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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

PIETISMUS UND NEUZEIT

EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE

DES NEUEREN PROTESTANTISMUS

Im Auftrag der Historischen Kommissionzur Erforschung des Pietismus

herausgegeben vonRudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen,Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth,

Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann

Band 38 – 2012

VANDENHOECK & RUPRECHT

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

Geschäftsführender HerausgeberProf. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum fürPietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale

RedaktionPD Dr. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum fürPietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale

Anschriften der Autorinnen und AutorenProf. Dr. Veronika Albrecht-Birkner, Universität Siegen, Fakultät 1/ Ev. Theologie, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen • Prof. Dr. Craig D. Atwood, Moravian Theological Seminary, 60 Locust Str., USA-Bethlehem, PA 18018 • Prof. em. Dr. Rudolf Dellsperger, Tulpenweg 110, CH-3098 Köniz • Prof. em.Dr. Jörg-Ulrich Fechner, M. Litt. Cantab., Ruhr-Universität-Bochum, Fakultät für Philologie, Ger-manistisches Institut, 44780 Bochum • Dr. Andrew Z. Hansen, University of Notre Dame, Departementof History, 219 O’Shaughnessy, USA-Notre Dame, IN 46556 • Dr. Kenichi Hasegawa, Osaka City Uni-versity, Graduate School of Literature and Human Sciences, 3–3–138 Sugimoto, Sumiyoshi-Ku, Osaka-Shi, 558–8585 Japan • Hiromi Kora, M.A., Hinterweg 21, 07749 Jena • Prof. Dr. Lothar van Laak, Uni-versität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, PF 100131, 33501 Bielefeld • Prof.Dr. Fred van Lieburg, Vrije Universiteit Amsterdam, Faculteit der Letteren, De Boelelaan 1105, NL-10-81 HV Amsterdam • Pfr. i.R. Dr. Reinhard Lieske, Marienstr. 18, 37073 Göttingen • Dr. Georg Neuge-bauer, Universität Leipzig, Theologische Fakultät, Institut für Systematische Theologie, Martin-Luther-Ring 3, 04109 Leipzig • Dr. Alexander Pyrges, German Historical Institute Washington DC, 1607 NewHampshire Ave NW, USA-Washington DC 20009–2562 • PD Dr. Gesine Lenore Schiewer, UniversitätBern, Institut für Germanistik, Unitobler Länggassstr. 49, CH-3000 Bern 9 • Prof. Dr. Pia Schmid, Mar-tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Francke-platz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale • Dr. Malte van Spankeren, Westfälische Wilhelms-UniversitätMünster, Evangelisch-Theologische Fakultät, Seminar für Kirchengeschichte II, Universitätsstr. 13–17,48143 Münster • PD Dr. Friedemann Stengel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Theologi-sche Fakultät, Kirchen- und Dogmengeschichte, Franckeplatz 1, Haus 30, 06110 Halle/Saale • Prof. em.Dr. Volker Stolle, Wallstadter Str. 52, 068259 Mannheim • Prof. Dr. Jonathan Strom, Emory University,Candler School of Theology, 1531 Dickey Drive, USA-Atlanta, GA 30322 • Pfr. Dr. Frank Stückemann,Kirchstr. 2, 59494 Soest-Meiningsen • Prof. em. Dr. Dr. h.c. Johannes Wallmann, Oranienburger Str. 22,10178 Berlin

Mit 11 Abb.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-55910-9ISBN 978-3-647-55910-0 (E-Book)

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Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Printed in Germany.Satz, Druck und Bindung: HHubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

Vorwort

Der neue Band des Jahrbuchs schreitet historisch die Spanne vom späten 17.bis ins frühe 20. Jahrhundert aus, von Philipp Jakob Spener bis zu HermannHesse. Den Anfang macht Johannes Wallmanns umfängliche Darstellung sei-ner Tätigkeit als Herausgeber der kritischen Edition der Spenerbriefe. Bei die-sem seit 25 Jahren währenden Projekt, das zunächst von der DFG, nunmehrund für die kommenden 15 Jahre von der Sächsischen Akademie der Wissen-schaften getragen wird und nach den Anfängen in Bochum und dann in Berlinnun in Halle in den Räumen des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusfor-schung angesiedelt ist, handelt es sich um einen editionswissenschaftlichenMeilenstein. Von dieser Arbeit profitiert nicht nur die Kirchengeschichts-schreibung, insbesondere die Pietismusforschung, sondern die gesamte Früh-neuzeitforschung.Andere Beiträge beschäftigen sich mit einem an Johann Arndts Wahrem

Christentum orientierten Bildprogramm aus der Kirche von Steigra im heutigenSachsen-Anhalt. Darüber hinaus werden aus unterschiedlicher disziplinärerPerspektive sprachliche und ‚sprechliche‘ Besonderheiten in Textsorten imRadikalen Pietismus untersucht und die Herrnhuter Lebensläufe als erzie-hungshistorische Quelle gelesen. Georg Christian Knapp, Kondirektor AugustHermann Niemeyers am Halleschen Waisenhaus, steht in einem weiteren Bei-trag als möglicherweise letzter Hallescher Pietist zur Diskussion. Prominentvertreten ist die Forschung zur Erweckungsbewegung des späten 18. und desfrühen 19. Jahrhunderts mit drei Studien zu Minden-Ravensberg, zu Jüterbogund Bentheim. Zwei weitere Beiträge bestimmen das Verhältnis von Literaturund Frömmigkeit bzw. von Literatur und religiöser Sozialisation am Verhält-nis von Matthias Claudius zu Paul Gerhardt und bei Hermann Hesse.Eine bibliographische Besonderheit in diesem Band sei eigens hervorgeho-

ben: Ergänzend zur üblichen Pietismus-Bibliographie liefert der vorliegendeBand eine gesonderte Bibliographie zur Pietismusforschung in Japan vornehm-lich seit den 1970er Jahren, die von Hiromi Kora, Stipendiatin am Laborato-rium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, und Kenichi Hase-gawa von der Graduate School of Literature and Human Scien e der OsakaCity University erarbeitet worden ist. Rezensionen und Register runden denBand ab.

Für die Herausgeber: Udo Sträter

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

Inhalt

Beiträge

Johannes Wallmann: Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners . . . 10

Reinhard Lieske: Sonderbare Bilder in der evangelischen Kirche vonSteigra. Ein emblematischer Bilderzyklus nach Bildmotiven aus JohannArndtsWahrem Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Gesine Lenore Schiewer: Emotionales Sprechen im Fokus pragmatischerSprach- und Kulturgeschichte. Linguistische Varietäten in Alltag,religiöser Inspiration und Literatur in pietistischem Kontext . . . . . . 86

Pia Schmid: Herrnhuter Lebensläufe (Moravian Memoirs) alserziehungshistorische Quelle betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Malte van Spankeren: Halles letzter Pietist?! Georg Christian Knapp(1753–1825) und das Doppeldirektorat der Franckeschen Stiftungen . . 136

Frank Stückemann: Missliebige Quellen: Die ErweckungspredigerMinden-Ravensbergs in der aufklärerischen Publizistik . . . . . . . . . 158

Volker Stolle: Zeitzeugnis aus der Erweckung in Jüterbog im 19.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Fred van Lieburg: Die Bentheimer reformierte Fromme Geesjen Pamans(1731–1821). Ein Beitrag zur Genderforschung im Pietismus . . . . . . 194

Jörg-Ulrich Fechner: Matthias Claudius und Paul Gerhardt . . . . . . . 212

Rudolf Dellsperger: Von Schrenk zu Schrempf. Ein Beitrag zu HermannHesses religiösemWerdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Miszelle

Johannes Wallmann: Warnung vor einem Phantom. Zu der These vonden zwei Übersetzern Johannes Deusing . . . . . . . . . . . . . . . . 243

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

Rezensionen

Jan Harasimowicz: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zurKunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. v.Matthias Noller u. Magdalena Poradzisz-Cincio. Köln [u. a.]: Böhlau2010 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte, 21): VeronikaAlbrecht-Birkner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Bettina Bannasch: Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das ‚bildendeBild‘ im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts.Göttingen: V & R Unipress 2007 (Berliner Mittelalter- undFrühneuzeitforschung, 3): Lothar van Laak . . . . . . . . . . . . . . . 269

Geschichte des Pietismus. Band 2: Der Pietismus im achtzehntenJahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 1995: Malte van Spankeren . . . . . . . . . 271

Les piétismes à l’âge classique. Crise, conversion, institutions. Ed parAnne Lagny. Villeneuve-d’Ascq (Nord): Presses universitaires duSeptentrion 2001 (Racines et Modèles): Rudolf Dellsperger . . . . . . . 278

Friedrich Breckling (1629–1711), Prediger, „Wahrheitszeuge“ undVermittler des Pietismus im Niederländischen Exil. Hg. v. BrigitteKlosterberg u. Guido Naschert. Bearb. v. Mirjam-Juliane Pohl. Halle:Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2011 (Kleine Schriftenreiheder Franckeschen Stiftungen, 11): Jonathan Strom . . . . . . . . . . . 284

J. Jürgen Seidel: Baron Carl Joseph von Campagne und die Gichtelianerin der Schweiz. Ein Beitrag zum Radikalpietismus im Zürcher Oberland.Zürich: Dreamis Verlag 2006: Malte van Spankeren . . . . . . . . . . 286

Pfarrherren, Dichterinnen, Forscher. Lebenszeugnisse einer ZürcherFamilie des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Regine Schindler inZusammenarbeit mit dem Johanna Spyri-Archiv, Zürich. Vier Bändemit Quellenedition auf CD-ROM bzw. auf www.pfarrherren.ch sowieein Essayband. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Band 1: RegineSchindler: Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797–1876). Mit vier Stammbäumen zu den wichtigsten Personenkreisen.2007. Band 2: Ruedi Graf: Die Tagebücher des Pfarrers DiethelmSchweizer (1751–1824). 2010. Band 3: Barbara Helbling: JakobChristian Heusser (1826–1909). Briefe an die Familie. 2011. Band 4:Salome Schoeck: Johanna Spyri und die Familie Kappeler. Briefe. 2012:Rudolf Dellsperger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

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Toshio Ito: Kojitachi no Chichi Furanke. Ai no Fukushi to Kyôiku noGenten. [A.H. Francke, Waisenvater. Ursprung der Wohlfahrt undErziehung]. Tokyo: Verlag Shueisha 2000: Hiromi Kora . . . . . . . . 291

Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009: Malte van Spankeren 296

Truus Bouman-Komen: Bruderliebe und Feindeshaß. EineUntersuchung von frühen Zinzendorftexten (1713–1727) in ihremkirchengeschichtlichen Kontext. Hildesheim, New York: Georg OlmsVerlag 2009 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Leben und Werk inQuellen und Darstellungen. Hg. v. Erich Beyreuther [u. a.]. Bd.XXXIII): Craig Atwood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken einesGottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. v. Dieter Ising. Leipzig:Evangelische Verlagsanstalt 2010 (Edition Pietismustexte, 1). – 267 S.Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich ChristophOetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten.Untersuchung und Edition. Frankfurt/Main [u. a.]: Peter Lang 2010:Friedemann Stengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Charlotte E. Haver: Von Salzburg nach Amerika. Mobilität und Kultureiner Gruppe religiöser Emigranten im 18. Jahrhundert. Paderborn[u. a.]: Schöningh 2011 (Studien zur Historischen Migrationsforschung,21): Alexander Pyrges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Elizabeth A. Clark: Founding the Fathers: Early Church History andProtestant Professors in Nineteenth-Century America. Philadelphia,Oxford: University of Pennsylvania Press 2011: Andrew Z. Hansen . . . 311

Uwe Glatz: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher.Theorie der Glaubenskonstitution. Stuttgart: Kohlhammer 2010(zugleich Diss. Theol. Hochschule Neuendettelsau 2009): GeorgNeugebauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Bibliographien

Hiromi Kora und Kenichi Hasegawa: Pietismus-Bibliographie (Japan) . 319

Christian Soboth und Hans Goldenbaum: Pietismus-Bibliographie . . . 332

Register

Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

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JOHANNES WALLMANN

Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners

Der Übergang des Projekts der Edition der Briefe Philipp Jakob Speners andie Sächsische Akademie der Wissenschaften ist Anlass und Verpflichtung,über die Entstehung und die Geschichte dieses Editionsprojekts Rechenschaftzu geben. Das Projekt wurde in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhundertsan meinem kirchengeschichtlichen Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochumbegonnen, an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlinweitergeführt und insgesamt über 25 Jahre, vom Januar 1985 bis Ende 2010,von der DFG gefördert. Unter den kirchengeschichtlichen Editionsvorhabender Frühen Neuzeit ist die Edition der Spenerbriefe eines der anspruchsvoll-sten. Im Unterschied zu anderen kirchengeschichtlichen Editionsvorhaben wiedie Werke Martin Luthers, der Briefwechsel Philipp Melanchthons, die WerkeMartin Bucers und die Werke Friedrich Schleiermachers wurden die BriefeSpeners nicht von einer Kommission herausgegeben, deren Protokolle überEntstehung und Geschichte der Edition Auskunft geben. Die Ausgabe wurdevon mir persönlich herausgegeben und von der DFG als Projekt Prof. Wallmanngefördert. Dass ich diese Edition nicht aus eigenem Willen und Interessebegonnen habe, sondern sie aus Überlegungen und im Auftrag der HistorischenKommission zur Erforschung des Pietismus hervorgegangen ist, geht aus meinemVorwort zu Band 1 der Frankfurter Spenerbriefe hervor.Über diese Edition ist in den Jahren ihrer Entstehung und frühen Geschichte

viel geschrieben und gestritten worden. Letzteres in teilweise purer Polemik,auf die ich nie geantwortet habe. An der heftigen Debatte um die Editionspro-jekte der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, an der sich zwi-schen 1970 und 1980 zahlreiche Kirchenhistoriker und Historiker beteiligthaben, habe ich mich, auch wenn die Briefausgabe darin berührt wurde,bewusst nicht beteiligt, sondern mich zurückgehalten, um die Pläne der Pietis-mus-Kommission nicht zu gefährden. Die Kommission hat mir damals fürmeine Zurückhaltung ausdrücklich gedankt. Der Zeitpunkt der Übergabe die-ser Edition in die Hände einer Akademie ist geeignet, sowohl gegenüber derSächsischen Akademie der Wissenschaften wie gegenüber der wissenschaftli-chen Öffentlichkeit, nicht zuletzt denjenigen gegenüber, die in nächsterZukunft an diesem Editionsprojekt arbeiten, Rechenschaft über Anlass, Entste-hung und Geschichte des Projekts zu geben. Deshalb nutze ich die Gelegen-heit, die Arbeit an dieser Edition in andere Hände zu geben, zu diesem Bericht.Es ist eine wechselvolle Geschichte, die teilweise dramatische Phasen hat. In

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, selbst bei meinen früheren Mitarbeitern,gibt es Unklarheiten und Gerüchte über das Verhältnis des Projekts zur Histori-schen Kommission zur Erforschung des Pietismus, einer kirchlichen Kommission,die paritätisch aus Wissenschaftlern und Vertretern der fördernden Kirchenzum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung zusammengesetzt ist. Ich habeder Pietismus-Kommission als Korrespondierendes Mitglied lange Jahre ange-hört und in ihr eine wohl nicht unbedeutende Rolle gespielt, ehe ich nacheinem Konflikt mit der seinerzeitigen Leitung im Jahr 1992 auszuscheidengezwungen wurde. Dass ein von der Kirche angestoßenes Projekt, gewisserma-ßen in einem Akt der Säkularisierung, jetzt von einer Akademie weitergeführtwird, erfordert auch meiner Kirche gegenüber Rechenschaft, die ich mit fol-gendem Bericht geben will.Mein Ausscheiden aus der Pietismus-Kommission geschah vor zwanzig Jah-

ren. Die Vorgänge, über die zu berichten ist, liegen großenteils dreißig Jahreund mehr im vergangenen Jahrhundert zurück. Sie können heute als verjährtgelten. Die Erinnerung an zwanzig Jahre und mehr zurückliegende Streitigkei-ten wird keinen erneuten Streit verursachen. Die Mehrzahl der Hauptgestaltenmeines Berichts ist verstorben. Wie ich heute urteile, kann aus meinem For-schungsbericht über die letzten zwanzig Jahre Pietismusforschung in der Theologi-schen Rundschau (ThR 76, 2011, Heft 2 und 3) ersehen werden. Inzwischenstehe ich zur Pietismus-Kommission wieder in einem guten und freundschaftli-chen Verhältnis. Bei der Feier meines achtzigsten Geburtstages in den Francke-schen Stiftungen im Mai 2010 in Halle, an der der damalige Vorsitzende derPietismus-Kommission und die meisten ihrer wissenschaftlichen Mitglieder(abgesehen von einem, der vor der festlichen Feier demonstrativ abfuhr), teil-nahmen, hat mir der Vorsitzende Christian Bunners in einem ausführlichenGlückwunschschreiben für meine mannigfaltigen Aktivitäten gedankt, vorallem für die kritische und konstruktive Teilnahme an vielen Sitzungen derKommission. Dieses Schreiben hat mir wohlgetan und mein zwischenzeitlichgetrübtes Verhältnis zur Pietismus-Kommission wieder in helleres Lichtgerückt. Ich schreibe diesen Bericht in dankbarer Erinnerung an die für diesesProjekt geleistete Arbeit, in freundschaftlicher Verbundenheit mit den Mither-ausgebern des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“, mit denen ich in der Zeitmeines Berichts problemlos zusammengearbeitet habe, und ohne jede Bitter-keit gegenüber der damaligen Leitung der Pietismus-Kommission, die michaus der Kommission hinausgedrängt hat.Mancher wird tadeln, dass längst Vergangenes der Vergessenheit wieder ent-

rissen wird. Aber von vielen Seiten, vor allem von ausländischen Kolleginnenund Kollegen, bin ich gebeten worden, nicht nur einen kurzen Bericht zugeben. Inzwischen forscht eine jüngere Generation in den Nachlässen der ver-storbenen Mitglieder der Pietismus-Kommission.1 Der im vierten Band der

1 Vgl. Fred van Lieburg: Wege der niederländischen Pietismusforschung. In: PuN 37, 2011,

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

Geschichte des Pietismus gegebene Bericht über Die Historische Kommission zurErforschung des Pietismus lässt nichts von der spannungsreichen Geschichte derKommission erkennen. Da ich mich nicht auf meine Erinnerung verlassenmöchte, die gerade bei Dingen, die einen emotional bewegt haben, leicht Irrtü-mern und Fehlern unterliegt, gründe ich meinen Bericht durchgängig auf dieBriefe meines Privatarchivs, die ich mit Datum, Angabe des Absenders undAdressaten sowie mit in Anführungszeichen gesetzten Zitaten anführe. Auchwo ich nicht zitiere, gebe ich wieder, was ich in den Akten gefunden habe. Dasmeiste hatte ich selbst vergessen. Auf Ergänzungen aus der Erinnerung, die mirbeim Studium der Briefe in den Sinn gekommen sind, habe ich bewusst ver-zichtet. Aus einer ersten, der Redaktion dieses Jahrbuchs bereits eingereichten,sehr viel umfangreicheren Fassung meines Berichts habe ich aus dem Abstand,den ich bei einem vierteljährigen Aufenthalt als visiting professor an der Duke-University in North Carolina gewonnen hatte, nach meiner Rückkehr ausAmerika ein Drittel, in dem ich einzelnes aus den mit der Spenerbriefeditionzusammenhängenden Querelen dokumentiert habe, wieder herausgestrichen.Ich überlasse es der künftigen Generation, falls sie sich für die Arbeiten undStreitigkeiten innerhalb der Pietismusforschung interessiert, weiteres aus mei-nem Briefarchiv zu nehmen.

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Bis zum 32. Jahr meines Lebens habe ich keine schriftlichen Unterlagen. Daich im Herbst 1961 bei meiner Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik alleszurücklassen musste, habe ich keine Bücher, Briefe, Tagebücher und Zeugnisseaus den früheren Jahren mehr. Über die erste Hälfte meines Lebens kann ichnur aus meiner Erinnerung berichten. Ein nach einem Besuch in Naumburg andie Bibliothek des Katechetischen Oberseminars gerichteter Brief vom 13.März 1961 mit bibliographischen Korrekturen zum Katalog, den Frau Dr.Klosterberg, Leiterin des Archivs und der Bibliothek der Franckeschen Stiftun-gen zu Halle, in den von Naumburg nach Halle überkommenen Beständenfand und mir zugänglich machte, ist der einzige schriftliche Beleg von mir ausder Zeit vor meiner Flucht. Seit Herbst 1961 habe ich Briefe wesentlichenInhalts, vor allem den gedanklichen Austausch mit Kollegen, sorgsam aufgeho-ben. In meinem Briefarchiv befinden sich viele Briefe, die die Pietismus-Kom-mission betreffen, darunter eine große Zahl von Briefen, die mir der langjäh-rige kommissarische Vorsitzende der Pietismus-Kommission Oskar Söhngenschrieb. Ich hoffe, dass mein Bericht einiges an Erkenntniswert für die neueredeutsche Pietismusforschung enthält.

211–256, hier 242–244. Frau Albrecht-Birkner, die im Nachlass von J.F.G. Goeters in Düsseldorfden Durchschlag eines mit Schreibmaschine geschriebenen Briefs an mich fand, habe ich daraufhingewiesen, daß die meisten Briefe nicht im Nachlass liegen, weil Goeters an mich handschriftlichschrieb.

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Grund meiner Flucht aus der DDR war gewesen, dass ich, der ich nach in1953 bis 1955 in Tübingen bei Hanns Rückert und Gerhard Ebeling verbrach-ten Studienjahren in die DDR zurückgekehrt war und in meiner HeimatkircheProvinz Sachsen ins Pfarramt gehen wollte, nach meinem 1. theologischenExamen an die Kirchliche Hochschule Berlin als Assistent geholt wurde, zurPromotion und anschließend von meinen Lehrern in Tübingen und Berlin zurHabilitation aufgefordert wurde,2 aber weder im universitären noch im kirchli-chen Raum eine Zukunft hatte. Deshalb gab mir mein Magdeburger Landesbi-schof Jänicke die Erlaubnis, zum 1. Januar 1962 eine Stelle bei der WeimarerLutherausgabe in Tübingen anzunehmen. Der Bau der Mauer am 13. August1961 kam dazwischen. Das machte die Flucht nötig.Gerettet hatte ich eine Schrift über den Theologiebegriff Philipp Jakob Speners,

eine Fortsetzung meiner in der Doktorarbeit begonnenen Studien über den alt-protestantischen Theologiebegriff. Mit dieser Schrift wollte ich michursprünglich im Osten für das kirchliche Lehramt habilitieren. In Tübingen indie Kreise junger Kirchenhistoriker um Klaus Scholder und Richard Toellneraufgenommen, merkte ich bald, dass von einem Schüler Gerhard Ebelings, dersich für Kirchengeschichte habilitieren wollte, mehr verlangt wurde als Kom-petenz in der Hermeneutik. Ich legte meine Arbeit über den TheologiebegriffSpeners, die sich noch in meinem Besitz befindet, beiseite und begann eingründliches Erforschen der Anfänge Speners durch Besuch von Bibliothekenund Archiven im Elsass und Süddeutschland. Nach der Habilitation hatte ichkeineswegs die Absicht, weiter in der Erforschung des Pietismus tätig zu sein.Wie ich zuvor in meiner Dissertation der lutherischen Orthodoxie nachgegan-gen war, wollte ich nach der Beschäftigung mit Spener mich der Zeit der Auf-klärung zuwenden, wofür ein später angefertigter Aufsatz über Johann Salo-mon Semler zeugt.3 Dann sollte die deutsche Klassik, vor allem der von mirgeliebte Schleiermacher, über den ich in meiner Tübinger Studienzeit einegroße, noch in meinem Archiv vorhandene Arbeit geschrieben habe, darankommen. Aufgefordert von dem mit mir befreundeten Herderforscher Hans-Dietrich Irmscher habe ich mich 1981 bereit erklärt, in der vom DeutschenKlassiker Verlag besorgten Herderausgabe den Band mit den theologischenSchriften Johann Gottfried Herders herauszugeben. Erst als die an mich vonkirchlicher Seite herangetragene Herausgabe der Briefe Philipp Jakob Spenersmeine Arbeitskraft so beanspruchte, dass neben meiner Hochschullehrertätig-keit eine zweite Editionsarbeit nicht möglich war, habe ich mich 1989 aus dem

2 Dass ich nicht aus eigener Initiative meine Zukunft nicht im Pfarramt, sondern in der wissen-schaftlichen Arbeit suchte, was schließlich zur Flucht aus der DDR führte, bezeugt der Brief desEphorus der Kirchlichen Hochschule Martin Fischer an Gerhard Ebeling vom 11.12.1954, denAlbrecht Beutel im Nachlass Ebelings fand und mir freundlicherweise zu Verfügung stellte.

3 Vgl. das Schriftenverzeichnis von Johannes Wallmann in: PuN 21, 1995 (FS Johannes Wallmann),11–19, hier 12.

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Udo Sträter, Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012

lukrativen Editionsunternehmen des Klassikerverlags zurückgezogen. In Band 1der Herderausgabe des Klassikerverlags ist mein Name als Herausgeber desBandes der theologischen Schriften Herders noch heute angegeben.Wenige Jahre vor Erscheinen meiner Habilitationsschrift Spener und die

Anfänge des Pietismus (1970) war 1964 die Historische Kommission zur Erforschungdes Pietismus gegründet worden. Martin Schmidt, bei dem ich in frühen Seme-stern an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf studiert hatte, undKurt Aland, der mich von der Prüfung im Fach Kirchengeschichte im 1. theo-logischen Examen in Halle kannte, standen an ihrer Spitze. Als ich 1961 ausder DDR in die Bundesrepublik kam, meinte ich feststellen zu müssen, dassdie nicht wenigen jüngeren Kirchenhistoriker, die sich mit dem Pietismusbeschäftigten, mit Kritik an Albrecht Ritschl, dem Vater der Pietismusfor-schung, nicht zurückhielten, dass sie aber aus Sorge um ihre Karriere sichdavor scheuten, an den Koryphäen des Fachs Kirchengeschichte Kritik zuüben. Durchgängig gingen sie daran vorbei, dass Schmidt und Aland, die füh-renden Spenerforscher nach dem Zweiten Weltkrieg, völlig konträre Auffas-sungen von Spener vertraten. Ich stand, als ich in die Bundesrepublik kam,unter der mich schockierenden Erfahrung, dass meine frühesten zum Druckgegebenen Texte, Auslegungen alttestamentlicher Worte in Andachten, die ichfür den Kalender des Buckhardthauses Halt uns bei festem Glauben geschriebenhatte, als sie im Druck erschienen, von mir nicht wiedererkannt werden konn-ten. Sie waren ohne mein Wissen so verändert worden, dass niemand mehr beider Trennung von Juda und Israel an die deutsche Teilung denken konnte, fürdie ich in der Bibel eine Parallele fand. Für einen jungen Menschen ist es nie-derschmetternd, wenn er seine ersten zum Druck gegebenen Texte nicht alssein eigenes geistiges Produkt anerkennen kann. Ich schäme mich meiner lite-rarischen Anfänge als Erbauungsschriftsteller nicht, habe aber wegen der Ver-änderungen durch die Zensur diese Andachten, die ich nicht nur ein Jahr fürden Kalender Halt uns bei festem Glauben schrieb, nicht in meine Bibliographieaufgenommen. Erst spät habe ich durch die Forschungen Siegfried Bräuerserkannt, dass es nicht die staatliche Zensur des Unrechtstaats DDR, wie ichglaubte, sondern die innerkirchliche Zensur gewesen war, die im vorauslaufen-den Gehorsam gegenüber den Mächtigen meine Texte bis zur Unkenntlichkeitverändert hatte.Nach dem Übergang in die Bundesrepublik empfand ich die mir eröffnete

Druckfreiheit als ein Geschenk und eine Befreiung, die ich mir nicht aus Angstum meine Karriere einschränken lassen wollte. Bereits in der Festschrift fürmeinen Tübinger Lehrer Hanns Rückert wies ich 1966 auf die unzulänglicheSpenerauffassung bei Kurt Aland und Martin Schmidt hin. In meiner 1968 ein-gereichten Tübinger Habilitationsschrift erlaubte ich mir, für einen Anfängervielleicht etwas reichlich, Kritik an den Koryphäen des Fachs, für das ich michhabilitieren wollte. Kurt Aland wies ich die Unzulänglichkeit seiner vor demKrieg mit Kurt Dietrich Schmidt geführten Auseinandersetzung über den Ein-fluss Jean de Labadies auf die Pia Desideria Speners nach, die in der Kirchenge-

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schichtswissenschaft allgemein als gültig angesehen wurde,4 und zeigte gegenihn, der Speners Reformprogramm aus der lutherischen Orthodoxie herleitete,dass die Eigenart Speners nicht aus der Übereinstimmung mit seinem Straßbur-ger orthodoxen Lehrer Dannhauer, sondern aus der Differenz zu ihm zubestimmen sei. Gegen Martin Schmidt, der die Eigenart Speners in seiner vondem mystischen Spiritualisten Christian Hoburg beeinflussten, die lutherischeRechtfertigung verdrängenden Wiedergeburtstheologie erblickte, sah ich Spe-ner theologisch nicht im Gegensatz zur Orthodoxie, sondern in Übereinstim-mung mit ihr. Ich erblickte seine Eigenart in der zur orthodoxen Bemühungum Besserung des gemeinen Wesens durch Kirchenzucht in Gegensatz treten-den Zuwendung zur Sammlung und Förderung der Frommen (ecclesiola in eccle-sia). Hanns Rückert in Tübingen wollte meine Habilitationsschrift in die„Arbeiten zur Kirchengeschichte“ aufnehmen, machte mich aber darauf auf-merksam, dass mit Rücksicht auf den Mitherausgeber Kurt Aland einige Ände-rungen nötig wären. „Ich meine natürlich nicht, dass Sie auch nur an einer ein-zigen Stelle sachliche Kritik unterdrücken sollten; es handelt sich nur darum,ob Sie sich entschließen könnten, eine Fassung zu finden, die so wenig wienötig verletzt. Das wäre die Voraussetzung dafür, dass ich an Aland das Ansin-nen stellen könnte, der Aufnahme der Arbeit in die Reihe zuzustimmen bzw.sie zu tolerieren“, schrieb mir Rückert am 15. Januar 1968. „Ich halte es aberfür meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Arbeit, so wie sie ist, überallanderswo unterbringen können, also auf unsere Reihe nicht angewiesen sind.“Zum Glück erklärte sich Gerhard Ebeling, der bereits meine Dissertation überden Theologiebegriff Johann Gerhards gedruckt hatte, zur Aufnahme in die„Beiträge zur Historischen Theologie“ bereit. So brauchte ich keine Änderun-gen vorzunehmen.Als mein Buch Spener und die Anfänge des Pietismus 1970 im Druck erschien,

bekam ich von allen Seiten begeisterten Widerhall und Zustimmung. Ein Mei-sterwerk und ein entscheidender Wendepunkt in der Pietismusforschungwurde es von den Rezensenten genannt. Ernst Wolf urteilte, es gehöre zumBesten, was in der Theologie geschrieben worden sei. Heinrich Bornkammschrieb mir: „Es ist ein beträchtlicher Fortschritt in der Forschung, daß Sie einso solides Fundament für die Anfänge Speners und seines Werkes gelegt haben.Sie haben mit glücklicher Hand dabei auch eine überraschende Menge vonneuem Material beigebracht und vieles zurecht gerückt, was in der Forschungnicht stimmte [. . .] besonders hat mich Ihre Darstellung von Johann JakobSchütz interessiert. Er steht seit langer Zeit bei mir auf einem Zettel für Disser-

4 Werner Bellardi, der als letzter die im Krieg verbrannten Frankfurter Archivbestände in seinervon mir wieder aufgefundenen Breslauer Dissertation benutzt hat, sagte mir später, er hätte dieUnzulänglichkeit der Argumentation Alands sofort nach Erscheinen gesehen, wäre aber durch denKrieg gehindert worden, darauf einzugehen. Darauf bezieht sich meine Äußerung über durch denKrieg entstandene Verzerrungen in der Spenerforschung im Vorwort zum Druck von BellardisDissertation.

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tationsthemen [. . .]. Ich hatte einen Mann auch einmal auf die Spur gesetzt. Erhat aber in Frankfurt kein wesentliches Material mehr gefunden [. . .].“ Verhal-tener waren die Reaktionen von Martin Schmidt und Kurt Aland. An ihnenkonnte ich lernen, wie sehr Forscher, in deren eigenes Forschungsgebiet maneindringt, in erster Linie auf Übereinstimmung und Differenz zu den eigenenAnsichten blicken. Martin Schmidt sah nur die Kritik, die ich an ihm übte undurteilte über mein Buch, in dem ich eingehend Speners Werdegang in derStraßburger Orthodoxie darstellte, ich schlösse mich weithin dem SpenerbildAlands an. Aland sah wiederum nur die an ihm geübte Kritik und erblickte inmir einen Verfechter des Spenerbildes von Martin Schmidt. In der Reaktionauf mein Spenerbuch haben Schmidt und Aland erstmals zu erkennen gegeben,dass sie gegensätzliche Auffassungen von den Anfängen des Pietismus hatten.Aland hat mir meine an ihm geübte Kritik nie verziehen. In seiner burschi-

kosen Art erklärte er seinen Münsteraner Mitarbeitern, Wallmann habe einBuch „Aland ist doof“ geschrieben, er werde aber schon zeigen, auf welchschwachen Füßen Wallmann stehe. Das Wort machte sofort die Runde, wurdemir von verschiedenen Seiten überbracht, in Tübingen zuerst von Herrn Jür-gens, später in Halle von Jürgen Storz, dem Archivleiter der Franckeschen Stif-tungen. Da Aland mit seinen Gegnern nicht zimperlich verfuhr, konnte ichdas meinem Spenerbuch aufgeklebte Etikett eher als ein Kompliment verste-hen. Tatsächlich habe ich mich mit Aland, den ich später in der Pietismus-Kommission näher kennen lernte, mündlich nie in eine Auseinandersetzungführen lassen. Ich erinnere mich nur an einen Dissens, den ich ihm gegenüberin einem Gespräch während einer Eisenbahnfahrt geäußert habe. Als wir ein-mal zusammen von einer Tagung in Frankfurt gemeinsam im Speisewagennach Hause fuhren, er nach Münster, ich nach Bochum, riet er mir zu einemBeck-Bier. „Ich trinke immer Beck-Bier. Beck wird auf allen deutschen Schif-fen ausgeschenkt.“ Darauf entgegnete ich: „Herr Aland, ich habe lieber festenBoden unter den Füßen. Ich bestelle mir ein Dortmunder Union.“ Unsere Dif-ferenzen haben wir literarisch ausgetragen. Dass er mir mein Spenerbuch nieverziehen hat, sondern hinter den Kulissen alles tat, mir zu schaden, sollte ichallerdings in schlimmer Weise merken, als ich in die Pietismus-Kommissionkam. Damit habe ich schon den Cantus firmus dieses Berichts anklingen lassen.Doch ich machte gleichzeitig die beglückende Erfahrung, dass man einen

kritisierten Lehrer auch zu überzeugen vermag. Martin Schmidt hatte ich imSommer 1967 im Straßburger Thomasstift wiedergetroffen, als ich einigeWochen lang mich in die Quellen der Straßburger Orthodoxie und die Schrif-ten Speners einarbeitete, die ich in der Hausbibliothek des Thomasstifts, beson-ders im „Spenerschrank“, fand und nächtelang studierte. Als wir uns abends inseinem Zimmer im Thomasstift über Spener und Christian Hoburg unterhiel-ten, entgegnete er seinem ehemaligen Schüler auf seine Einwände noch gön-nerhaft, ich solle abwarten, was er demnächst in der Festschrift für Ernst Benzüber Christian Hoburg veröffentlichen werde. Als er drei Jahre später seineGesammelten Studien zur Geschichte des Pietismus herausgab, war er dagegen von

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meiner „sehr verständnisvollen Auseinandersetzung“mit ihm in der Festschriftfür Rückert sichtlich beeindruckt5 und revozierte vorsichtig seine These vonder zentralen Stellung der Wiedergeburt bei Spener.6 Nach Lektüre meinesSpenerbuchs zeigte er sich wie verwandelt. Während des Lutherkongresses inSt. Louis im Sommer 1971 verbrachte ich mit Herrn und Frau Schmidt harmo-nische und anregende Tage. Als wir beide zusammen im Juni 1972 bei der Jah-restagung der „Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte“ in Bücke-burg Vorträge hielten und der moderierende Landessuperintendent undspätere Berliner Bischof Martin Kruse, der selbst eine Doktorarbeit über Spe-ner geschrieben hatte, die beiden Spenerforscher zur öffentlichen Darlegungihrer unterschiedlichen Standpunkte zu drängen suchte, weiß ich nur noch,dass ich mich gescheut habe, meine schriftlich geäußerte Kritik öffentlich zuwiederholen. Im Juli 1972 schrieb Schmidt das Vorwort zu seiner als Urban-Taschenbuch erscheinenden Darstellung Pietismus: „In welcher Weise gearbei-tet werden muß und welche bedeutsamen weiterführenden Ergebnisse durchdie Verbindung von historischer Genauigkeit mit theologisch abwägendemUrteil erzielt werden können, zeigt zuletzt die vorzügliche Monographie vonJohannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus“.7Im Sommer 1974 hielten wir wieder zusammen Vorträge auf einer niederlän-dischen Pietismustagung in Woudschoten bei Zeist nahe Utrecht. Gleichzeitigerschien die Festschrift zu Schmidts 60.Geburtstag, zu der ich einen Aufsatzüber die Pia Desideria beisteuerte. Offensichtlich als Kommentar zu meinerBerufung als Korrespondierendes Mitglied der Pietismus-Kommision schriebmir Martin Schmidt am 2. Juli 1974 einen im Umfang außergewöhnlich lan-gen Brief, in dem er mir seine Seele ausschüttete. Anfangs dankte er mir fürmeinen Aufsatz über Speners Pia Desideria, den in seiner Festschrift zu sehenihn mit besonderer Freude erfülle. „Ich habe, von Satz zu Satz gefesselt, IhreDarlegung gelesen und sehe an keiner Stelle einen Grund, Ihnen zu widerspre-chen [. . .]. Gerne hätte ich in Woudschoten mit Ihnen noch mehr, vielleichteine ganze Stunde, gründlich gesprochen, zumal Sie ohne Zweifel der füh-rende Pietismusforscher der nächsten Generation sein werden. Daß Sie nichtnur als korrespondierendes, sondern als volles Mitglied zu uns gehören, ist fürmich keine Frage. Aber ich entscheide Derartiges nicht allein.“Dass wir an ein-zelnen Punkten verschiedener Meinung seien, störte ihn nicht. „Was die eigeneForschung anlangt, so müssen wir uns gegenseitig korrigieren und ergänzen,wie es ja immer geschehen ist. Monopolstellungen gibt es nicht und sie wärennur schädlich.“ Auch verschwieg er seine Verärgerung darüber nicht, dass ichmich in meinem Bückeburger Vortrag über das Forschungsprogramm der Pie-tismus-Kommission mit dem Vers „befolgend dies ward der Trabant ein völligdeutscher Gegenstand“ mokiert hatte. „Die von Ihnen – leider etwas abfällig

5 Martin Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch. Witten 1969 (AGP, 2), 1969, 133.6 Schmidt [s. Anm.5], 193.7 Martin Schmidt: Pietismus. Stuttgart 1972, 7.

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mit dem Morgensternzitat beklagte – Absicht ist natürlich nicht unsere Absicht[. . .]. Wenn Sie die nationale Einengung beklagt haben, so verschiedene andereKollegen die historische, d.h. sie haben die volle Einbeziehung des Neupietis-mus von der Erweckung an gefordert.“ Schmidt überging auch nicht dasschwierigste Problem der Pietismus-Kommission. „Die Bummelei mit der Spe-nerausgabe ist mir ebenso lästig wie Ihnen. Aber darum sollten Sie, nunmehrals korrespondierendes Mitglied ausdrücklich aufgefordert, der KommissionIhre Vorschläge, Wünsche und Angebote unterbreiten. Nur so kommen wirvorwärts.“ Angesichts der baldigen schweren Erkrankung und des Todes vonMartin Schmidt ist mir dieser Brief so etwas wie ein Vermächtnis des erstenVorsitzenden der Pietismus-Kommission. Dass Martin Brecht, dessen Aufstiegan die Spitze der Pietismus-Kommission nicht im Sinne von Martin Schmidtwar, nicht viel von ihm gehalten hat und alles tat, um ihn in der Pietismus-Kommission vergessen zu machen, hat mich später Brecht vorwerfen lassen,dass dem ersten Vorsitzenden der Pietismus-Kommission ein besseres Anden-ken hätte bewahrt werden sollen.8Am 18. Juli 1973 teilte mir Vizepräsident Oskar Söhngen mit, dass die

Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus auf ihrer letzten Sitzungbeschlossen habe, mich zum Korrespondierenden Mitglied zu berufen. In mei-ner umgehenden Antwort bekundete ich meine Freude, machte aber daraufaufmerksam, dass, wie aus meinen Veröffentlichungen ersichtlich sei, „meineHaltung zu Programm und Arbeit der Historischen Kommission [. . .] überwie-gend durch kritische Distanz gekennzeichnet“ sei. Ich fuhr fort: „Ich denke,mit Ihnen übereinzustimmen, daß wissenschaftliche Forschung den Streit derMeinungen braucht und daß, wenn mir jetzt die Distanz zur HistorischenKommission genommen ist, ich mir doch in der Freimütigkeit meiner Kritikkeine Beschränkung auferlegen muß.“ Söhngen antwortete mir überausfreundlich am 7. November 1973: „Gewiß war uns Ihre, wie Sie es nennen,kritische Distanz zur Zielsetzung und Arbeit unserer Kommission nicht unbe-kannt. Aber nicht trotzdem, sondern gerade deswegen haben wir Wert daraufgelegt, zu einer geregelten Form der Zusammenarbeit mit Ihnen zu kommen.“Die Zusammenarbeit mit Martin Schmidt, dem Vorsitzenden der Kommis-

sion, gestaltete sich überaus erfreulich. Schmidt hatte vor langen Jahren denFaszikel Pietismus für das Göttinger Handbuch „Die Kirche in ihrerGeschichte“ übernommen, ihn aber nicht fertig zu stellen vermocht. Durchdas Urbantaschenbuch Pietismus war er für den Verleger Arndt Ruprecht ver-tragsbrüchig geworden, so dass dieser, der nach dem Tod von Ernst Wolf dasHandbuch wohlgeordnet in die Hände des neuen Herausgebers Bernd Moellerlegen wollte, bei mir anfragte, ob ich nicht für Schmidt einspringen könnte.Da aber Schmidt gleichzeitig noch Teilstücke lieferte, schwankte der Verleger

8 Johannes Wallmann: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010,381 Anm.17.

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lange Zeit, ehe er sich abschließend entschloss. Ich hatte zur gleichen Zeitübernommen, die im Ullstein Verlag in der Reihe „Deutsche Geschichte.Ereignisse und Probleme“ von dem verstorbenen Ernst Bizer begonnene Kir-chengeschichte Deutschlands durch einen Band Kirchengeschichte Deutschlands II fürdie Zeit von der Reformation bis zur Gegenwart zu komplettieren. Als ichmeinen Lehrer Rückert fragte, ob ich eine Gesamtdarstellung der gesamtenneueren Kirchengeschichte geben könne, ohne Vorlesungen darüber gehaltenzu haben, antwortete er mir: „Sie müssen das sogar vorher machen. Wenn Sieerst Vorlesungen darüber gehalten haben, wissen Sie zu viel. Dann gelingtkeine lesbare Darstellung mehr.“ Ich übernahm den Auftrag und schrieb dieDarstellung zügig nieder. Das Buch erschien 1973 und hat, aus der vergriffe-nen Reihe des Ullstein Verlags inzwischen als Kirchengeschichte Deutschlands seitder Reformation (UNI-Taschenbuch) an den Mohr-Verlag Tübingen übergegan-gen, die sechste Auflage erreicht und inzwischen wird die siebente Auflagevorbereitet. Als Lehrbuch hat mich diese Gesamtdarstellung unter den Studen-ten bekannter gemacht als meine Pietismusforschungen. Die anstelle vonSchmidt übernommene Darstellung des Pietismus hat mir dagegen sehr vielMühe gemacht. Während Martin Schmidt es in zwanzig Jahren nicht gelang,habe ich mehr als 25 Jahre gebraucht, ehe ich das riesige Gebiet der Quellenund Literatur zum Pietismus in eine gedrängte, lesbare, zugleich die Forschungweiterführende Form gießen konnte. Mein Der Pietismus ist auch in andereSprachen übersetzt worden, und in 2012 ist in Tokio eine japanische Ausgabeerschienen. Als ich dem Vorsitzenden der Pietismus-Kommission Dr. Schäferim September 1990 ein Exemplar zusandte, erinnerte ich an die Schwierigkei-ten, die Schmidt mit seiner Gesamtdarstellung gehabt hatte. „Es ist schade, daßich sein Urteil nicht hören kann. Bei allen Unterschieden im einzelnen und inder Gesamteinschätzung verdanke ich ihm ja viel. Man wird das vielleicht andieser Gesamtdarstellung eher merken können als an meinem Spenerbuch.“Dass ich Martin Schmidt von seiner Gesamtdarstellung verdrängte, wurde

in unserem Verhältnis nie berührt. Wir arbeiteten in der Pietismus-Kommis-sion harmonisch zusammen. Dass Schmidt, wie er mir geschrieben hatte, nichtallein in der Pietismus-Kommission zu entscheiden hatte, sollte ich allerdingsbald merken. Auf einer der nächsten Sitzungen im Jahr 1974 beschloss die Pie-tismus-Kommission, zur 300–Jahrfeier der Veröffentlichung von Speners PiaDesideria vom 3. bis 6. April 1975 eine Tagung in Frankfurt am Main undArnoldshain durchzuführen, auf der mehrere Referate und Vorträge gehaltenwerden sollen. Wallmann sollte nicht zu einem Vortrag eingeladen werden,sondern ein Seminar mit Lektüre der wichtigsten Kapitel aus den Pia Desideriahalten. Ich dankte für die Einladung, erklärte aber, lieber wie die anderenReferenten einen Vortrag halten zu wollen als einen so umfangreichen Textwie die Pia Desideria in einem knappen Lektüreseminar durchzunehmen. AlsHerr Söhngen mir auf Nachfrage mitteile, dass er und andere für einen Vortragvon mir votiert hätten, aber überstimmt worden seien, war mir klar, dass mirein Maulkorb umgehängt werden sollte. Am 13. Oktober 1974 erklärte ich

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darum meine Absage, mit der Begründung, dass ich als Dekan am Fakultäten-tag in Berlin teilnehmen müsse.Bei den im Frühjahr und im Herbst meist in Berlin stattfindenden Sitzungen

der Pietismus-Kommission, die am ersten Tag für die Sektion West in derJebensstraße, am zweiten Tage für die Sektion Ost in Ostberlin stattfanden,wobei die Tagung in Westberlin die wesentliche war, während die Tagung inOstberlin vornehmlich informatorischen Wert hatte, war ich ab 1975 zunächstunregelmäßig, seit 1980 regelmäßig anwesend. Bald merkte ich, dass dasHauptproblem der Pietismus-Kommission, zu deren Lösung ich beitragensollte, die zwanzigbändige Ausgabe der Werke Speners, an der Kurt Aland inMünster arbeitete und für die der bei weitem größte Teil der von den Kirchenzur Verfügung gestellten Finanzmittel gebraucht wurde, nicht voran kam. Jahrfür Jahr wiederholte sich das gleiche. Von Münster war keine Nachricht überdie Fertigstellung des ersten Bandes der Spenerausgabe zu bekommen. Söhn-gen schrieb mir 1980: „Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie nicht nur an dernächsten, sondern auch an den folgenden Sitzungen unserer Kommission teil-nehmen würden. Denn wir sind endlich zur entscheidenden Sachdiskussiondurchgestoßen und dabei können wir Sie einfach nicht entbehren.“Die Problematik verschärfte sich, als Erich Beyreuther im Olms Verlag Hil-

desheim eine Reprintausgabe der Werke Speners ankündigte, die in ihremUmfang – 22 Bände – der historisch-kritischen Spenerausgabe der Pietismus-Kommission zur Verwechslung ähnlich sah. Im Juli 1978 schrieb Beyreutherdas Vorwort zu dem Band 1 der Spenerreprintausgabe, der 1979 im Druckerschien. Die Redaktion des Bandes hatte Dr. Dietrich Blaufuß aus Erlangen,der auch die gründlichen Einleitungen zu den einzelnen Schriften Spenersschrieb. Die Ankündigung der Spenerausgabe Beyreuthers durch den OlmsVerlag schreckte die Pietismus-Kommission in hohem Maße auf. MartinSchmidt war durch seine Erkrankung nicht mehr zur Reaktion fähig. AlleVerantwortung lag auf Oskar Söhngen, der kommissarisch die Leitung derKommission übernahm und sie bis 1982 inne hatte, als nach dem Tod MartinSchmidts der württembergische Oberkirchenrat Konrad Gottschick zum Vor-sitzenden und Martin Brecht zum stellvertretenden Vorsitzenden gewähltwurde.Im September 1978 schrieb mir Oskar Söhngen eigenhändig einen privaten,

nicht zu den Akten gehenden Brief. Die Situation in der Pietismus-Kommis-sion und die Problematik der Spenerausgabe mache ihm Sorge und erforderegründliche Überlegungen. Er habe demnächst bei der Cansteinschen Bibelan-stalt in Bielefeld zu tun und bäte mich, am späten Nachmittag des 4. Oktobernach Bielefeld in den Bielefelder Hof zu kommen, um „den ganzen Komplexder personellen und sachlichen Probleme einmal vertraulich mit Ihnen durch-zusprechen“. In dieser Unterredung erklärte mir Herr Söhngen, dass „der Kar-ren der Pietismus-Kommission in den Dreck gefahren sei“ und er um meineHilfe bitte, den Karren wieder herauszuziehen. Ich möchte ihm meine Ansichtüber die nicht zustande kommende Spenerausgabe mitteilen.

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Ich legte Söhngen dar, dass nicht nur nach meiner Meinung, sondern auchnach der Meinung vieler Kollegen, die sich darüber literarisch geäußert hätten(z.B. Gottfried Seebaß), durch den Plan der Spener-Reprintausgabe im OlmsVerlag, die bald und in schneller Folge erscheinen werde, die historisch-kriti-sche Ausgabe Speners der Pietismus-Kommission, deren Fertigstellung vieleJahre erfordern würde, in der Substanz in Frage gestellt werde. Einmal würde,wenn die umfangreichen, meist aus Predigten bestehenden Werke Spenersdurch Reprintausgaben zugänglich gemacht würden, ein Markt für eine zweiteSpenerausgabe nicht mehr bestehen. Gegen die in den Kommissionssitzungen,vor allem von Archivdirektor Dr. Schäfer ständig vorgebrachte Auffassung,Reprintausgaben seien keine wissenschaftlichen Ausgaben und würden ernst-hafter Forschung nicht helfen, wies ich auf die vielen Reprintausgaben beige-gebenen Einleitungen hin, die den Stand der Forschung berücksichtigen kön-nen.Außerdem sei bei den Predigten Speners, die die Mehrzahl der Bände ausma-

chen, eine historisch-kritische Ausgabe nicht unbedingt nötig. August Her-mann Francke habe seine Predigtbände nach den Mitschriften dazu angestellterStudenten herausgegeben, die ihn zuweilen nicht richtig verstanden, so dass erbei späteren Auflagen den Text korrigierte. Bei Franckes Predigten sei eine hi-storisch-kritische Ausgabe mit einem textkritischen Apparat durchaus sinnvoll.Spener habe aber bei Neuauflagen seiner Predigtwerke in aller Regel nichtsgeändert. Ein textkritischer Apparat sei hier überflüssig. Auch auf einen kom-mentierenden Apparat könne man bei Edition der Predigten und katecheti-schen Werke Speners verzichten. In den meisten Predigtbänden des 17. Jahr-hunderts, etwa den Katechismuspredigten seines Straßburger Lehrers JohannConrad Dannhauer, stoße man auf viele Namen und Zitate antiker, biblischerund historischer Autoren, die ohne einen kommentierenden Apparat nicht ver-standen werden können. Speners Predigten unterschieden sich aber von denPredigten seiner Zeitgenossen durch ihren Verzicht auf das übliche Geprängevon Gelehrsamkeit und durch ihre ganz aus dem biblischen Zusammenhanggenommene Argumentation. Zitierte Bibelstellen seien in Speners Predigtenmit dem Fundort angegeben und bedürften keines Nachweises. Autoren wür-den kaum angeführt, abgesehen von Luther, der mit Angabe der Fundstellenin den alten Ausgaben zitiert werde. Die Lutherzitate könne man mit Hilfevon Alands Hilfsbuch zum Lutherstudium leicht in der Weimarer Ausgabe auffin-den.Was der geplanten Reprintausgabe der Werke Speners gegenübergestellt

werden könne, sei eine historisch-kritische Ausgabe seines Briefwechsels. DieBedeutung Speners sei, wie Wolfgang Trillhaas in der Biographienreihe „Diegroßen Deutschen“ eindrücklich gezeigt habe, viel besser als aus seinen Predig-ten aus seinen Briefen zu erkennen. Hier gäbe es eine Fülle handschriftlichenMaterials im Archiv der Franckeschen Stiftungen und in anderen deutschenund außerdeutschen Archiven und Bibliotheken, auch in Privatbesitz. Außer-dem seien die großen Bände, in denen Speners Briefe und Bedenken vorliegen

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(die Theologischen Bedenken von 1702, Letzte Theologische Bedenken von 1711 undConsilia et Iudicia theologica latina von 1709) voller Druckfehler, so dass schonder Herausgeber der Consilia, der Freiherr Carl Hildebrand von Canstein, dieAusgabe für unbrauchbar erklärt habe. Vor allem seien, da diese Briefe undBedenken als pastoraltheologisches Handbuch dienen sollten, die Namen derEmpfänger getilgt und auch in den Briefen viele Namen anonymisiert worden.Diese Namen seien, damit die Briefe als historische Quelle dienen können, erstherauszufinden, was angesichts der Bedeutung der Spenerschen Korrespon-denz eine wichtige Aufgabe wäre. Ich würde deshalb vorschlagen, den Planeiner Ausgabe der Werke Speners aufzugeben zugunsten einer historisch-kriti-schen Ausgabe der Briefe.Oskar Söhngen hörte sich meine Argumentation aufmerksam an. Zwar

leuchte ihm das Gesagte ein, aber es sei nun einmal von der Pietismus-Kom-mission beschlossen worden, eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Spe-ners zu veranstalten. Was von einer kirchlichen Kommission, in der fast alleLandeskirchen vertreten sind, einmal förmlich beschlossen worden ist, könneman nicht einfach ändern. Er sähe angesichts des Beschlusses über die Spener-ausgabe, der zu respektieren sei, nur die Möglichkeit, neben die Werkausgabeeine Briefausgabe zu stellen. Dadurch werde der Umfang der Werkausgabeerheblich verkleinert werden. Er bat mich, der Kommission zu ihrer nächstenSitzung einen Plan zu einer Ergänzung der Werkausgabe durch eine Briefaus-gabe vorzulegen.Oskar Söhngen war eine außergewöhnlich starke, mich tief imponierende

Persönlichkeit. Sein Zutrauen zu mir beeindruckte mich sehr. Ich habe einensolchen auf hohem geistigem und menschlichem Niveau stehenden Kirchen-führer nicht wieder erlebt. Trotz starker Bedenken und gegen mein besseresWissen, dass Alands Werkausgabe keine Zukunft habe, nahm ich den Auftrag,einen Plan für eine neben die Werkausgabe zu stellende Briefausgabe zu ent-wickeln, an. Meine Bedenken waren auch deshalb groß, weil ich Herrn Söhn-gen, der mich kurz zuvor für eine engere Bindung an die Pietismus-Kommis-sion, also als Vollmitglied, gewinnen wollte, eine Ablehnung erteilte mit derBegründung: „Der Eindruck, daß ich sofort nach meinem Eintritt begonnenhätte, Herrn Aland von der Spenerausgabe zu verdrängen, würde sich fürjeden Außenstehenden mit Sicherheit erwecken. Ich möchte auf keinen Falldiesen Eindruck erwecken.“Auf der Sitzung der Pietismus-Kommission vom 13. April 1981 entwickelte

ich meinen nach den Wünschen Oskar Söhngens modifizierten Plan einer Spe-nerbriefausgabe zur Ergänzung der Werkausgabe. Dabei wies ich auf die vonAland in Münster begonnene Arbeit an den Briefen Speners hin, von denenmir die in der Dresdner Zeit beginnenden Briefe an Adam Rechenbergbekannt seien. Außerdem wies ich auf die Arbeiten des mit mir seit Jahren inVerbindung stehenden Dr. Dietrich Blaufuß in Erlangen hin, der sich intensivmit dem Briefwechsel Speners befasse und eine Edition des zwischen Spenerund dem Augsburger Theophil Spizel geführten Briefwechsels plane. Das Pro-

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tokoll der Sitzung verzeichnet unter TOP 4: „Prof. Wallmann wird bis zurnächsten Sitzung einen Plan für eine Ausgabe der Briefe, zunächst für die ausder Frankfurter Zeit, aufstellen. Die in Münster liegenden Materialien werdenihm dafür zugänglich gemacht. Dr. Blaufuß wird gebeten, in sein Materialgleichfalls Einsicht zu gewähren.“ Ich habe damals bereits gesagt, ich könnediese Aufgabe nicht allein erfüllen, sondern nur in Kooperation mit der Mün-steraner Arbeitsstelle, wo 1.200 Spenerbriefe in Transkription liegen, und inKooperation mit Dr. Blaufuß, der sich seit Jahren mit Speners Briefwechselbeschäftigt hat.Herr Aland hat mir bereitwillig sofort eine Aufstellung der in Münster

bekannten Spenerbriefe überlassen. Die Kooperation mit der MünsteranerArbeitsstelle verlief auch in den folgenden Jahren problemlos. Dabei hat wohlgeholfen, dass Aland, der an seiner seit 1975 öffentlich angekündigten Wider-legung meines Spenerbuches arbeitete, von mir die zehnbändige Katechismus-milch Dannhauers nach Münster geschickt bekam. Sein Mitarbeiter Richterhatte durch Fernleihe nur 3 Bände bekommen und sich an mich gewandt, derich eine vollständige Ausgabe der Katechismusmilch Dannhauers in Kopie fürdie Bochumer theologische Seminarbibliothek angeschafft hatte. Da eine Ent-leihung nach auswärts von der Bibliotheksleitung nicht genehmigt wurde, liehich auf meinen Namen das Werk aus und schickte es privat per Postpaket anHerrn Aland, der sich am 28. Oktober herzlich für die zehn Bände bedankte,aber noch um Zusendung des Registerbands bat, was ich umgehend tat. Auchin späterer Zeit habe ich mit Aland zusammengearbeitet, z.B. als er mir 1983für Band 2 seiner Spenerausgabe eine Suchliste fehlender Literatur sandte, dieseine Mitarbeiter nicht zu identifizieren vermochten. Als ich ihm sofort für dieMehrzahl der Titel seiner Suchliste die Nachweise gab, dankte er mir mit denWorten, er hätte diese Liste seinen Mitarbeitern um die Ohren geschlagen.Man sieht, auch bei schärfstem wissenschaftlichem Gegensatz können Wissen-schaftler kollegial zusammenarbeiten. Erst nach Alands Tod 1994 fand sichMartin Brecht nicht mehr bereit, mir Zugang zu der Münsteraner Spener-arbeitsstelle zu gewähren.Eine Kooperation mit Herrn Blaufuß kam dagegen nicht zustande. Ich hatte

gemeint, eine über ein halbes Jahrzehnt zurückliegende Kontroverse zwischenihm und mir, weil ich einem wegen eines Aufsatzes im „Pfarrerblatt“ über Spe-ner von Blaufuß angegriffenen Pfarrer in einem auch an einige Kollegen ver-sandten Offenen Brief zur Seite gesprungen und seine Art, Wissenschaft zutreiben, kleinkariert („Griffelspitzerei“) und tote Gelehrsamkeit genannt hatte,sei längst ad acta gelegt. Dafür sprach die Art und Weise, wie Herr Blaufuß undich, die wir in den Grundfragen der Pietismusforschung einig waren, in derZwischenzeit miteinander umgegangen waren. Offensichtlich hatte ich michgetäuscht. Herr Weigelt, der sich im Auftrag des Vorsitzenden um den Kon-takt zu ihm bemühte, konnte nur den Fehlschlag seiner Versuche mitteilen.Als ich im Herbst dem Vorsitzenden der Pietismus-Kommission mitteilte,

die Bedingung, unter der ich den Auftrag übernommen habe, sei nicht erfüllt

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und ich gäbe den Auftrag zurück, bat mich Herr Gottschick eindringlich, denAuftrag vom März doch zu erfüllen. Ich gab schließlich seinem Drängen nachund habe das Referat Überlegungen und Vorschläge zu einer Edition des SpenerschenBriefwechsels, zunächst aus der Frankfurter Zeit (1666–1681) in der Sitzung vom 7.Dezember 1981 gehalten.9 Herr Blaufuß war, weil er sich der Kooperation ver-weigert hatte, vom Vorsitzenden nicht eingeladen worden.In der an mein Referat anschließenden Diskussion wies ich darauf hin, dass

mir eine Erfüllung der Bitte durch die mangelnde Kooperationsmöglichkeitunmöglich gemacht worden sei und ich lieber andere Pläne verwirklichenwolle. Dabei dachte ich an meine Mitarbeit an der Ausgabe der Werke Herdersim Klassikerverlag, um die ich zu dieser Zeit gerade gebeten wurde. Ich bindann von den Kommissionsmitgliedern, besonders von Herrn Söhngen undvon Bischof Martin Kruse, bedrängt worden, diese Aufgabe doch zu überneh-men. Ich habe schließlich Ja gesagt unter der von mir zweimal wiederholtenBedingung, dass ich von allen Mitgliedern der Kommission dabei unterstütztwürde. Ausschlaggebend für meine Einwilligung war das Wort von BischofKruse: „Sie müssen das machen, Herr Wallmann.“ In den Auseinandersetzun-gen, die ich später zu bestehen hatte und in denen ich zuweilen bei BischofKruse um Unterstützung nachsuchen musste – ich musste mir in einer späterenSitzung den Vorwurf anhören, ohne dass der Vorsitzende Dr. Schäfer wider-sprach, ich hätte für mein Projekt einer Spenerbriefedition bei der Pietismus-Kommission um Unterstützung nachgesucht und hätte dankbar zu sein für dieFörderung – habe ich immer wieder an dieses Bischofswort erinnert.Oskar Söhngen und Bischof Kruse versprachen, gemeinsam für ein

Gespräch zwischen Herrn Blaufuß und mir zu sorgen, bei dem es unter Assi-stenz von ihnen beiden zur Versöhnung und Übereinkunft kommen solle.Herr Söhngen kannte Dr. Blaufuß seit langem, hatte ihm, wie mir Herr Gott-schick schrieb, in seiner Jugend geholfen und zeigte Verständnis, dass er, dersich von dem Schuldienst lösen wolle und eine Professur anstrebe, sich vonmir verletzt fühlte. Herr Söhngen sprach, offensichtlich nur von einer Seiteinformiert, von einem „unseligen“ Brief, den ich geschrieben hätte. Dass icheinem Dritten zur Seite gesprungen war, war ihm unbekannt. Ich habe ihm dieHintergründe nicht erzählt, sondern habe damals, wie ich aus meinen Briefensehe, nur aus Respekt vor einem grauen Haupt geschwiegen.Das Gespräch zwischen Bischof Kruse, Oskar Söhngen, Blaufuß und mir

fand in der Wohnung von Hern Söhngen in Berlin am 23. Januar 1982 vor-mittags statt. Es verlief ohne Erfolg. Die von Kruse und Söhngen unterschrie-bene „Zusammenfassung des Gesprächs“ wurde Blaufuß und mir anschließendmit der Bitte zur Unterschrift von Herrn Söhngen zugesandt. Herr Söhngensah dieses Gespräch als entscheidend für die Arbeit der Pietismus-Kommissionan, so dass er mir für alles mit diesem Gespräch Zusammenhängende schriftli-

9 Gedruckt in PuN 11,1985, 345–353.

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che Unterlagen zukommen ließ, aus denen ich zu zitieren hier unterlasse. Wiedie Zusammenfassung zeigt, kam ich aus Respekt vor Herrn Söhngen denBedingungen, die Blaufuß an seine Mitarbeit knüpfte, weit entgegen. DieZusammenfassung enthielt 6 Punkte.

Zusammenfassung des Gesprächs zwischen Prof. Wallmann, Dr. Blaufuß, Bischof Dr.Kruse und Prof. Söhngen am Sonnabend, dem 23. Januar 1983.1. Die persönlichen Spannungen zwischen den Herren Wallmann und Blaufuß werden

ausführlich erörtert. Wallmann erklärt sich bereit, Blaufuß einen abschließenden Briefzu schreiben, der gegebenenfalls auch anderen Empfängern des früheren Briefes vom3.7.1976 zugehen soll.

2. Die von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus empfundeneNotwendigkeit einer baldigen historisch-kritischen Ausgabe des Spenerschen Brief-wechsels aus seiner Frankfurter-Zeit wird bejaht.

3. Die Frage, ob die erwünschte Mitarbeit von Blaufuß an der Herausgabe der Briefelediglich korrespondierender oder institutioneller Art sein soll, soll zu gegebener Zeitentschieden werden.

4. Als Herausgeber sollen auf dem Titelblatt genannt werden: „Johannes Wallmann inVerbindung mit Dietrich Blaufuß“.

5. Blaufuß wird gebeten, die Entscheidung über seine Bereitschaft zur Mitarbeit mög-lichst bald zu treffen.

6. Das Ergebnis der Besprechung soll in der nächsten Sitzung der Kommission vorgetra-gen und in Gegenwart von Blaufuß erörtert werden.

Diese Zusammenfassung des Ergebnisses des Versöhnungsgesprächs wurdevon Blaufuß nicht akzeptiert. Herr Söhngen schrieb mir am 27. April 1982,Blaufuß habe den Termin für eine Erklärung über seine Zusammenarbeit mitmir bei der Herausgabe des Spenerschen Briefwechsels – 1. März 1982 – nichteingehalten. Auf die amtliche Erinnerung habe er seinem amtlichen Schreibeneinen persönlichen Brief an Blaufuß beigefügt, aus dem mir Söhngen langePassagen ausschreiben ließ. Ich zitiere daraus nur den mich betreffenden Pas-sus: „Ich darf nicht verschweigen, daß der Eindruck, den Ihr Verhalten wäh-rend unserer gemeinsamen Besprechung am 23. Januar auf Bischof Kruse undmich gemacht hat, nicht eben für Sie günstig war. Sie werden nicht bestreitenkönnen, daß Prof. Wallmann bis an die Grenze des Möglichen gegangen ist,wenn er sich sogar bereit erklärte, einen Entschuldigungsbrief an Sie zu schrei-ben. Sie sind darauf nicht nur nicht eingegangen, sondern haben immer wiederkleinliche Einzelheiten auf den Tisch gelegt, die uns, wo es um eine Generalbe-reinigung ging, nur ermüden konnten. Und wenn in einem früheren Stadiumunseres Gespräches die Dinge so günstig zu laufen schienen, daß Bischof Kruseden Vorschlag machte, zu protokollieren: ‚Es besteht auf beiden Seiten diegrundsätzliche Bereitschaft zur Kooperation‘, so war der weitere Verlauf sounerquicklich, daß es Bischof Kruse und mir unmöglich schien, diese Formu-lierung beizubehalten.“

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