© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,...

ISBN Print 9783525540527 mdash ISBN E-Book 9783647540528copy 2016 Vandenhoeck amp Ruprecht GmbH amp Co KG Goumlttingen

Florian Wilk Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments

Herausgegeben von

Ismo Dunderberg Jan Christian Gertz Dietrich-Alex Koch Matthias Koumlckert Hermut Loumlhr

Joachim Scharper David Andrew Teeter und Christopher Tuckett

Band 266

Vandenhoeck amp Ruprecht



Florian Wilk (Hg)

Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten

Zum Gedenken an Eduard Lohse




Mit 3 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISSN 2198-1183 ISBN 978-3-525-54052-7

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Gedruckt auf alterungsbestaumlndigem Papier



Eduard Lohse auf der Feier zu seinem 90 Geburtstag am 20022014 copy Ulrich Reinecke Hannover





Inhalt

Vorwort IX

Joumlrg Frey Das Vaterunser im Horizont antik-juumldischen Betens unter besonderer Beruumlcksichtigung der Textfunde vom Toten Meer 1

Reinhard Feldmeier bdquoGeheiligt werde dein Nameldquo Das Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur 25

Florian Wilk bdquoSo sollt ihr beten hellipldquo Das Vaterunser als Element der fruumlhen Jesusuumlberlieferung 83

Peter von der Osten-Sacken Das Vaterunser als Zugang zum Matthaumlusevangelium Das Beispiel der Vergebungsbitte 103

Michael Wolter Das Gebet der Juumlnger Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 112cndash4) 125

Juumlrgen Wehnert Ein Gebet fuumlr alle christlichen Gemeinden Zum Vaterunser in der Didache 143

Literaturverzeichnis 163

Nachruf auf Eduard Lohse 179

Bibliographie Eduard Lohse 2007ndash2015 181

Verzeichnis der Beitraumlger zu diesem Band 187

Stellenregister 189

Autorenregister 197





Vorwort

Am 19 Februar 2014 konnte Eduard Lohse seinen 90 Geburtstag feiern Aus diesem Anlass lud das Seminar fuumlr Neues Testament an der Theologi-schen Fakultaumlt der Georg-August-Universitaumlt Goumlttingen gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers fuumlr den folgenden Tag zu einem Symposium unter dem Titel bdquoDas Vaterunser in seinen antiken Kontextenldquo ein das in der Paulinerkirche dem Historischen Gebaumlude der Niedersaumlchsischen Staats- und Universitaumltsbibliothek stattfand

Die Idee dazu entstand in einem Gespraumlch das der Herausgeber im Jahr 2013 mit dem zu Ehrenden fuumlhrte Dabei bekundete Eduard Lohse mit Nachdruck seinen Wunsch es moumlge bei solch einem Festakt nicht um seine Person auch nicht um sein Wirken als Wissenschaftler und Mann der Kir-che gehen vielmehr solle die Veranstaltung ganz der Interpretation des Neuen Testaments gewidmet sein Dem Vorschlag dafuumlr im Anschluss an seine eigenen Arbeiten das Vaterunser ins Zentrum zu stellen stimmte er dann umgehend und gerne zu

Anlaumlsslich der Verleihung des Dr Leopold-Lucas-Preises 2007 durch die Universitaumlt Tuumlbingen hatte Eduard Lohse eine Vorlesung gehalten die das Vaterunser bdquoim Licht seiner juumldischen Voraussetzungenldquo erklaumlrte Das Ma-nuskript wurde gemeinsam mit dem Text der bei der Preisverleihung von Friedrich Schweitzer gehaltenen Festansprache 2008 publiziert1 Im Folge-jahr legte Eduard Lohse eine Untersuchung vor mit der er die 2007 bdquoent-worfene Skizze hellip auf eine breitere Basisldquo stellte In dieser ndash inzwischen mehrfach neu aufgelegten ndash Studie wurde das Vaterunser bdquoim Zusammen-hang mit der Wirksamkeit Jesu und seiner Verkuumlndigung von der anbre-chenden Gottesherrschaft aber auch im Blick auf das Gebet der fruumlhen Christenheit betrachtetldquo um bdquosowohl die urspruumlngliche Gestalt des Gebets wie auch seine bleibende Bedeutung des naumlheren zu bedenkenldquo2

Beide Buumlcher bringen die Einsicht zur Geltung dass das Vaterunser nur unter Beruumlcksichtigung der verschiedenen Kontexte in denen es entstand uumlberliefert wurde und ein ums andere Mal ausgelegt worden ist angemes-sen verstanden werden kann Gleichwohl sind sie im Kern und auf weite Strecken als Kommentare angelegt die das Gebet Zug um Zug von der Anrede bis hin zur Schlussbitte in seinem Aussagegehalt erlaumlutern Das

mdashmdashmdashmdashmdash 1 Vgl E LOHSE Das Vaterunser im Licht seiner juumldischen Voraussetzungen Lucas-Preis

2007 hg von F Schweitzer Tuumlbingen 2008 2 Vgl E LOHSE Vater unser Das Gebet der Christen Darmstadt 2009 8



X Vorwort

Symposium sollte deshalb jener grundlegenden Einsicht auf andere Weise entsprechen und Beitraumlge versammeln die jeweils das Vaterunser als Gan-zes in einen bestimmten Kontext einordnen Aus sachlichen und zeitlichen Gruumlnden lag es nahe sich dafuumlr auf die aumlltesten Quellen zu beschraumlnken

Die Themenauswahl ergab sich bei diesem Ansatz gleichsam von selbst Es galt das Vaterunser in den drei fruumlhchristlichen literarischen Zeugnis-sen die es in je anderem Wortlaut anfuumlhren in seinem diesen Schriften vorausliegenden Uumlberlieferungszusammenhang und in den fuumlr die Jesusbe-wegung sowie das entstehende Christentum maszliggeblichen religionsge-schichtlichen Horizonten zu verorten Die Referenten die sich Eduard Lohse dafuumlr wuumlnschte haben die Einladung zum Symposium ohne Zoumlgern angenommen Aus ihren Kurzvortraumlgen den anschlieszligenden Diskussions-voten und dem Schlusswort von Eduard Lohse3 ergab sich ein ebenso facet-tenreiches wie kohaumlrentes Gesamtbild vom Vaterunser in seinen antiken Kontexten

Der vorliegende Band vereint die vor diesem Hintergrund ausgearbeite-ten Fassungen der im Februar 2014 gehaltenen Vortraumlge Am Anfang ste-hen die beiden religionsgeschichtlich orientierten Studien Joumlrg Frey be-trachtet bdquo[d]as Vaterunser im Horizont antik-juumldischen Betens unter beson-derer Beruumlcksichtigung der Textfunde vom Toten Meerldquo Dabei erweisen sich insbesondere die in Qumran entdeckten aramaumlischen Privatgebete in mehrfacher Hinsicht als bdquoenge Geistesverwandteldquo (24) sie und einige ande-re Qumrantexte bieten nicht nur eindruumlckliche Parallelen fuumlr die Anrede Gottes als Vater sondern daruumlber hinaus diverse Ansatzpunkte fuumlr ein ver-tieftes gaumlngige Alternativen uumlberwindendes Verstaumlndnis der einzelnen Bitten und ihrer Zusammenstellung im Vaterunser Reinhard Feldmeier untersucht bdquo[d]as Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteraturldquo um bdquodie Charakteristika biblischen Betens im Allgemeinen und die des Herren-gebets im Besonderen praumlziser wahrzunehmenldquo (29) Der Vergleich mit vielen griechisch-roumlmischen Texten laumlsst im Blick auf Horizont Anlass Gestaltung Inhalt und Subjekte des Betens bdquonicht nur hellip Unterschiede sondern hellip auch Entsprechungenldquo (30) hervortreten und zumal fuumlr die erste Bitte erkennen wie sie die Heiligkeit des Namens Gottes als Zuspruch und Anspruch an die Betenden zur Sprache bringt

Florian Wilk geht in seinem Aufsatz zum bdquoVaterunser als Element der fruumlhen Jesusuumlberlieferungldquo der Frage nach wem es urspruumlnglich wozu uumlbermittelt wurde Im Horizont der synoptischen Erzaumlhltradition und der Anweisungen Jesu zu privat-individuellem Beten erscheint das Vaterunser

mdashmdashmdashmdashmdash 3 Bedauerlicherweise wurde versaumlumt dieses eindrucksvolle Schlusswort aufzuzeichnen Fuumlr

den vorliegenden Band waumlre es freilich auf die Druckfassungen der Beitraumlge abzustimmen gewe-sen und dazu fand sich vor Eduard Lohses Tod im Juni 2015 keine Gelegenheit mehr



Vorwort XI

als Gebet mit dem nicht nur die Juumlnger sondern all seine Houmlrer bdquo je fuumlr sich seinen Weisungen und seinem Vorbild folgenldquo (102) koumlnnen um bdquodie Be-ziehung zu Gott als Vater die Teilhabe an der Gottesherrschaft und de[n] Eintritt in das Kraftfeld der Vergebungldquo (100) Ereignis werden zu lassen

Die weiteren Beitraumlge sind den fruumlhchristlichen Quellenschriften gewid-met die das Vaterunser woumlrtlich anfuumlhren Peter von der Osten-Sacken praumlsentiert anhand der Vergebungsbitte bdquo[d]as Vaterunser als Zugang zum Matthaumlusevangeliumldquo Wie dieses durchweg bdquodie Einheit Gottes als Erbar-mer und Richterldquo betont so bringt jene Bitte das kasuistisch veranschau-lichte bdquoKorrespondenzverhaumlltnis zwischen dem menschlichen und dem goumltt-lichen Verhaltenldquo (107) ebenso zum Ausdruck wie das Angewiesensein der Menschen bdquoauf die staumlndige Gewaumlhrung eines Neuanfangs ohne Schuldenldquo (113) und damit auf das uumlberreiche Erbarmen Gottes Letzteres sollte die kirchliche Abendmahlsliturgie daher auch Judas nicht laumlnger absprechen Michael Wolter legt dar welche Interpretation bdquo[d]as Vaterunser im Lukas-evangeliumldquo durch die narrative Einbindung die Verknuumlpfung mit einem bdquokleinen Gebetskatechismusldquo (128)4 und die Gestaltung des Wortlauts er-faumlhrt Es erscheint als das alltagstaugliche alltaumlglich zu sprechende bdquoGebet der Juumlngerldquo Jesu das ihre Gemeinschaft kennzeichnet ihr Beten auf Gottes Fuumlrsorge und Vergebung gruumlndet und es auf die in Erhoumlrungsgewissheit geaumluszligerte Bitte ausrichtet dass Gott als Vater bdquoseine himmlische Wirklich-keit durch seinen Geist in ihrer Mitte erfahrbar werden laumlsstldquo (142) Juumlrgen Wehnert schlieszliglich erlaumlutert warum wie und wozu das bdquoVaterunser in der Didacheldquo zitiert wird Sie legt fuumlr alle angesprochenen Gemeinden bdquoeinen verbindlichen Wortlaut festldquo (147) der die spaumltere Textuumlberlieferung an einigen Punkten nachhaltig beeinflusst hat sie stellt es als Abschluss des Taufritus als maszliggebende Einleitung der Eucharistiefeier und als integrales Element der Alltagsfroumlmmigkeit des Einzelnen dar und sie macht es so zu einem zentralen Symbol der religioumlsen Identitaumlt der Didache-Christen bdquozwi-schen Heiden und nicht-christusglaumlubigen Judenldquo (161)

Insgesamt dokumentieren die hier gesammelten Beitraumlge ein weitgehen-des Einverstaumlndnis in grundlegenden exegetischen Einsichten zum Vaterun-ser die Vielfalt der fuumlr seine Interpretation zu beruumlcksichtigenden Quellen und Perspektiven den Bedarf an weiterer Klaumlrung der bei strittigen Sach-verhalten und offenen Fragen besteht ndash und in alledem durch positive Auf-nahme ebenso wie durch kritische Weiterfuumlhrung die wegweisende Bedeu-tung der Arbeiten Eduard Lohses zu diesem Gebet das die Christen in aller Welt eint und sie zugleich an ihre Verbundenheit mit den Juden erinnert5

mdashmdashmdashmdashmdash 4 M Wolter greift damit eine Formulierung Eduard Lohses (DERS Vater unser 98) auf 5 Vgl LOHSE Vater unser 102



XII Vorwort

Eduard Lohse hatte sich eine Ehrung seiner Person anlaumlsslich seines ho-hen Geburtstages verbeten Das Gleiche galt fuumlr die Trauerfeier am 4 Juli 2015 im Kloster Loccum So erscheint auch dieses Buch nicht zu seinen Ehren Es soll aber im Sinne von Hebr 137 durchaus dem Gedenken an ihn als theologischen Lehrer dienen Daher enthaumllt es neben den vorgestell-ten fachwissenschaftlichen Beitraumlgen zum einen den Nachruf der Theologi-schen Fakultaumlt zu Goumlttingen zum andern den vierten und letzten Teil der Bibliographie Eduard Lohses Ich danke der Familie Lohse fuumlr die Moumlg-lichkeit dafuumlr die von ihm selbst gefuumlhrte Publikationsliste einsehen zu koumlnnen

Auch von anderen habe ich vielfaumlltige Unterstuumltzung erfahren ohne die der Band nicht haumltte fertiggestellt und veroumlffentlicht werden koumlnnen Die beteiligten Autoren haben die Aufgabe ihre Vortraumlge zu Aufsaumltzen auszu-arbeiten mit groszligem Ernst und Einsatz wahrgenommen und mir im Korrek-turprozess ebenso zuumlgig wie verlaumlsslich zugearbeitet Janine Muumlller hat die Erstellung der Druckvorlage ndash von der redaktionellen Bearbeitung der Bei-traumlge bis hin zur Anfertigung der Register ndash mit Ausdauer Geschick und Sorgfalt musterguumlltig vorbereitet Julian Bergau hat mir mit scharfem Auge beim Korrekturlesen geholfen Die Herausgeber der bdquoForschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testamentsldquo haben den Band bereitwillig in die renommierte Reihe aufgenommen Joumlrg Persch hat das Publikationsvorhaben von Anfang an begruumlszligt und mit wertvollem Rat be-gleitet Moritz Reissing sowie weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlags Vandenhoeck amp Ruprecht haben den Prozess der Drucklegung en-gagiert und professionell vorangetrieben Ihnen allen danke ich von Herzen

Moumlge das Buch in bdquoWissenschaft und Kircheldquo6 die Aufmerksamkeit fuumlr die Eigenart des Gebetes foumlrdern bdquodas heute wie einst die Welt umspanntldquo7

Goumlttingen im Advent 2015 Florian Wilk

mdashmdashmdashmdashmdash 6 K AlandS Meurer (Hg) Wissenschaft und Kirche FS Eduard Lohse TAzB 4 Bielefeld

1989 7 LOHSE Vater unser 8



Joumlrg Frey

Das Vaterunser im Horizont antik-juumldischen Betens unter besonderer Beruumlcksichtigung der Textfunde

vom Toten Meer

bdquoJesus war kein Christ sondern Judeldquo ndash so hat es der Goumlttinger genius loci Julius Wellhausen 1905 in seiner Einleitung in die synoptischen Evangelien formuliert1 Das klingt heute weniger provokativ als damals zumal nach uumlber 30 Jahren des sbquoThird Questlsquo der dritten sbquoRundelsquo der Frage nach dem historischen Jesus in der ndash anders als haumlufig zuvor ndash Jesu Kontinuitaumlt zum Judentum2 seiner Zeit staumlrker betont wird als die Diskontinuitaumlt oder gar die theologische Herausarbeitung seiner Einzigartigkeit3

So gilt auch fuumlr das Gebet Jesu das mit der Zeit zum Gebet der weltwei-ten Christenheit avanciert ist Es ist zunaumlchst ein ganz und gar juumldisches Gebet wenngleich es uns ausschlieszliglich in christlichen Texten ndash zwei Evangelien sowie der Didache ndash begegnet4 und auch in seinem christlichen

mdashmdashmdashmdashmdash 1 Vgl J WELLHAUSEN Einleitung in die synoptischen Evangelien Berlin 1905 113 S dazu

HD BETZ Wellhausenrsquos Dictum sbquoJesus was not a Christian but a Jewlsquo in Light of Present Schol-arship Studia Theologica 45 (1991) 83‒110

2 Vgl G THEISSENA MERZ Der historische Jesus Goumlttingen 1996 29 T HOLMEacuteN The Jew-ishness of Jesus in the sbquoThird Questlsquo in M LabahnA Schmidt (Hg) Jesus Mark and Q The Teaching of Jesus and the Earliest Records JSNTS 214 Sheffield 2001 143‒162 DERS An Introduction to the Continuum Approach in Ders (Hg) Jesus from Judaism to Christianity Continuum Approaches to the Historical Jesus LNTS 352 London 2007 1‒16 ausfuumlhrlich CA EVANS Jesus and His Contemporaries Comparative Studies Leiden 1995 B CHILTON Jesus within Judaism in DersCA Evans (Hg) Jesus in Context Temple Purity and Restoration Leiden 1997 JH CHARLESWORTH Jesus within Judaism New Light from Exciting Archaeologi-cal Discoveries New York 1988 M HENGELAM SCHWEMER Die Geschichte des fruumlhen Christentums I Jesus und das Judentum Tuumlbingen 2007 W STEGEMANN Jesus und seine Zeit Biblische Enzyklopaumldie 10 Stuttgart 2010

3 Zur bleibenden Funktion der Rede von Diskontinuitaumlten im Rahmen des neuen Paradigmas s zuletzt T HOLMEacuteN Hermeneutics of Dissimilarity in the Early Judaism˗Jesus˗Early Christianity Continuum in Ders (Hg) Jesus in Continuum WUNT 289 Tuumlbingen 2012 3‒42 Wo von Diskontinuitaumlt zu reden ist ist diese im Kontext des inzwischen deutlich pluraleren Bildes des antiken Judentums im Blick auf spezifische Stroumlmungen oder Positionen des zeitgenoumlssischen Judentums zu erheben und hier ergeben sich durchaus aufschlussreiche Beobachtungen Aber die in der aumllteren Forschung verbreitete generalisierende Rede von sbquodemlsquo Judentum verbietet sich fuumlr die Zeit Jesu

4 Gelegentlich wird gefordert auf die Bezeichnung der Texte der fruumlhen Jesusbewegung als sbquochristlichlsquo zu verzichten Doch waumlre dies mE eine uumlbereilte und zugleich wenig fruchtbare sbquoterminological correctnesslsquo Auch wenn diese Texte saumlmtlich noch mehr oder weniger im Rah-



2 Joumlrg Frey

Gebrauch haumllt es in der Gemeinde Jesu den juumldischen Urgrund praumlsent5 ndash die juumldische Praxis des (regelmaumlszligigen zu festen Zeiten erfolgenden) Betens ebenso wie praktisch alle Einzelthemen und -motive der fuumlnf bzw sieben Bitten und der sekundaumlr angeschlossenen Doxologie6 der heilige Gottes-name die kommende Koumlnigsherrschaft Gottes das Tun seines Willens die taumlgliche Fuumlrsorge Gottes die Suumlndenvergebung die Bewahrung vor der Versuchung und die endguumlltige Beseitigung des Boumlsen

In diesem Horizont hat Eduard Lohse in seiner schoumlnen Auslegung das Vaterunser interpretiert7 als juumldisches Gebet und im Kontext der Traditio-nen juumldischer Gebete insbesondere des Qaddisch des Achtzehnbitten-gebets und der qumranischen Gebetsdichtung der Hodayot Damit und in vielen Details folgt der Jubilar einem anderen Goumlttinger genius loci Joachim Jeremias der mit seinen grundlegenden Arbeiten zur Vateranrede Jesu8 und uumlberhaupt mit seinen Forschungen zur Sprache Jesu9 die neutes-tamentliche Forschung nicht nur zum Vaterunser gepraumlgt hat Seine Ein-sichten zur poetischen Gestalt der Sprache und Verkuumlndigung Jesu sind bis heute trotz aller Problematisierungen der Kriterienfragen in der Jesusfor-schung10 und trotz vieler neuer Erkenntnisse im Detail von grundlegender Bedeutung mdashmdashmdashmdashmdash men eines synagogalen Judentums oder im Strahlungsfeld juumldischer Uumlberlieferung stehen sollte man auf das Attribut sbquochristlichlsquo (vgl Apg 1126 2628 1Petr 416) nicht verzichten Strikte Grenzen zwischen dem werdenden Christentum und dem synagogalen Judentum gab es im 1 Jh aber noch nicht und trotz aller Abgrenzungen und Auseinandersetzungen (gerade in dem so juumldischen Matthaumlusevangelium) verfestigte sich die sbquoTrennung der Wegelsquo erst deutlich spaumlter im 2 Jh

5 Zu diesem hermeneutischen Sinn s J FREY Neutestamentliche Wissenschaft und antikes Ju-dentum Probleme ndash Wahrnehmungen ndash Perspektiven ZThK 109 (2012) 445‒471

6 Der juumldische Gelehrte Israel Abrahams hat einmal versucht aus juumldischen Gebeten ein bdquoVa-terunserldquo zusammenzusetzen I ABRAHAMS Studies in Pharisaism and the Gospels II Cambridge 1924 (Nachdruck New York 1967) 98f s WD DAVIESDC ALLISON A Critical and Exegetical Commentary on The Gospel according to Saint Matthew I Introduction and Commentary on Matthew IndashVII ICC Edinburgh 1988 595

7 Vgl E LOHSE Das Vaterunser ndash im Licht seiner juumldischen Voraussetzungen Tuumlbingen 2008 vgl DERS Vater unser Das Gebet der Christen Darmstadt 32011

8 Vgl J JEREMIAS Abba in DERS Abba Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte Goumlttingen 1966 15‒66 DERS Das Vaterunser im Lichte der neueren Forschung Calwer Hefte 50 Stuttgart 1962 wieder abgedruckt in DERS Abba 152‒170 DERS Die Bot-schaft Jesu vom Vater Calwer Hefte 92 Stuttgart 1968

9 Zusammengefasst in J JEREMIAS Neutestamentliche Theologie I Die Verkuumlndigung Jesu Guumltersloh 1970

10 Vgl zunaumlchst G THEISSENDWINTER Die Kriterienfrage in der Jesusforschung Vom Dif-ferenzkriterium zum Plausibilitaumltskriterium NTOAStUNT 34 FribourgGoumlttingen 1997 T HOLMEacuteN Doubts about Double Dissimilarity Restructuring the Main Criterion of Jesus-of-History Research in B ChiltonCA Evans (Hg) Authenticating the Words of Jesus I Leiden 1999 47ndash80 SE PORTER The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research JSNTS 191 LondonNew York 2000 T HOLMEacuteN Authenticity Criteria in CA Evans (Hg) Encyclo-pedia of the Historical Jesus New York 2008 43‒54 SE PORTER The Criteria of Authenticity



Das Vaterunser im Horizont antik-juumldischen Betens 3

Es ist also nicht mehr als ein paar Eulen nach Athen zu tragen wenn ich an dieser Stelle zum ehrenden Gedenken an Eduard Lohse den Vaterunser-Ausleger und wir-kungsvollen Vermittler der Qumran-Texte11 einige Aspekte zur Auslegung des Va-terunsers praumlsentiere die sich aus neueren Forschungen zur Sprache Jesu wie auch zu seiner palaumlstinisch-juumldischen Mitwelt ergeben Aufgrund dieser Einsichten duumlrften auch einige Goumlttinger Traditionen nochmals zu korrigieren oder zu modifizieren sein

Grundlage neuerer Einsichten sind immer wieder neue Quellen bzw deren verbesserte Zugaumlnglichkeit und vertiefte Auswertung Fuumlr die neutestament-liche Wissenschaft des 20 Jhs waren dies insbesondere die Textfunde vom Toten Meer die einen Paradigmenwechsel in wesentlichen Bereichen der Auslegung bewirkt haben12 Auch wenn in den ersten Dekaden der Qumran-forschung viele uumlberzogene Thesen formuliert wurden die spaumlter aufgrund der vollstaumlndigeren Publikation des Materials zu revidieren waren13 und das Interesse der neutestamentlichen Forschung sich mehrheitlich wieder ande-ren Texten Themen und Trends zugewandt hat sind die Einsichten die sich aufgrund der Qumran-Bibliothek philologisch methodologisch reli-gionsgeschichtlich und exegetisch ergeben noch laumlngst nicht hinreichend aufgenommen Dies gilt auch fuumlr die Fragen der Sprache des irdischen Jesus und ndash angesichts der zahlreichen Gebetstexte aus Qumran ndash fuumlr die Gebetspraxis im palaumlstinischen Judentum seiner Zeit so dass sich von hier aus auch neue Aspekte zum jesuanischen Vater-Gebet ergeben14

mdashmdashmdashmdashmdash in T HolmeacutenSE Porter (Hg) Handbook of Historical-Jesus Research I Leiden 2011 695ndash714 sowie aus der Perspektive des sbquomemory approachlsquo C KeithA Le Donne (Hg) Jesus Criteria and the Demise of Authenticity London 2012

11 Mit seiner zweisprachigen Ausgabe der wichtigsten Qumran-Texte in masoretischer Punkta-tion und deutscher Uumlbersetzung hat Eduard Lohse fuumlr Generationen deutschsprachiger Theologie-studierender den Zugang zu den Textfunden vom Toten Meer ermoumlglicht s E Lohse (Hg) Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Mit masoretischer Punktation Uumlbersetzung Einfuumlh-rung und Anmerkungen Darmstadt 21971

12 Vgl dazu J FREY Die Bedeutung der Qumran-Funde fuumlr das Verstaumlndnis des Neuen Testa-ments in M FiegerK SchmidP Schwagmaier (Hg) Qumran ndash die Schriftrollen vom Toten Meer Vortraumlge des St Galler Qumran-Symposiums vom 23 Juli 1999 NTOA 47 FribourgGoumlt-tingen 2001 129‒208 DERS The Impact of the Dead Sea Scrolls on New Testament Interpreta-tion Proposals Problems and Further Perspectives in JH Charlesworth (Hg) The Bible and the Dead Sea Scrolls The Princeton Symposium on the Dead Sea Scrolls III The Scrolls and Chris-tian Origins Waco 2006 407‒461 DERS Critical Issues in the Investigation of the Scrolls and the New Testament in JJ CollinsT Lim (Hg) Oxford Handbook of the Dead Sea Scrolls Oxford 2010 DERS Die Textfunde von Qumran und die neutestamentliche Wissenschaft Eine Zwisch-enbilanz hermeneutische Uumlberlegungen und Konkretionen zur Jesusuumlberlieferung in S BeyerleJ Frey (Hg) Qumran aktuell BThS 120 Neukirchen-Vluyn 2011 225‒293 DERS Qumran Research and Biblical Scholarship in Germany in D Dimant (Hg) The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective A History of Research STDJ 99 LeidenBoston 2012 529‒564

13 Dazu und zu den Fragestellungen der aumllteren Forschung s insbesondere FREY Qumran Re-search 529‒538 DERS Die Textfunde passim

14 Die Frage der Authentizitaumlt des Vaterunsers muss hier nicht eroumlrtert werden Der Versuch von Ulrich Mell das Gebet dem irdischen Jesus abzusprechen hat in der Forschung kaum Zu-



4 Joumlrg Frey

Ich beziehe mich im Folgenden besonders auf eine neue grundlegende Abhandlung der Judaistin und Aramaistin Ursula Schattner-Rieser die bei der Schwerter Qumrantagung 2009 Erwaumlgungen zur Sprache Jesu anhand des Vaterunsers praumlsentiert hat basierend auf der Gestalt des Aramaumlischen wie es sich nun aus den aramaumlischen Texten von Qumran fuumlr die Zeit Jesu praumlziser rekonstruieren laumlsst15 Das Qumran-Aramaumlische weicht ja in eini-gen Details von der spaumlteren Sprachgestalt des sogenannten sbquogalilaumlischen Aramaumlischlsquo ab das im Wesentlichen auf Targumim und Midraschim ab dem 3 Jh basiert und von Forschern wie Gustaf Dalman Karl-Georg Kuhn Joachim Jeremias und Matthew Black ndash die noch keine zeitnaumlheren Quellen zur Verfuumlgung hatten ndash zur Rekonstruktion der urspruumlnglichen Sprachgestalt des Vaterunsers und anderer Jesusworte zugrunde gelegt worden war16 Die aramaumlischen Texte aus Qumran erlauben es nun in eini-gen Aspekten die Sprachentwicklung (ungeachtet der galilaumlischen Ausspra-chebesonderheiten) praumlziser zu rekonstruieren was im Blick auf Vokabular Morphologie und auch die Verwendung von Verbstaumlmmen gegenuumlber dem Idiom der spaumlteren Targumim und Midraschim einige Abweichungen im-pliziert Auf der Datenbasis der aramaumlischen Texte aus Qumran bdquoder mittel-aramaumlisch-palaumlstinischen Phaseldquo17 und insbesondere der in Qumran beleg-ten bislang in der Forschung kaum ausgewerteten aramaumlischen Gebetstex-te18 hat Schattner-Rieser eine neue Ruumlckuumlbersetzung bzw Rekonstruktion des urspruumlnglichen aramaumlischen Gebets vorgelegt die sich in einer Reihe von Details von den verbreitet rezipierten Retroversionen bei Kuhn und Jeremias unterscheidet19

mdashmdashmdashmdashmdash stimmung gefunden vgl U MELL Gehoumlrt das Vater-Unser zur authentischen Jesus-Tradition (Mt 69‒13 Lk 112‒4) BThZ 11 (1994) 148ndash180 DERS Das Vater-Unser als Gebet der Syna-goge ndash eine Antwort an Klaus Haacker ThBeitr 28 (1997) 283ndash290 vgl M PHILONENKO Das Vaterunser Tuumlbingen 2002 11 der dies als einen bdquoungluumlcklichen Versuchldquo bezeichnet

15 Vgl U SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische zur Zeit Jesu bdquoABBAldquo und das Vaterunser Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der fruumlhen Targumim in J FreyEE Popkes (Hg) Jesus Paulus und die Texte vom Toten Meer WUNT II390 Tuumlbingen 2015 81‒144 Vgl grundlegend zum Qumran-Aramaumlischen U SCHATTNER-RIESER Lrsquoarameacuteen des manuscrits de la mer Morte Lausanne 2004

16 Vgl G DALMAN Grammatik des Juumldisch-Palaumlstinischen Aramaumlisch und aramaumlische Dia-lektproben Darmstadt 1989 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1905) 41 bdquoder galilaumlische Dialekt von dem wir im palaumlstinischen Talmud und Midrasch Denkmaumller aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert besitzenldquo vgl DERS Die Worte Jesu Leipzig 1898 371 Zur Sache s ausfuumlhrlicher SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 95

17 SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 96 18 S die Liste der Texte bei SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 91f 19 S die aramaumlische Retroversion bei SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 106f die an-

schlieszligende philologische Kommentierung sowie aaO 138‒141 eine Synopse der aumllteren Rekon-struktionen Dabei wird ndash um Authentizitaumltsfragen nicht voreilig zu entscheiden ndash eine Rekon-struktion sowohl fuumlr den lukanischen als auch fuumlr den matthaumlischen Text vorgelegt Die Rekon-struktion von Joachim Jeremias (JEREMIAS Vater-Unser 160 DERS Theologie 191) wurde auch




Fuumlr die Auslegung des Textes sind natuumlrlich die beiden kanonischen griechischen Fassungen maszliggeblich20 die vermutlich urspruumlnglichere nach Lukas und die laumlngere vermutlich ergaumlnzte nach Matthaumlus wobei auch diese ganz im Rahmen juumldischer Gebetspraxis bleibt und gleichermaszligen ins Aramaumlische transponiert werden kann21 Die uumlbliche Priorisierung der luka-nischen Kurzform des Vaterunsers muss sich zumindest der kritischen Frage stellen ob unsere gebraumluchlichen und auch weithin bewaumlhrten Me-thoden der literarkritischen Priorisierung des kuumlrzeren Textes (hier des Lk) fuumlr einen liturgischen sicher immer auch muumlndlich uumlberlieferten und weit-hin auswendig verwendeten Text gleichermaszligen valide sind22 Doch kann dies hier nicht weiter eroumlrtert werden

1 Das Vaterunser im Horizont zeitgenoumlssischer juumldischer Gebete und die Bedeutung der aramaumlischen Privatgebete

Das Vaterunser begegnet bekanntlich im Rahmen einer Gebetsanweisung Jesu fuumlr den Juumlngerkreis (Lk 111f vgl Mt 65f7f ) der bei Lukas die Notiz vorausgeht dass auch Johannes der Taumlufer seine Schuumller ein Gebet gelehrt habe Wir kennen dieses nicht aber die berichtete Gebetspraxis der Taumlufer-

mdashmdashmdashmdashmdash von Eduard Lohse uumlbernommen (LOHSE Vater unser 13f ) Vgl weiter die Retroversionen von KG KUHN Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim WUNT 1 Tuumlbingen 1950 32f und CF BURNEY The Poetry of our Lord An examination of the formal elements of Hebrew poetry in the Discourses of Jesus Christ Oxford 1925 113 die auf Studien von CC TORREY (The Translations made from the Original Aramaic Gospels in DG LyonGF Moore [Hg] Studies in the History of Religions presented to Crawford Howell Toy by Pupils Colleagues and Friends New York 1912 309‒317) basierende Version von E LITTMANN Torreys Buch uumlber die vier Evangelien ZNW 34 (1935) 20‒34 29f sowie die im deutschsprachigen Raum kaum bekannte Arbeit von P GRELOT Lrsquoarriegravere-plan arameacuteen du sbquoPaterlsquo RB 9 (1984) 531‒556 555 Die sehr idiosynkratische da strikt mit dem Postulat des Metrums arbeitende Rekonstruktion von G SCHWARZ Matthaumlus VI9‒13Lukas XI2‒4 Emendation und Ruumlckuumlbersetzung NTS 15 (196869) 233‒247 246 die nach der selbstbewussten Uumlberzeugung des Autors bdquokristallklar und ohne ein uumlberfluumlssiges Wortldquo (ebd) sein soll kann hier beiseite bleiben

20 Darauf weist LOHSE Vater unser 14 mit Recht hin doch fuumlgt er hinzu dass die Rekon-struktion einer (hypothetischen) aramaumlischen Urfassung helfen kann bdquodie verborgene Tiefen-schicht der Saumltze wahrzunehmenldquo

21 Das hebt SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 97 hervor die konsequenterweise auch fuumlr den Matthaumlustext eine aramaumlische Rekonstruktion bietet

22 M WOLTER Das Lukasevangelium HNT 5 Tuumlbingen 2008 404 hat das Problem erkannt und weist darauf hin bdquodass die uumlberlieferungsgeschichtliche Situation moumlglicherweise hellip noch erheblich komplexer istldquo Er verweist darauf dass die dritte Wir-Bitte des Vaterunsers Mt 610b im Munde Jesu auch in der Gethsemaneszene begegnet in Mt 2642d und in Lk 2242d auszligerdem noch in Apg 2114 und schlieszligt bdquoDieser Sachverhalt macht es nicht unwahrscheinlich dass auch Lukas die dritte Du-Bitte des mt Vaterunsers gekannt hatldquo



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juumlnger duumlrfte historisch zutreffend sein23 Eduard Lohse weist zu Recht darauf hin dass diese regelmaumlszligige Gebetspraxis von der wir zB aus Qum-ran schoumlne Zeugnisse haben24 die juumldische Froumlmmigkeit auch in der Dia-spora von der religioumlsen Praxis der Griechen und Roumlmer unterschied25

In der Forschung wird das Vaterunser gemeinhin in den Kontext der juuml-dischen liturgischen Gebete gestellt va des aramaumlischen Qaddisch und des hebraumlischen Schemone Esre des Achtzehnbittengebets26 In der Tat weisen diese Gebete eine Reihe von Elementen auf die sich zum Vergleich mit dem Vaterunser anbieten Rhythmen Parallelismen und Reime finden sich im Achtzehnbittengebet ebenso wie im Vaterunser27 und die eschatologi-sche Ausrichtung ist in der zehnten bis fuumlnfzehnten Berakha ebenso deut-lich wie im Vaterunser Im Vergleich mit dem recht langen Schemone Esre scheint das kuumlrzere Qaddisch durch die aramaumlische Sprache wie durch die enge Verbindung der beiden Motive von Gottes Namen und Gottes Reich dem Vaterunser noch naumlher zu stehen28 Fuumlr jede einzelne Bitte des Vater-unsers koumlnnen Parallelen im liturgischen Schatz Israels gefunden werden29 Dabei faumlllt etwa im Vergleich mit dem Schemone Esre auf dass im Vater-unser anders als im Schemone Esre die Eschatologie am Anfang steht und durchgehend bestimmend bleibt wohingegen eine messianische Bitte fehlt was natuumlrlich fuumlr die zu erschlieszligende Eschatologie und Zeitwahrnehmung signifikant ist Ein weiterer haumlufig genannter Differenzpunkt ist die Anrede mit dem schlichten πάτερאבא ohne weitere ergaumlnzende Praumldikationen wie Koumlnig Herrscher etc30 Was daraus erschlossen werden kann wird im Fol-genden noch zu diskutieren sein Schlieszliglich fehlt beim Vaterunser auch jeder Hinweis auf eine Ausrichtung des Gebets zum Tempel hin

mdashmdashmdashmdashmdash 23 Der Gedanke dass Jesu Gebetsinstruktion eine sbquoAnpassunglsquo an die Praxis der Taumluferkreise

waumlre ist in der Jesusuumlberlieferung deutlich tendenzwidrig So mit Recht K BACKHAUS Die Juumlngerkreise des Taumlufers Johannes Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Urspruumlngen des Christentums PaThSt 19 Paderborn 1991 179

24 S den Kalender der Gebetszeiten in 1QS 926ndash101 1QM 1412‒14 und besonders den Text 4Q503 (Daily Prayers) 4Q504‒506 (Divre Ha-me᾽orot) vgl auch Dan 611 bBer 9b11a‒12a jBer 18 3a S dazu D FALK Prayer in the Qumran Texts in W Horbury ua (Hg) The Cam-bridge History of Judaism III The Early Roman Period Cambridge 1999 852‒876

25 Vgl LOHSE Vater unser 17 26 So auch LOHSE Das Vaterunser DERS Vater unser 16‒29 der noch die Hodayot aus Qum-

ran hinzuzieht vgl auch F BOVON Das Evangelium nach Lukas 2 Teilband Lk 951‒1435 EKK III2 Zuumlrich ua 1996 122f

27 Dazu ausfuumlhrlich KUHN Achtzehngebet 28 So mit Recht LOHSE Vater unser 26f 29 Vgl BOVON Evangelium II 123 s auch DAVIESALLISON Matthew I 593f 30 Vgl LOHSE Vater unser 32f BOVON Evangelium II 123 bringt dies mit der Abwesenheit

jeder Bitte von Vergeltung zusammen (unter Bezug auf KUHN Achtzehngebet dessen Kontrastie-rung zwischen Jesu Gebet und dem Achtzehnbittengebet [40‒46] freilich noch allzu sehr unter dem Schatten antijuumldischer Voreingenommenheit steht)




Zwei Probleme stellen sich jedoch im Blick auf die bisherigen Analysen Erstens ist die Datierung der genannten synagogalen Gebete auszligeror-dentlich schwierig und ihre Textgestalt zur Zeit Jesu ist alles andere als klar zweitens ist die Unterscheidung zwischen privatem und oumlffentlich-liturgischem Gebet zu beachten

Um mit dem Letzteren zu beginnen Das Vaterunser ist in seinem ur-spruumlnglichen Setting im Juumlngerkreis Jesu noch kein liturgisches offizielles Gebet sondern ein Privatgebet einer Gruppe die sich am Rande der sbquooffizi-ellen Religionlsquo und von dieser unabhaumlngig bewegt und betaumltigt hat Es avancierte zum liturgischen Gebet erst spaumlter in der nachoumlsterlichen Ge-meinde wenngleich sein Text (abgesehen von der zugefuumlgten Doxologie) keine Spuren der nachoumlsterlichen Situation bzw eines liturgischen Ge-brauchs zeigt Der private Charakter des Gebets ist ernst zu nehmen so dass sich die Frage stellt ob und inwiefern liturgische Gebete uumlberhaupt der sbquorichtigelsquo Vergleichspunkt sind31

Ein noch wesentlich gravierenderes Problem besteht hinsichtlich der chronologischen Einordnung der liturgischen Gebete des antiken Judentums bzw ihrer uns verfuumlgbaren Textformen Diese Gebete liegen in der Regel nur in Textformen der spaumlteren rabbinischen Zeit oder in Fassungen des juumldischen Mittelalters vor und diese koumlnnen sich bdquovon ihren kulturellen Wurzeln im Palaumlstina des 1 Jh schon weit entfernt habenldquo32

Dies gilt fuumlr das Achtzehnbittengebet das zwar in der juumldischen Tradi-tion auf die Maumlnner der groszligen Synagoge zuruumlckgefuumlhrt wird (bBer 33a) aber die Ordnung der Reihenfolge der Berakhot wird in einer Baraita erst Simon dem Flachshaumlndler in der Jabne-Epoche zugeschrieben (bMeg 17b)33 die Einfuumlhrung der Birkat-ha-Minim des sbquoKetzersegenslsquo Schmuel dem Kleinen doch ist die Zeit und die fruumlhe Gestalt dieser Ergaumlnzung eben-so unsicher34 wie die vorrabbinische Textgestalt des gesamten Schemone

mdashmdashmdashmdashmdash 31 Vielleicht muss man diesen Sachverhalt noch radikaler fassen wenn das Gebet zunaumlchst als

Privatgebet Jesu selbst gelten kann das erst dann dem Juumlngerkreis mitgeteilt wurde Doch ist dies kaum sicher zu erweisen

32 So zusammenfassend C LEONHARD Art Vaterunser II Judentum TRE 34 (2002) 512‒515 51451

33 S die Texte und ihre Diskussion bei U KELLERMANN Das Achtzehn-Bitten-Gebet Juumldi-scher Glaube in neutestamentlicher Zeit Neukirchen-Vluyn 2007 28‒35

34 Die Diskussion um die Bedeutung der Birkat-ha-Minim fuumlr die Trennung der Wege von Ju-den und Christen kann hier nicht weiter referiert werden S im Blick auf das Johannesevangelium J FREY sbquoDie Judenlsquo im Johannesevangelium und die Frage nach der sbquoTrennung der Wegelsquo zwi-schen der johanneischen Gemeinde und der Synagoge in DERS Die Herrlichkeit des Gekreuzig-ten hg von J Schlegel WUNT 307 Tuumlbingen 2013 339ndash377 zur Konstruktion der sogenannten sbquoSynode von Jabnelsquo die faktisch bdquoverschiedene Entscheidungenldquo der rabbinischen Lehrer der Zeit zwischen 70 und 135 bdquozu einem einzigen Ereignisldquo vereint (G STEMBERGER Jabne und der Kanon in DERS Studien zum rabbinischen Judentum SBAB 10 Stuttgart 1990 375ndash389 375) s weiter G STEMBERGER Die sogenannte sbquoSynode von Jabnelsquo und das fruumlhe Christentum Kairos



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Esre auch wenn durch Parallelen in anderen fruumlhjuumldischen Texten und Gebeten35 zu vermuten ist dass der bdquoGrundbestand der Tefilla hellip schon in neutestamentlicher Zeit vorauszusetzen istldquo36

Wohl noch skeptischer ist das aramaumlische Qaddisch zu beurteilen das in der aumllteren Forschung etwa bei Ismar Elbogen37 ebenfalls schon vor 70 angesetzt wurde und bis heute von manchen Exegeten unkritisch als Hin-tergrund oder gar Quelle des Vaterunsers aufgefasst wird38 Hier ist die neuere Judaistik sehr viel zuruumlckhaltender Der Text ist jedenfalls erst spaumlt in die Liturgie gelangt39 und seine Entstehung war wohl ein sehr komplexer Prozess der Zusammenfuumlhrung unterschiedlicher Gebetsformeln so dass dieses Gebet erst deutlich nach dem Vaterunser anzusetzen ist und somit nicht dessen urspruumlnglichen Kontext repraumlsentieren kann40

Die liturgischen Gebete der Synagoge sbquoentziehenlsquo sich also einem direk-ten Vergleich mit dem Vaterunser aus chronologischen Gruumlnden bzw auf-grund der Unsicherheit des Textbestandes Zuruumlck bleibt lediglich der Ver-gleich von Einzelmotiven die auch in anderen klarer datierbaren Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels belegt sind sowie die Suche nach ande-ren Quellen der Gebetspraxis des antiken Judentums nicht nur der liturgi-schen sondern auch der persoumlnlichen und privaten Gebete Diese fanden natuumlrlich kaum Eingang in die rabbinische Traditionsliteratur dennoch finden sich zahlreiche Individualgebete zT eingebettet in Erzaumlhlkontexte in antik-juumldischen Texten unterschiedlicher Gattung und auch diese geben Aufschluss uumlber Orte und Zeiten Anlaumlsse und Formen von Gebeten einzel-

mdashmdashmdashmdashmdash 19 (1977) 14ndash21 P SCHAumlFER Die sogenannte Synode von Jabne in DERS Studien zur Ge-schichte und Theologie des rabbinischen Judentums AGJU 15 Leiden 1978 45ndash64 zur Tradition der Birkat-ha-Minim s R KIMELMAN Birkat Ha-Minim and the Lack of Evidence for an Anti-Christian Jewish Prayer in Late Antiquity in EP SandersAI BaumgartenA Mendelson (Hg) Jewish and Christian Self-Definition II London 1981 226ndash244 W HORBURY The Benediction of the Minim and Early Jewish-Christian Controversy in DERS Jews and Christians in Contact and Controversy Edinburgh 1998 67ndash110 sowie zuletzt YY TEPPLER Birkat ha-Minim Jews and Christians in Conflict in the Ancient World TSAJ 120 Tuumlbingen 2007

35 KELLERMANN Achtzehn-Bitten-Gebet 28‒35 fuumlhrt Texte von dem Gebet Sir 5212d‒l uumlber 2Makk 124‒29 und 3Makk 22‒20 bis zur Mischna an

36 So KELLERMANN Achtzehn-Bitten-Gebet 35 37 So wirkungsvoll bei I ELBOGEN Der juumldische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Ent-

wicklung HildesheimZuumlrichNew York 1995 (Nachdruck der 3 verbesserten Auflage von 1931) 93 vgl das Referat bei A LEHNARDT Qaddish Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes TSAJ 87 Tuumlbingen 2002 2ndash14 7

38 JEREMIAS Das Vaterunser 164 hatte gemutmaszligt dass das Vaterunser bdquoJesus wahrschein-lich seit Kindestagen gelaumlufig warldquo Aumlhnlich immer noch zB bei PHILONENKO Vaterunser 24 der unkritisch postuliert dass dieses Gebet sehr alt sei und die ersten Bitten des Vaterunsers inspiriert habe s seinen Vergleich beider Gebete aaO 24‒32

39 Dies haumlngt auch damit zusammen wann fuumlr die Rabbinen aramaumlische Gebete liturgisch sbquosa-lonfaumlhiglsquo wurden

40 S die Zusammenfassung bei LEHNARDT Qaddish 297f




ner juumldischer Maumlnner und Frauen und ihre Themen41 Die Auswertung der in Qumran belegten Gebetstexte42 auch gerade derer die nicht einer sbquogrup-penspezifischenlsquo Haltung verpflichtet sind ist hier noch lange nicht hinrei-chend erfolgt Nach wie vor weithin unbeachtet sind die aramaumlischen Gebe-te uumlberwiegend kurze Privatgebete in narrativen Kontexten43 Ursula Schattner-Rieser hat in ihrer Arbeit zwoumllf solcher Texte in den nichtbibli-schen Texten aus Qumran identifiziert44 neben dem Gebet Nabonids (4Q242) Texte aus dem Genesisapokryphon den aramaumlischen Tobithand-schriften den aramaumlischen Henochhandschriften dem aramaumlischen Levi-Material und weiteren Texten formal bdquodrei Bittgebete um Beistand und Erloumlsung hellip zwei Dankgebete hellip zwei Segensspruumlche und Lobpreisungen hellip zwei Abschiedssegen mit testamentarischen Verordnungen hellip ein exorzistisches Beschwoumlrungsgebet hellip und ein Buszliggebet innerhalb des Ab-schiedssegens in 4Q213aldquo45 Hinzu kommen noch die Gebete aus den ara-maumlischen Danieltexten46 Mit diesen Gebeten erhalten wir einen Einblick in Formen persoumlnlicher Gebetspraxis in aramaumlischer Sprache Zwar sind diese Gebete durch die Einfuumlgung in narrative Texte nicht mehr unmittelbare Zeugnisse konkreten Betens und einige der Texte stammen auch aus einer etwas fruumlheren Zeit dennoch bieten diese Texte eine wesentliche Bruumlcke zur aramaumlischen Gebetssprache der Zeit Jesu Natuumlrlich enthalten auch nicht alle dieser Gebete sachliche Parallelen zum Vaterunser aber zB das in Fragmenten auch aramaumlisch belegte Dank- und Preislied Tobits (Tob 131‒18 = 4QTobita frag 18 1‒15) bietet einige der Motive Gott wird hier angesprochen als unser Vater (133) himmlischer Koumlnig (13913) und ewiger Koumlnig (1316) dessen Koumlnigsherrschaft in Jerusalem aufsteht (1316f ) und der als Barmherziger Suumlnden vergibt (135f8) Daneben bietet

mdashmdashmdashmdashmdash 41 S die Textsammlung von RD CHESNUTTJ NEWMAN Prayers in the Apocrypha and

Pseudepigrapha in M Kiley ua (Hg) Prayer from Alexander to Constantine A Critical Anthol-ogy LondonNew York 1997 38‒42 J NEWMAN Praying by the Book The Scripturalization of Prayer in Second Temple Judaism EJL 14 Atlanta 1999 sowie im Blick auf Frauengebete M MCDOWELL Prayers of Jewish Women Studies of the Patterns of Prayer in the Second Tem-ple Period WUNT II211 Tuumlbingen 2006 dort zum Uumlberblick 11‒28

42 Vgl E CHAZON Preface in Dies ua (Hg) Liturgical Perspectives Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center 19‒23 January 2000 STDJ 48 LeidenBoston 2003 vii‒ix Zu den Gebetstexten aus Qumran s neben diesem Band grundlegend B NITZAN Qumran Prayer and Religious Poetry STDJ 12 Leiden 1994 und DK FALK Daily Sabbath and Festival Prayers in the Dead Sea Scrolls STDJ 27 LeidenBostonKoumlln 1998

43 S jedoch DA MACHIELA Prayer in the Aramaic Dead Sea Scrolls A Catalogue and Over-view in J PennerKM PennerC Wassen (Hg) Prayer and Poetry in the Dead Sea Scrolls and Related Literature FS E Schuller STDJ 98 LeidenBoston 2012 285‒305

44 S die Liste bei SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 91f 45 SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 92 46 Vgl MACHIELA Prayer 287f



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das Gebet Levis in 4Q213a47 eine Verbindung von Vergebungsbitte und sbquoapotropaumlischerlsquo Bitte um Fernhalten des bdquoSatanldquo bzw eines unreinen Geis-tes was fuumlr die Deutung des bdquoBoumlsenldquo in der Schlussbitte des Vaterunsers nicht unwesentlich ist48 Hier bietet sich also zT in aramaumlischer Sprache ein Material das die private nicht offizielle Gebetspraxis erschlieszligt Sach-lich koumlnnten dann auf dieser Basis auch weitere hebraumlische Privatgebete aus Qumran wie zB das Gebet Josephs 4Q372 mit einbezogen werden Die Beachtung dieses Materials erscheint insbesondere deshalb geboten weil auch das Vaterunser zunaumlchst kein offizielles oder oumlffentliches Gebet ist sondern auch noch nach der Gebetsinstruktion in den Evangelien ein per-soumlnliches Gebet der Juumlnger(gemeinschaft) und am Anfang vielleicht sogar ein persoumlnliches ja privates Gebet Jesu von Nazareth

2 Das Gottesverhaumlltnis Jesu und die Abba-Anrede

21 Die These von Joachim Jeremias

Ein erster Gang der Uumlberlegungen muss der Gebetsanrede Abba gelten Hier ist die einflussreiche Interpretation des Goumlttinger genius loci Joachim Jeremias zu korrigieren Jeremias hatte die Abba-Anrede (die im NT auszliger im Vaterunser noch im Gethsemane-Gebet Mk 1436 und dann als aramaumli-sches Lehnwort bei Paulus Roumlm 815 und Gal 46 begegnet49) als Kennzei-chen der ipsissima vox Jesu gewertet und als Zeichen der Einzigartigkeit des Gottesverhaumlltnisses Jesu interpretiert50 Im Hintergrund steht die seman-tische Deutung des aramaumlischen Abba als Diminutivform aus der Familien- oder gar Kindersprache (bdquoPapaldquo oder bdquoVaumlterchenldquo) die auf einem einzigen vermeintlich vorchristlichen faktisch aber aus dem babylonischen Talmud stammenden Beispiel erschlossen wurde in dem nach der Interpretation von Jeremias gesagt wird dass Kindern nachgesehen werde dass sie zu Gott ohne Scheu (wie zu ihrem Vater oder Groszligvater) Abba sagen

mdashmdashmdashmdashmdash 47 Auf dieses hatte schon D FLUSSER Qumran and Jewish sbquoApotropaiclsquo Prayer IEJ 16 (1966)

194‒205 hingewiesen 48 S dazu LEONHARD Vaterunser 512f 49 Vgl weiter Gebetsanreden mit dem uumlbersetzten πάτερ im Munde Jesu in Mt 1125 par

Lk 1021 Mt 263942 par Lk 2242 Lk 233446 Joh 1141 1227f 1715112124f 50 Vgl J JEREMIAS Kennzeichen der ipsissima vox Jesu in Synoptische Studien FS Alfred

Wikenhauser Muumlnchen 1953 86‒93 (wieder abgedruckt in DERS Abba 145‒152) DERS Das Vaterunser DERS Abba DERS Die Botschaft Jesu DERS Neutestamentliche Theologie I 67‒73 Zur These von Jeremias s die Darstellung bei G SCHELBERT ABBA Vater Der literarische Befund vom Altaramaumlischen bis zu den spaumlten Haggada-Werken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias NTOASUNT 81 Goumlttingen 2011 17‒23 der dann im Verlauf des Buches eine ausfuumlhrliche und vernichtende Kritik der philologischen Argumente bietet




Der Text findet sich in bTaan 23b es handelt sich um eine Episode uumlber Chanin ha-Nechba einen Enkel von Choni dem Kreiszieher an den Kinder als vermeintlichen Regenbeter die Bitte richten bdquoAbba Abba gib uns Regenldquo worauf dieser selbst betet bdquoHerr der Welt tue es doch um dieser willen die noch nicht unterscheiden koumlnnen zwischen einem Abba der Regen geben kann und einem Abba der keinen Regen geben kannldquo51 Jeremias interpretiert bdquodass Chanin sbquoin Wiedergabe der Kin-dersprachelsquo die ganz unliturgische Redeweise der Schulkinder aufnimmtldquo52

Auf der Basis dieses faktisch wertlosen Beispiels hat sich die klischeehafte Antithese zwischen der familiaumlr-vertrauten Gottesanrede Jesu (und seiner Nachfolger) und der ehrfuumlrchtig-scheuen Wahrnehmung der Distanz Gottes in seiner juumldischen Umwelt entwickelt Ideologisch passt dieses Bild ganz in die durch Julius Wellhausen Wilhelm Bousset und andere Gelehrte wirkungsvoll vertretene Spaumltjudentumsthese der zufolge das nachbiblische Judentum in gesetzlicher Erstarrung und der Wahrnehmung einer groszligen Distanz von Gott lebte wohingegen Jesus dann (in direkter Anknuumlpfung an die klassischen Propheten) ein diametral anderes Bild eines nahen lieben-den Gottes eben des sbquoVaterslsquo vermittelte

Jeremias hat diese These 1953 in seinem Aufsatz zur ipsissima vox Jesu entwickelt53 und spaumlter nur etwas vorsichtiger wiedergegeben Sie basiert auf verschiedenen Bausteinen

a) Morphologisch wird Abba verstanden als bdquoeine eigene Vokativform in der das -a durch Kontraktion von -ai entstanden seildquo54 Die Deutung als status determinatus der zugleich die Form mit dem Pronominalsuffix der 1 Sing vertrete lehnt Jeremias ab55

b) Semantisch wird diese Anrede verstanden auf dem Hintergrund des erwaumlhnten talmudischen Belegs der (zu Unrecht) als (einzige) vorchristli-che Parallele gewertet wird Daraus wird die Deutung von Abba = mein Vater als Diminutivform (sbquoVaumlterchenlsquo) und Element der Kindersprache (sbquoPapalsquo) hergeleitet Spaumlter fuumlhrt Jeremias dafuumlr andere Belege aus dem babylonischen Talmud an ndash eben dass ein Kind irgendwann wenn es zu lallen beginnt sbquoabbalsquo und sbquoimmalsquo ndash Papa und Mama ndash sagen lernt56

mdashmdashmdashmdashmdash 51 JEREMIAS Kennzeichen 86f s dazu SCHELBERT ABBA 17 52 SCHELBERT ABBA 17f Dabei ist offenbar vorausgesetzt dass der Wundertaumlter von sich

aus nicht so haumltte zum bdquoHerrn der Weltldquo beten koumlnnen Joachim Jeremias hat das Beispiel interes-santerweise aus einem Werk von Johannes Leipoldt aus dem Jahr 1941 uumlbernommen J LEIPOLDT Jesu Verhaumlltnis zu Juden und Griechen Leipzig 1941 136f (Verweis bei JEREMIAS Kennzeichen 88 [147]) Diese Veroumlffentlichung Leipoldts ist freilich eine offen antisemitische Schrift in der auf Schritt und Tritt der Gegensatz Jesu zum Judentum betont wird

53 Vgl JEREMIAS Kennzeichen 88f s das Referat bei SCHELBERT ABBA 17f 54 Vgl JEREMIAS Kennzeichen 86f s dazu SCHELBERT ABBA 17f 55 Vgl SCHELBERT ABBA 17 56 Vgl JEREMIAS Abba 59f



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c) Hinzu kommt die Feststellung dass es bdquofuumlr die Gottesanrede Abba (ohne Suffix) hellip in der ganzen juumldischen Literatur keinen einzigen Belegldquo gebe57

Aus den Befunden folgert Jeremias sachlich dass bdquodas Auftauchen eines voumlllig neuen Sprachgebrauchsldquo auch bdquozugleich ein in die letzten Tiefen reichendes neues Gottesverhaumlltnis widerspiegeltldquo58 Dh der vermeintlich radikal neue Sprachgebrauch wird zum Schluumlssel fuumlr die theologische Inter-pretation des Selbst- und Gottesverstaumlndnisses Jesu

22 Die Unhaltbarkeit der These

Neuere Arbeiten auf verbesserter Quellengrundlage zeigen nun dass die Argumentation in all ihren Bestandteilen unhaltbar ist Dies haben wichtige Arbeiten zur Vateranrede59 und zuletzt va die Studien von Georg Schelbert zum aramaumlischen Abba60 sowie von Ursula Schattner-Rieser61 gezeigt

a) Morphologisch zeigen die zeitgenoumlssischen aramaumlischen Texte bdquodass die Pronominalsuffixe bdquomeinldquo und bdquounserldquo um die Zeitenwende immer noch an die Nomina angefuumlgt und nicht durch den status emphaticus ausge-druumlckt wurdenldquo62

bdquoIm Genesisapokryphon aus Qumran (1QGenAp 224) redet Methusalem seinen Vater Henoch mit sbquoOh mein Vater oh mein HerrMeisterlsquo (und vorangehender Vokativpartikel yāˀ) an yāˀ ˀabicirc yāˀ māricirc und im aramaumlischen Tobitbuch 75 (4Q196 [Tobita] frag 14 ii11) begegnet der Ausruf sbquoEr (Tobit) ist mein Vaterlsquo (ˀabicirc hucircˀ) was der These von Jeremias dass ABBA sbquomein (lieber) Vaterlsquo bedeuten muumlsse klar widerspricht Ebenso ist talita (qumqumi) sbquoMaumldchen (steh auf)lsquo in Mk 541 ein

mdashmdashmdashmdashmdash 57 Vgl JEREMIAS Kennzeichen 89 (s auch SCHELBERT ABBA 18) 58 JEREMIAS Kennzeichen 89 59 Vgl schon 1985 die Kritik bei JA FITZMYER Abba and Jesusrsquo Relation to God in F Re-

fouleacute (Hg) A cause de lrsquoEacutevangile FS P Jacques Dupont LeDiv 123 Paris 1985 14ndash38 dann zur zwischentestamentarischen Literatur A STROTMANN Mein Vater bist du (Sir 5110) Zur Bedeu-tung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen fruumlhjuumldischen Schriften FTS 39 Frankfurt 1991 zu den tannaitischen Texten E TOumlNGES bdquoUnser Vater im Himmelldquo Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur BWANT 147 Stuttgart 2003 (dort 12ndash23 zur Kritik an Jeremias und der zuvorliegenden Forschung) sowie zuletzt C ZIMMERMANN Die Namen des Vaters Studien zu ausgewaumlhlten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem fruumlhjuumldischen und paganen Sprachhintergrund AJEC 69 Leiden 2007 (dort 42‒45 zur Forschung)

60 Vgl SCHELBERT ABBA s zuvor DERS Sprachgeschichtliches zu bdquoAbbaldquo in P Casetti O KeelA Schenker (Hg) Meacutelanges Dominique Bartheacuteleacutemy FribourgGoumlttingen 1981 395‒447 DERS Abba Vater Stand der Frage FZFhTh 40 (1993) 259‒281

61 Vgl SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 100‒106 DIES Rez zu G Schelbert ABBA Vater Early Christianity 4 (2013) 141‒147

62 SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 110




Vokativ und niemand wuumlrde diesen Befehl mit sbquomein liebes kleines Maumldchen steh auf lsquo zu uumlbersetzen gedenkenldquo63

Dh umgekehrt bdquoAbba war zur Zeit Jesu noch ein reiner Vokativ und res-pektvolle Anrede fuumlr sbquoo Vaterlsquo ldquo64 Die Aussage von Jeremias dass fuumlr die Anrede sbquomein Vaterlsquo im zeitgenoumlssischen Aramaumlisch und Hebraumlisch keine andere Form als Abba zur Verfuumlgung gestanden haumltte65 ist also unzutref-fend

b) Dass die Form ndash als kontrahiertes Possessivum ndash eine diminuitive Be-deutung haumltte (bdquoVaumlterchenldquo) entbehrt mithin der sprachlichen Grundlage Aus den spaumlten Babli-Belegen waumlre eine solche Bedeutung auch aus chro-nologischen Gruumlnden nicht zu folgern auszligerdem ist der von Jeremias (im Anschluss an Leipoldt) angefuumlhrte Beleg ohnehin tendenzioumls interpretiert

Die Pointe der kleinen Szene in bTaan 23b ist ja dass die Jugendlichen den Wunder-taumlter um Regen bitten und ihn ndash wie das spaumlter fuumlr Rabbinen und Lehrer ebenfalls erfolgen konnte66 ndash mit bdquoAbbaldquo anreden Der Bezug auf Gott erfolgt erst in dem Gebet Chanin ha-Nechbas der milde uumlber die mangelnde Unterscheidung zwischen dem menschlichen Wundertaumlter und Gott als dem Herrn der Welt urteilt und Gott gleichwohl vertrauensvoll um Erfuumlllung der Bitte anruft Dh die Abba-Anrede an Gott erfolgt im Munde Chanin ha-Nechbas und es ist eine reine Spekulation dass die unliturgische Abba-Anrede des Charismatikers nur in Nachahmung der Kinderspra-che erfolgt und sonst nicht moumlglich waumlre67

Eine Herkunft der Anrede aus der Kindersprache ist aus diesem Beleg daher ebenfalls nicht abzuleiten und auch aus den spaumlter von Jeremias angefuumlhr-ten Belegen nicht zu begruumlnden68

c) Es bleibt die Frage was man aus dem Sachverhalt schlieszligen kann dass aramaumlisches Abba als Gebetsanrede vor Jesus tatsaumlchlich nicht belegt ist69 Ist die Anrede tatsaumlchlich bdquobewuszligt vermiedenldquo70 ndash weil eine solche von Juden als unehrerbietig und unbotmaumlszligig angesehen worden waumlre Doch

mdashmdashmdashmdashmdash 63 SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 110 Zutreffend hier auch PHILONENKO Vaterunser

37 vgl weiter G VERMES Jesus der Jude Ein Historiker liest die Evangelien Neukirchen-Vluyn 1993 249f

64 SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 110 65 Vgl JEREMIAS Abba 58 66 Vgl die Belege bei SCHATTNER-RIESER Das Aramaumlische 103 67 Richtig VERMES Jesus 194 der betont bdquodaszlig Gott fuumlr den Charismatiker wie fuumlr Jesus abba

istldquo und zum Vergleich auf Mt 239 verweist 68 Eben diesen Ursprung in der Kindersprache hatte Jeremias aber bis zum Ende festgehalten

auch als er zusaumltzliche Belege zur Kenntnis genommen und zugestanden hatte dass Abba nicht nur Kindersprache sondern auch respektvolle Anrede sein koumlnne Vgl JEREMIAS Abba 61 bdquoTrotz der starken Ausweitung [sc des Gebrauchs von abba] ging jedoch das Wissen um die Herkunft von abba aus der Sprache des Kleinkindes nie verlorenldquo

69 FITZMYER Abba 22 bdquoItrsquos never used of Godldquo 70 JEREMIAS Abba 62



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Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments

Herausgegeben von

Ismo Dunderberg Jan Christian Gertz Dietrich-Alex Koch Matthias Koumlckert Hermut Loumlhr

Joachim Scharper David Andrew Teeter und Christopher Tuckett

Band 266




Florian Wilk (Hg)






Mit 3 Abbildungen




ISSN 2198-1183 ISBN 978-3-525-54052-7





Printed in Germany










Inhalt

Vorwort IX











Stellenregister 189

Autorenregister 197





Vorwort









X Vorwort









Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey











































Florian Wilk (Hg)






Mit 3 Abbildungen




ISSN 2198-1183 ISBN 978-3-525-54052-7





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Inhalt

Vorwort IX











Stellenregister 189

Autorenregister 197





Vorwort









X Vorwort









Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey











































Mit 3 Abbildungen




ISSN 2198-1183 ISBN 978-3-525-54052-7





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Inhalt

Vorwort IX











Stellenregister 189

Autorenregister 197





Vorwort









X Vorwort









Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey
















































Inhalt

Vorwort IX











Stellenregister 189

Autorenregister 197





Vorwort









X Vorwort









Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey













































Vorwort









X Vorwort









Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey











































X Vorwort









Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey











































Vorwort XI







XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















6 Joumlrg Frey
























8 Joumlrg Frey






















10 Joumlrg Frey






















12 Joumlrg Frey











































XII Vorwort









Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















4 Joumlrg Frey



















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Joumlrg Frey


vom Toten Meer










2 Joumlrg Frey





















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