemmtendaher die Effektivität des Gerichtshofes. DasVerfahren sah vor, daß sich der Gerichtshofnur mit grundlegenden Entscheidungen befas-sen sollte. Die wesentlichen Vorprüfungs-und Vorbereitungsarbeiten wurden durchdie Europäische Kommission für Menschen-rechte durchgeführt. Darüber hinaus hattedas Ministerkomitee, das mit den Außenminis-tern der Vertragsstaaten besetzt war, zusätz-liche Exekutivbefugnisse.

Die Kommission filterte die Beschwerden undnahm dem gesamten Verfahren den justiziel-len Charakter. Darüber hinaus verkompliziertesich das Verfahren bei diskussionswürdigenBeschwerden. Die durchschnittliche Verfah--

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rensdauer vor Kommission und Gerichtshofbetrug zuletzt 6 Jahre. Da zum einen in denletzten Jahren zahlreiche mittel- und osteuro-päische Staaten in den Europarat aufgenom-men worden sind (aktuelle Mitgliederzahl: 41)und zum anderen die Fälle komplexer Naturständig zugenommen haben, wurde das Ver-fahren vollständig reformiert. Seit November1998 wird die Verfahrensregelung prakti-ziert, die einen ständigen Europäischen Ge-richtshof für Menschenrechte etablierte unddie Kommission vollständig abschaffte. DieKommission hat ihre Übergangstätigkeit imOktober 1999 endgültig eingestellt, ihr Einflußauf die Anwendung der MRK wird insbeson-dere durch ihre publizierten Entscheidungenund Berichte auch für die Zukunft noch be-deutsam sein.

Die Bedeutung des Ministerkomitees, das alspolitisches Organ ohnehin stets als Fremdkör-per im Verfahrensgang vor dem Gerichtshofgewirkt hat, ist nunmehr auf minimale Befug-nisse im Zusammenhang mit der Umsetzungvon rechtskräftigen Urteilen in den Mitglied-staaten reduziert worden.

2. Die Organisation des Gerichtshofs

■ 3 Sitz des Europarates und seiner Organeist Straßburg. Auch alle Konventionsorganenach der MRK haben hier ihren Sitz. Die An-zahl der Richter des Gerichtshofs entsprichtder Anzahl derjenigen Staaten, die die MRKratifiziert haben (derzeit alle 41 Mitgliedstaa-ten des Europarates). Die Richter werden füreinen Zeitraum von 6 Jahren durch die parla-mentarische Versammlung des Europaratesgewählt. Der aktuelle Gerichtspräsident istder Schweizer Luzius Wildhaber, der einzigedeutsche Richter ist Georg Ress. Kleinere Ver-tragsstaaten haben die Möglichkeit, Staatsan-gehörige eines anderen Vertragsstaates alsRichter zu benennen; dem Gerichtshof sollenjedoch nicht mehr als 2 Richter derselbenStaatsangehörigkeit angehören.

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Richter können wiedergewählt werden, ihreAmtszeit endet allerdings mit der Vollendungdes 70. Lebensjahres. Im Gegensatz zur altenRechtslage wird von den Richtern des stän-digen Gerichtshofs erwartet, daß sie ihre Tä-tigkeit hauptamtlich ausüben. Kollidierendeandere Tätigkeiten sind den Richtern aus-drücklich untersagt. Da die Richter somitwirtschaftlich von der Beschäftigung beimGerichtshof abhängig sind, auf der anderenSeite aber eine mögliche Wiederwahl nur er-folgen kann, wenn sie hierzu von einem Mit-gliedstaat ausdrücklich vorgeschlagen wer-den, könnte die Neigung der Richter geringsein, im Einzelfall gegen die Interessen derExekutive dieses Mitgliedstaates zu entschei-den. Befürchtungen einer Einschränkung derUnabhängigkeit der Richter sind bei dieserKonstellation nicht von der Hand zu weisen.

■ 4 Der Gerichtshof ist in insgesamt vierAbteilungen gegliedert, deren Zusammensetz-ung jeweils die Unterschiede geographischerNatur und verschiedener Rechtssysteme wi-derspiegeln soll. Die Richter und Richterinnender jeweiligen Abteilungen bilden die Kam-mern. Diese Kammern sind der eigentlicheSpruchkörper des Gerichtshofs und bilden dasHerzstück der Neuorganisation. Eine Kammersetzt sich aus jeweils 7 Richtern zusammen.Die Gerichtsbesetzung folgt einem Rotations-system. In jedem Fall ist der Richter desjeni-gen Landes zu beteiligen, gegen das sich dieIndividualbeschwerde richtet.

■ 5 Von den jeweiligen Kammern werdendarüber hinaus Ausschüsse gebildet. DieseAusschüsse setzen sich jeweils aus drei Rich-tern der Kammer zusammen. Diese Ausschüs-se haben eine wichtige Vorprüfungs-Kompe-tenz und werden in der Zukunft die bislangvon der Kommission ausgeübte Filterfunk-tion wahrzunehmen haben. Der Richteraus-schuß hat bereits die Möglichkeit, offensicht-lich unbegründete Beschwerden abzuweisenund damit die Kammern lediglich mit denjeni-gen Fällen zu befassen, die aus Sicht der Rich-ter diskussionswürdig sind.

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■ 6 Darüber hinaus hat die Verfahrensord-nung einen neuen Spruchkörper etabliert: dieGroße Kammer des Gerichtshofs. Es gibtzwei Große Kammern, die aus jeweils 17 Rich-tern zusammengesetzt sind. Vorsitzender derbeiden Großen Kammern ist jeweils der Präsi-dent des Gerichtshofs. In jedem Fall ist stetsauch der nationale Richter im Einzelfall zubeteiligen.

Die Aufgabe der Großen Kammer bestehtmaßgeblich darin, entweder in Fällen beson-derer Bedeutung zu entscheiden oder bei di-vergierenden Tendenzen der einzelnen Kam-mern zur Wahrung der Einheitlichkeit derRechtsprechung grundsätzliche Entscheidung-en zu treffen. Darüber hinaus kann die GroßeKammer – so der politische Kompromiß derVertragsparteien – in einer Art Rechtsmittel-verfahren mit Urteilen der Kammern befaßtwerden.

■ 7 Die neue Verfahrensordnung hat eineKanzlei eingerichtet, deren Aufgabe vornehm-lich in der Entgegennahme der Beschwerdensowie in der materiellen und organisatorisch-en Unterstützung der einzelnen Richter liegt.

3. Der Verfahrensablauf vor demGerichtshof

■ 8 Jede eingehende Individualbeschwerdewird zunächst von der Kanzlei des Gerichts-hofs bearbeitet. Sinnvollerweise sollte sie da-her direkt dorthin adressiert werden. DieMitarbeiter der Kanzlei führen die Vorkorres-pondenz mit dem Beschwerdeführer. Dazugehört zum einen die Übersendung von Merk-blättern, die Bitte um Ausfüllung von Formu-laren sowie die konkrete Anforderung ergän-zender Unterlagen.

Wenn aus Sicht der Kanzlei angesichts einerfeststehenden Rechtsprechung des Gerichts-hofs oder aus anderen evidenten Gründen derBeschwerde keine große Erfolgsaussicht bei-gemessen wird, soll der Beschwerdeführer

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bereits in diesem frühen Stadium hierauf hin-gewiesen werden. Die Kanzlei erfüllt bereitsin dieser Phase eine bedeutsame Filterfunk-tion, da der größte Teil der Beschwerdenschon hier nicht weiter geführt wird. Bestehtder Beschwerdeführer allerdings auf einerDurchführung des Verfahrens, erfolgt erst-malig eine formelle Registrierung der Be-schwerde.

■ 9 Ein regulärer Geschäftsverteilungsplanfür registrierte Beschwerden besteht nicht.Maßstab ist vielmehr eine ausgewogeneArbeitsverteilung. Jede Beschwerde wird zu-nächst einer Abteilung des Gerichtshofs zuge-wiesen, deren Vorsitzender einen Berichter-statter benennt. Dieser hat zunächst mit Hilfevon Assistenten weitere Vorarbeit zu leisten.Er hat ergänzenden Schriftwechsel zu führenund kann bereits auf inhaltliche Bedenken derBeschwerde hinweisen.

Ist nach Form und Inhalt eine Beschwerdenicht zu beanstanden, hat der Berichterstat-ter zu überprüfen, ob die Sache durch denAusschuß oder die Kammer zu behandeln ist.

■ 10 In evident bedeutungsvollen Fällen ver-weist der Berichterstatter die Sache sofort andie Kammer. Üblicherweise wird die Sache je-doch zunächst vom dreiköpfigen Ausschußbehandelt. Dieser Ausschuß hat zwei Ent-scheidungsmöglichkeiten:

Die Richter können die Beschwerde bereits indieser Phase endgültig als unzulässig abwei-sen. Die Unzulässigkeit ist nicht nur in forma-len Mängeln begründet. Abweisungsreif istauch eine Beschwerde, die offensichtlich un-begründet ist. Als Folge wird die Beschwer-de ohne Möglichkeit eines Rechtsmittels ausdem Register gestrichen.

Erfolgt nach einer Beratung mehrheitlich eineEntscheidung des Ausschusses für eine Zulas-sung der Beschwerde, wird das gesamte Ver-fahren unter Vorlage eines Berichtes der Kam-mer zur Entscheidung vorgelegt. Spätestens

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vor einer Entscheidung über die Zulässigkeiteiner Beschwerde und damit der Weitergabean die Kammer ist die Beschwerde dem jeweilsverklagten Vertragsstaat zuzustellen, damitdieser hierzu Stellung nehmen kann.

■ 11 Die Kammer kann zu jedem Zeitpunktdes Verfahrens die Sache an die große Kam-mer abgeben, wenn der behandelte Fall vongrundsätzlicher Bedeutung für die Auslegungder Konvention ist.

Im Normalfall entscheidet die Kammer aller-dings selbst. Die erste Phase dieses Verfah-rens vor der Kammer ist schriftlich. Die Pro-zeßparteien werden häufig um ergänzendeStellungnahmen oder Angabe von Beweismit-teln gebeten. Die Richter haben die Möglich-keit, Beweise zu erheben. Zu diesem Zweckist es denkbar, daß sich eine Delegation vonRichtern zu einer Beweisaufnahme vor Ortbegibt. Nichtöffentliche Vernehmungen voninhaftierten Beschwerdeführern in Gefängnis-sen sind schon häufiger vorgekommen. ZurVorbereitung können auch Gutachten angefor-dert werden.

■ 12 Regelmäßig findet vor der Urteilsfällungeine mündliche Verhandlung statt. Währendfrüher das gesamte Verfahren vor der Kom-mission vertraulich war, entspricht es nun-mehr dem justiziellen Charakter der neuenVerfahrensordnung, daß der durch die Be-schwerde eingeleitete Prozeß kontradiktorischund öffentlich ist. Die Verhandlungen findennicht mehr – allenfalls in Ausnahmefällen –unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Pub-liziert wird dabei – bis hin zu den Veröffent-lichungen in den Rechtsprechungssammlung-en – der volle Name des Beschwerdeführers,es sei denn, dieser hat berechtigte Einwändeaus Datenschutzgründen erhoben.

Obwohl die offizielle Gerichtssprache entwe-der Englisch oder Französisch ist, kann jederBeschwerdeführer zunächst in seiner Mutter-sprache agieren. Erst nach Zulassung der Be-schwerde durch den Gerichtshof ist es mög-

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lich, daß der Beschwerdeführer auf eine derOffizialsprachen verwiesen wird. In der Ver-gangenheit hat es der Gerichtshof jedoch je-dem Beschwerdeführer und seinem Anwaltgestattet, auch in der mündlichen Verhand-lung in seiner Muttersprache vorzutragen.

■ 13 Da der Gerichtshof mit dem Anspruchantritt, vornehmlich eine gerechte Entschei-dung des Einzelfalles anzustreben, werden indieser Phase auch alle Möglichkeiten einergütlichen Streitbeilegung zwischen den Par-teien gesucht. Geldzahlungen oder Gnadener-lasse der betroffenen Staaten sind in der Ver-gangenheit häufig Inhalte von Vergleichengewesen, die eine Entscheidung des Gerichtsüberflüssig gemacht hatten. Nicht selten wirddas Verfahren auch deswegen ohne Entschei-dung beendet, da das Begehren des Beschwer-deführers überholt ist. Der betroffene Staathat häufig auch ohne den äußerlichen Druckdes Gerichts die beanstandeten Maßnahmenaufgehoben oder monierte Gesetzespassagengeändert. Ein Vergleich kann das Verfahrenbeenden, wenn für die Zukunft auch ohne ei-ne Entscheidung des Gerichtshofs ein konven-tionskonformes Verhalten des betroffenenStaates sichergestellt ist.

■ 14 Üblich ist die Verkündung eines Urteilsnach einer mündlichen Verhandlung. DieKammer entscheidet mit einfacher Mehrheit,wobei die Möglichkeit von Sondervoten beiabweichender Meinung einzelner Richter ge-geben ist.

Innerhalb von 3 Monaten nach Urteilsverkün-dung der Kammer kann jeder Beteiligte dieGroße Kammer mit der Begründung anrufen,daß der entschiedene Fall von grundsätzlich-er Bedeutung sei. Ein aus 5 Richtern zusam-mengesetzter Spruchkörper der Großen Kam-mer entscheidet dann über die Stichhaltigkeitdieses Begehrens. Ggf. hat die Große Kammerdas Verfahren erneut durchzuführen. DiesesVerfahren zur Großen Strafkammer ähnelteinem Rechtsmittel. Da jedoch teilweise die-selben Richter in der Großen Kammer agie-

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ren, die bereits das Urteil der Kammer mitgetragen haben, kann eine völlige Neubewer-tung der Sache kaum die Aufgabe der GroßenKammer sein.

■ 15 Die Wirkung eines unanfechtbaren Ur-teils besteht nicht in einer unmittelbaren Ver-änderung der innerstaatlichen Situation. DasUrteil entfaltet keine Kassationswirkung, eindirekter Eingriff in die staatliche Souveränitätsieht auch das Verfahren der MRK nicht vor.Der Gerichtshof fällt vielmehr ein Feststel-lungsurteil, in dem eine Konventionsverletz-ung durch den beteiligten Staat bindend fest-gestellt werden kann.

Die Vertragsstaaten haben sich allerdings ver-pflichtet, derartige Feststellungsurteile alsbindend zu behandeln. Die Umsetzung einesUrteils durch den betroffenen Staat wirddurch das Ministerkomitee überwacht. Zu-meist setzt das Komitee dem betroffenen Staateine Frist, einen als konventionswidrig erach-teten fortdauernden Zustand zu beseitigen.Diese Umsetzung kann in der Aufhebung vonVerwaltungsakten bis hin zu Änderungen vonGesetzen bestehen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte ist zwar im formalen Sinne kein dendeutschen Gerichten übergeordnetes Gericht.Die aus der Autorität des Gerichts abgeleitete”Orientierungswirkung” bei der Auslegungder Konvention ist selbstverständlich, eine an-dere Konventionsanwendung durch deutscheGerichte ist nur in demselben engen Rahmenvorstellbar wie bei einer Abweichung vonhöchstrichterlicher deutscher Rechtsprech-ung.I Hat daher der Gerichtshof Konventions-verstöße bei einem deutschen Strafverfahrenfestgestellt, so obliegt es den zuständigendeutschen Stellen – zumeist den Gerichten –aufgrund ihrer innerstaatlichen Kompetenzdurch eine neue Entscheidung einen konven-tionsgemäßen Zustand herbeizuführen. Daskann beispielsweise bei Haftentscheidungenunschwer mittels neuer Haftbeschwerdendurch den Verteidiger erzwungen werden.Hat der Beschwerdeführer vor dem Gerichts-

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hof allerdings ein rechtskräftiges deutschesStrafurteil angefochten, hatte er bislang imFalle des Obsiegens wenig Möglichkeiten,nachträglich die Verurteilung aufheben zu las-sen. Die Rechtsprechung hatte in der Vergang-enheit eine Wiederaufnahme verweigert. DerGesetzgeber hat daher im Jahre 1998 aus-drücklich einen neuen Wiederaufnahmegrundin § 359 Nr. 6 StPO geschaffen. Hiernachkann der in Straßburg erfolgreiche Beschwer-deführer eine Wiederaufnahme seines deut-schen strafgerichtlichen Verfahrens ver-langen, wenn das strafgerichtliche Urteil aufder vom Gerichtshof festgestellten Verletzungberuht. Dies wird regelmäßig dann der Fallsein, wenn eine zugrundeliegende Gesetzes-norm vom Gerichtshof für konventionswidrigerklärt wurde. Aber auch die konventionswid-rige Anwendung von ansonsten nicht bean-standeten gesetzlichen Normen wird regelmä-ßig ein Wiederaufnahmegrund sein, wennnicht ausnahmsweise mit Sicherheit davonausgegangen werden kann, daß sich die fest-gestellte Konventionsverletzung in keinemFall auf das strafgerichtliche Urteil ausgewirkthaben kann.

4. Entschädigungsleistungen

■ 16 Der Gerichtshof hat nicht die Möglich-keit, einen innerstaatlichen konventionswid-rigen Hoheitsakt selbst aufzuheben. Teilwei-se erachtet er den Beschwerdeführer schonals hinreichend befriedigt, wenn im Urteil ei-ne Konventionsverletzung festgestellt wordenist. Er kann allerdings auch dem Beschwerde-führer helfen, den durch diesen Akt erlittenenSchaden zu kompensieren. Der Gerichtshofkann dem Beschwerdeführer ”eine gerechteEntschädigung” zubilligen. Mit dieser Ent-scheidung, die unmittelbar mit dem Feststel-lungsurteil, aber auch getrennt hiervon zueinem späteren Zeitpunkt getroffen werdenkann, wird für den Beschwerdeführer zumin-dest eine wichtige Konsequenz des Urteilsgreifbar.Die einzelnen Vertragsstaaten haben sich ver-pflichtet, auch diesen Teil des Urteils für sich

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als bindend zu erachten. Bislang respektierensie diese Bindung. Jede der vom Gerichtshoffestgesetzten – unpfändbaren – Entschädi-gungszahlungen ist von dem betroffenen Staatauch tatsächlich geleistet worden.

■ 17 Die Entschädigung wird für erlittenematerielle und immaterielle Schäden ge-leistet. Sie wird im Urteil exakt summenmä-ßig beziffert. Bei der Prüfung dem Grunde undder Höhe nach ist allerdings eine gewisse Zu-rückhaltung des Gerichtshofs unverkennbar.Besonders kritisch wurde bislang in der Recht-sprechung der Kausalzusammenhang zwi-schen einer festgestellten Konventionsver-let-zung einerseits und einem geltend gemach-ten Schaden andererseits geprüft. Nicht seltenverneint der Gerichtshof einen Schadenser-satzanspruch mit der Begründung, daß der ak-tuelle belastende Zustand – beispielsweisedurch ein Strafurteil – mit hoher Wahrschein-lichkeit auch dann vorliegen würde, wenn dasVerfahren in vollem Umfang konventionsge-mäß geführt worden wäre; einzelne Konven-tionsverstöße hindern nicht die Feststellungdes Gerichts, daß sie sich im Ergebnis nichtauf das Urteil ausgewirkt haben.

Teilweise hat der Gerichtshof die Länge einesStrafverfahrens als konventionswidrig ange-prangert, den geltend gemachten Schaden al-lerdings anderen Ursachen als der Verfahrens-länge zugeordnet.

■ 18 Wird ein Kausalzusammenhang zu über-langer Verfahrensdauer bejaht, so sind schonEntschädigungsleistungen von ca. 30.000 DMfestgesetzt worden. Bei konkret nachweisba-ren negativen Auswirkungen auf die beruflicheSituation erhielt der Beschwerdeführer sogarSummen von bis zu 150.000 DM. Auch dieAnerkennung eines immateriellen Schadensführte zumeist zu Entschädigungen von nichtmehr als 30.000 DM. Höhere Beträge sind dieAusnahme. So wurde beispielsweise in einemfranzösischen Fall die Verletzung des Prinzipsder Unschuldsvermutung durch Äußerungeneines französischen Innenministers festge-

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stellt, welche im Ergebnis zu hohen mate-riellen Schäden beim Betroffenen wegen derGeschäftssschädigung führte; der Gerichtshofhielt einen Betrag von 2 Mio FF als Entschä-digung für angemessen.Es ist die Aufgabe desBeschwerdeführers, der Kommission und demGerichtshof sämtliche Tatsachen zu unterbrei-ten, aus denen sich die Begründung eines Ent-schädigungsanspruches ergibt. Entschädi-gungsansprüche sollten daher bereits mit derBeschwerde geltend gemacht, beziffert undbegründet werden.

5. Einstweiliger Rechtsschutz

■ 19 Hat schon das Urteil des Gerichtshofskeine unmittelbare Wirkung auf den inner-staatlichen Hoheitsakt, kommt allein der Ein-legung der Beschwerde keinerlei Auswirkungauf die beanstandete Maßnahme zu. Sie hatinsbesondere keine aufschiebende Wirkung.Es droht daher schon während des Beschwer-deverfahrens vor der Kommission und demGerichtshof, daß ein unwiderruflicher konven-tionswidriger Zustand hergestellt wird.

Vorläufige Maßnahmen sieht der Konventions-text nicht vor. Doch haben die Verfahrensord-nungen einerseits und die Praxis andererseitsfür extreme Fälle Möglichkeiten etabliert, dieSchaffung unwiderruflicher Zustände zu ver-hindern. Erkennt der Gerichtshof eine derar-tige Gefahr, so wird der betroffene Staat drin-gend darum ersucht, eine bevorstehendeMaßnahme zu unterlassen oder einen aktuel-len – mit hoher Wahrscheinlichkeit konven-tionswidrigen – Zustand zu beenden. Die Be-schleunigung geht soweit, daß eine solcheBitte unmittelbar nach Beschwerdeeinlegungbereits durch die Kanzlei telefonisch vorge-bracht werden kann. Der Gerichtshof kann dievorrangige Behandlung von Beschwerden an-ordnen oder einstweilige Maßnahmen zurVermeidung von Beweisverlusten vorneh--men (Vernehmungen bei Hungerstreiks).

Außer in den Fällen eines drohenden Voll-zugs einer Todesstrafe hat das Gericht aller-

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dings bislang nicht sehr häufig von den Mög-lichkeiten Gebrauch gemacht, einen Staat vonder vorläufigen Durchsetzung einer Maßnah-me abzuhalten. Die Ansicht ist herrschend,daß selbst Abschiebungen keinen unwider-ruflichen Zustand herbeiführen. Gerade inAbschiebungsfällen wurden jedoch einstwei-lige Maßnahmen dann getroffen, wenn derBeschwerdeführer konkret die durch die Ab-schiebung zu befürchtenden unwiderruflich-en Nachteile darlegen konnte. In ein laufendesStrafverfahren hat der Gerichtshof erstmalsim Fall Öcalan gegen die Türkei im März 1999eingegriffen. Die türkischen Behörden wurdenausdrücklich u. a. aufgefordert, insbesondereim Hinblick auf die erfolgte Verschleppungdes Beschuldigten Öcalan in die Türkei entge-gen ihrer Weigerung einen unüberwachtenAnwaltsbesuch zu gestatten. Auch wenn dieVerfahrensordnungen keine rechtlich binden-den einstweiligen Maßnahmen vorsehen,kann eine solche gerichtliche Aufforderungaus der allgemeinen Verpflichtung der Ver-tragsstaaten abgeleitet werden, die wirksameAusübung von Individualbeschwerden durchseine Bürger nicht zu behindern.

6. Kosten des Verfahrens

■ 20 Verfahrenskosten werden nicht erho-ben. Der Beschwerdeführer hat lediglich dieKosten eines von ihm beauftragten Anwaltssowie u. U. die Kosten von ihm benannterZeugen und Sachverständiger zu tragen.

Abschließende Entscheidungen der Kommis-sion oder des Gerichtshofs enthalten dahergrundsätzlich keine Kostenentscheidung. Ob-siegt der Beschwerdeführer, können ihm mitder abschließenden Entscheidung allerdingsErstattungsansprüche bezüglich dieser Ver-fahrenskosten zugebilligt werden.

Der Umfang derartiger Erstattungsansprücheunterliegt keinen formellen Regeln. Nach bil-

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ligem Ermessen berücksichtigt der Gerichts-hof hierbei das Ausmaß des Obsiegens gemes-sen am geltend gemachten Rechtsschutzbe-dürfnis.

Bei der Festlegung der Höhe der zu erstatten-den Kosten kann der Gerichtshof auch dieKosten der vorangegangenen innerstaatlich-en Gerichtsverfahren berücksichtigen. DieAnwaltskosten im Verfahren vor der Kom-mission und dem Gerichtshof sind ebenfallserstattungsfähig, richten sich allerdings kei-nesfalls nach innerstaatlichen Normen, wiebeispielsweise der BRAGO. Der Umfang derfür erstattungsfähig erachteten Kosten vari-iert je nach Umfang, Dauer und Schwierig-keit eines Beschwerdeverfahrens. Gebührenvon 100 bis 200 DM pro Stunde sind schonals angemessen angesehen worden; durch-schnittliche Erstattungssummen für die ge-samten Verfahren liegen zwischen 10.000 und30.000 DM.

■ 21 Ein neu geschaffener Zusatz zur Verfah-rensordnung der Konvention sieht die Bewil-ligung von Verfahrenshilfe vor. Die Bewilli-gung einer solchen finanziellen Hilfe für denBeschwerdeführer orientiert sich an den Vor-aussetzungen der innerstaatlichen Prozeß-kostenhilfe. Sie setzt die Bedürftigkeit desAntragstellers und die Erfolgsaussicht derBeschwerde voraus. Zum Nachweis seinerMittellosigkeit hat der Beschwerdeführer einausgefülltes und von einem deutschen Gerichtbestätigtes PKH-Formular einzureichen. DieBewilligung der Verfahrenshilfe durch dieKommission erfolgt erst in einem recht spä-ten Stadium, wenn bereits die Zulässigkeitder Beschwerde geprüft und eine Zustellungan den betroffenen Staat angeordnet wordenist. Die Verfahrenshilfe deckt ein ”angemes-senes” Honorar des beauftragten Anwalts so-wie dessen Auslagen.

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II. Zulässigkeitsvoraussetzungen derIndividualbeschwerde

■ 22 Die Kommission hat ein Merkblatt her-ausgegeben, an dem sich Beschwerdeführerorientieren sollen. Es empfiehlt sich, sich die-ses Merkblatt zusenden zu lassen, um zumin-dest keine formellen Fehler bei der Einlegungder Beschwerde zu machen.

1. Adressat

■ 23 Die Beschwerde ist zu richten:An denKanzler des Europäischen Gerichtshofsfür MenschenrechteEuroparatF – 67075 Strasbourg-CedexFrankreich

Telefonisch ist der Gerichtshof vonDeutschland unter derNummer 0033-388-412018 oder per Fax 033-388-412730 erreichbar. Aktuelle Informationen – insbesondere derVolltext neuer Urteile – finden sich imInternet unter http://www.dhcour.fr.

2. Die Parteien

■ 24 Die Beschwerde muß sowohl genaueAngaben des Beschwerdeführers als auchseines Anwalts enthalten. Verlangt werden dieAngabe des Namens, des Alters, der Staatsan-gehörigkeit, des Berufs, des Geburtsortes, derständigen Anschrift und des aktuellen Aufent-haltsortes des Beschwerdeführers.

Parteifähig ist jede natürliche Person, dieTräger von Menschenrechten der Konventionsein kann. Weder das Alter noch die Geschäfts-fähigkeit können die Parteifähigkeit beein-trächtigen. Aktivlegitimiert können auch Per-sonenvereinigungen und nichtstaatliche

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Organisationen sein, sofern sie als Träger vonKonventionsrechten in Betracht kommen.

Bei der Bejahung der Prozeßfähigkeit sind dieKonventionsorgane großzügig. Beschwerdenvon Minderjährigen und Entmündigten wur-den behandelt, ohne daß diese Frage proble-matisiert wurde. Praktischerweise werdenallerdings die meisten minderjährigen Be-schwerdeführer durch ihre Eltern vertreten.Hat das Gericht keinerlei Anhaltspunkte fürdie Identität des Beschwerdeführers, weist esdie Beschwerde schon aus diesem Grunde zu-rück. Die Konvention verbietet eine Befassungmit anonymen Gesuchen.

■ 25 Die Beschwerde hat auch den Be-schwerdegegner anzugeben. Parteifähig istinsoweit nur ein Vertragsstaat, der die MRKratifiziert hat. Internationale Organisationenoder Privatpersonen kommen als Beschwerde-gegner nicht in Betracht. Die Angabe der fürdie beanstandete Maßnahme zuständigen Be-hörde ist entbehrlich.

3. Vollmacht

■ 26 Der Beschwerdeführer kann sich in demgesamten Verfahren durch rechtskundige Per-sonen vertreten lassen. Zulässig ist die Bestel-lung eines jeden Juristen mit ständigem Auf-enthalt in einem Vertragsstaat der Konvention.Die Zulassung als Verfahrensbevollmächtig-ter setzt den Nachweis der Vollmacht voraus.

4. Beschwerdebefugnis

■ 27 Der Beschwerdeführer hat ausdrück-lich darzulegen, daß er ”Opfer” der von ihmbehaupteten Konventionsverletzung ist. DieBeschwerde muß daher auch schlüssig aus-führen, weshalb der Beschwerdeführer durcheinen Hoheitsakt in einem bestimmten, durchdie Konvention garantierten Recht verletzt istund dadurch darüber hinaus betroffen wird.

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Für das Strafverfahren ist ausreichend jederkonkret erlittene Nachteil durch Gerichte oderStrafverfolgungsbehörden. Es genügt das Vor-liegen eines rechtskräftigen Urteils; nicht er-forderlich ist dessen Vollzug.Die Konvention will eine Popularklage oderabstrakte Normenkontrolle ausschließen. Dieschlichte Gesetzeslage wird daher regelmäßigkeine unmittelbare Betroffenheit erzeugen.Gerade Strafgesetze können insoweit aller-dings eine andere Qualität haben, da sie un-mittelbare Verbote und Handlungsanweisung-en für jeden Bürger aussprechen. Allein dieGesetzeslage, die durch die Bestrafung be-stimmter homosexueller Handlungen mög-licherweise Konventionsrechte eines ein-zel-nen verletzte, war daher von der Kommis-sion als ausreichend erachtet worden, eineBeschwerdebefugnis auch dann zu bejahen,wenn der Beschwerdeführer noch nicht miteinem konkreten Strafverfahren überzogenworden war. Bei Verfahrensgesetzen ist derkonkrete Nachweis der Betroffenheit schwie-rig und daher manchmal entbehrlich: Die ge-setzlich angeordnete Möglichkeit geheimerAbhörmaßnahmen ist daher als ausreichendangesehen worden, eine unmittelbare Betrof-fenheit vor der Kommission geltend zu mach-en.

■ 28 Ist ein Angeklagter im Strafverfahrenfreigesprochen worden, fehlt ihm regelmäßigdie Beschwerdebefugnis, auch wenn er be-hauptet, das zugrunde liegende Verfahren ver-stoße gegen Konventionsgarantien. Ein nach-träglicher Wegfall der Beschwer ist durchinnerstaatliche Maßnahmen denkbar. Scha-densersatzleistungen des Staates oder dienachträgliche im Gnadenwege erfolgte Redu-zierung einer Strafe unter Berücksichtigungüberlanger Verfahrensdauer können zur Un-zulässigkeit der Beschwerde führen. War z. B.nach einer Verurteilung die Auferlegung derGebühren eines Zwangsverteidigers konven-tionswidrig, so kann das Rechtsschutzinteres-se einer Individualbeschwerde nach einernachträglichen Reduzierung der Kostenforde-rung entfallen.

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■ 29 Der Gerichtshof richtet sich allerdingsbei der Bewertung des Rechtsschutzinteres-ses nicht nach Kriterien der deutschen Recht-sprechung. Durchsuchungsbeschlüsse, diewegen prozessualer Überholung von deut-schen Gerichten als nicht mehr justiziabel an-gesehen werden, sind von der Kommissionohne Bedenken auf ihre Konventionswidrig-keit hin untersucht worden. Ein Rechtsschutz-bedürfnis des Beschwerdeführers soll allen-falls dann entfallen, wenn seine Beschwerdepraktisch überhaupt keinen nachvollziehba-ren Zweck mehr erreichen kann (wenn z. B.die thematisierten Dolmetscherkosten demBeschwerdeführer längst durch seine Rechts-schutzversicherung erstattet worden sind).

5. Anfechtungsgegenstand

■ 30 Der Beschwerdeführer kann sich grund-sätzlich nur gegen hoheitliche Maßnahmender beteiligten Vertragsstaaten wenden.Denkbar ist hoheitliches Handeln der Gesetz-gebung ebenso wie das der Verwaltung oderder Rechtsprechung.

Der verklagte Vertragsstaat muß für diese Ak-te verantwortlich sein, ausreichend sind Akteder mittelbaren Staatsverwaltung (Post, Bahn,Sozialversicherung).

Verantwortlich ist jeder Staat auch für dasVerhalten seiner Organe und der für ihn han-delnden Amtsträger. Überschreitet z. B. einAmtsträger seine Befugnisse durch rechtswid-rige Mißhandlung eines Gefangenen, ist die-ser Akt beschwerdefähig.

Rechtsanwälte agieren nicht hoheitlich. Be-schwerden im Zusammenhang mit der Bestel-lung von Pflichtverteidigern thematisiertennicht das Verhalten der Anwälte, sondernmöglicherweise konventionswidrige Akte derGerichte bei Bestellung des Pflichtverteidi-gers.

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6. Die anderweitige internationaleRechtshängigkeit

■ 31 Die Konvention will verhindern, daß ininternationalen Verfahren zweimal in dersel-ben Sache entschieden wird. Die Individual-beschwerde ist daher unzulässig, wenn derBeschwerdegegenstand bereits einer andereninternationalen Untersuchungsinstanz unter-breitet worden ist – unabhängig davon, ob erdort bereits abschließend entschieden wordenist oder nicht. In Betracht kommen hier derInternationale Gerichtshof in Haag oder dieMenschenrechtsorgane der Vereinten Nation-en. Da der praktische Rechtsschutz nach derMRK im Vergleich regelmäßig der weiterge-hende ist, ist diese Konstellation relativ selten.

7. Wiederholungsverbot

■ 32 Derselbe Beschwerdeführer darf gegendenselben Beschwerdegegner denselbenStreitgegenstand nicht ein weiteres Mal an-hängig machen. Nur neue Beschwerden kön-nen als zulässig angesehen werden. Das Wie-derholungsverbot greift immer dann ein,wenn die Beschwerde bereits geprüft wordenist. Mindestens erforderlich ist die Abweisungder früheren Beschwerde im Annahmeverfah-ren.

Vergleichbar dem deutschen Wiederaufnah-merecht ist eine erneute Beschwerde ausnah-msweise dann zulässig, wenn der Beschwer-deführer neue relevante Tatsachen vortragenkann, die zum Zeitpunkt der früheren Ent-scheidung nicht bekannt waren. Die Praxis isthier sehr restriktiv.

8. Erschöpfung des nationalenRechtsweges

■ 33 Die Konvention stellt in Art. 26 aus-drücklich fest, daß vor einer Individualbe-schwerde die innerstaatlichen Gerichte aus-reichend Gelegenheit haben müssen, einen

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konventionswidrigen Zustand zu monierenund zu beseitigen. Eine Individualbeschwer-de ist daher erst möglich, wenn – durch denBeschwerdeführer nachgewiesen – sämtlichenach dem nationalen Recht möglichen Rechts-behelfe vergeblich wahrgenommen und aus-geschöpft worden sind.

Der Beschwerdeführer läuft hier große Ge-fahr, durch Unachtsamkeiten im nationalenVerfahren die Unzulässigkeit seiner MRK-Beschwerde zu provozieren. Er hat alle natio-nalen Möglichkeiten auszuschöpfen undkann sich bei der Versäumung nicht aufRechtsunkenntnis, eigene Zweifel an den Er-folgsaussichten oder auf fehlende finanzielleMittel berufen.

Der notwendige komplette Durchlauf durchden nationalen Instanzenzug ist nicht nur eineformelle Hürde. Die spezifische Konventions-verletzung muß – zumindest in der letztenInstanz – Gegenstand rechtlicher Erörterung-en gewesen sein. Es empfiehlt sich daher fürden Beschwerdeführer, schon frühzeitig beider Wahrnehmung nationaler Rechtsbehelfeauf die in der MRK verbürgten Grundrechtehinzuweisen.

■ 34 Welche Rechtsmittel im Einzelfall erfolg-versprechend sind und daher wahrgenommenwerden müssen, kann eine komplizierte undfür den deutschen Strafverteidiger ungewohn-te Analyse beinhalten. Die Individualbe-schwerde gegen Menschenrechtsverletzungenin einem Strafverfahren setzt regelmäßigmehr als die bloße durch die Revisionsent-scheidung hervorgerufene Rechtskraft voraus.Nach ständiger Rechtsprechung des Europä-ischen Gerichtshofs für Menschenrechtegehört zur Erschöpfung des Rechtswegs regel-mäßig auch die Anrufung des Bundesverfas-sungsgerichts.

Eine negative Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts macht allerdings den Weg zuden Konventionsorganen noch nicht frei. Be-ruft sich der Beschwerdeführer insbesondereauf die Verletzung spezifischer strafprozessu-

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aler Garantien der Konvention, muß er nach-weisen, daß er im Verfahren um die Realisie-rung dieser Garantien gerungen hat. DieZulässigkeit einer Beschwerde kann daherden Nachweis beinhalten, daß der Verteidigerbeispielsweise rechtzeitig Beweisanträge ge-stellt hat, sich gegen bestimmte Verfahrens-weisen des Gerichts gewehrt hat, rechtzeitigeinen befangenen Richter abgelehnt hat, einenAntrag auf Nachholung des rechtlichen Ge-hörs gestellt oder andere Anträge gestellt hat,die der Realisierung der Konventionsgaran-tien dienen sollten. Die Verantwortung desVerteidigers im Rahmen der Menschenrechts-beschwerde reicht somit bis weit in die unmit-telbare Prozeßführung hinein.

■ 35 Macht der Verurteilte aufgrund neu ein-getretener Tatsachen Verletzungen von Kon-ventionsrechten geltend, hat er zuvor ein Wie-deraufnahmeverfahren nach nationalem Rechtanzustrengen. Kann die Konventionsverletz-ung durch eine Strafanzeige des Verletztenbeseitigt werden, hat er ggf. auch das Klageer-zwingungsverfahren zu erschöpfen. Entschei-dend ist stets, daß sich der Beschwerdeführerzuvor aller innerstaatlichen Rechtsbehelfeund Anträge bedient hat, die geeignet sind,eine konkrete Konventionsverletzung zu be-seitigen oder anderweitig auszugleichen. Dashat der Gerichtshof (gegen die Stimme desdeutschen Richters) für den Fall bejaht, daßsich der Beschwerdeführer gegen die konven-tionswidrige Verhaftung mittels einer Strafan-zeige gegen den festnehmenden Polizistwehrte und sich das Oberlandesgericht imKlageerzwingungsverfahren abschließendweigerte, die Festnahme für rechtswidrig zuerklären.

■ 36 Bei andauernder Untersuchungshaftist der Beschwerdeführer nicht gehalten, nachAbweisungen einer Haftbeschwerde diese –was die StPO für zulässig erachtet – stetserneut zu stellen. Die einmalige abweisendeEntscheidung des Oberlandesgerichts sowie

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die negative Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts sind ausreichend, den Gerichts-hof mit der Rechtmäßigkeit der Aufrechter-haltung der Untersuchungshaft zu befassen.

■ 37 Entbunden ist der Beschwerdeführervom beschwerlichen Umweg innerstaatlicherRechtsbehelfe, wenn diese völlig aussichts-los und ineffektiv sind. Stellt das innerstaat-liche Recht zwar Rechtsbehelfe zur Verfügung,sind diese allerdings angesichts einer gefes-tigten obergerichtlichen Rechtsprechung nichtim geringsten geeignet, Konventionsverstößezu beseitigen, darf der Beschwerdeführer denGerichtshof sofort anrufen. Vor dem Gangnach Straßburg ist der Beschwerdeführernicht darauf angewiesen, ineffektive Abhilfe-möglichkeiten wie Dienstaufsichtsbeschwer-den, Gegenvorstellungen, Petitionen oder Gna-dengesuche einzureichen.

Ausnahmsweise hatte die Kommission auchandere Umstände des Einzelfalles beachtet,die den Beschwerdeführer an einer effektivenWahrnehmung innerstaatlicher Rechtsbehel-fe gehindert haben. So wurde ein Beschwerde-führer von der Erschöpfung des innerstaat-lichen Rechtsweges nach der Feststellungentbunden, daß er als Häftling mehr als 2 Jahr-e von den Gefängnisbehörden daran gehindertworden war, eine Zivilklage wegen behaup-teter Mißhandlung anzustrengen.

■ 38 Beschwerden wegen überlangerVerfahrensdauer werden zunehmend nochwährend der laufenden Strafverfahren fürzulässig erachtet. Wenn das innerstaatlicheRechtsbehelfssystem – wie in den meistenLändern – keine Möglichkeit vorsieht, wäh-rend des Verfahrens auf eine Beschleunigunghinzuwirken, und die Feststellung einer über-langen Verfahrensdauer als Strafmilderungs-grund anerkannt ist, sah sich die Kommissionberechtigt, auch in laufenden StrafverfahrenBeschwerden zu bearbeiten.

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9. Frist

■ 39 Die Beschwerde muß innerhalb einerFrist von 6 Monaten nach dem Erlaß der end-gültigen innerstaatlichen Entscheidung ein-gelegt werden.Die Konvention nimmt Bezug auf die letzteEntscheidung, die den innerstaatlichen Rechts-weg ausschöpft. Nicht abschlägige Gnaden-entscheidungen oder ähnliche Akte lösen dieFrist aus, sondern allein die Entscheidung aufden letzten effektiven Rechtsbehelf. Nachdeutschem Recht dürfte dies regelmäßig dieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtssein. Ist die Konventionsverletzung ausnahms-weise nicht mit einer Verfassungsbeschwer-de zu rügen, kommt entweder die abschließen-de Revisionsentscheidung, ein unanfechtbarerGesamtstrafenbeschluß oder eine abschließen-de Entscheidung zu einer Haftentschädigungin Betracht.

■ 40 Die 6-Monats-Frist beginnt in dem Zeit-punkt, in dem der Beschwerdeführer von derendgültigen Entscheidung nach innerstaatlich-em Recht Kenntnis erhält. Dies kann je nachEinzelfall unterschiedlich sein: Die Entschei-dung kann in Anwesenheit des Beschwerde-führers mündlich verkündet worden sein;Kenntnis wird möglicherweise aber erst durchZustellung eines Schriftstückes erlangt. Er-folgt eine solche Zustellung an den Verteidi-ger, wird dies als fristauslösendes Moment an-gesehen.

Die Frist ist gewahrt, wenn vor Ablauf der 6Monate das Beschwerdeschreiben versandtwird. Maßgeblich ist das Absendedatum derersten schriftlichen Eingabe des Beschwerde-führers. Dieser trägt somit nicht das Postlauf-risiko. Die Kommission stellt regelmäßig aufdas Datum des Poststempels ab. Die Beschwer-de ist rechtzeitig eingelegt, auch wenn ergän-zende Nachfragen seitens der Kommissionnotwendig sind. Ausreichend ist, daß bereitsmit dem ersten Schreiben der Beschwerde-grund hinreichend klar umrissen ist.

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10. Form

■ 41 Die Beschwerde ist schriftlich einzule-gen. Sie ist vom Beschwerdeführer bzw. sei-nem Vertreter zu unterzeichnen. Sie kann indeutsch abgefaßt werden. Weitere Formaliensind nicht zu beachten.

Um das Verfahren zu beschleunigen und wei-tere Nachfragen überflüssig zu machen, soll-te die Beschwerde eine ausführliche Sach-verhaltsdarstellung beinhalten, die eineBeurteilung sämtlicher Zulässigkeitsvoraus-setzungen möglich macht. Hierzu gehört ins-besondere auch die Darstellung des inner-staatlichen Verfahrensgangs und das Datumder abschließenden Entscheidung. Sinnvoll ist,bereits bei Beschwerdeeinlegung sämtlicheUnterlagen, insbesondere die angegriffenenUrteile und Hoheitsakte, in Fotokopie beizu-fügen.

■ 42 Eine rechtliche Einordnung sollte zu-mindest insoweit erfolgen, als die Art dergeltend gemachten Konventionsverletzungdargestellt wird. Das genaue Zitat des verletz-ten Artikels der Konvention sollte nicht feh-len, auch wenn die Konventionsorgane spä-ter die Konventionswidrigkeit bezüglichanderer Vorschriften feststellen sollte.

Amtliche Schriftstücke der Konventionsorga-ne werden nur in einer der beiden Amtsspra-chen Englisch oder Französisch zugestellt.Der Beschwerdeführer sollte von Beginn andeutlich machen, welche der beiden Sprach-en er bevorzugt.

Weist die Beschwerde insofern Mängel auf,wird der Beschwerdeführer zumeist daraufhingewiesen, ein beigefügtes ausführlichesFormblatt nachträglich auszufüllen.

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C. DIE MATERIELLEN REGELUNGEN DER MENSCHENRECHTSKONVENTION

■ 43 Die MRK verbürgt in Art. 2 bis 8 grund-legende Menschenrechte. Der Katalog reicht– ähnlich wie der des Grundgesetzes – vonder Meinungs- und Religionsfreiheit über dasRecht auf Privatheit bis zur Versammlungs-freiheit und allgemeinen Diskriminierungs-verboten. Besondere Bedeutung für die täg-liche Arbeit des Strafverteidigers haben dieArt. 5 und 6 MRK, die hier ausschließlichbehandelt werden. Deren Anwendung undAuslegung durch die Konventionsorgane stel-len unmittelbare Leitlinien für den Umgangmit dem deutschen Strafprozeßrecht dar.

■ 44 Art. 6 MRK formuliert rechtsstaatlich-e Mindestgarantien eines Strafprozesses.Hierzu gehört das Prinzip der Unschuldsver-mutung ebenso wie das Gebot der Öffentlich-keit der Hauptverhandlung sowie das Gebotder Beschleunigung des Verfahrens; Art. 6konstituiert das allgemeine Prinzip des fair-en Verfahrens ebenso wie einige seiner kon-kreten Ausprägungen: die unverzüglicheKenntnis vom Ermittlungsvorwurf, die aus-reichende Zeit und Gelegenheit, seine Ver-teidigung – ggf. mit Hilfe eines Verteidigers– vorzubereiten, u.U. einen Dolmetscher bei-zuziehen und entsprechend dem Grundsatzder Waffengleichheit des Verfahrens Belas-tungszeugen unmittelbar zu befragen oder be-fragen zu lassen. Darüber hinaus regelt Art.5 MRK die allgemeinen Freiheitsrechte so-wie die Grenzen der Beschränkungen durchdie Untersuchungshaft.

Die folgende Darstellung verzichtet weitge-hend auf eine Auseinandersetzung mit wider-streitenden Literaturansichten zur MRK-Auslegung. Praktisch relevant – weil imZweifel einen Strafrichter allein überzeugend– ist die Rechtsprechung des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte. Die ent-sprechenden Zitatstellen beschränken sich aufdiejenigen Entscheidungen, die von Zeitschrif-

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ten ins Deutsche übersetzt worden sind unddamit für den Verteidiger verfügbar sind.

I. Strafprozessuale Verfahrensgarantiendes Art. 6 MRK1. Die Unschuldsvermutung

■ 45 Mit der Konstituierung des Prinzips derUnschuldsvermutung nimmt die MRK in Art.6 Abs. 2 Formulierungen auf, die schon seitder Französischen Revolution im Jahre 1789zum festen Bestand moderner rechtsstaatlich-er Strafrechtspflege gehören. Das Prinzip istebenso unbestritten wie sein Inhalt unge-klärt. Weder der Konventionstext noch diebislang vorliegenden Entscheidungen des Ge-richtshofs haben zu konkreten Leitlinien undrichterlichen Handlungsanweisungen in be-stimmten prozessualen Situationen geführt.Die Diskussion um Einzelprobleme gibt demVerteidiger jedoch ausreichend Anlaß, unterErläuterung dieses allgemeinen Prinzips de-duktiv argumentierend tätig zu werden.

■ 46 Unstreitig steht die Unschuldsvermu-tung in engem Zusammenhang mit der Ga-rantie eines formalen rechtsstaatlichenStrafverfahrens. Die Unschuldsvermutunggewährleistet die Einhaltung eines justizför-mig geordneten Verfahrens, welches allein dieGrundlage der Verhängung einer Strafsank-tion bilden kann. Wird die Unschuld des An-geklagten erst bis zum gesetzlichen Nachweisder Schuld vermutet, so steht hiermit dasRecht des Beschuldigten in Einklang, denstaatlichen Strafanspruch in einem rechts-staatlichen, fairen Verfahren abzuwehren undsich angemessen zu verteidigen. Das Prinzipformuliert einen für das Gericht verbindlich-en Ausgangspunkt der Schuldbewertung underzwingt somit ein prozeßordnungsgemäßesVerfahren zum Beweis des Gegenteils.

Die Unschuldsvermutung schützt den Bürgervor einem unbewiesenen strafrechtlichenSchuldvorwurf durch staatliche Behörden. DerAchtungsanspruch der Menschenwürde ver-

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bietet, strafrechtliche und in ihrer Wirkungähnliche Sanktionen lediglich aufgrund einerVerdachtslage festzulegen. Er konstituiert dasMonopol des Strafrichters auf Feststellungstrafrechtlicher Schuld.

■ 47 Aus dem Prinzip der Unschuldsvermu-tung lassen sich kaum konkrete Maßstäbe fürdie Art des formalen rechtsstaatlichen Verfah-rens ableiten. Weder beinhaltet das PrinzipEntscheidungsregeln, die der richterlichenÜberzeugungsbildung von der Schuld des An-geklagten vorgegeben sind, noch verbietet dieUnschuldsvermutung vor einer Verurteilungdas Ergreifen sichernder Maßnahmen, wiebeispielsweise der Untersuchungshaft. Es istvom Gerichtshof mehrfach als selbstverständ-lich dargestellt worden, daß es der Beschul-digte eines Strafverfahrens trotz formalerBerufung auf die Unschuldsvermutung hinzu-nehmen habe, daß er zur Sicherung des Straf-verfahrens Einbußen bei der Grundrechtsaus-übung hinzunehmen habe. Das Verbot derSchuldantizipation wirkt allerdings insofernregulierend, als es in die Bewertung der Ver-hältnismäßigkeit einfließt: Jede vorläufigeMaßnahme durch das Gericht ist stets von derÜberlegung zu begleiten, ob diese dem mög-licherweise Unschuldigen äußerstenfalls zu-gemutet werden darf.

■ 48 Da die allgemeine Verfahrensstrukturnach der StPO den geforderten rechtsstaatlich-en Mindesstandards der MRK entspricht, hat-ten Kommission und Gerichtshof bislang eineVerletzung der konventionsrechtlich garan-tierten Unschuldsvermutung durch den Kerndes deutschen Strafverfahrens nicht festge-stellt. Auch hinsichtlich anderer Rechtsord-nungen waren die Organe bislang zurückhal-tend. Problematisiert wurden in den meistenvorliegenden Entscheidungen nicht die Abläu-fe strafrechtlicher Hauptverfahren, sondernhoheitliche Maßnahmen, die in ihrem Charak-ter dem Strafverfahren ähneln und/oder Wir-kungen erzielten, die einer strafrechtlichenSanktion gleichkamen. In zahlreichen Einzel-fällen bemühte sich die Rechtsprechung, bei

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Vorliegen einer sanktionsähnlichen Maßnah-me eine Trennungslinie zwischen einer Ver-dachtslage einerseits und der Beschreibungenvon Schuldfeststellungen andererseits zu zieh-en. Nur wenn – wie im letzteren Fall – die be-anstandete Maßnahme einer Behörde odereines Gerichts auf einen Sachverhalt zurück-zuführen ist, der einer Schuldfeststellunggleichkommt (ohne daß sie auf einem forma-len Strafverfahren beruht), hat das Gerichteine Verletzung der Konventionsvorschriftenfestgestellt.

■ 49 Eindeutig Stellung bezogen hat der Ge-richtshof zur Frage, ob die Unschuldsvermu-tung Konsequenzen für die Exekutive (z. B.die Staatsanwaltschaft) nach sich zieht. Sowurde nach Ansicht des Gerichtshofs das Prin-zip der Unschuldsvermutung in einem gegenFrankreich gerichteten Fall eindeutig verletzt,bei dem der Beschwerdeführer während desErmittlungsverfahrens von dem amtierendenfranzösischen Innenminister und einem lei-tenden Polizeibeamten in einem Fernsehinter-view als Anstifter zu der Ermordung einesbekannten Politikers bezeichnet wurdeII. DerGerichtshof bejahte eine Verletzung von Art.6 Abs. 2 MRK, weil unter Beachtung der Un-schuldsvermutung die Exekutive Zurückhal-tung bei öffentlicher Informationserteilungzu üben habe. Ein Schadensersatz von 2 MioFF wegen immateriellen Schadens wurde demBeschwerdeführer zugesprochenIII. Zumin-dest denkbar erscheint dem Gerichtshof aucheine der Unschuldsvermutung entnommeneVerpflichtung des Staates, einer der Fairneßdes Strafverfahrens widersprechenden hefti-gen Pressekampagne entgegenzusteuernIV.

■ 50 Zusammenfassend ergibt sich der Ein-druck, daß der Gerichtshof Verletzungen ge-gen die Unschuldsvermutung vornehmlichnicht im Strafprozeß selbst sucht, sondern instaatlichem Agieren außerhalb dieses exklusi-ven Forums zur Feststellung von strafrecht-licher Schuld. Dem Reiz, aus diesem Prinzipkonkrete Beweisregeln für das Strafverfah-ren bis hin zum Grundsatz in dubio pro reo

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zu entwickelnV, hat der Gerichtshof bislangwiderstanden. Aus der Unschuldsvermutungwurden bislang keine Anweisungen für dierichterliche Überzeugungsbildung entnom-men. Dagegen wird staatliches Handeln außer-halb des Strafprozesses – sei es bei Haft- oderEntschädigungsfragen, in Zivilprozessenoder bei Maßnahmen der Exekutive – häufigpräzise dahingehend untersucht, ob der be-troffene Bürger faktisch als ”schuldig” behan-delt wird.

Unmittelbaren Einfluß auf strafgerichtlicheEntscheidungen in Deutschland hat die Recht-sprechung des Gerichtshofs in zwei Bereich-en: Problematisch ist die Verletzung der Un-schuldsvermutung bei Nebenentscheidungenwie die Auferlegung von Kosten oder zur Haft-entschädigung; zum anderen wurde sie beider Frage des Bewährungswiderrufs aufgrundneuer – nicht rechtskräftig festgestellter –Straftaten relevant.

a) Kosten- undEntschädigungsentscheidungen

■ 51 Ob belastende Nebenentscheidungendas Prinzip der Unschuldsvermutung verletz-en, diskutierten Kommission und Gerichtshofanhand zahlreicher Fälle seit ca. 20 Jahren.Dabei hatte die Kommission nicht selten wei-tergehende Ansichten vertreten als der Ge-richtshof. Die Auseinandersetzungen sind wei-ter im Fluß, und auch der Gerichtshofs istoffensichtlich bereit, in jedem ihm unterbrei-teten Fall andere Akzente zu setzen.

Die meisten Beschwerdeführer fühlen sich inihren Rechten dadurch verletzt, daß sie bei-spielsweise trotz eines Freispruchs mit Ge-richtskosten belastet werden oder zumindestTeile ihrer eigenen Auslagen zu tragen haben.Gleiche Folgen haben häufig Einstellungenvon Strafverfahren, die allein auf prozeßöko-nomischen Erwägungen beruhen. Auch dieVerweigerung von Haftentschädigungen wirdgerügt.

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■ 52 Auch Einstellungen eines Ermitt-lungs- oder Strafverfahrens, in denen keiner-lei endgültige Schuldfeststellungen getroffenworden sind, können nach Ansicht des Ge-richtshofs den Schutzbereich der Unschulds-vermutung tangierenVI. Schlichte Kosten-nachteile allein sollen allerdings niemalskonventionswidrig sein. Gerichtlichen Ent-scheidungen fehle insoweit das sozialethischeUnwerturteil. Literaturstimmen mögen zuRecht auf die faktische Sanktionswirkung vonKostenentscheidungen und das grundsätzlichentschädigungspflichtige Sonderopfer derInanspruchnahme eines Beschuldigten ver-weisenVII, angemessene Kostenverteilungs-regelungen sind bislang noch nie vomGerichtshof beanstandet worden. Konven-tionswidrig können jedoch Entscheidungensein, wenn die Kostennachteile sich alsübermäßige, willkürlich erscheinende Be-lastung des Freigesprochenen – oder jeden-falls nicht Verurteilten – darstellen. Hier kannes zu Konstellationen kommen, in denen dernicht Verurteilte ohne Schuldfeststellungpraktisch wie ein Verurteilter behandeltwird.

■ 53 Eine erste Konventionsverletzung aufdieser Grundlage stellte der Gerichtshof imFall Minelli festVIII. Ohne daß es in diesemFall zu einem Urteil gekommen war, war dasPrivatklageverfahren gegen den Beschuldig-ten wegen Verfolgungsverjährung eingestelltworden und er hatte die gesamten Kosten –auch die Auslagen des Anzeigenerstatters –zu tragen. Zur Begründung der Kosten-ent-scheidung hatte das Gericht auf den mut-maßlichen Prozeßausgang abgestellt. DasSchweizer Gericht verneinte die Verletzungdes Prinzips der Unschuldsvermutung undberief sich darauf, daß die Kostenentschei-dung lediglich eine Würdigung der gegensei-tigen Prozeßchancen enthielt.

Diesem Eindruck widersprach der Gerichts-hof. Nach seiner Meinung wird die Unschulds-vermutung verletzt, wenn, ohne daß der An-geklagte vorher auf gesetzliche Weise fürschuldig befunden wurde und ohne daß er

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Gelegenheit gehabt hätte, seine Verteidigungs-rechte auszuüben, eine gerichtliche Entschei-dung die Auffassung wiedergibt, er sei schul-dig. Dies gilt auch, wenn kein formellesUrteil ergeht. Der Gerichtshof stellte aus-drücklich fest, daß es zur Verletzung derUnschuldsvermutung ausreicht, wenn eineBegründung des Gerichts den Gedanken auf-kommen läßt, das Gericht betrachte den Ange-klagten als schuldig.

■ 54 Entscheidend war und ist für den Ge-richtshof der Gesamteindruck gerichtlichenHandelns: Erweckt das Gericht mit der Kos-tenentscheidung den Eindruck, ”im Kern”IX

Schuldfeststellungen ohne die Durchführungdes notwendigen formellen Verfahrens zu tref-fen, ist auch im Rahmen von Nebenentschei-dungen die Unschuldsvermutung verletzt.Maßgeblich für diesen Gesamteindruck sinddie tatsächlich erlittenen Nachteile des Be-schuldigten sowie die aus den Formulierung-en des Gerichts deutlich werdende Schuldbe-wertung.

■ 55 Bei einigen Fällen in den 80er Jahrenhing die Entscheidung des Gerichtshofs offen-sichtlich von der Formulierungskunst der an-gefochtenen nationalen Gerichtsentscheidung-en ab. Als zulässig und konventionskonformwurden beispielsweise Kostenentscheidungenmit folgenden Begründungen erachtet:

- ”Nach Lage der Akten wäre der Betroffenemit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt worden”.

- ”... überwiegen die Umstände, welche die Unschuldsvermutung entkräften, derart, daß eine Verurteilung deutlich wahrschein-licher ist als ein Freispruch”.

- ”... weil nach den Ausführungen im erstin-stanzlichen Urteil es wesentlich wahr-scheinlicher war, daß es zu einer Verurtei-lung des Angeklagten gekommen wäreX”.

Da für die Abgrenzung von Schuldprognosenund SchuldfeststellungenXI fixe Kriterien feh-len, kam es auch in diesen Fällen häufig zu

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abweichenden Entscheidungen der Kommis-sion oder einzelner Richter, die darauf verwie-sen, daß Kostenentscheidungen am Endeeiner strafrechtlichen Verfolgung sehr wohleindeutige Schuldfeststellungen signalisier-en können, ohne daß der Beschwerdeführerdie ausreichende Gelegenheit hatte, die vonihm stets geleugnete Schuld in einem rechts-staatlichen Verfahren feststellen zu lassenXII.Liegt bereits eine – wenn auch nicht rechts-kräftige – gerichtliche Verurteilung ersterInstanz vor, so werden Kostenentscheidungenzu Lasten des Angeklagten selten kritikwür-dig sein. So stellte der Gerichtshof keinenKonventionsverstoß fest, nachdem dem in derBerufungsinstanz verstorbenen und in ersterInstanz verurteilten Angeklagten (bzw. seinenErben) die Verfahrenskosten ohne abschlie-ßendes Schuldurteil auferlegt worden wa-renXIII.

■ 56 Eine bemerkenswerte Verletzung desPrinzips der Unschuldsvermutung hat der Ge-richtshof in einem gegen Österreich gerich-teten Fall festgestelltXIV. Der Beschwerdefüh-rer war vom Strafgericht vom Vorwurf desMordes rechtskräftig freigesprochen worden.In einem späteren hiervon getrennten Verfah-ren wegen Entschädigung für die erlittene Un-tersuchungshaft entschied das LandgerichtLinz, daß ihm diese zu verwehren sei. Nachösterreichischem Recht seien die Voraussetz-ungen für eine Entschädigung nur erfüllt,wenn alle gegen den Verhafteten sprechendenVerdachtsmomente widerlegt worden seien,so daß sie aufgehört haben, ein Argument fürdie Schuld des Angeklagten zu bilden. Dieauch bei dem Freispruch nach wie vor be-stehenden Restzweifel sollten angeblich beider Entschädigung dazu führen, daß der Frei-gesprochene keinerlei Ersatzleistungen erhal-ten sollte.

In diesem Fall appellierte der Gerichtshof andie Vorgabe des freisprechenden Urteils, dasaufgrund eines rechtsstaatlichen Verfahrensergangen war. Der Ausspruch von Verdächti-gungen ist auch im Einklang mit der Un-schuldsvermutung denkbar, solange ein Straf-

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verfahren nicht mit einer Entscheidung überdie Begründetheit der Anklage geendet hat.Es ist jedoch nicht mehr zulässig, sich auf sol-che Verdächtigungen zu berufen, sobald einFreispruch rechtskräftig geworden ist. Eigen-ständige Schuldfeststellungen sind dem Ge-richt im Verfahren über Haftentschädigungendamit grundsätzlich verwehrt.

b) Bewährungswiderruf bei dem Verdachtneuer Straftaten

■ 57 In einem weiteren Problembereich rück-te das Prinzip der Unschuldsvermutung plötz-lich in den Mittelpunkt des allgemeinen straf-prozessualen Interesses: Während noch inden 80er Jahren die gesamte höchstrichter-liche Rechtsprechung in der Bundesrepublikdavon ausging, daß grundsätzlich keine Be-denken dagegen bestehen, einen Bewährungs-widerruf lediglich aufgrund des Verdachtseiner neuen Straftat gemäß § 56 f StGB zu er-lassen, brachte im Jahre 1989 das VerfahrenGrabemann gegen die Bundesrepublik Deut-schland vor der Kommission eine neue Dis-kussion in Gang. Die Beschwerde wurde vonder Kommission als zulässig erachtet, eineEntscheidung des Gerichtshofs erging jedochnicht, da sich die Verfahrensbeteiligten ver-glichen.

■ 58 Die Bundesrepublik verpflichtete sichin diesem Vergleich, die Landesregierungendarauf hinzuweisen, daß bei der künftigen An-wendung des § 56 f StGB die Unschuldsver-mutung gemäß Art. 6 Abs. 2 der Konventionzu beachten sei; darüber hinaus sollte über-prüft werden, ob nicht durch gesetzgeberischeMaßnahmen eine konventionskonforme An-wendung des § 56 f StGB sichergestellt wer-den könne. Gesetzgeberische Initiativen steh-en nach wie vor aus. Die Bekanntgabe desVergleichs hat jedoch zu einer kontroversen,bis heute nicht einheitlich gehandhabten Aus-legung des § 56 f StGB geführt. Währendeinige Oberlandesgerichte an der alten PraxisfesthaltenXV, machen andere Gerichte nun-mehr die Möglichkeit des Widerrufs von einer

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rechtskräftigen Aburteilung der neuen Straf-tat abhängigXVI.

Das Problem wird in seiner ganzen Breite er-örtert. Die Anhänger der Meinung, die einerechtskräftige Verurteilung vor dem Widerruffordern, weisen u. a. auf entsprechende aus-drückliche Gesetzesvorschriften in den Nach-barländern hin. Demgegenüber führt dieGegenseite beispielsweise an, daß eine vorran-gige rechtskräftige Verurteilung zu System-widersprüchen im Rahmen des Bewährungs-widerrufs führen würde; wenn beispielsweiseschon ein bloßer Verstoß gegen Bewährungs-auflagen (wie z. B. Meldung des Wohnungs-wechsels) ausreichenden Anlaß zum Wider-ruf bieten kann, dürfen Anforderungen andie Feststellungen einer neuen Straftat nichtüberspannt werden. Beide Ansichten streitenjedoch im Kern über die Tragweite der Un-schuldsvermutung.

■ 59 Zwar können sich die Befürworter derneuen Ansicht auf den Wortlaut des Art. 6Abs. 2 MRK berufen, wonach der Angeklagtebis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuldals unschuldig zu gelten hat, die neuere Ent-wicklung der Rechtsprechung der Organe derMRK stützt diese Ansicht allerdings nicht(mehr) vorbehaltlos. In einer Entscheidungder Kommission vom 9.10.1991XVII geht die-se wie selbstverständlich davon aus, daß ent-gegen der ursprünglichen Tendenz, die zudem zitierten Vergleich mit der Bundesrepu-blik geführt hatte, der Widerruf einer Bewäh-rung sehr wohl auch ohne Verstoß gegen dieUnschuldsvermutung in einer Phase möglichist, in der die neue vorgeworfene Straftatnoch nicht rechtskräftig abgeurteilt wordenist. Hintergrund dieser Entscheidung magzum einen die Überlegung sein, daß der inder Konvention geforderte ”gesetzliche Nach-weis der Schuld” nicht identisch ist mit demrechtskräftigen Abschluß des Verfahrens. Aufder anderen Seite fügt sich diese Entschei-dung der Kommission in die allgemeineRechtsprechungstendenz, daß der Grundsatzin vollem Umfang nur für ausdrückliche rich-terliche Feststellungen der Schuld gilt. Dem-

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gegenüber sollen Prognoseentscheidungennach wie vor möglich sein. Trotz der unwider-ruflichen Folgen eines Bewährungswiderrufsordnet die Kommission offensichtlich dieseEntscheidung ebenfalls den zulässigen Prog-nosen zu.

Auch bei der Bewertung eines Bewährungs-widerrufs anhand des Maßstabes des Art. 6Abs. 2 MRK ist hiernach im Einzelfall zuüberprüfen, ob das widerrufende Gericht denErkenntnissen zu der neuen Straftat lediglicheinen indiziellen Charakter beimißt oder obes – konventionswidrig – davon ausgeht, dieNachtat sei bereits erwiesen.xviii

■ 60 In der angeführten Entscheidung derKommission wurde der Bewährungswiderrufu. a. deswegen nicht gerügt, weil die Überzeu-gungsbildung des widerrufenden Gerichts aufeinem Geständnis der neuen Tat des Ange-klagten beruhte, das dieser in Anwesenheitseines Verteidigers vor einem Untersuchungs-richter abgegeben hatte. Diesen Leitlinien ha-ben sich auch Oberlandesgerichte angeschlos-senXIX. Sind diese engen Voraussetzungennicht gegeben, lohnt sich für den Verteidigernach wie vor die Berufung auf die Unschulds-vermutung und deren Interpretation durchden Gerichtshof.

2. Anspruch auf Bekanntgabe derBeschuldigung

■ 61 In Art. 6 Abs. 3 MRK zählt der Konven-tionstext beispielhaft Mindeststandards auf,welche ein rechtsstaatliches Strafverfahrenausmachen. Hierzu gehört nach Abs. 3Buchst. b die ausreichende Zeit und Gelegen-heit des Angeklagten zur Vorbereitung seinerVerteidigung. Darüber hinaus fordert Abs. 3Buchst. a, daß der Angeklagte innerhalb mög-lichst kurzer Frist in einer für ihn verständ-lichen Sprache in allen Einzelheiten über dieArt und den Grund der gegen ihn erhobenenBeschuldigung in Kenntnis gesetzt werdenmuß. Der Text von Abs. 3 Buchst. a legt die

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Konstituierung sehr weitgehender Rechte desBeschuldigten nahe, die auch für den Verteidi-ger des deutschen Strafverfahrens fruchtbargemacht werden könnten. Das Vorbild dieserVorschrift wurzelt in angelsächsischen Vor-stellungen zum Strafverfahren, in denen gera-de die frühzeitige Offenbarung des Ermitt-lungsgegenstandes eine große Rolle spielt.Leider haben die Zufälligkeiten der kasuisti-schen Behandlungen durch die Konventions-organe in der Vergangenheit nicht zu einerfür das deutsche Recht präzisierenden Ausle-gung geführt. Es sind im Gegenteil Tenden-zen erkennbar, diese unverzügliche Unterrich-tungspflicht ausschließlich im Hinblick aufdas allgemeine Recht des Angeklagten auszu-legen, ausreichend Gelegenheit zur Verteidi-gungsvorbereitung zu haben.

Der Umfang der Hinweispflicht wird schon imKonventionstext unmißverständlich deutlich:Sowohl die Art der Beschuldigung, d. h. diePräzisierung des vorgeworfenen Straftatbe-standes, als auch der Grund der Beschuldi-gung, d. h. der den Vorwurf tragende Sach-verhalt, soll dem Beschuldigten offenbartwerden. Nur wer in dieser Genauigkeit den”Angriff” der hoheitlichen Gewalt realisiert,kann sich hiergegen verteidigen. Jeden Ansatzzu verwischender Pauschalität versucht dieKonvention mit der strikten Anweisung zuunterbinden, daß diese Unterrrichtung ”inallen Einzelheiten” vorzunehmen ist.

Die im Text vorgegebene ”möglichst kurzeFrist” zur Informationserteilung über den Er-mittlungsvorwurf scheint sich in der Praxisder Rechtsprechung auf eine ergänzende Aus-legung des Art. 6 Abs. 3 Buchst. b MRK zureduzieren. Die Frage, ob der Anspruch aufInformationserteilung bereits umfassende Gel-tung auch im Ermittlungsverfahren für sichbeanspruchen kann, ist bislang allgemeinnicht entschieden worden. Zumindest in denälteren Entscheidungen ist Bezugspunkt fürdie zeitliche Dimension die Hauptverhandlungvor Gericht. Klare Rechtsprechungspositionist aber auch die allgemeine Auslegung derKonvention, wonach entgegen dem mißver-ständlichen Text der deutschen Übersetzung

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die Verteidigungsrechte des Art. 6 nicht aufdas Gerichtsverfahren beschränkt sind (s. un-ten § 17 Rn 118 ff.). Auch das Recht auf Infor-mationserteilung setzt damit keine formelleAnklage, sondern lediglich eine materielleBeschuldigung voraus. Andererseits werdenVerteidigungsgarantien im Ermittlungsverfah-ren durch den Gerichtshof maßgeblich im Hin-blick auf ihre Relevanz in der späteren ge-richtlichen Hauptverhandlung ausgelegt.Diesem Grundsatz folgend spricht angesichtsder Bedeutung der Offenbarung der Beschuldi-gung vieles dafür, entgegen einer weitverbrei-teten Praxis in Deutschland den Anspruch aufsofortige Informationserteilung auch im Er-mittlungsverfahren umfassend zu gewähr-leisten – mit der einzigen Einschränkung derkonkret möglichen Gefährdung von Ermitt-lungsmaßnahmenXX.

3. Ausreichende Vorbereitung zurVerteidigung des Angeklagten

■ 62 Der Anspruch auf Vorbereitung der Ver-teidigung dient der Realisierung deren Effek-tivität: Zum einen muß ausreichend Zeit zurVerfügung stehen, zum anderen müssen dieobjektiven Umstände eine Verteidigungsvor-bereitung ermöglichen. Ob die Vorberei-tungszeit ausreichend ist, hängt von Umfangund Schwierigkeit der Sach- und Rechtslageim Einzelfall ab. So wurde eine Rechtsmittel-begründungsfrist von fünf Tagen vom Ge-richtshof als Verletzung des Art. 6 Abs. 3Buchst. b MRK eingestuftXXI; demgegenüberwurde die zweiwöchige Revisionsbegrün-dungsfrist der deutschen Strafprozeßordnungalter Fassung für ausreichend erachtet. Aus-schlaggebend für letztere Entscheidung warjedoch die Tatsache, daß die Verteidigung indiesem Stadium ohnehin mit dem Fall bereitsausreichend vertraut sei. In einer Entschei-dung zu den ebenfalls starren Revisionsbe-gründungsfristen der österreichischen Straf-prozeßordnung deutete der Gerichtshof an,daß dies im konkreten Einzelfall zu Konven-tionsverletzungen führen könne. Die Einarbei-tung eines neuen Verteidigers in den Prozeß-

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stoff nach einer kurzen Unterbrechung derHauptverhandlung und die Verurteilung desAngeklagten (zu einer lebenslangen Freiheits-strafe) schon nach vier weiteren Tagen istebenso zu kurzXXII wie die erstmalige Kennt-nis eines komplexen Verfahrens drei Tage vorBeginn der HauptverhandlungXXIII.

Soweit der Gerichtshof bislang in konkretenEinzelfällen die Länge der Vorbereitungszeitzu beurteilen hatte, wurde Art. 6 Abs. 3Buchst. b MRK sehr eng ausgelegt. Auch kur-ze Ladungsfristen wurden häufig nicht alsKonventionsverletzung mit der Begründunggerügt, im Ergebnis sei eine Behinderung derVerteidigung nicht dargetan worden.

■ 63 Keine gerichtlichen Stellungnahmen lie-gen bislang zu der Frage vor, ob und inwieweitsogenannte Schnellverfahren die Vorberei-tungszeit der Verteidigung in konventionswid-riger Weise verkürzen.

Die Frage, ob dem Beschuldigten ausreichen-de Gelegenheit zur Verteidigungsvorbereitunggegeben wurde, ist bislang von den Organenvornehmlich im Hinblick auf die Einschrän-kung des Verkehrsrechts des inhaftiertenBeschuldigten mit seinem Verteidiger erör-tert worden. Offensichtlich beeindruckt durchdie Notwendigkeit der Terroristenbekämpfunghatte der Gerichtshof die Regelungen desdeutschen Kontaktsperregesetzes ebenso un-beanstandet gelassen wie vergleichbare Rege-lungen in anderen Rechtsordnungen. Zwarsetzt nach dieser Rechtsprechung die ausrei-chende Gelegenheit zur Vorbereitung der Ver-teidigung voraus, daß der Angeklagte seinenVerteidiger konsultieren kann. Die zeitweiligeBeschränkung dieser Konsultation auf denSchriftverkehr und sogar dessen gerichtlicheKontrolle sollen ebensowenig konventionswi-drig sein wie die Erschwernis des unmittel-baren Kontaktes durch Verlegung in ein an-deres Gefängnis oder das Einführen einerTrennscheibe. Der Gerichtshof betont zwarstets den Ausnahmecharakter derartiger Ein-schränkungen und die Berücksichtigung des

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Beschwer-den wurden jedoch nicht positiv beschieden.

■ 64 Ist der Beschuldigte auf freiem Fuß undist der Zeitraum der Vorbereitung nicht zuknapp bemessen, liegt es nach Ansicht desGerichtshofs maßgeblich im Verantwortungs-bereich des Beschuldigten selbst, sich um dieAuswahl seines Verteidigers und um die Be-schaffung von Beweismitteln zu kümmern. Erhat diese Möglichkeiten in Eigenverantwor-tung auszuschöpfen; nutzt er die Möglichkei-ten nicht und wird er durch staatliche Maß-nahmen nicht an zulässigen Aktitivitätendieser Richtung gehindert, kann er sich nichtauf Konventionsverletzungen berufen.

■ 65 Das Recht auf Akteneinsicht leitet dieKommission ebenfalls aus Art. 6 Abs. 3Buchst. b MRK ab. Daß dies spätestens mitder Anklageerhebung besteht, ist auch nacheuropäischem Standard unbestritten. Der Um-fang der Akteneinsicht bezieht sich auf sämt-liche Dokumente der Anklagebehörde, die alleauch für die Entlastung des Angeklagtenbedeutsamen Ermittlungsergebnisse enthaltenmüssen. Alle Unterlagen der Ermittlungsbe-hörde sind dem Verteidiger zur Verfügung zustellen, die sich auf die Begehung und die Um-stände der Tat sowie auf die subjektiven Tatbe-standselemente wie das Tatmotiv und das Un-rechtsbewußtsein beziehenXXIV. Das Rechtauf Akteneinsicht ist kein Privileg des Vertei-digers. Wenn eine sachgerechte Verteidigungvon der Kenntnis des Akteninhalts abhängt,kann auch der unverteidigte Beschuldigteverlangen, daß ihm Akteneinsicht gewährtwirdXXV.

Auch wenn vieles dafür spricht, über die Re-gelung der deutschen StPO hinaus aus Art. 6Abs. 3 Buchst. b MRK das allgemeine Rechtdes Beschuldigten abzuleiten, schon im Er-mittlungsverfahren unverzüglich und um-fassend über den Vorwurf informiert zu wer-denXXVI, klammerte der Gerichtshof bislangdie Möglichkeit des Akteneinsichtsrechtsschon vor der Anklageerhebung bei der Erör-terung des Art. 6 Abs. 3 Buchst. b MRK aus.

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Hier ist ggf. auf den Grundsatz des fairen Ver-fahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) oder auf die Rechte des Inhaftierten aus Art. 5 MRKzurückzugreifen.

4. Das Recht auf Verteidigung

■ 66 Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK garantiertdem Angeklagten drei Rechte: Sich selbst zuverteidigen, den Beistand des Verteidigers sei-ner Wahl zu erhalten und, unter bestimmtenBedingungen, unentgeltlich den Beistand ei-nes Pflichtverteidigers zu erhalten. Folglichmuß ein Angeklagter, der sich nicht selbstverteidigen möchte, die Möglichkeit haben,auf den Beistand eines Verteidigers seinerWahl zurückzugreifen; wenn er nicht über dieMittel verfügt, einen Verteidiger zu bezahlen,so erkennt die Konvention ihm das Recht zu,unentgeltlichen Beistand eines Pflichtvertei-digers zu erhalten, wenn dies im Interesse derRechtspflege erforderlich istXXVII.

Die MRK garantiert somit ein absolutesRecht des Beschuldigten auf Verteidigung.

■ 67 Die Konventionsorgane weisen aberauch in diesem Zusammenhang auf die Eigen-verantwortlichkeit des Beschuldigten hin.Mit dem Recht der freien Verteidigerwahl kor-respondiert seine Verantwortlichkeit, im Nor-malfall selbst für seinen wirksamen anwalt-lichen Beistand zu sorgen. Er hat für dessenVergütung ebenso zu sorgen wie für dessenErscheinen an dem ihm bekannten Hauptver-handlungstermin. Erscheint der Wahlvertei-diger nicht in der Hauptverhandlung, so kannauch nach Ansicht des Gerichtshofs nach ei-ner gewissen Wartezeit die Verhandlung ohneden Anwalt durchgeführt werdenXXVIII.

■ 68 Der Beschuldigte ist auch für die Quali-tät der Verteidigungsleistungen seines Wahl-verteidigers mitverantwortlichXXIX. Nur inAusnahmefällen der offensichtlichen Versäu-mung von Verteidigungspflichten durch denAnwalt ist das Gericht zum Eingreifen ge-

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zwungen. Eine Konventionsverletzung liegtbeispielsweise vor, wenn das Gericht taten-los zusieht, wie der Pflichtverteidiger schonim Ermittlungsverfahren offensichtlich überMonate gegen den Willen des inhaftierten aus-ländischen Mandanten keinerlei Aktivitätenentfaltet und damit den Beschuldigten prak-tisch verteidigungslos stellt oder ein neuerbeigeordneter Verteidiger sich in einemkomplizierten Verfahren mit 3 Tagen Vorberei-tungszeit begnügtXXX.

Wählt der Beschuldigte trotz des Rechts aufSelbstverteidigung einen Verteidiger, gibt ihmdie Konvention nicht das Recht, die Verteidi-gungsstrategie dieses Anwalts zu bestimmen.Dieser hat die Verteidigungsrechte in eigenerVerantwortung wahrzunehmen. Ggf. muß derBeschuldigte seinen Verteidiger bei unter-schiedlichen Auffassungen über die Verteidi-gungsstrategie wechseln.

■ 69 Das absolute Recht auf Verteidigung er-lischt nicht mit der Abwesenheit des Ange-klagten in der Hauptverhandlung. In der jün-geren Vergangenheit hat der Gerichtshof zweibemerkenswerte Entscheidungen getroffen, indenen die Angeklagten in der Hauptverhand-lung der Berufungsinstanz nicht anwesendwaren, teilweise sogar durch Haftbefehl ge-sucht worden waren; gleichzeitig hatten sieallerdings dem Gericht gegenüber ausdrück-lich zu erkennen gegeben, daß sie sich durchihre in der Hauptverhandlung anwesendenVerteidiger verteidigen lassen wollten. Ohnedaß die Verteidiger gehört wurden, sind dieBerufungen jeweils verworfen worden. Ob-wohl Abwesenheitsurteile nach der Konven-tion grundsätzlich nicht ausgeschlossen seinsollen, rügte der Gerichtshof in beiden Fälleneine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 Buchst. cMRK. ”Nur” weil der Angeklagte in der Haupt-verhandlung nicht anwesend ist, verliert ernicht den Genuß des Rechts auf wirksameVerteidigungXXXI. Es ist ein Gebot der Fair-neß des gesamten Strafverfahrens, dem alleinanwesenden Verteidiger – auch im Rechtsmit-telverfahren – die Gelegenheit in der Haupt-verhandlung zu geben, seinen (u.U. unent-

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schuldigt) abwesenden Mandanten zu vertei-digenXXXII. Der legitimen staatlichen Forde-rung nach Anwesenheit des Angeklagten beider mündlichen Verhandlung kann durch an-dere Maßnahmen als durch den Verlust des Rechts auf Verteidigung Nachdruck verliehenwerdenXXXIII.

Der Gerichtshof räumt damit dem Recht aufanwaltliche Vertretung Priorität ein, auchwenn der Angeklagte, aus welchen Gründenauch immer, flüchtig istXXXIV. Der Verzichtdes Angeklagten auf Teilnahme an der Haupt-verhandlung bedeutet damit nicht auch denVerzicht, sich zu verteidigen. Die Überprü-fung deutschen Prozeßrechts an diesen Maß-stäben steht noch aus.

■ 70 Die Frage, ob die Garantien des Art. 6MRK erst vom Zeitpunkt der Anklageerhe-bung an gelten sollen, hat der Gerichtshof ein-deutig verneint. Der Anspruch des Beschul-digten auf Verteidigung besteht u. U. auchschon zu einem früheren Zeitpunkt. Auchwenn der Gerichtshof von der ”Miranda”-Rechtsprechung des US Supreme Court nochentfernt ist, billigte er in einer jüngeren Ent-scheidung dem unmittelbar Verhafteten u. U.dann einen Anspruch auf sofortige Hinzuzie-hung eines Verteidigers zu, wenn diese Ver-nehmung für das gesamte Verfahren entschei-dend sein kannXXXV.

■ 71 Die Konstellation des Art. 6 Abs. 3Buchst. c MRK geht von dem ”Normalfall” aus,in dem der Angeklagte in der Lage sein soll,seine Verteidigungsrechte selbst wahrzuneh-men. Nur für diese Situation einer einfachenVerteidigung konstituiert die Konvention dasWahlrecht des Angeklagten zwischen einerSelbstverteidigung einerseits und einer Ver-teidigung durch einen Wahlverteidiger ander-erseits. Während hier die Freiheit der Heran-ziehung des Wahlverteidigers absolut ist,hängt der Anspruch des Beschuldigten aufBeistand eines Pflichtverteidigers von zweiVoraussetzungen ab: Zum einen müssen ihmdie Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers

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fehlen, zum anderen muß der Beistand des Pflichtverteidigers im Interesse der Rechts-pflege erforderlich sein.

■ 72 Die Frage der Mittellosigkeit wird nachder deutschen Strafprozeßordnung nicht zurVoraussetzung der Beiordnung eines Pflicht-verteidigers gemacht; insoweit scheint die ge-setzliche Lage großzügiger zu sein. Macht eindeutscher Angeklagter allerdings eine Verletz-ung dieser Konventionsnorm geltend, muß erentgegen der Thematisierung im nationalenVerfahren bei der Beschwerde zusätzlich aufseine Mittellosigkeit hinweisenXXXVI.

■ 73 Die Konvention verlangt bei Vorliegender Voraussetzungen, daß der Angeklagte –zumindest für den Zeitraum seiner Mittel-losigkeit – nicht mit den Kosten des Pflicht-verteidigers belastet wird. Dem könnte dieübliche Kostenfolge einer Verurteilung nach deutschem Recht entgegenstehen. DerGerichtshof hat es jedoch für ausreichend er-achtet, wenn allein durch Vollstreckungs-schutzmaßnahmen sichergestellt ist, daß dermittellose Verurteilte nicht mit diesen Kos-ten belastet wirdXXXVII, ohne allerdings kon-krete Kriterien für das Vorliegen derMittellosigkeit aufzustellen.

■ 74 Die zweite Voraussetzung einer Beiord-nung ist Gegenstand eingehenderer Präzisiongewesen. In dem Fall QuaranterXXXVIII hatder Gerichtshof bei der Feststellung einer Ver-letzung des Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK Kri-terien für das ”Interesse der Rechtspflege”an einem Beistand des Pflichtverteidigers auf-gestellt, die weitgehend an die deutsche Dis-kussion zu § 140 Abs. 2 StPO erinnern. DieSchwere der strafbaren Handlung ist hierbeiein Kriterium, wobei der Gerichtshof interes-santerweise (bei einer tatsächlichen Verurtei-lung zu 6 Monaten Freiheitsstrafe) auf diedenkbare Höchststrafe der vorgeworfenen Tatrekurriert. Die Komplexität des Falles als Bei-ordnungsvoraussetzung wurde trotz einfachgelagerten Sachverhalts bereits mit der lauf-

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enden Bewährungszeit und der Drogenabhän-gigkeit des Angeklagten begründet.

■ 75 Rechtsmittelverfahren, in denen ledig-lich rechtliche Fragen zu erörtern sind, wer-den vom Gerichtshof teilweise einschränkendbehandelt. So soll der inhaftierte Angeklagtehier keinen Anspruch auf persönliche Vertei-digung vor den Rechtsmittelgerichten haben.Sich selbst darf er allerdings dann verteidigen,wenn ihm aufgrund eines Rechtsmittels derStaatsanwaltschaft eine Verschlechterung deserstinstanzlichen Urteils drohtXXXIX.

Im Fall PakelliXL rügte der Gerichtshof es alskonventionswidrig, daß dem Revisionsführerin einem deutschen Strafverfahren zwar zurFormulierung der Revisionsbegründung einPflichtverteidiger beigeordnet worden war,nicht aber bei der Durchführung der – aus-nahmsweise – anberaumten Hauptverhand-lung vor dem BGH. Daß die sachkundige Dar-legung von Rechtsfragen zwingend die Unter-stützung eines Anwalts erfordert, bestätigteder Gerichtshof in einem gegen Großbritan-nien gerichteten FallXLI.

■ 76 Mit der Besonderheit der ”Zwangsver-teidiger” hatte sich der Gerichtshof im FallCroissantXLII zu befassen. Er billigte in dieserEntscheidung die Bestellung von Pflichtver-teidigern auch gegen den Willen des Beschul-digten, sofern dies sachlich gerechtfertigt istund nicht zu einer unzumutbaren Beeinträch-tigung der Belange des Angeklagten führe.Selbst die Gefahr, hierdurch zusätzliche Kos-ten tragen zu müssen, verletze nicht die Kon-ventionsrechte des Beschuldigten.

5. Benennung und Befragung von Zeugen

■ 77 Das Recht der Verteidigung gemäß Art.6 Abs. 3 Buchst. d MRK stellt beispielhaft dar,welche konkreten Auswirkungen das Prinzipdes fairen Verfahrens umfaßt. Ein wichtigerAusfluß dieses in Abs. 1 des Art. 6 allgemein

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formulierten Prinzips ist der der angelsäch-sischen Rechtstradition entnommene Grund-satz der ”Waffengleichheit”. Anklagebehördeund Verteidigung sollen hinsichtlich ihrer Be-einflussungsmöglichkeiten des Gerichts prin-zipiell gleichgestellt werden. Für die Fragedes Zeugenbeweises in der Hauptverhandlungtrifft hierzu Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK kon-krete Regelungen. Auch bei diesen Normenwird an angelsächsische Rechtstradition ange-knüpft: Die Unterscheidung zwischen Belas-tungszeugen und Entlastungszeugen ist denkontinentaleuropäischen Rechtsordnungennicht geläufig. Dennoch hat in zahlreichenEntscheidungen der Gerichtshof keinen Zwei-fel daran gelassen, daß auch diese Rechtsord-nungen in ihrer Gesamtheit der Realisierungder Idee der Waffengleichheit stets Rechnungtragen müssen.

■ 78 Allerdings ließ der Gerichtshof stets be-sondere Vorsicht walten, wenn er die Gesamt-heit innerprozessualer Regelungen zu Zeu-genladungen und Zeugenvernehmungen amMaßstab des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK zumessen hatte. Abgewogene Regelungen be-züglich der Zulässigkeit von Beweismitteln inden nationalen Rechten haben den Gerichts-hof niemals veranlaßt, eine konventions-widrige Gesetzeslage festzustellen.Einschränkungen von Vernehmungs- undLadungsrechten der Verteidigung wurdenhäufig als hinnehmbar betrachtet, da siedurch Rechte der Verteidigung an anderenStellen ausgeglichen werden konnten. Insge-samt mißt der Gerichtshof dem nationalenGesetzgeber einen weiten Ermessensspiel-raum bei der Wahl der Regelung einer Be-weisaufnahme in der Hauptverhandlung zu.Erst recht legt sich der Gerichtshof Beschrän-kungen auf, wenn er eine konkrete strafge-richtliche Beweisaufnahme und -bewertungzu würdigen hat. Letztlich wird nur eine ArtMißbrauchskontrolle geübt.

Der Gerichtshof hat sich allerdings nicht ge-hindert gesehen, in Fällen besonders offen-sichtlicher Ignoranz von Gerichten gegenüberBeweisbegehren der Verteidigung ausnahms-

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weise eine Konventionswidrigkeit festzustel-len. So hatte beispielsweise im Fall Vidal ./.BelgienXLIII das Berufungsgericht den in ers-ter Instanz freigesprochenen Angeklagtenohne Vernehmung von Zeugen zu einer Frei-heitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. In der Be-rufungsverhandlung hatte die Verteidigungdie Ladung von 4 Entlastungszeugen bean-tragt, die seine Unschuld hätten beweisen sol-len. Diese waren offensichtlich im Urteil desBerufungsgerichts nicht einmal erwähnt wor-den.

■ 79 Die besonderen Anwendungsproblemedes Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK zeigen sichin einer wiederholt zu entscheidenden Fall-konstellation, bei der die Strafgerichte aufZeugenaussagen des Ermittlungsverfah-rens zurückgriffen, ohne daß diese Zeugentrotz ausdrücklichen Begehrens des Angeklag-ten in der Hauptverhandlung erschienenwaren.

Ein wichtiger Faktor dafür, keine Konven-tionswidrigkeit in diesen Fällen festzustellen,war regelmäßig die vom Gericht und den Be-hörden nicht verschuldete Unmöglichkeit, denZeugen tatsächlich vor Gericht zu bringen.War ein in erster Instanz vernommener Zeugein der zweiten Instanz aufgrund von Krank-heit nicht vernehmungsfähig, war allein dasVerlesen seiner Aussage erster Instanz keinVerstoß gegen VerteidigungsrechteXLIV.

■ 80 Im Fall ArtnerXLV rügte der Beschwer-deführer, daß er niemals die Möglichkeit hat-te, die in der Hauptverhandlung nicht erschie-nene Belastungszeugin zu befragen. DieseZeugin war trotz aller Bemühungen der Poli-zei während des Laufs der Hauptverhandlungnicht ausfindig zu machen gewesen. In Ver-bindung mit der Tatsache, daß die Verurtei-lung des Angeklagten aufgrund anderweitig-en ergänzenden Urkundenbeweises erfolgte,stellte der Gerichtshof keine Konventionsver-letzung fest.

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■ 81 Welch hohen Stellenwert das unmittel-bare Fragerecht der Verteidigung für den Ge-richtshof hat, war bereits in einer früherenEntscheidung ausgearbeitet wordenXLVI. DerAngeklagte war u. a. aufgrund der Verlesungvon Zeugenaussagen verurteilt worden. Beidiesen Zeugen handelte es sich um nahe An-gehörige, die von ihrem Zeugnisverweige-rungsrecht in der Hauptverhandlung Gebrauchmachten. Nach deutschem Recht wäre zwareine derartige Verlesung bereits unzulässig,dies wird allerdings von dem Gerichtshofnicht grundsätzlich als konventionswidrig be-anstandet. Eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3Buchst. d MRK sah der Gerichtshof jedoch alsgegeben an, weil der Angeklagte weder in derHauptverhandlung noch zu einem früherenZeitpunkt im Ermittlungsverfahren Gelegen-heit hatte, Fragen an die Belastungszeuginnenzu stellen. Dabei berücksichtigte der Gerichts-hof auch, daß die Verurteilung auch auf ande-re Beweismittel gestützt worden war. Aus-reichend war jedoch die Erkenntnis, daß dieVerurteilung ”hauptsächlich” auf den verle-senen Aussagen beruhte.

■ 82 Beruht das fehlende Erscheinen desZeugen vor Gericht nicht auf der Hilflosigkeitvon Exekutive und Gericht, sondern wird be-wußt die Anonymität der Zeugen auch imVerfahren geschützt, sind die Grenzen einerVerletzung des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRKschnell erreicht. Bahnbrechend war insoweitdie Entscheidung im Fall Kostovski ./. Nieder-landeXLVII, die wegen ihrer Bedeutung auchin Deutschland veröffentlicht wurdeXLVIII.In diesem Fall waren Verurteilungen erfolgt,die sich ausschließlich auf die Verlesung vonAussagen von Zeugen stützten, welche imErmittlungsverfahren anonym vernommenworden waren. Die Verteidigung hatte Gele-genheit, die Vernehmungsbeamten und denVernehmungsrichter zu vernehmen, darüberhinaus hatte sie Gelegenheit, dem anonymenZeugen schriftliche Fragen durch die Verneh-mungspersonen vorlegen zu lassen. Dies sahder Gerichtshof jedoch nicht als ”geeignetenErsatz für eine direkte Beobachtung” an. Istder Verteidigung die Identität der Person, die

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sie befragen will, nicht bekannt, so hat siekaum die Möglichkeit vorzutragen, daß diesePerson voreingenommen, feindselig oder un-glaubwürdig sei. Die Verteidigung war daherkonventionswidrig beschränkt.

■ 83 Im Fall Windisch ./. ÖsterreichXLIX ver-tiefte und ergänzte der Gerichtshof seineRechtsprechung. Herr Windisch war wegenDiebstahls zu einer dreijährigen Freiheits-strafe verurteilt worden. Die Verurteilung warausschließlich auf die angebliche Wieder-erkennung durch Zeuginnen bei einer ver-deckten Gegenüberstellung gestützt; dieseZeuginnen blieben anonym, ihre Erkenntnissewurden durch deren Vernehmungsbeamte indie Hauptverhandlung eingeführt.

Der Gerichtshof rügte dies als konventions-widrig. Grundsätzlich müssen alle Beweisein Gegenwart des Angeklagten in öffentlicherVerhandlung mit Blickrichtung auf eine kon-tradiktorische Argumentation erhoben wer-den. Hierzu gehöre eine unmittelbare Zeugen-befragung. In der Hauptverhandlung konntedie Verteidigung hinsichtlich der Angaben derbeiden Frauen Fragen an die drei mit den Er-mittlungen befaßten Vernehmungsbeamtenstellen. Darüber hinaus hätte der Beschwerde-führer schriftliche Fragen an die Frauen rich-ten können, falls er dies bei der Hauptverhand-lung beantragt hätte. Diese Möglichkeitenkönnen jedoch keineswegs das Recht ersetz-en, Belastungszeugen direkt vor dem erken-nenden Gericht zu befragen. Im Hinblick aufdie Unkenntnis der Identität der Zeuginnensah sich die Verteidigung einem ”nahezu un-übersteiglichen Hindernis” gegenüber: Eswaren ihr die notwendigen Informationen ge-nommen, die es ihr ermöglicht hätten, die Ver-läßlichkeit der Zeugen einer Überprüfung zuunterziehen oder ihre Glaubwürdigkeit inZweifel zu ziehen.

■ 84 In dieselbe Richtung argumentierte derGerichtshof in einer anderen EntscheidungL,in der der Angeklagte im Ergebnis zu einerFreiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt wurde,

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ohne daß er in der Hauptverhandlung jemalsGelegenheit hatte, die anonym gebliebenenZeugen zu befragen. Diese Zeugen, Rausch-giftkonsumenten und angebliche Freunde, dieaus Gründen der Eigensicherung anonymbleiben wollten, hatten den Angeklagten desDrogenhandels bezichtigt. Diese Zeugnissebildeten die einzige Grundlage für die Verur-teilung des Beschwerdeführers.

■ 85 Daß in extremen Ausnahmefällen einRecht der Zeugen auf Anonymität Vorrang vordem Verteidigungsrecht haben könnte, führ-te der Gerichtshof in einer – nicht in Deutsch-land veröffentlichten – Entscheidung vom 26.3.1996 (Doorson ./. NL) aus. Ein solcher Vor-rang setzt allerdings stets konkrete Leibes-oder Lebensgefahr des Zeugen bei seinemErscheinen in der Hauptverhandlung voraus.

■ 86 Alle bislang zitierten Entscheidungenbeschäftigen sich mit dem ”zivilen” Zeugen.Differenzierungen nimmt der Gerichtshof vor,wenn es sich bei dem anonymen Zeugen umeinen Angehörigen der Polizei handelt. Derpolizeiliche Zeuge hat eine sehr viel weiter-gehende Pflicht, mögliche persönliche Gefähr-dungen durch öffentliche Zeugenaussagenzugunsten der Verteidigungsrechte hinzuneh-menLI.

Im Fall Lüdi ./. SchweizLII war der Beschwer-deführer aufgrund der mittelbaren in dieHauptverhandlung eingeführten Angaben ei-nes V-Mannes ”Toni” verurteilt worden. DerGerichtshof bejahte eine Konventionsverletz-ung, weil zwar der Untersuchungsrichter,nicht aber der Angeklagte die Gelegenheit hat-te, ”Toni” in einer unmittelbaren Vernehmungzu befragen. Der Gerichtshof zeigt jedoch vor-sichtig die Möglichkeit – z. B. bei Anonymi-sierung im Gerichtssaal – auf, trotz desEinsatzes von anonymen V-Leuten die Vertei-digungsrechte zu wahren. In jedem Fall mußzur Realisierung der Verteidigungsrechte ei-ne unmittelbare Befragung erfolgen, die auchdie körperlichen Reaktionen des Zeugen bein-haltetLIII.

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Interessant ist die Entscheidung im Hinblickauf die entgegenstehende deutsche Spruch-praxis. So wurde die Konventionswidrigkeitfestgestellt, obwohl das Urteil letztendlich aufeinem Geständnis des Angeklagten beruhte.Dieses Geständnis war aber erst abgelegt wor-den, nachdem dem Beschuldigten im Ermitt-lungsverfahren Aufzeichnungen von über-wachten Telefongesprächen vorgelegt wordenwaren, ohne daß der Beschuldigte im gesam-ten Verfahren Möglichkeiten gehabt hatte, die-se Aufzeichnungen zu überprüfen oder anzu-zweifeln.

6. Kostenloser Beistand durchDolmetscher

■ 87 Die Regelungen für die Beiziehung ei-nes Dolmetschers sind im deutschen Strafpro-zeßrecht nur sehr unvollständig geregelt. DenVorgaben der MRK kommt daher in diesemZusammenhang eine besondere BedeutungzuLIV. Daß die Beiziehung eines Dolmet-schers – wenn die Voraussetzungen gegebensind – ”unentgeltlich” ist, sollte nach demWortlaut des Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK klarsein. Dennoch hatte der deutsche Gesetzge-ber den Angeklagten im Fall der Verurteilungauch mit den Dolmetscherkosten belastet. Esbedurfte insoweit einer ausdrücklichen Rich-tigstellung des GerichtshofsLV.

Daß mit der Unentgeltlichkeit nicht nur einevorläufige Kostenregelung verbunden ist, hatder deutsche Gesetzgeber zwischenzeitlichakzeptiert. Nr. 1904 des Kostenverzeichnissesdes Gerichtskostengesetzes bestimmt, daßauch im Falle der Verurteilung der Angeklag-te nicht mit den Dolmetscherkosten zu belas-ten ist.

■ 88 Wann die Voraussetzungen für die Bei-ziehung eines Dolmetschers im Einzelfall ge-geben sind, hatte der Gerichtshof bislangnicht zu entscheiden. Es ist die jeweilige Auf-gabe des Strafgerichts festzustellen, ob derAngeklagte die Verhandlungssprache nicht

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versteht oder sich nicht darin ausdrückenkann. Einzelnen Fallentscheidungen ist je-doch zu entnehmen, daß die Notwendigkeitder Beiziehung eines Dolmetschers offen-sichtlich sehr weit gezogen wird. Im Fall ei-nes kolumbianischen Angeklagten vor einemschweizer Gericht ging der Gerichtshof wieselbstverständlich von der Notwendigkeiteiner Beiziehung in einer Hauptverhandlungaus, der der Angeklagte ”nur sehr bedingt”habe folgen könnenLVI.

■ 89 In derselben Entscheidung wird auchder Umfang der notwendigen Beiziehung ei-nes Dolmetschers erläutert. Prinzipiell ist dieÜbersetzung aller für die Verteidigung we-sentlichen Vorgänge erforderlich. Das gilt fürSchriftstücke zur Vorbereitung der Verteidi-gung ebenso wie für die wesentlichen Vorgän-ge in der Hauptverhandlung selbst. Nach derPraxis des Gerichtshofs besteht grundsätzlichein Anspruch auf Übersetzung aller Schrift-stücke und mündlichen Äußerungen, auf de-ren Verständnis der Angeklagte angewiesenist, um in den Genuß eines fairen Verfahrenszu kommen. Dazu gehören in der Regel dieAnklageschrift, die Instruktion des Verteidi-gers und die wesentlichen Vorgänge dermündlichen Hauptverhandlung. Je nach denUmständen des konkreten Falles können aberweitere Verfahrensbestandteile hinzukommen.Zu denken ist etwa an die Befragung vonZeugen. Wichtig erscheinende prozeduraleVorgänge und Akten müssen demnach – aufentsprechenden Antrag des Angeschuldigten –übersetzt werden. Dies gilt insbesondere fürVerfahrensabschnitte, an denen der Ange-schuldigte einen Anspruch auf aktive Teilnah-me hat. Ein pauschaler Grundrechtsanspruchauf Simultanübersetzung der ganzen Haupt-verhandlung, der von Amts wegen durchzu-setzen wäre, besteht dagegen ebensowenigwie ein Anspruch des anwaltlich vertretenenAngeschuldigten auf Übersetzung des Straf-urteils in die eigene Muttersprache.

■ 90 Der Gerichtshof hatte bislang noch kei-ne Gelegenheit, darüber zu entscheiden,

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inwieweit ein Dolmetscher bei internenVerterdigungsgesprächen hinzuzuziehenist. Literatur und nationale Rechtsprechunggehen allerdings wie selbstverständlich davonaus, daß eine wirksame Verteidigung unddamit ein faires Verfahren ohne ein vorberei-tendes Verteidigergespräch nicht denkbar ist,eine Hinzuziehung eines Dolmetschers daherselbstverständlicher Inhalt der GarantieistLVII. Bei der Auslegung gehen nationaleGerichte häufig davon aus, daß bezüglich derErstattungsfähigkeit von Dolmetscherkosteninsoweit zwischen Pflichtverteidigern undWahlverteidigern zu unterscheiden sei. Diesfindet in der Konvention keine Stütze. Sinnder Garantie des Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRKist es, Ungleichbehandlungen zwischen Ange-klagten, die die Gerichtssprache beherrschen,und solchen, die ihrer nicht mächtig sind, zurDurchführung eines fairen Verfahrens zu ver-hindern. Dieses Gebot läßt keinen Raum fürdas Entscheidungskriterium einer notwendi-gen oder nicht notwendigen VerteidigungLVIII.

7. Fair-Trial

■ 91 Wie ein roter Faden zieht sich durch dieRechtsprechung des Gerichtshofs, daß dasRecht auf ein faires Verfahren das Kernstücksämtlicher Verfahrensgarantien des Art. 6MRK darstellt. Die einzelnen in Abs. 3 desArt. 6 MRK angeführten Rechte stellen nurbeispielhaft und keinesfalls abschließend dieAuswirkungen dieses Grundsatzes dar. DerGrundsatz selbst wird in Art. 6 Abs. 1 Satz 1MRK formuliert, wonach jedermann einen An-spruch darauf hat, ”daß seine Sache in billi-ger Weise” gehört wird. Daß sich hinter dieserzurückhaltenden deutschen Übersetzung einprozessualer Grundsatz verbirgt, macht eherdie englische Formulierung ”a fair hearing”deutlich.

■ 92 Dieses tragende Verfahrensprinzip wirdauch von der deutschen Rechtsprechung ohneEinschränkungen anerkannt. Das Bundesver-fassungsgericht leitet es aus Art. 20 Abs. 3 GG

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ab. Bedeutung und Gehalt dieses Prinzipsstehen allerdings in eklatantem Gegensatzzur Ausprägung seines konkreten Inhalts. DieGefahr des Abgleitens in eine unverbindlicheAllgemeinfloskel wird daher häufig beschwo-renLIX. Einigkeit besteht, daß ”fair trial” all-gemein ein rechtsstaatliches, justizförmigesund am Leitgedanken der Gerechtigkeitorientiertes Verfahren fordert.

■ 93 Daß diese allgemeinen Formulierungennicht Grundlage einer Überprüfung durch denGerichtshof sein können, macht dessen Recht-sprechung deutlich. Nur in den seltensten Fäl-len zieht sich der Gerichtshof auf diesen allge-meinen Grundsatz zurück. Regelmäßig werdenandere konkrete Ausprägungen – insbesonde-re die Formulierung des Abs. 3 des Art. 6MRK – zur Interpretation mit herangezogen.Ob ein Verfahren in seiner Gesamtheit ”ge-recht” war, beurteilt der Gerichtshof stets ineiner Gesamtbetrachtung sämtlicher Aspekteder allgemeinen Verfahrensregelungen sowieder konkreten Fallproblematik. Konturen hatdas Fairneßgebot der Rechtsprechung des Ge-richtshofs allerdings erst anhand bestimmterFallgruppen erlangt, die unter den Stichwor-ten Waffengleichheit, Anspruch auf rechtlichesGehör und Anwesenheit in der Hauptverhand-lung sowie dem Anspruch auf eine kontra-diktorische Beweisaufnahme zusammenge-faßt werden können.

a) Das Prinzip der Waffengleichheit

■ 94 Der etwas martialisch klingende Aus-druck verdeutlicht ein Gerechtigkeitsprinzipdes englischen Parteiprozesses: Beide Seiten,der Ankläger und der Verteidiger, müssen vordem Gericht dieselben Chancen haben, ihreprozessualen Anliegen vorzubringen. Siemüssen vergleichbare Äußerungs-, Informa-tions- und Antragsrechte besitzen. Chancen-gleichheit bedeutet zwar keine Identität vonVerfahrensrechten. Die Verfahrensordnungenmüssen jedoch stets der Verteidigung dieChance erhalten, die Rechte zumindest in

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ähnlicher Weise effektiv auszuüben wie dieStaatsanwaltschaft.

■ 95 Läßt sich die Gleichheit der Chancen ineinem Parteiprozeß angelsächsischer Prägungeher formal verstehen, ist dieser Grundsatzauf eine Rechtsordnung, bei der die Staatsan-waltschaft die vorbereitenden und häufig ge-heimen Ermittlungen führen kann, nur be-dingt anwendbar. Die Realisierung der Ideeder Chancengleichheit muß jedoch auch indiesem System gefunden werden. Die Ver-schiedenheiten der grundsätzlichen Aufgabenvon Staatsanwaltschaft und Verteidigung sindoffenbar. Die hierauf beruhenden wesensmä-ßigen Unterscheidungen bei der Ausübungvon Rechten verstoßen nicht gegen das Gebotder Chancengleichheit. Eine Benachteiligungder Verteidigung ist insbesondere im Ermitt-lungsverfahren systemimmanent. Ausdrück-lich hat der Gerichtshof betont, daß auch imErmittlungsverfahren das Prinzip der Waffen-gleichheit jedenfalls beim gerichtlichen Haft-prüfungsverfahren zu gelten habeLX.

Vor Gericht selbst lassen sich derartige Diffe-renzierungen im Verfahrensablauf nur nochselten als im Einklang mit dem Prinzip derChancengleichheit begründen. Hier hat derGerichtshof mehrfach Verfahrensweisen na-tionaler Rechtsordnungen gerügt, in denenschon aus formalen Gründen – beispielswei-se in Rechtsmittelinstanzen – die Staatsan-waltschaft den Vorteil von Stellungnahmenhatte, der der Verteidigung versagt bliebLXI.

b) Rechtliches Gehör

■ 96 Neben der Gleichbehandlung mit dem”Gegner” ist selbstverständlicher Gehalt desfair-trial-Prinzips, daß dem Angeklagten vorden entscheidenden Gerichten rechtliches Ge-hör gewährt wird. Voraussetzung der Ausü-bung des rechtlichen Gehörs ist zum einen dieInformation, wie sie beispielsweise in Art. 6Abs. 3 Buchst. a MRK konkretisiert wird. Zumanderen wird dem Prinzip des fair trial dergenerelle Anspruch des Angeklagten entnom-

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men, Gelegenheit zur tatsächlichen und zurrechtlichen Äußerung zu erhalten. Neben derMöglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, be-steht das Recht, vom Gericht auch tatsächlichgehört zu werdenLXII.

c) Anwesenheitsrecht in derHauptverhandlung

■ 97 Die Möglichkeit, das rechtliche Gehörauszuüben und sich entsprechend Art. 6 Abs.3 Buchst. c MRK selbst zu verteidigen, setztdie Anwesenheit des Angeklagten in derHauptverhandlung voraus. Wenngleich diesesRecht nicht ausdrücklich in der MRK formu-liert ist, leitet der Gerichtshof dies ebenfallsaus dem Anspruch des Angeklagten auf einfaires Verfahren ab.

Das grundsätzliche Recht des Angeklagten aufTeilnahme an der Verhandlung fixierte derGerichtshof in seiner Entscheidung Colozza ./.ItalienLXIII. Auch wenn der Angeklagte in derHauptverhandlung durch einen Verteidigervertreten ist, setzt eine effektive Verteidigungnach Ansicht des Gerichtshofs voraus, daßFeststellungen des Strafrichters zu Schuldund Strafe nur getroffen werden können, wennder Angeklagte die Möglichkeit hatte, sich inder Hauptverhandlung persönlich einzulas-sen. Das gilt ebenso für eine Berufungshaupt-verhandlungLXIV.

■ 98 Unabhängig von der möglichen Ver-pflichtung des Angeklagten zum Erscheinenvor Gericht, das durch das Aufklärungsinte-resse des Gerichts geprägt sein kann, formu-liert der Gerichtshof damit ein Teilhaberechtdes Angeklagten durch Anwesenheit. Dieshat allerdings keinen absoluten Rang. DasRecht auf Anwesenheit ist dann nicht verletzt,wenn Angeklagter oder Verteidiger diesesRecht hätten wahrnehmen können, es aberaufgrund Verzichts tatsächlich nicht wahrge-nommen hatten. Insoweit legt der Gerichts-hof Angeklagtem und Verteidiger eine gewis-se Sorgfaltspflicht dafür auf, daß dem Gerichtin anhängigen Verfahren die ladungsfähige

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Anschrift bekannt ist und amtliche Schrift-stücke dem Angeklagten auch tatsächlich zurKenntnis gelangenLXV. Letztlich verlangt dieWahrung der Rechte des Angeklagten jedochstets eine ordnungsgemäße Ladung des Ge-richts. Noch in einer Entscheidung vom 19.2.1996 stellte der Gerichtshof eine Verletzungvon Art. 6 Abs. 1 MRK fest, da der Verurteil-te, der in erster Instanz freigesprochen war,nicht ordnungsgemäß in der Berufungsinstanzgeladen worden war; lediglich sein Verteidi-ger hatte ihn über die Verhandlung verstän-digt und gleichzeitig zu verstehen gegeben,daß sein persönliches Erscheinen nicht erfor-derlich seiLXVI.

■ 99 Den Zusammenhang zwischen der not-wendigen Ladung und Rückschlüssen auf ei-nen Verzicht des Angeklagten auf Teilnahmeam Verfahren behandelte der Gerichtshof ineiner Entscheidung F. C. B. ./. ItalienLXVII. Eswurde eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 MRKfestgestellt: Das Berufungsgericht hatte dasRechtsmittel des Angeklagten allein deswe-gen verworfen, weil er nicht anwesend war;das Gericht hatte allerdings gewisse Anhalts-punkte dafür, daß den Angeklagten die La-dung deswegen nicht erreicht hatte, weil ersich in den Niederlanden in Haft befand.

Ausnahmen vom Anwesenheitsrecht des An-geklagten sollen allenfalls für Revisionsver-fahren gelten. Droht in diesen Verfahren demAngeklagten allerdings eine reformatio inpeius, so kann die Verhandlung nur in seinerGegenwart stattfinden.

■ 100 Die Durchführung eines vollständigenStrafverfahrens in Abwesenheit des Ange-klagten schließt der Gerichtshof nicht völligaus. Für ein solches Verfahren muß jedoch einbesonderes öffentliches Interesse sprechen.Darüber hinaus muß dieses Verfahren dieMöglichkeit eines Wiederaufnahmeantragesdurch einen verurteilten Angeklagten vorseh-en. In einem vom Gerichtshof letztendlichnicht entschiedenen Fall hatte die Kommis-sion die Verletzung des Anspruchs auf recht-

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liches Gehör angenommen, da ein solchesWiederaufnahmeverfahren in Griechenlandvom Nachweis des Angeklagten abhing, daßeine ordnungsgemäße Ladung möglich warund durch fehlerhaftes Vorgehen der Justiz-behörden unterblieben seiLXVIII. Vergleich-bare Überlegungen hatten den Gerichtshofveranlaßt, im Fall Hennings das deutscheStrafbefehlsverfahren nicht als grundsätzlichkonventionswidrig zu kritisierenLXIX. Derdeutsche Beschwerdeführer hatte die Ein-spruchsfrist gegen den Strafbefehl versäumtund sich darauf berufen, daß er zwar zum Zu-stellungszeitpunkt zu Hause gewesen sei, sei-ne verreiste Ehefrau jedoch den Schlüsselzum Briefkasten mitgenommen hatte. Der Be-schwerdeführer hatte allerdings nicht einmaldie Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsan-trags wahrgenommen.

Daß die effektive Verteidigungsausübung inder Hauptverhandlung voraussetzt, daß derAngeklagte zur Teilnahme in geistiger undkörperlicher Hinsicht fähig ist, bestätigte dieKommission im Fall Mielke ./. Deutsch-landLXX. Verhandlungsfähigkeit ist Ausflußdes fair trial. Der Angeklagte muß auch kör-perlich in der Lage sein, seine Interessen inund außerhalb der Hauptverhandlung ver-nünftig wahrzunehmen, die Verteidigung inverständiger und verständlicher Weise zu füh-ren sowie Prozeßerklärungen abzugeben undentgegenzunehmen.

d) Faire Beweisaufnahme

■ 101 Der Grundsatz der Fairneß des Verfah-rens beeinflußt auch die Verpflichtung des Ge-richts bezüglich Art und Umfang der Beweis-aufnahme. Unmittelbar aus dem Grundsatzder Waffengleichheit leitet der Gerichtshof dasPrinzip der kontradiktorischen Beweisauf-nahme ab. Fälle, in denen der Gerichtshof dasFehlen des Erscheinens von Zeugen in derHauptverhandlung rügte, sind oben im Zu-sammenhang mit dem Recht auf Zeugenla-dung (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) bereitsangeführt worden.Darüber hinaus hält sich allerdings der Ge-

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richtshof bei seiner Kritik an den nationalenRegeln der Beweiserhebung zurück. Der Kon-vention selbst wird kein umfassender An-spruch des Angeklagten entnommen, daßsämtliche angebotenen Beweise auch erhobenwerden müssen. Dem Gericht wird grundsätz-lich ein Ermessensspielraum bei der Entschei-dung zugebilligt, ob die Beweisaufnahme imHinblick auf die zu treffenden Entscheidung-en erheblich ist.

■ 102 Verstöße gegen die Fairneßregeln wur-den lediglich dann festgestellt, wenn die Ver-urteilung unter Verwendung mißbräuchlicherlangter Beweismittel erfolgte. Hier hat derGerichtshof in einer bedeutsamen, leidernicht ins Deutsche übersetzten Entscheidungein spanisches Gerichtsurteil kritisiert, indem angebliche Geständnisse durch Foltererpreßt worden sein sollen und die einzige be-lastende Aussage des nicht in der Hauptver-handlung erschienenen Zeugen ebenfalls inPolizeigewahrsam in Abwesenheit von Ver-teidigern zustande kamLXXI. Im übrigen wa-ren Entscheidungen des Gerichtshofs stetsvon den Besonderheiten der einzelnen Fällegeprägt, in denen beispielsweise die Zulässig-keit eines heimlich aufgenommenen Tonban-des als Beweismittel nicht generell verneintwurde oder ein Anspruch auf Verwendungeines Lügendetektors dem Angeklagten ver-weigert wurde. Daß eine Verurteilung nur aufder Basis von Indizienbeweisen erfolgte, istfür sich allein genommen ebenfalls nicht kon-ventionswidrig. Ein Verstoß gegen den Grund-satz des fair trial stellt der Einsatz von Lock-spitzeln der Polizei dar, die einen bislangunbestraften Bürger erstmalig zu einer Straf-tat animieren. Ihre ”Ergebnisse” sind imProzeß nicht verwertbar. Der entgegen die-ser Grundsätze verurteilte Beschwerdefüh-rer wurde vom Gerichtshof für die gesamteDauer seiner Haft entschädigtLXXII.

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e) Weitere Auswirkungen des fair-trial-Prinzips

■ 103 Ohne daß sich bislang konkrete Fall-gruppen herausgeschält haben, stützt sich dieKommission in zahlreichen anderen Entschei-dungen maßgeblich auf den Grundsatz desfairen Verfahrens.

■ 104 Sie entnimmt dem Prinzip eine ArtFürsorgepflicht des Gerichts, wonach diesessogar gehalten ist, unsachliche Einwirkungenanderer Verfahrensbeteiligter auf den Prozeßzu unterbinden, möglicherweise sogar einerBeeinflussung von Schöffen durch eine heftigePressekampagne entgegenzuwirkenLXXIII.Der Strafrichter hat auch zu vermeiden, daßder Angeklagte – und sei es durch das Verhal-ten anderer Verfahrensbeteiligter – in eineZwangslage gerät, die die Ausübung seinerRechte erheblich beeinträchtigt. Der Ange-klagte muß stets die Gelegenheit haben, dieihm zugebilligten Verfahrensrechte auch ohneBeschränkungen wahrnehmen zu können.

■ 105 Ebenfalls nach Ansicht der Kommis-sion soll ein Anspruch auf Protokollierung derVerhandlung nicht aus dem Prinzip des fairtrial abgeleitet werden könnenLXXIV; demge-genüber wird von ihr bereits seit langer Zeiteine Verletzung des Anspruchs auf ein fairesVerfahren für den Fall gerügt, daß die Be-gründung einer Entscheidung entwedervollständig fehlt oder so unvollständig ist, daßdas Recht auf Einlegung eines Rechtsmittelbe-helfes faktisch entwertet wird. Dem hat sichnun der Gerichtshof in einer jüngeren Ent-scheidungLXXV angeschlossen. Auch wennder Gerichtshof nach wie vor den nationalenGerichten Freiheiten bei Umfang und Aus-wahl der Urteilsbegründung zubilligt, stellt erin dieser Entscheidung die Forderung auf, daßdie Gründe zumindest derart ausreichenddeutlich sind, daß eine wirksame Ausübungdes Berufungsrechts möglich wird.

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■ 106 Das Recht des Angeklagten zuschweigen und sich nicht belasten zu müs-sen, ist nicht ausdrücklicher Bestandteil desKonventionstextes. Der Gerichtshof leitet die-ses Recht ebenfalls aus dem Anspruch auf einfaires Verfahren abLXXVI. Das Recht, sichnicht selbst belasten zu müssen, stellt nachAnsicht des Gerichtshofs sogar das Herzstückdes Konzeptes des fairen Verfahrens dar, wes-halb es auch durch außerstrafprozessuale Mit-wirkungspflichten nicht ausgehebelt werdendarfLXXVII. Allerdings scheint nach einer be-merkenswerten Ansicht des Gerichtshofs ei-ne negative Schlußfolgerung des Gerichts ausdem Schweigen des Angeklagten nicht völligausgeschlossen.

8. Öffentlichkeit der Hauptverhandlung

■ 107 Daß die Hauptverhandlung in Straf-sachen öffentlich ist, d. h. für jederman zu-gänglich, entspricht der Rechtstradition derKonventionsstaaten. Mit Abschaffung der Ge-heimjustiz sollte eine Kontrolle des Verfah-rens durch die Öffentlichkeit gewährleistetsein. Willkür der Justiz sollte allein durch die-se institutionalisierte Kontrolle vermiedenwerden.

In der Ausprägung des Konventionstextes undder interpretierenden Rechtsprechung gehendie Regelungen nicht über das deutsche Ge-setz hinaus. In mehreren Entscheidungen hatder Gerichtshof sowohl den Verzicht des An-geklagten auf die Öffentlichkeit der Verhand-lung (wie z. B. beim fehlenden Einspruch imStrafbefehlsverfahren) für ebenso konven-tionsgemäß erklärt wie Beschränkungen derÖffentlichkeit durch die äußeren Umständedes Gerichtssaales. Das Verbot der filmischenAufnahmen des Prozesses ist ebenso kon-ventionsgemäß wie das Verbot, eine laufendeVerhandlung im Fernsehen in Ausschnittenwortgetreu nachzuspielenLXXVIII. Einschrän-kungen der Öffentlichkeit in der Rechtsmittel-instanz sollen zulässig sein, wenn die Öffent-lichkeit bei der ersten Tatsacheninstanz invollem Umfang gewährleistet war.

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■ 108 Die ausdrücklichen in Abs. 1 des Art.6 MRK angeführten Ausnahmen, bei denendie Öffentlichkeit ausgeschlossen werdenkann, knüpfen ebenfalls an allgemeine inner-staatliche Regelungen an. Zumindest zeitwei-se darf das Strafgericht ohne die Öffentlich-keit verhandeln, wenn öffentliche Interessenoder die Interessen Jugendlicher und des Pri-vatlebens der Beteiligten entgegenstehen. Dieentgegenstehenden ”Interessen der Gerechtig-keit” scheinen weitergehende Ausschlüsse alsdie nach dem GVG zuzulassen; insoweit liegtallerdings bislang keine interpretierendeRechtsprechung des Gerichtshofs vor.

9. Entscheidung in angemessener Frist

■ 109 Das Beschleunigungsgebot ist konsti-tuierendes Element der Strafprozeßordnung-en der Vertragsstaaten. Selten wird dies ge-setzlich formal fixiert. Die Konvention knüpftin ihrem Text an diese Tradition an und for-muliert zumindest die Zielvorstellung einesrechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens. GeradeStrafverfahren stellen für den betroffenen Be-schuldigten eine erhebliche Belastung dar.Trotz der Verpflichtung zur Sachverhaltsauf-klärung hat die Staatsgewalt dafür Sorge zutragen, daß die Last des laufenden Verfahrenssich nicht länger als unbedingt notwendigauswirkt.

Bestimmte Fristen, deren Überschreiten eineVerletzung des Beschleunigungsgrundsatzeszur Folge hat, enthält weder der Konventions-text, noch können diese von den Konventions-organen zahlenmäßig fixiert werden. Zur Kon-kretisierung der ”angemessenen Frist” derErledigung hat der Gerichtshof zwischenzeit-lich allerdings einige Kriterien erarbeitet,anhand derer Konventionsverletzungen eherverifizierbar sind.

■ 110 Bahnbrechend war hier die Entschei-dung Eckle ./. Bundesrepublik Deutsch-landLXXIX, in der der Beschwerdeführer dieLänge mehrerer Ermittlungs- und Strafverfah-

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ren beanstandete, die jeweils mindestens 10Jahre andauerten. Bei der Behandlung dieserVerfahren konzedierte der Gerichtshof, daßUmfang und Schwierigkeit des zu behan-delnden Falles ein entscheidendes Kriteriumfür die Dauer der Untersuchung darstellen.Einfach gelagerte Fälle sind zügig zu erledi-gen, während komplexe Ermittlungen notwen-digerweise Zeit in Anspruch nehmen. Um beiden unterschiedlichen Konstellationen den-noch adäquat beschleunigt reagieren zu kön-nen, legt der Gerichtshof den einzelnen Staa-ten die Verpflichtung auf, die Organisationder Ermittlungsbehörden und Gerichteentsprechend zu strukturieren. Liegen hierVersäumnisse staatlicherseits vor, sind Ver-zögerungen anzulasten und Konventionsver-letzungen – wie im Fall Eckle – zu rügen.Sowohl die Gerichte selbst als auch die fürdie Gerichtsorganisation zuständigen Stellenhaben die Verpflichtung, alle organisatorisch-en Maßnahmen zu treffen, um nicht völligunvorhersehbaren VerfahrenskonstellationenRechnung zu tragen. Dies kann so weit gehen,dem Gericht zur Vermeidung einer Konven-tionsverletzung aufzuerlegen, das Strafverfah-ren gegen einen von mehreren Angeklagtenabzutrennen und beschleunigt weiter zuverhandelnLXXX.

■ 111 Die deutsche Rechtsprechung hatschon bald diese Leitentscheidung in derPraxis umgesetzt und weitergeführt. Das Bun-desverfassungsgericht hat unter ausdrück-licher Berufung auf das Eckle-Urteil den Straf-gerichten aufgegeben, Verletzungen desBeschleunigungsgebotes als eigenständigenStrafmilderungsgrund festzustellen undsogar exakt das Ausmaß der Herabsetzung derStrafe durch Vergleich mit der ohne Berück-sichtigung der Verletzung des Beschleuni-gungsgebotes angemessenen Strafe zubestimmenLXXXI. Der Bundesgerichtshofberücksichtigt den Zeitfaktor differenziert: Einwesentlicher Strafmilderungsgrund ist bereitsder lange zeitliche Abstand zwischen Tat undUrteil. Ein hiervon unabhängiger weitererMilderungsgrund ist unter Berücksichtigungder Belastung des Angeklagten die überdurch-

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schnittlich lange Dauer des Verfahrens. Alsdritter eigenständiger Milderungsgrund wirddie – von der Justiz zu verantwortende – Ver-letzung des Beschleunigungsgebotes des Art.6 Abs. 1 S. 1 MRK bewertetLXXXII.

■ 112 Auch das Verhalten des Beschwerde-führers selbst, das möglicherweise zu Verzö-gerungen des Verfahrens geführt hat, berück-sichtigt der Gerichtshof bei der Beurteilungder Angemessenheit der Verfahrensdauer alsobjektives Faktum. Im Fall EckleLXXXIII mut-maßt er sogar eine Verschleppungstaktik derAngeklagten, konzediert allerdings deutlich,daß eine aktive Kooperation eines Angeklag-ten mit Justizbehörden auch im Zusammen-hang mit der Überprüfung einer möglichenüberlangen Verfahrensdauer niemals erwar-tet werden kann. Ausdrücklich festgestellt hatder Gerichtshof, daß auch bei der extensivenNutzung von Verteidigungsrechten organisato-rische Maßnahmen getroffen werden müssen,um dem Begehren des Angeklagten so schnellwie möglich nachzukommen. Eine konven-tionswidrige Verzögerung wurde beispielswei-se in einem gegen Österreich entschiedenenFall festgestelltLXXXIV, in dem es deswegenzu erheblichen Verzögerungen gekommenwar, weil Staatsanwaltschaft und Gericht beizahlreichen Anträgen des Beschwerdeführersdie Originalakten hin und her schickten.Durch Erstellung von Fotokopien wäre dieseVerzögerung zu vermeiden gewesen.

■ 113 Für die Beurteilung einer Konven-tionsverletzung setzt sich der Gerichtshofauch mit der Frage auseinander, inwieweitAnfang und Ende der maßgeblichen Fris-ten zu fixieren sind. Der Fristbeginn ist nichtstets mit der Einleitung eines Ermittlungsver-fahrens identisch, vielmehr stellt der Gerichts-hof entscheidend darauf ab, wann der Betrof-fene durch das Verfahren erstmalig erheblichbeeinträchtigt wird. Dies wurde ausdrücklichbejaht bei der Konfrontation mit Zwangsmaß-nahmen, wie beispielsweise der Verhaftung(Kenntnis vom bereits erlassenen Haftbefehlsoll ebenfalls ausreichen) oder der Beschlag-

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nahme des Reisepasses. Die Beeinträchtigungwird häufig bereits durch die bloße Tatsacheder Mitteilung der Eröffnung des Vorverfah-rens bejahtLXXXV. Im Fall Eckle war die Ver-nehmung von Belastungszeugen aus dem Ge-schäftskreis des Beschuldigten ausreichenderAnlaß, eine derartige Beeinträchtigung anzu-nehmen.

Das Ende der Frist fällt mit einem endgülti-gen rechtskräftigen Urteilsspruch zusammen.Revisionsverfahren werden bei der Fristbe-rechnung grundsätzlich mitberücksichtigt,auch wenn lediglich Strafzumessungsgesichts-punkte thematisiert werden. Gleiches gilt fürRückverweisungen durch Rechtsmittelgerich-te. Demgegenüber werden normalerweise Ver-fassungsbeschwerden als außerordentlicheRechtsbehelfe nicht auf die Länge des Verfah-rens angerechnet.

10. Das unparteiische Gericht

■ 114 Die Unbefangenheit des erkennendenStrafrichters ist für die Konvention unabding-bare Voraussetzung eines insgesamt fairenVerfahrens.

In der Geschichte der Rechtsprechung des Ge-richtshofs spielt die Vorbefassung mit der zuentscheidenden Sache – teilweise auch nurdie theoretische Möglichkeit der Vorbefas-sung – eine wesentliche Rolle, um allein ausdiesem objektiven Umstand die berechtigteBesorgnis des Angeklagten auf die fehlendeUnparteilichkeit seines Richters abzuleiten.So verbot sich allein die frühere Position ei-nes Vorsitzenden Richters als aufsichtsführen-der Vertreter der Angeklagebehörde zur Be-handlung eines Falles, in dem er selbst nurunwesentliche Funktionen im Ermittlungsver-fahren ausgeübt hatteLXXXVI.

■ 115 Insgesamt hat in den letzten Jahrender Gerichtshof seine früher recht strengeRechtsprechung aufgelockert und stellt nun-mehr vornehmlich darauf ab, ob der agieren-

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de Strafrichter sich durch frühere konkreteHandlungen schon eine bestimmte Meinungzur Schuld des Angeklagten hatte bilden müs-senLXXXVII. Bloße Schlüssigkeitsprüfungen,beispielsweise bezüglich der Zulassung einerAnklage zur Hauptverhandlung, begründenkeine BefangenheitLXXXVIII. Demgegenübersoll die vom Richter maßgeblich beeinflußteVoruntersuchung diesen an seiner Mitwirkungin der Hauptverhandlung ausschließen. DieGefahr der vorgefaßten Meinung sei hier nichtvon der Hand zu weisenLXXXIX.

■ 116 Unterschiedlich bewertet der Gerichts-hof die Vorbefassung eines Richters wegenfrüherer Haftentscheidungen. Unter Abwä-gung der besonderen dänischen Verhältnissebejahte der GerichtshofXC eine Konventions-verletzung. Zwar würden Haftentscheidungendes Richters vor der eigentlichen Hauptver-handlung nicht für sich genommen eine Be-fangenheit begründen. Im konkreten Fallhatten die Richter des Hauptverfahrens sichjedoch mehrfach im Vorfeld mit der Haftfragezu beschäftigen und hatten sich hierbei auf ei-ne Norm gestützt, die ”besonders begründeteVerdachtsmomente” für die dem Angeklagtenzur Last gelegten Verbrechen vorsah. NachErmittlung des Gerichtshofs mußte daher ein”sehr hoher Grad an Klarheit hinsichtlich derSchuldfrage” vorliegen. Dies reichte aus, umdie entscheidenden Haftrichter für das späte-re Hauptverfahren als nicht unparteilich anzu-sehen.

■ 117 Befangenheit kann sich nicht nur ausder Funktion des Richters ergeben, sondernprinzipiell auch aus dem konkreten Verhalteneines Richters während des Verfahrens.Insoweit hatte der Gerichtshof in seiner Recht-sprechung bislang allerdings keine Gelegen-heit, richterliches Verhalten als Befangenheits-grund zu bewerten. Ärgerliche Bemerkungen(”Wie lange soll diese Farce weitergehen·X6WXX) waren im konkreten Fall ebensowenigbefangenheitsbegründend wie Äußerungendes Richters zu einem möglichen Verfahrens-ausgang in einem Rechtsgespräch.

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11. Sachlicher Geltungsbereich des Art. 6MRK

■ 118 Der Betroffene kann sich auf die Rech-te des Art. 6 MRK in Verfahren berufen, indenen ”über die Stichhaltigkeit der gegen ihnerhobenen strafrechtlichen Anklage zu ent-scheiden” ist.

Daß der Begriff der Anklage nicht mit dem derformellen Anklageerhebung in der deutschenStrafprozeßordnung gleichzusetzen ist, ergibtsich schon aus der konkreten Zubilligung derVerfahrensrechte auch auf Situationen, dieeindeutig Ermittlungen vor Anklageerhebungzuzuordnen sind. Der Gerichtshof hat schonzu einem sehr frühen Zeitpunkt deutlich ge-macht, daß er den Begriff der ”Anklage” inautonomer Weise auslegt, wonach die Verfah-rensgrundrechte des Art. 6 MRK nicht erstvon einem möglicherweise sehr späten Zeit-punkt an gelten, in dem das nationale Rechtdie Erhebung einer formellen Anklage vor-sieht.

■ 119 Eine Person steht dann im Sinne desArt. 6 MRK ”unter Anklage”, wenn ihr vonder zuständigen Behörde offiziell mitgeteiltwird, daß gegen sie eine Anschuldigung vor-liegt oder aus sonstigen Gründen der Verdachtbesteht, sie habe eine Straftat begangen. Ne-ben der offiziellen Mitteilung kommen für die-sen Zeitpunkt auch eine deutliche Ermittlungs-tätigkeit in Betracht, die den Angeklagteneben so sehr belastet wie die formelle Verkün-dung des Verdachts. Gerade in den Verfah-rensstadien, die möglicherweise niemals zueiner Anklageerhebung führen, müssen dieVerfahrensgrundrechte des Beschuldigten umso eher respektiert werden, als durch zustim-mende Einstellungen – ggf. mit Auflagen –dem Beschuldigten möglicherweise keinestrafrechtlichen Sanktionen drohen, derartigeFolgen eines Vorwurfs strafbaren Verhaltensihn jedoch erheblich belasten. Auch wenn dieinhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Ver-fahrensrechte im Ermittlungsverfahren ande-ren Prämissen folgt als die Hauptverhandlungvor Gericht, dürfen im Kern auch hier Rech-

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te, wie z. B. die Unschuldsvermutung oder dieGarantie auf beschleunigte Verfahrensdurch-führung, nicht angetastet werdenXCI.

■ 120 In Fortführung dieser autonomen In-terpretation des Anklagebegriffs akzeptiertder Gerichtshof nicht die Definitonsgewalt desnationalen Gesetzgebers hinsichtlich des Be-griffs der strafrechtlichen Anklage. Unprob-lematisch greifen die Rechte des Art. 6 MRKimmer dann, wenn der nationale Gesetzgeberselbst den Verfahrensvorwurf auf eine Tat be-zieht, die er als Straftat einordnet. Umgekehrtwill der Gerichtshof allerdings verhindern,daß die Mitgliedstaaten ihren Bürgern die Ver-fahrensrechte des Art. 6 MRK dadurch ent-ziehen können, indem sie im Kern strafrecht-liches Verhalten anders etikettieren. Seit derEntscheidung im Fall EngelXCII will der Ge-richtshof die Garantien des Art. 6 MRK auchauf Fälle angewendet sehen, welche ihrer”wahren Natur nach” Straftaten seien.

■ 121 Daß diese naturrechtlich anmutendeSuche nach der Straftat als solche trotz zahl-reicher Entscheidungen bislang keine eindeu-tigen Kriterien zu Tage gefördert hat, verwun-dert nicht. Der Gerichtshof stellt in vielenEinzelfällen auf die jeweiligen nationalen Be-sonderheiten ab und untersucht insbesondere,inwieweit die Schwere des möglichen Eingriffseine Sanktion als Strafe erscheinen läßtXCIII.Abgeschichtet vom Strafrecht hat der Ge-richtshof insbesondere das soldatenrechtlicheund beamtenrechtliche Disziplinarrecht. Dem-gegenüber ließ er keinen Zweifel an derGeltung des Art. 6 MRK aufgrund von Rege-lungen des französischen Zollrechts, die demBetreffenden bei der Weigerung, Auskünfteüber Auslandsgeschäfte zu erteilen, eineGeldstrafe nebst Beugestrafe auferlegen kön-nenXCIV.

■ 122 Für das deutsche Recht bestimmendwar die Entscheidung im Fall ÖztürkXCV, in der die Garantien des Art. 6 MRK ohne

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Einschränkungen auch auf das deutsche Ord-nungswidrigkeitenrecht angewandt wurden.In seiner Analyse ging das Gericht davon aus,daß es sich bei den Ordnungswidrigkeiten umein Sanktionensystem handelte, das mit be-strafungsähnlichen Mitteln generalpräventiveZiele verfolgte; und zwar Ziele, die in anderenStaaten unverändert noch mit den Mitteln desStrafrechts verfolgt würden. Der Beschwer-deführer, der die Erstattung seiner Dolmet-scherkosten in diesem Verfahren – trotz derRücknahme seines Einspruchs gegen denBußgeldbescheid – verlangte, erhielt in vollemUmfang Recht.

Auch im OWi-Verfahren kann der Verteidigersomit in vollem Umfang argumentativ auf dieRegelungen der MRK zurückgreifen.

II. Freiheitsrechte in strafprozessualerHaft – Art. 5 MRK

■ 123 Art. 5 MRK garantiert das Recht derpersönlichen Freiheit und soll den Bürger vorwillkürlicher Inhaftierung schützen.

Abs. 1 zählt abschließend die Voraussetzung-en auf, unter denen die nationalen Gesetze ei-ne Freiheitsentziehung anordnen können.Hierzu gehören nicht nur genuin strafprozes-suale Gründe, sondern auch Bereiche, dienach deutschem Recht dem Polizei- und Ord-nungsrecht sowie dem Ausländerrecht zuzu-ordnen sind.

Abs. 2 bis 4 formulieren die Verfahrensgaran-tien des Inhaftierten, wie sein Recht auf In-formation oder auf gerichtliche Haftkontrolle.

Schutzzweck des Art. 5 MRK ist nicht nurdie Reglementierung möglicher Gefängnisauf-enthalte. Freiheitsentziehungen wurden vomGerichtshof auch schon bei Hausarrest oderbei nach italienischem Recht möglichemisoliertem Zwangsaufenthalt auf einer Insel

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angenommen. Auch eine sehr kurzfristigeFreiheitsentziehung, wie die polizeilicheSistierung von Zeugen zur Personalienfest-stellung, unterfällt den Beschränkungen desArt. 5 MRK.

Die folgende Darstellung beschränkt sich aufdiejenigen Problembereiche, mit denen derStrafverteidiger bei der Untersuchungshaftseines Mandanten konfrontiert wird.

1. Freiheitsentzug und Gesetzesvorbehalt

■ 124 Eine rechtmäßige Freiheitsentziehungsetzt zum einen voraus, daß diese auf einemgültigen Gesetz beruht und dieses Gesetz deninhaltlichen Anforderungen des Abs. 1 Buchst.a bis f des Art. 5 genügt. Die MRK stellt da-mit ein formelles und ein inhaltliches Kriteri-um für die Eingriffsvoraussetzung auf.

■ 125 Gewohnheitsrecht oder andereschwer fixierbare Rechtssätze ersetzen dieNotwendigkeit eines materiell-formellen Ge-setzes nicht. Jedes freiheitsentziehende Gesetzunterliegt dem allgemeinen rechtsstaatlichenGebot der Bestimmtheit, das generalklauselar-tige Eingriffsvoraussetzungen verbietet. Kon-krete Verletzungen in dieser Richtung hat derGerichtshof allerdings bislang nicht feststel-len können.

■ 126 Ebenso zurückhaltend ist die Recht-sprechung bei der Erörterung der Frage, obden Beschwerdeführern die Freiheit “auf demgesetzlichen vorgeschriebenen Wege entzo-gen” worden ist. Zwar verweist diese Formu-lierung auf das innerstaatliche Recht. EinVerstoß gegen das nationale Recht bedeutetdaher gleichzeitig ein Verstoß gegen die Kon-vention. Die naheliegende Überprüfung, obdas innerstaatliche Recht im konkreten Fallkorrekt angewandt worden ist, unternimmtder Gerichtshof jedoch nicht. Die Hoffnung ei-nes Beschwerdeführers, zumindest durch denGerichtshof die Einhaltung der nationalgesetz-

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lichen Vorschriften garantieren zu können, er-füllt sich nur selten. Der Gerichtshof reduziertseine Überprüfungstätigkeit insoweit prak-tisch auf eine Mißbrauchs- und Willkürkon-trolle. Offensichtliche Verstöße gegen natio-nales Recht, wie z. B. die fehlende Beachtungder nach niederländischem Recht vorgeschrie-benen Aushändigung eines HaftbefehlsXCVI

oder die Haftentscheidung eines nach natio-nalem Recht offensichtlich nicht zuständigenGerichtsXCVII, waren für den Gerichtshofkeine Veranlassung, die Rechtmäßigkeit derFreiheitsentziehung in Frage zu stellen. DerBeschwerdeführer wurde damit beschieden,nicht nachgewiesen zu haben, daß die staat-lichen Behörden bösgläubig gehandelt hätten.

Nur in den seltensten Fällen waren Beschwer-den erfolgreich, weil aufgrund der objektivenUmstände auch vom Gerichtshof eine derar-tige Bösgläubigkeit unterstellt wurde. Anlaßhierfür waren zumeist evidente Zeitüber-schreitungen wie beispielsweise in einemgegen die Schweiz gerichteten Fall, in demder Beschwerdeführer ungeachtet einer aus-drücklichen gerichtlichen Freilassungsanord-nung stundenlang in Haft gehalten wurde,um offensichtlich den Ausländerbehördennoch ausreichend Gelegenheit zu geben, aus-länderpolizeiliche Maßnahmen zu treffen.Verletzt war die Konvention auch durch dievorläufige Festnahme eines deutschen Bür-gers zu Identifizierungszwecken, bei der diePolizei die gesetzlich klar fixierte 12-Stunden-Frist des § 163 c Abs. 3 StPO ohne sach-liche Begründung – geringfügig – über-schrittXCVIII.

■ 127 Auch die Überprüfung des Gerichts-hofs, ob die nationalen Eingriffsnormen sichin den konkret vorgegebenen Rahmen halten,die Art. 5 Abs. 1 Buchst. a bis f MRK vorge-ben, ist oft formeller Natur. Wenn die Berech-tigung zur Verhängung einer (nach deut-schem Verständnis) Strafhaft davon abhängiggemacht wird, daß der Bürger ”rechtmäßignach Verurteilung durch ein zuständigesGericht in Haft gehalten wird”, so wird vomGerichtshof die rechtmäßige Anwendung in-

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nerstaatlichen Rechts ebenfalls nicht über-prüft. Art. 5 Abs. 1 Buchst. a MRK stellt striktformelle Grenzen insoweit auf, als die Straf-haft ausschließlich davon abhängig gemachtwird, daß überhaupt ein Urteil vorliegt. EinEinfallstor hinsichtlich der Überprüfung derRechtmäßigkeit dieses Urteils oder gar derRechtmäßigkeit des dem Urteil zugrunde lie-genden Verfahrens stellt diese Vorschriftnicht dar. Auch die Überprüfung des ”zustän-digen Gerichts” garantiert nicht die Untersu-chung nationalen Rechts durch den Gerichts-hof, sondern lediglich eine Überprüfung imHinblick auf mögliche Willkür. Gedeckt wer-den durch diese Konventionsformulierungalle durch Urteil angeordneten Freiheitsmaß-nahmen, prinzipiell auch die Vollstreckungeiner Haft nach zuvor bedingter Haftentlas-sung (insoweit kommen u.U. Verstöße gegendie Unschuldsvermutung in Betracht).

■ 128 Buchstabe b des Art. 5 Abs. 1 MRKsanktioniert den Freiheitsentzug in zwei al-ternativen Konstellationen: Zum einen kannder Bürger wegen Nichtbefolgung eines recht-mäßigen Gerichtsbeschlusses inhaftiert wer-den; dies ist die konventionsrechtliche Legi-timation zur Inhaftierung bei mißachteterrichterlicher Terminsladung oder Ignorierungder richterlichen Meldeauflage bei einemHaftverschonungsbeschluß. In der zweiten Al-ternative ist eine Inhaftierung zur Erzwingungder Erfüllung einer durch das Gesetz vorge-schriebenen Verpflichtung vorgesehen. Diesemuß nicht vom Richter, sondern kann auchvon einer Verwaltungsbehörde angeordnetwerden. Die Verpflichtung selbst muß sichallerdings unmittelbar aus dem Gesetz er-geben. Haftanordnungen bei der Weigerungeines Bürgers, sich einer gesetzlich vorge-sehenen Ausweiskontrolle zu unterziehen,hat daraufhin der Gerichtshof für konven-tionskonform erachtet.

■ 129 Während die Buchstaben d bis f desArt. 5 Abs. 1 MRK mit der Inhaftierung vonMinderjährigen, Geisteskranken oder Auslän-dern zum Zwecke der Ausweisung nicht spe-

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zifisch strafprozessuale Thematiken behan-deln, beschreibt Buchstabe c die Vorausset-zungen der Inhaftierung bei der Untersu-chungshaft. Schon der Wortlaut offenbart,daß die Konventionsgarantien weit hinter denVoraussetzungen der §§ 112 ff. StPO zurück-bleiben. Daß der Zweck der Inhaftierung dieVorführung vor ein Gericht ist, dokumentiertbereits, daß auch Polizei- und Verwaltungs-behörden zur Verhaftung aufgrund dieserNorm berechtigt sind. Die Verhaftung zur Ver-meidung zukünftiger strafbarer Handlungenist sogar eine rein präventiv-polizeilicheErmächtigung, die – im Gegensatz zur Wie-derholungsgefahr der StPO – nicht einmal anden Verdacht einer bereits begangenen Straf-tat anknüpfen muß.

■ 130 Immerhin: Der eindeutige Zweck allerInhaftierungsmaßnahmen der Polizei nachdieser Ermächtigungsvorschrift muß es sein,den Bürger einem Gericht vorzuführen. Ist dieInhaftierung zu diesem vorgegebenen Zwecklediglich Fassade und wird der Verhafteteohne Vorführung vor den Richter wieder ent-lassen, ist die Inhaftierung nicht durch Buch-stabe c gedecktXCIX. Das Problem für denBeschwerdeführer dürfte der Beweis der vonAnfang an fehlenden Vorführungsabsicht derPolizei sein; diese wird sich häufig darauf be-rufen, daß entgegen ihrer Erwartung nichtverifizierbare Verdachtsmomente vorgelegenhätten.

Außer der Vorführungsabsicht konstituiertBuchstabe c lediglich eine weitere Vorausset-zung zur Inhaftierung: den hinreichendenVerdacht einer strafbaren Handlung.

■ 131 Sofern der Text zusätzlich als Haft-grund noch die Fluchtgefahr erwähnt, istdiese zur Begründung der Rechtmäßigkeit derHaft nicht konstitutiv. Die Konvention läßtandere zusätzliche, in den einzelnen natio-nalen Rechtsordnungen vorgesehene Haft-gründe (wie z. B. Verdunklungs- oder Wie-derholungsgefahr) ausdrücklich zuC. Die

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Fluchtgefahr dokumentiert lediglich die He-rausstellung eines besonders wichtigenHaftgrundes.

■ 132 Die Qualifizierung des ”hinreichen-den” Tatverdachts deckt sich nicht mit demder deutschen Strafrechtswissenschaft geläu-figen Begriff. Nach der Auslegung der Konven-tionsorgane beinhaltet dieser Begriff aus derMRK sicherlich nicht die weitgehenden Vor-aussetzungen des dringenden Tatverdachts,auf der anderen Seite enthält er weitergeh-ende Voraussetzungen, als sie für die Ankla-geerhebung nach der deutschen StPO bekanntsind: Der Haftgrund liegt nach Konventions-recht vor, wenn die Verfolgungsbehörden dieihnen bekannten Tatsachen vernünftig undnachvollziehbar dahingehend bewerten, daßder Beschuldigte die ihm vorgeworfene straf-bare Handlung begangen haben kann. Die an-geführten Gründe müssen ausreichen, umauch einen objektiven Beurteiler davon zuüberzeugen, daß die Schlußfolgerung plausi-bel ist und daher zutreffend sein kann.

■ 133 Ob ein derart weitgehender hinrei-chender Tatverdacht im Einzelfall gegeben ist,versucht der Gerichtshof im Einzelfall zuüberprüfen. Er geht damit sehr viel weiter alsbei der ansonsten auf die Suche nach Willkürreduzierten Überprüfung. Die handelnden Be-hörden und Gerichte können sich insoweitnicht auf einen Vertrauensvorschuß berufen,den sie lediglich bei Nachweis des bösen Wil-lens verspielen. Der Gerichtshof hat bereits inzahlreichen Fällen nachgeprüft, ob er selbstdie Annahme eines hinreichenden Tatver-dachts vernünftig rechtfertigen könnte.

Dabei konzediert der Gerichtshof – ähnlichder deutschen Rechtsprechung –, daß sichVerdachtsmomente im Laufe von Ermittlungs-verfahren verändern. Auch die anfänglicheBejahung eines Tatverdachts kann in der Er-kenntnis hingenommen werden, daß unmittel-bar nach der Verhaftung die Tat noch nicht invollem Umfang aufgeklärt ist und erst vorläu-fige Beweisanzeichen vorliegen. Selbst die

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sich nachträglich herausstellende fehlerhafteWürdigung eines Sachverhalts durch die Er-mittlungsbehörden stellt kein ausreichendesIndiz für die Rechtswidrigkeit der anfäng-lichen Untersuchungshaft dar.

■ 134 Gerade bei der vernunftgemäßen Über-prüfung betont der Gerichtshof die besondereWichtigkeit der Schutzfunktion des Art. 5MRK und der Darstellung einer objektiv nach-prüfbaren, sich aus konkreten Verdachtsmo-menten ergebenden Schlußfolgerung des Tat-verdachts. Deutlich hat dieses der Gerichtshofin seiner Entscheidung FoxCI gemacht. Foxwar in Nordirland unter dem Verdacht fest-genommen worden, er habe möglicherweiseKurierdienste im Zusammenhang mit terroris-tischen Aktivitäten erbracht. Am Tag nach derVerhaftung war er entlassen worden, ohne ei-nem Richter vorgeführt zu werden; Anklagewurde niemals erhoben. Der Gerichtshof kon-statierte eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1Buchst. c MRK, da er die Gründe der Inhaf-tierung nicht nachvollziehen konnte. Offen-sichtlich sind in diesem Fall auch seitens derRegierung keine Versuche unternommen wor-den, derartige Gründe zu unterbreiten; eswurde einerseits auf die einschlägige Vor-strafe des Beschwerdeführers hingewiesen,andererseits konnten konkrete Verdachtsmo-mente im Hinblick auf schützenswerte Inte-ressen anonymer Zeugen nicht dargelegt wer-den. Den Schutz dieser Zeugen akzeptiertzwar der Gerichtshof, fordert aber anderer-seits, daß er überprüfen müsse, ob der Be-schuldigte staatlicher Willkür ausgesetzt wor-den sei. Er müsse daher mindestens gewisseTatsachen oder Informationen haben, die ihndavon überzeugen könnten, daß die festge-nommene Person unter ”reasonable suspicion”stand. Als Bewertungselemente zur Nachprüf-barkeit der polizeilichen Aktion verbliebendem Gerichtshof nur die subjektive Über-zeugung des verhaftenden Polizeibeamten ei-nerseits und die einschlägige – 7 Jahre zu-rückliegende – Vorstrafe andererseits. Diesrechtfertigte eine Freiheitsentziehung nicht.Spätestens mit dieser Entscheidung hat damitder Gerichtshof seine ansonsten gezeigte

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Selbstbeschränkung, lediglich Willküraktenim Rahmen des Art. 5 Abs. 1 MRK nach-zuspüren, aufgegeben und sich in die inhalt-liche Überprüfung richterlicher Überzeu-gungsbildung von Haftgründen begebenCII.

2. Verfahrensgarantien nach derInhaftierung

■ 135 Die Konvention begnügt sich nicht da-mit, die Eingriffsermächtigung für die Fest-nahme eines Bürgers zu begrenzen. Sie fixiertdarüber hinaus Minimalstandards für denVerfahrensablauf nach durchgeführter Fest-nahme.

Art. 5 Abs. 2 MRK konstituiert ein Informa-tionsrecht des Inhaftierten. Über die – meistvon Polizisten vorgenommene Verhaftung –muß unverzüglich ein Richter entscheiden.Verbleibt es bei der Inhaftierung, besteht einbesonderer Anspruch auf Beschleunigung desStrafverfahrens, dessen Nichterfüllung die so-fortige Haftentlassung zur Folge hat (Art. 5Abs. 3 MRK). Während des Vollzugs der Un-tersuchungshaft besteht darüber hinaus dasRecht des Inhaftierten auf eine gerichtlicheHaftkontrolle (Art. 5 Abs. 4 MRK).

a) Das Recht auf Unterrichtung (Art. 5 Abs. 2MRK)

■ 136 Das Recht, in möglichst kurzer Fristüber die Gründe der Festnahme und über diegegen ihn erhobenen Beschuldigungen unter-richtet zu werden, hat faktisch keine weiter-gehende Funktion, als den Inhaftierten vonder – neben der Freiheitsentziehung selbst –zusätzlichen Belastung zu befreien, Opferundurchschaubarer staatlicher Willkürmaß-nahmen zu sein. Die Information über denHintergrund der Haft kann allenfalls ein ersterSchritt für den Beschuldigten sein, Gedankenüber mögliche Interventionen oder die Einlei-tung von Rechtsbehelfen anzustellen.

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■ 137 Diesem Anspruch können Ermittlungs-behörden bereits mit relativ geringem Auf-wand entsprechen. Der Gerichtshof hat daherkeine sehr hohen Anforderungen an Art, Zeit-punkt und Umfang der Informationser-teilung gestellt. Insbesondere besteht kein An-spruch auf schriftliche Informationserteilung.Wer in welcher Form informiert, bleibt demnationalen Gesetzgeber überlassen. Es ist aus-reichend, wenn das Verständnis der Mittei-lung sichergestellt ist. Insoweit verweist dieKonvention ausdrücklich darauf, daß ggf. dieMitteilung in einer dem Verhafteten verständ-lichen Sprache erfolgen soll. Da die Informa-tionserteilung durch einen Haftbefehl, dergemäß §§ 112 ff. StPO ergangen ist, zum Groß-teil weitreichender als die nach Art. 5 Abs. 2MRK geforderte Information ist, läßt sichmöglicherweise nicht einmal die fehlendeÜbersetzung des Haftbefehls gegen einen derdeutschen Sprache unkundigen Ausländer alskonventionswidrig bewerten; die Kommissionhielt im Fall van der LeerCIII eine übersetzterichterliche Vernehmung zu den vorgeworfen-en Punkten für ausreichend.

■ 138 Auch der notwendige Umfang der Un-terrichtung ist dürftiger, als dies der Konven-tionstext zunächst nahelegt. Die Informations-pflicht gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a MRK istsehr viel weitgehender, da diese den Beschul-digten in die Lage versetzen muß, seine Ver-teidigung in angemessener Weise vorzuberei-ten. Zwar soll auch der Inhaftierte unmittelbarnach der Verhaftung hinreichend über die Tat-sachen und Beweismittel informiert werden,die der Inhaftierung zugrunde liegen, eineNachvollziehbarkeit der Verdachtsgründewird sich hieraus jedoch regelmäßig nicht ab-leiten lassen. Die erste Information spiegeltdas Ergebnis und nicht den Weg der vorher-gehenden Ermittlungen wider.

■ 139 Den Zeitpunkt der Informationsertei-lung beschreibt der Konventionstext als ”mög-lichst kurze Frist”. Damit steht lediglich fest,daß keine zeitliche Identität zwischen Fest-nahme und Unterrichtung über deren Grund

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bestehen muß. Die Konvention trägt den fak-tischen Schwierigkeiten insbesondere beiungeplanten Festnahmen Rechnung. Der Ge-richtshof hatte bislang keine Gelegenheit fest-zustellen, wie weit die Informationserteilungnach der Festnahme hinausgeschoben werdendarf. Die Literatur ist sich weitgehend einig,daß allenfalls eine Verzögerung von wenigenStunden vertretbar ist. In dem Fall van derLeer hatte der Gerichtshof zumindest die ex-treme Verzögerung der Mitteilung über denVerhaftungsgrund 10 Tage nach der Inhaftie-rung als konventionswidrig angesehen.

b) Vorführung vor einen Richter (Art. 5 Abs.3 S. 1 MRK)

■ 140 Nach der Inhaftierung durch Polizei-beamte hat der Beschuldigte das Recht, vonunabhängiger Seite die Überprüfung derRechtmäßigkeit zu verlangen. Ein Großteil derAuslegungsfragen des Art. 5 Abs. 3 S. 1 MRKbeschäftigt sich mit der Frage, welche Institu-tion zu dieser Überprüfung ermächtigt ist. DieKonvention selbst sieht hierfür nicht nur denRichter im klassischen Sinn, sondern auch be-stimmte Beamte vor. Das deutsche Recht tan-giert diese Auslegungspraxis nicht.

■ 141 ”Unverzüglich” muß der Beschuldig-te einem Richter vorgeführt werden. Der ka-suistischen Rechtsprechung des Gerichtshofsläßt sich bislang eine unbedingt einzuhalten-de Frist nicht entnehmen. Eine 3- bis 4-tägigeFristCIV scheint die Akzeptanzgrenze der Or-gane zu sein. Eine 4-Tages-FristCIV undeine 7-Tages-FristCV hielt der Gerichtshofjedenfalls für zu lang.

Daß die Vorführung vor den Richter eine An-hörung des Inhaftierten beinhaltet, die bei derEntscheidung über die Rechtmäßigkeit der In-haftierung zu berücksichtigen ist, dürfteselbstverständlich sein. Die Überflüssigkeit ei-ner Vorführung wird für den Fall diskutiert,daß die Festnahme aufgrund eines bereitsvorliegenden richterlichen Haftbefehls er-folgteCVI. Daß die deutsche StPO insoweit

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zwingend eine Vorführung vor den Richtervorschreibt, zeigt, daß die formellen Garan-tien der StPO insoweit allgemeinen rechts-staatlichen Mindeststandard übertreffen.

c) Anspruch auf Beschleunigung inHaftsachen

■ 142 Daß Strafverfahren generell einem Be-schleunigungsgebot unterliegen, fixiert alsallgemeine Verfahrensgarantie bereits Art. 6Abs. 1 S. 1 MRK. Demgegenüber erweitertArt. 5 Abs. 3 S. 2 MRK diesen Anspruch beiVerfahren, in denen der Beschuldigte inhaf-tiert ist. Liegen Haftgründe vor, so hat der In-haftierte ein besonders schützenswertes In-teresse daran, das der Verhaftung zugrundeliegende Strafverfahren zu einem Ende zubringen. Im Gegensatz zur Strafhaft muß derUntersuchungsgefangene das zusätzliche Leidder Unbestimmtheit der Haftdauer auf sichnehmen.

Um dem besonderen Beschleunigungsan-spruch des Untersuchungsgefangenen Rechnung zu tragen, zeigt die Konvention aus-drücklich und markant die Folgen eines Ver-stoßes gegen das Beschleunigungsgebot auf:Der Inhaftierte hat Anspruch auf Haftentlas-sung während des Verfahrens.

■ 143 Der Konventionstext verdeutlicht da-mit die Dringlichkeit der Forderung nachBeschleunigung, ohne auf der anderen Seitekonkrete Kriterien für die Beurteilung vonKonventionsverstößen anbieten zu können.Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK ist daher eine der Nor-men, deren Auslegung durch den Gerichtshofam häufigsten bemüht wurde. Diese Bemü-hungen von Beschwerdeführern waren über-durchschnittlich erfolgreich. In zahlreichenEinzelfällen hat der Gerichtshof Beispiele da-für erarbeitet, wie unangemessen lang teilwei-se Strafverfahren seitens der Gerichte geführtund damit Rechte der Inhaftierten verletztwurdenCVII.

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■ 144 Mehrfach hatte der Gerichtshof sichmit der Frage der Berechnung der Frist zubefassen, deren Angemessenheit er zu beur-teilen hatte.

Fristbeginn liegt regelmäßig zum Zeitpunktder Inhaftierung vor. Anderes gilt allenfallsfür den Fall der Auslieferung; da Verzögerung-en im Verantwortungsbereich des ausliefern-den Staates dem um Auslieferung nachsu-chenden Staat nicht angerechnet werdensollen, beginnt die Frist erst mit der tatsäch-lichen Auslieferung zu laufen. Sämtliche Haft-zeiten werden in die Frist miteinberechnet,auch wenn der Betroffene zwischenzeitlichauf freien Fuß gesetzt worden war.

■ 145 Kontrovers verlief bei den Konven-tionsorgangen die Diskussion der Frage, ob dieFrist mit Erlaß eines – nicht rechtskräftigen– Urteils erster Instanz endet. Zuletzt bestä-tigte der Gerichtshof in einer Entscheidunggegen Österreich seine Rechtsprechung, wo-nach das Fristende mit dem Erlaß des erstin-stanzlichen Urteils zusammenfälltCVIII.Obwohl das österreichische wie auch das deut-sche Prozeßrecht den Inhaftierten bis zurendgültigen rechtskräftigen Verurteilung alsUntersuchungsgefangenen behandelt, beziehtder Gerichtshof somit die Zeit nach einerersten Tatsachenverurteilung nicht in die Ga-rantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK ein. Trotzhieran erheblich geübter KritikCIX hält erhieran fest.

■ 146 Die Leitlinien zur Bewertung der An-gemessenheit einer beschleunigten Bearbei-tung der Haftsache hat der Gerichtshof dahin-gehend zusammengefaßt, daß die Fortdauerder Untersuchungshaft im Einzelfall nur dannzu rechtfertigen ist, wenn konkrete Anhalts-punkte für das Vorliegen eines echten öffent-lichen Interesses vorhanden sind, welches,unbeschadet der Unschuldsvermutung, gegen-über dem Grundsatz der Achtung der persön-lichen Freiheit überwiegtCX.

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■ 147 Im Kern muß damit ein echtes öffent-liches Interesse an der Fortdauer der U-Haftauch bei Weiterführung der Ermittlungenoder des Gerichtsverfahrens positiv festgestelltwerden. Ohne daß der Gerichtshof dem bis-lang ausdrücklich gefolgt wäre, hatte die Kom-mission insgesamt 7 Kriterien aufgestellt,anhand derer sie die Angemessenheit derbeschleunigten Bearbeitung einer Haft-sache prüft:

- die tatsächliche Dauer der Haft- das Verhältnis der Haftdauer zum Delikt

und der angedrohten Strafe- die konkreten Auswirkungen der Haft auf

den Betroffenen- die Schwierigkeit der aufzuklärenden Straf-

sache- das Verhalten des Beschwerdeführers

selbst- die Behandlung des Falles durch die Er-

mittlungsbehörden- die Behandlung des Falles durch die zu-

ständigen gerichtlichen Instanzen.

■ 148 Auch wenn der Gerichtshof selbst vor-nehmlich auf die Schwierigkeit der Strafsachesowie die Bearbeitungsart durch die Justiz-behörden hinweist, werden einzelne derangeführten Kriterien in den Gerichtsent-scheidungen häufig berücksichtigt. Die Ent-scheidungsbreite ist erstaunlich und läßtleider nur wenig Rückschlüsse auf die Vorher-sehbarkeit der Beurteilung einzelner Fälle zu.

Arbeitsüberlastungen oder fehlerhafte Ge-richtsorganisationen werden vom Gerichts-hof häufig als Versäumnis kritisiert und sindGrundlagen der Feststellungen konventions-widrigen Verhaltens des beklagten Staates.Als unzumutbar kritisiert beispielsweise derGerichtshof die verzögerliche Absetzung ei-nes Urteils 33 Monate nach der Urteilsverkün-dung durch einen völlig überlasteten Rich-terCXI.

■ 149 Für die Notwendigkeit eines längerenVerfahrens sprechen jeweils komplex zu er-

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mittelnde Sachverhalte, insbesondere in Wirt-schaftsstrafverfahren. Der Gerichtshof hatauch akzeptiert, daß Ermittlungen an unter-schiedlichen Orten notwendig und damit zeit-raubend waren. Er achtete jedoch im Einzel-fall darauf, daß alle denkbaren technischenMaßnahmen zur Beschleunigung ausgenutztwurden. Die Anfertigung von Fotokopiensind auch für den Gerichtshof ein selbstver-ständliches Mittel zur Effektivierung einesStrafverfahrensCXII.

■ 150 Art. 5 Abs. 3 S. 3 MRK legt in Fragender Haftentscheidung ausdrücklich die Über-legung nahe, ob der Zweck der Haft – dieSicherstellung des Erscheinens vor Gericht –auch durch eine andere Sicherheitsleistungerfüllt werden kann. Eine Kaution kommt hierebenso in Betracht wie andere nach demdeutschen Gesetz vorgesehene Auflagen imRahmen eines Verschonungsbeschlusses.Entgegen dem vordergründigen Wortlaut hatder Gerichtshof festgestellt, daß diese Sicher-heitsleistung nicht nur fakultativer Art ist;eine Kaution hat beispielsweise zwingendVorrang vor dem Vollzug der Untersuchungs-haft, wenn sie nach Abwägung aller Umstän-de als geeignete Sicherungsmaßnahme er-scheintCXIII. Die Festsetzung der Höhe einermöglichen Sicherheitsleistung richtet sichausschließlich nach dem Sicherungszweck,d. h. nach den persönlichen Verhältnissendes Beschuldigten, und nicht nach möglich-en Schadensersatzleistungen.

d) Das Recht auf gerichtliche Haftprüfung(Art. 5 Abs. 4 MRK)

■ 151 Der Anwendungsbereich des Abs. 4des Art. 5 MRK will sich dem deutschen Straf-verteidiger nach der Erörterung des Abs. 3nur schwer erschließen. Ist in Abs. 3 ohnehineine Haftprüfung vorgeschrieben, erscheintdie weitere Überprüfungsgarantie in Abs. 4überflüssig, es sei denn, diese bezieht sichausschließlich auf nachfolgende richterlicheÜberprüfungen während der Haft.

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■ 152 Die Formulierung des Abs. 4 läßt sichnur unter zwei Voraussetzungen verstehen:Zum einen formuliert Abs. 4 die Garantieeiner richterlichen Überprüfung für sämt-liche Arten der nach Abs. 1 möglichen Frei-heitsentziehung (z. B. auch bei der Ausliefe-rungshaft); die Garantie des Abs. 3 hatte sichausdrücklich nur auf die strafgerichtlicheUntersuchungshaft bezogen. Aber auch fürdie U-Haft begnügt sich die Garantie des Abs.3 damit, unmittelbar nach der Festnahme dieunverzügliche Überprüfung einem besonde-ren Beamten (und nicht einem Richter) zuübertragen. Abs. 4 macht nach dem Vorbilddes englischen Habeas-Corpus-Verfahrens dieZulässigkeit einer Haftprüfung ausschließ-lich davon abhängig, daß diese durch einenunabhängigen Richter erfolgt.

Gemessen an dem Regelwerk der StPO kanndiese Vorschrift daher nur sehr begrenzte Aus-wirkungen auf die Rechte eines in Deutsch-land Inhaftierten haben. Da die richterlicheHaftüberprüfung des Abs. 4 in der StPO be-reits bei der ersten Vorführung des Beschul-digten vor einem Richter erfolgt, gelten diefür Abs. 4 aufgestellten Maßstäbe bereits fürdie richterliche Haftentscheidung nach derersten Vorführung.

■ 153 Der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte nimmt für sich in Anspruch, inden ihm vorgetragenen Verfahren die ”Recht-mäßigkeit” der Haft zu überprüfen. Hierzugehört nicht allein die Feststellung, daß dieformellen Voraussetzungen – z. B. der Erlaßeines Haftbefehls – gegeben sind; vielmehrmüssen nationale Haftentscheidungen sichauch an den inhaltlichen Kriterien des Art. 5MRK messen lassen. Will ein nationales Haft-prüfungsverfahren dem Anspruch des Art. 5Abs. 4 MRK gerecht werden, so muß der über-prüfende Haftrichter zumindest ebenfalls dieMöglichkeit haben, eine weitere Inhaftierungnicht nur anhand der formellen Vorausset-zungen, sondern auch aufgrund ihrer sach-lichen Notwendigkeit überprüfen zu können.Ein englisches Überprüfungsverfahren, in demder Richter bei einer Einweisung in eine psy-

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chiatrische Anstalt das vorausgegangene Ver-waltungshandeln lediglich auf Willkür über-prüfen konnte, selbst zum Geisteszustand desBeschwerdeführers aber keine Feststellungentreffen durfte, wurde als konventionswidrigangesehen.

■ 154 Für strafrechtliche Haftüberprüfungenhat der Gerichtshof folgende Leitlinien aufge-stellt:

Prinzipiell steht das Recht auf Haftprüfunglediglich den Untersuchungsgefangenen zu,nicht dagegen den Strafgefangenen. Bei die-sen stellt bereits das zugrunde liegende rich-terliche Urteil die von Abs. 4 geforderte ge-richtliche Entscheidung dar. Diskussionsbedarfinsoweit gibt es lediglich bei der Verurteilungzu Strafen von unbestimmter Dauer, bei de-nen aufgrund der Persönlichkeitsentwicklungzu einem späteren Zeitpunkt entschiedenwerden muß, wann eine Haftentlassung in Be-tracht kommtCXIV.

■ 155 Auch für das Haftprüfungsverfahrenfordert die Konvention beschleunigte Bear-beitung. Nach Antrag des Inhaftierten hat daszuständige Gericht unverzüglich über dieRechtmäßigkeit der Fortdauer der Haft zu ent-scheiden. Die offizielle österreichische Über-setzung benutzt den Begriff ”ehetunlich”. Derenglische Begriff ”speedily” macht die Ernst-haftigkeit auch dieses Beschleunigungsgebo-tes deutlich. Der Gerichtshof scheint in seinerRechtsprechung von denkbaren Maximal-fristen von einem Monat auszugehen. Im FallSanchez-ReisseCXV hielt er eine Bearbei-tungsfrist von 46 Tagen für konventionswid-rig. Ähnlich äußerte sich die Kommission imFall Bezicheri ./. ItalienCXVI. Dort hatte derBeschwerdeführer neben dem Haftprüfungs-antrag weitere Beweisermittlungsanträgegestellt; nach Vernehmung des letzten bean-tragten Zeugen vergingen 1<a-satznr>1</a-satznr>/2 Monate bis zur Entscheidung desUntersuchungsrichters – dies war konven-tionswidrig.

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Das Haftüberprüfungsverfahren muß aus zeit-lichen Gründen möglich sein. Eine Verletzungder Konvention hat der Gerichtshof daherdann abgelehnt, wenn die Beschwerdeführerbereits nach 30 bzw. 46 Stunden aus der Poli-zeihaft entlassen worden waren und ein Rich-ter mit der Sache nicht mehr befaßt werdenkonnteCXVII.

■ 156 Keinen Zweifel haben die Konven-tionsorgane daran, daß das Habeas-Corpus-Verfahren bei der U-Haft mehrfach durchge-führt werden kann. Art. 5 Abs 4 MRK enthältvor allem die Garantie eines gerichtlichen Be-schwerdeverfahrens und verfolgt den Zweck,den festgenommenen und in Haft gehaltenenPersonen das Recht auf eine richterliche Nach-prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen sie er-griffenen Maßnahmen zu geben. Sie enthältferner die Garantie eines raschen Verfahrens.Da während einer Voruntersuchung dieGründe für die Untersuchungshaft wegfallenkönnen, muß immer eine Möglichkeit einerneuerlichen, in angemessenen Abständen aus-zuübenden Überprüfung bestehen. Die ”Ange-messenheit” solcher Abstände kann nur nachden Umständen des Einzelfalles beurteilt wer-den. Diesbezüglich muß besonders die jewei-lige Art von Haft beachtet werden. Währendrelativ lange Abstände zu fordern sind, wennes sich um die Unterbringung eines Geistes-kranken handelt, können diese Abstände nurverhältnismäßig kurz sein, wenn der Betrof-fene sich unter dem Verdacht der Begehungeiner Straftat in Untersuchungshaft befindet.Nicht zuletzt im Hinblick auf die Möglichkeitneuen Sachvortrags forderte der Gerichtshofin einem Fall die Wiederholung der Haftprü-fung nach einem MonatCXVIII.

■ 157 Das Haftprüfungsverfahren selbstmuß rechtsstaatliche Mindeststandards be-rücksichtigen, damit dem Inhaftierten eineeffektive Gelegenheit eingeräumt wird, demGericht alle für ihn sprechenden Gesichts-punkte zu unterbreiten. Auch wenn dieseMindeststandards sich nicht an den Garantiendes Art. 6 MRK für das ”normale” Strafver-

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fahren orientieren müssen, hat der Gerichts-hof in seiner Rechtsprechung einige Merkma-le herausgearbeitet, die für die Wahrung derRechte des Inhaftierten beachtet werden müs-sen.

■ 158 Für nicht notwendig wird ein zwingen-des mündliches Verfahren gehalten. Wennnicht eine Ausnahmesituation die persönlicheEinvernahme nahelegt, soll der schriftlicheVortrag der Enthaftungsgründe ausreichendsein. Dennoch überprüft der Gerichtshof in je-dem Einzelfall, ob der gesamte Ablauf desÜberprüfungsverfahrens es rechtfertigt, voneinem im Ansatz kontradiktorischen Ver-fahren zu sprechen. Der Waffengleichheit imHaftprüfungsverfahren gilt dabei das beson-dere Augenmerk des GerichtshofsCXIX. ImEinzelfall kann die Forderung nach einerrechtsstaatlichen Ausgestaltung des Haftprü-fungsverfahrens gebieten, dem Inhaftiertenentweder bei seiner schriftlichen Stellungnah-me die Hilfe eines Anwalts zukommen zu las-sen oder den Inhaftierten selbst persönlichanzuhören.

■ 159 Entscheidendes Kriterium für denMinimalstandard eines kontradiktorischenVerfahrens bei der Haftprüfung kann auch dasAkteneinsichtsrecht sein. Die Organe neh-men es noch als nicht konventionswidrig hin,wenn unmittelbar nach der Verhaftung eineAkteneinsicht nicht gewährt wird. Ein später-es Haftprüfungsverfahren kann aber zwin-gend die Einsichtnahme des Verteidigers indie Akten voraussetzen, wenn nur auf diesemWege ein Beschluß gegen die Haftanordnungwirksam bekämpft werden kannCXX.

■ 160 Die große Bedeutung des Habeas-Cor-pus-Verfahrens korrespondiert mit rechtsstaat-lichen formalen Garantien, die schon weit-gehend einem ordentlichen Strafverfahrenentsprechen. Verantwortlich für die Einhal-tung dieser Garantien ist der Richter. Demdeutschen Strafverteidiger dürfte dies in vie-len Fällen willkommener Anlaß sein, im Haft-

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prüfungsverfahren gegenüber dem Richterauf vollständige Informationen und ggf. Ak-teneinsicht zu drängen.

Gerade das letzte Beispiel macht nochmalsdeutlich, welchen zusätzlichen argumentati-ven Wert Entscheidungen des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte in der Praxisdes Strafverteidiger haben können. In ihrerFokussierung auf die strafprozessualenGrundrechte verdeutlichen diese Entschei-dungen häufig den Kern des Schutzbedürf-nisses des Angeklagten vor Gericht, der imGestrüpp detaillierter nationaler Prozeßrege-lungen manchmal unterzugehen droht.

Eine über die vorliegende Darstellung hinaus-gehende Beschäftigung mit den Regelungender MRK und ihrer Auslegung durch dieOrgane wird den Strafverteidiger allerdingsauch sehr bald zu der Erkenntnis bringen, daßein großer Teil der durch nationales Gesetzgewährten Rechte, die er zum ehernen Be-stand der Strafverteidigung zählt, keine Ab-sicherung durch das Europäische Grundgesetzerfährt. Das Verbot der Beweisantizipationbei der Stellung von Beweisanträgen ist z. B.der MRK ebensowenig heilig wie der aus-nahmslose Richtervorbehalt bei Haftentschei-dungen. Nach einer ersten Enttäuschung kön-nen derartige Erkenntnisse allerdings dazubeitragen, täglich reklamierte Verteidigungs-rechte zu hinterfragen und über eine Neu-orientierung zusätzliche Argumentationsan-sätze zu finden. Festgefahrene Strukturen derRechtsprechung zu Lasten der Verteidigungs-rechte können über den Blickwinkel der MRKwieder aufgebrochen werden. Das Denken ge-gen den Strom eingefahrener Gewohnheitenim Gerichtssaal war stets die Stärke einererfolgreichen Verteidigung. Die Überprüfungdes Prozeßgeschehens an den Maßstäben derMRK kann hierbei helfen.

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I s. Ress, EuGRZ 1996, 350; Böse, StraFo 1999, 293f.; ausführlich Polakiewicz, Die Verpflichtung der Staaten aus den Urteilen des EGMR,1993.

II Frowein/Peukert, Art. 6 MRK Rn 162.

III Callewaert, EuGRZ 1996, 369.

IV s.Fall Ensslin, EuGRZ 1978, 323.

V Vogler, IK-EMRK, Art. 6 Rn 418.

VI Fall Adolf ./. Österreich, EuGRZ 1982, 297.

VII s.zusammenfassend Stuckenberg, Untersuchung-en zur Unschuldsvermutung (1998), S. 125 ff.

VIII EuGRZ 1983, 479.

IX Fall Lutz ./. Deutschland, EuGRZ 1987, 403.

X Westerdiek, EuGRZ 1987, 323 ff.

XI Ähnlich fragwürdige Bewertungen von Formulie-rungsunterschieden hatte das Bundesverfassungsge-richt bei beanstandeten Kostenentscheidungen zu § 153 Abs. 2 StPO vorzunehmen, s. BVerfG StV 1991, 111. Kritisch hierzu Geppert, in: JURA 1993, 160 ff. Deutlicher betonte das BVerfG die Konse-quenzen der Unschuldsvermutung bei Kostenauf-bürdungen im Rahmen eines Privatklageverfahrens,EuGRZ 1987, 203, 206 ff.

XII s. EuGRZ 1982, 303.

XIII Fall Nölkenbockhoff ./. Deutschland, EuGRZ 1987, 410 ff.

XIV ÖJZ 1993, 816 ff.

XV Z.B. OLG Düsseldorf NStZ 1992, 131.

XVI Z.B. OLG Celle StV 1990, 504; OLG München StV 1991, 174; vgl. die Übersichten bei Boettich-er, NStZ 1991, 1 ff.; Ostendorf, StV 1992, 288ff.; Stree, NStZ 1992, 153 ff.

XVII StV 1992, 282.

XVIII Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 170.

XIX OLG Schleswig StV 1992, 327.

XX Hierzu ausführlich Gillmeister, StraFo 1996, 115 f.und Frister, StV 1998, 159 ff.

XXI EuGRZ 1993, 70.

XXII Twalib ./. Griechenland, ÖJZ 1999, 390 ff.

XXIII Daud ./. Portugal, ÖJZ 1999, 198 ff.

XXIV Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 185 m. w. N.

XXV Foucher ./. Frankreich, NStZ 1998, 429 m. Anm.Deumeland; s. auch Böse, StraFO 1999, 293 ff.

XXVI Müller, FS-Koch, S. 196 f.

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XXVII Fall Pakelli ./. Deutschland, EuGRZ 1983, 344 ff.

XXVIII Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 192.

XXIX ÖJZ 1994, 517 f.

XXX Daud ./. Portugal, ÖJZ 1999, 198 ff.

XXXI Fall Poitrimol ./. Frankreich, ÖJZ 1994, 468.

XXXII Fall Lala ./. Niederlande, ÖJZ 1995, 197.

XXXIII Fall van Geyseghem ./. Belgien, EuGRZ 1999, 9.

XXXIV Callewaert, EuGRZ 1996, 369.

XXXV Fall Murray, EuGRZ 1996, 587.

XXXVI Vogler, IK-EMRK, Art. 6 Rn 527.

XXXVII Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 199.

XXXVIII ÖJZ 1991, 745 f.

XXXIX Fall Kremzow ./. Österreich, EuGRZ 1995, 542.

XL EuGRZ 1983, 344 ff = NStZ 1983, 373.

XLI Fall Boner, ÖJZ 1995, 273.

XLII EuGRZ 1992, 542.

XLIII EuGRZ 1992, 440.

XLIV Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 200, Fn 854.

XLV EuGRZ 1992, 476 ff.

XLVI Unterpertinger ./. Österreich, EuGRZ 1987, 147.

XLVII ÖJZ 1990, 312 ff.

XLVIII StV 1990, 481 ff.

XLIX ÖJZ 1991, 25.

L Saidi ./. Frankreich, ÖJZ 1994, 322.

LI Fall v. Mechelen u. a. ./. NL, StraFo 1997, 239m. Anm. Sommer.

LII EuGRZ 1992, 300.

LIII Die lediglich akustische Befragung ohne visuel-len Eindruck ist nicht ausreichend, s. StraFo 1997, 239.

LIV Zusammenfassend Sommer, StraFo 1995, 45 ff.

LV NJW 1979, 1091 f.

LVI EuGRZ 1993, 290.

LVII Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 205.

LVIII Heidelberger Kommentar-Julius, § 259 StPO Rn16 m. w. N.

LVIX Geppert, ”fair-trial-Prinzip”, Jura 1992, 597 ff.

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LX ÖJZ 1992, 242, 244.

LXI Z.B. Fall Brandstetter ./. Österreich, EuGRZ 1992,190 ff., 194; Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 72 m.w.N.

LXII Fall Kraska ./. Schweiz, ÖJZ 1992, 818, in dem zweifelhaft war, ob alle Richter vor der Haupt-ver handlung sämtliche Eingaben des Angeklag-ten überhaupt gelesen hatten.

LXIII EuGRZ 1985, 631.

LXIV Belziuk ./. Polen, ÖJZ 1999, 117 ff.

LXV Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 72, Fn 356 m. w. N.

LXVI Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 95, Fn 430.

LXVII EuGRZ 1992, 539.

LXVIII Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 94.

LXIX EuGRZ 1993, 68 f.

LXX EuGRZ 1997, 154.

LXXI Fall Barbera u. a., zitiert nach Frowein/Peukert,Art. 6 Rn 109.

LXXII Fall Texeira de Castro ./. Portugal, NStZ 1999, 47 ff. m. Anm. Sommer = StV 1999, S. 127 f. m. Anm. Kempf.

LXIII EuGRZ 1987, 355.

LXXIV EuGRZ 1982, 542.

LXXV EuGRZ 1993, 70.

LXXVI EuGRZ 1996, 587, 590.

LXXVII Saunders ./. Vereinigtes Königreich, ÖJZ 1998, 32 ff.

LXXVIII EuGRZ 1988, 613.

LXXIX EuGRZ 1983, 371 ff.

LXXX Frowein/Peukert, Art. 6 Rn 147 Fn 636.

LXXXI BVerfG NJW 1984, 967; NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591.

LXXXII BGH StV 1999, 206.

LXXXIII EuGRZ 1983, 380.

LXXXIV ÖJZ 1992, 242 ff.

LXXXV EuGRZ 1975, 393.

LXXXVI EuGRZ 1985, 301.

LXXXVII Zur Entwicklung Callewaert, EuGRZ 1996, 368.

LXXXVIII ÖJZ 1995, 36.

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LXXXIX Fall Jaakoub ./. Belgien, ÖJZ 1988, 345 f.

XC Fall Hauschildt./.Dänemark, EuGRZ 1993, 122 ff.

XCI Fall Imbrioscia, ÖJZ 1994, 517 ff.

XCII EuGRZ 1976, 221.

XCIII Hierzu näher Jung, EuGRZ 1996, 370 ff.

XCIV ÖJZ 1993, 532.

XCV EuGRZ 1985, 62.

XCVI Frowein/Peukert, Art. 5 Rn 31.

XCVII EuGRZ 1978, 398.

XCVIII StraFo 1998, 266.

XCIX EuGRZ 1989, 557.

C LR-Rosenberg, Art. 5 MRK Rn 68.

CI EuGRZ 1989, 556.

CII Trechsel, StV 1992, 190.

CIII Frowein/Peukert, Art. 5 Rn 109 Fn 232.

CIV Fall Brogan, EuGRZ 1987, 444.

CV Fall de Jong, EuGRZ 1985, 700.

CVI LR-Gollwitzer, Art. 5 MRK Rn 110.

CVII EuGRZ 1993, 388.

CVIII ÖJZ 1990, 482 ff.

CIX Z.B. Trechsel, StV 1996, 328 ff.

CX EuGRZ 1993, 384 f.

CXI ÖJZ 1990, 482 ff. = StV 1995, 328.

CXII ÖJZ 1992, 242.

CXIII Wemhoff ./. Deutschland, JR 1968, 463.

CXIV s. hierzu die Fälle Thynne, Wilson und Gunnell, mit Anm. von Trechsel, StV 1993, 98 ff.

CXV EuGRZ 1988, 523.

CXVI EuGRZ 1988, 505 f.

CXVII StV 1992, 189.

CXVIII EuGRZ 1988, 506.

CXIX Fall Sanchez-Reisse, EuGRZ 1988, 526.

CXX Fall Lamy ./. Belgien, ÖJZ 1989, 763 f.

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