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,,Gut genug ist perfekt" SPIEGEL€espräch Der dänische Erziehungsexperte Jesper Juul, 67, sagf, dass Eltern ihre Führungsrolle in der Familie wieder wahrnehmen sollten. Auch wenn sie das bei den Kindern unbeliebt macht. Ade, Kuschelkurs. SPTEGEL Herr Juul, in Ihrem neuen Buch fordern Sie Eltern auf, die Rolle des ,,Leit- wolfs" in der Familie zu übernehmen*. Wie kommen Sie darauf? luul: Ich habe immer zwei zentrale Aspekte von Elternschaft betont: erstens, dass man für die Kinder wie ein Leuchtturm steht. Und zweitens, dass man die Verantwor- tung für die Qualität der Beziehung at ih- nen trägt. Aber ich musste immer wieder feststellen, dass Leser ihre eigenen roman- tischen ldeen in meine Ratschläge proji- zieren. Es ist an der Zeit, ein stärkeres Signal zu senden, zumal ich in meinen täglichen Gesprächen mit Eltern und Pä- dagogen von vielen Problemen höre, die allesamt aus einem Mangel an Führungs- qualität resultieren. SPIEGEI: Läuten Sie die Rückkehr der au- toritären Erziehung ein? Juul: Nein, das will ja niemand, auch die Erwachsenen nicht. Es geht doch heute da- rum, das individuelle Wesen des Kindes zu berücksichtigen. Führung muss aus Empathie, Verständnis und Mut bestehen. Und dem Wunsch, von denen, die wir füh- ren, auch zu lernen. Daraus entsteht per- sönliche Autorität. Autoritäre Führung hin- gegen konzentriert sich nur auf Anpassung und Gehorsam. §PIEGEL: Was genau verstehen Sie unter persönlicher Autorität? luul: Das will ich Ihnen gern an einem Bei- spiel erklären - nehmen Sie einen Musiker: Als Zuhörer erkennt man schnell, ob er nur die Noten vom Blatt abspielt oder ob er die Musik, die darin steckt, auch ver- steht. Um das zu können, muss er sein gan- zes Wesen in die Musik einbringen. Ge- nauso ist es mit der persönlichen Autorität: Sie kommt von innen, sie reflektiert die eigenen Werte. Sie zeigt, was man will und was man nicht will. Um dahin zu kommen, müssen Mütter und Väter ihren eigenen inneren Zugang zur Elternschaft finden. SPIEGEL: Und zwar wie? Juul: Der einzige Weg dahin führt über un- ser Verhältnis zu anderen Menschen. Kin- der bieten hier die beste Inspiration: die Art und Weise, wie sie Dinge bewerkstel- ligen, um Sachen bitten. Sie haben die Fähigkeit, unsere verletzlichsten Punkte ' Jesper Juul: ,,Leitwölfe sein. Liebevolle Führung in der Familie". Beltz-Verlag, Weinheim; 216 Seiten; 16,95 Euro. Das Gespräch führte die Redakteurin Kemtin Kullmann. zu treffen, sie testen in einem fort unsere Grenzen, rütteln an Überzeugungen. Es kann Jahre dauern, unter diesen Bedin- gungen persönliche Autorität zu entwi- ckeln. Aber Kinder brauchen auch keine perfekten Eltern. Sie brauchen nur das Ge- fühl, dass wir uns ehrlich Mühe geben, da- hin zu kommen - und uns nicht einfach an irgendwelchen standardisierten For- meln orientieren. SPIEGEL: Mal ganz konkret: Wie intensiv sollte man seinem Kind erklären, weshalb man eine Sache verbietet oder erlaubt? Wann ist der Zeitpunkt gekommen zu sa- gen: ,,Ich habe das jetzt entschieden. Bitte mach dasl"? Familientherapeut Juul ,,Kämpfe sind notwendig" Juul: Das ist genau das Wesen der persön- , lichen Autorität: Mit ihr gelingt es, das Ver- trauen der Kinder zu gewinnen. Es wird dann weniger wichtig, ob sie alle Entschei- dungen auch verstehen. Wenn Kinder - und : auch Erwachsene - sich ernst genommen fühlen, verschwindet ihr Bedürfnis, aus je- dem Streit als Sieger hervorzugehen. i SPIEGEL: Sie beklagen, dass viele Eltern in der Erziehung ihrer Kinder in Rollen schlüpfen, dass sie das Elternsein gewis- sermaßen nur vorspielen. Was meinen Sie damit? Juul: Eltern scheinen zu glauben, dass sie besser oder anders sein müssten, um gute Eltern zu sein. So, als hätte man ein Vor- stellungsgespräch vor sich oder ein Rendez- vous und müsste sich dabei verstellen, um zu gefallen. Es mag befriedigend und aus- kömmlich sein, in der Arbeit gut schau- , spielern zu können. Aber es funktioniert nicht in Beziehungen, die auf Liebe basie- ren - weil es Nähe verhindert. SPIEGEL: Aber weshalb sollten Eltern sich verstellen? Die gesellschaftlichen Erwar- tungen vor allem an das, was erfüllte Mutterschaft ausmacht, haben sich doch in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verringert; Väter und Mütter sind freier geworden im Hinblick darauf, wie sie ihre Partnerschaft leben, wie sie ihre Kinder erziehen. luul: Eltern beobachten andere Eltern, so entwickeln sie eine Vorstellung davon, wie sie handeln müssen, um als gute Eltern zu gelten. Und das ist ihnen so lange wichtig, bis ihr Kind gegen den dadurch entstehen- den Mangel an persönlicher Substanz auf- begehrt. SPIEGEL: Sie schreiben, Kinder würden ih- rer Autonomie einen derart hohen \\-ert beimessen, dass sie sich dafür in härteste Kämpfe begäben - müssen Eltern da wirk- lich mitspielen? Wäre es nicht besser, sol- che Machtkämpfe von vornherein zv ver- hindern? Juul: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Diese Kämpfe sind notwendig, um daraus zu lernen. Für Kinder genauso wie für El- tern. Nur wenn der gleiche Konflikt um das gleiche Problem sich ständig wieder- holt und in kürzeren Abständen auftritt, gibt es einen Grund, sorgfältiger zu unter- suchen, was schiefläuft. SPIEGEL: Der Klassiker in vielen Familien ist der Nachmittag, nach der Schule: Schon die Hausaufgaben fallen dem Kind schwer, nun steht auch noch ein Test an, es muss gelernt werden. Was tun? Juul: Es gibt nicht den einen, besten Weg, was in Konfliktsituationen zu tun ist, hängt immer von der Art der Bezie- hung zwischen Eltern und Kind ab. Im Allgemeinen würde ich vorschlagen, dass die Eltern die Initiative ergreifen und sa- gen: ,,Wir wissen beide, dass Schule nicht dein Lieblingsort ist. Und wir wissen auch, dass man einen Test so gut wie möglich bestehen sollte. Wie kann ich dir am besten dabei helfen?" Die Idee ist, das Kind wählen zu lassen, wie ihm geholfen wird - aber nicht, ob. Eltern müssen auf- hören, ständig zu wiederholen, wie wich- tig Schule und Ausbildung für die Zukunft des Kindes sind. Das Wissen darum ist bereits ein Teil seines Dilemmas, und es ständig zu wiederholen führt nur dazu, oecsprecrrs/zore 117 :

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,,Gut genug ist perfekt"SPIEGEL€espräch Der dänische Erziehungsexperte Jesper Juul, 67, sagf, dass Elternihre Führungsrolle in der Familie wieder wahrnehmen sollten. Auch wenn sie das beiden Kindern unbeliebt macht. Ade, Kuschelkurs.

SPTEGEL Herr Juul, in Ihrem neuen Buchfordern Sie Eltern auf, die Rolle des ,,Leit-wolfs" in der Familie zu übernehmen*.Wie kommen Sie darauf?luul: Ich habe immer zwei zentrale Aspektevon Elternschaft betont: erstens, dass manfür die Kinder wie ein Leuchtturm steht.Und zweitens, dass man die Verantwor-tung für die Qualität der Beziehung at ih-nen trägt. Aber ich musste immer wiederfeststellen, dass Leser ihre eigenen roman-tischen ldeen in meine Ratschläge proji-zieren. Es ist an der Zeit, ein stärkeresSignal zu senden, zumal ich in meinentäglichen Gesprächen mit Eltern und Pä-dagogen von vielen Problemen höre, dieallesamt aus einem Mangel an Führungs-qualität resultieren.SPIEGEI: Läuten Sie die Rückkehr der au-toritären Erziehung ein?Juul: Nein, das will ja niemand, auch dieErwachsenen nicht. Es geht doch heute da-rum, das individuelle Wesen des Kindeszu berücksichtigen. Führung muss ausEmpathie, Verständnis und Mut bestehen.Und dem Wunsch, von denen, die wir füh-ren, auch zu lernen. Daraus entsteht per-sönliche Autorität. Autoritäre Führung hin-gegen konzentriert sich nur auf Anpassungund Gehorsam.§PIEGEL: Was genau verstehen Sie unterpersönlicher Autorität?luul: Das will ich Ihnen gern an einem Bei-spiel erklären - nehmen Sie einen Musiker:Als Zuhörer erkennt man schnell, ob ernur die Noten vom Blatt abspielt oder ober die Musik, die darin steckt, auch ver-steht. Um das zu können, muss er sein gan-zes Wesen in die Musik einbringen. Ge-nauso ist es mit der persönlichen Autorität:Sie kommt von innen, sie reflektiert dieeigenen Werte. Sie zeigt, was man will undwas man nicht will. Um dahin zu kommen,müssen Mütter und Väter ihren eigeneninneren Zugang zur Elternschaft finden.SPIEGEL: Und zwar wie?Juul: Der einzige Weg dahin führt über un-ser Verhältnis zu anderen Menschen. Kin-der bieten hier die beste Inspiration: dieArt und Weise, wie sie Dinge bewerkstel-ligen, um Sachen bitten. Sie haben dieFähigkeit, unsere verletzlichsten Punkte

' Jesper Juul: ,,Leitwölfe sein. Liebevolle Führung inder Familie". Beltz-Verlag, Weinheim; 216 Seiten; 16,95Euro.Das Gespräch führte die Redakteurin Kemtin Kullmann.

zu treffen, sie testen in einem fort unsereGrenzen, rütteln an Überzeugungen. Eskann Jahre dauern, unter diesen Bedin-gungen persönliche Autorität zu entwi-ckeln. Aber Kinder brauchen auch keineperfekten Eltern. Sie brauchen nur das Ge-fühl, dass wir uns ehrlich Mühe geben, da-hin zu kommen - und uns nicht einfachan irgendwelchen standardisierten For-meln orientieren.SPIEGEL: Mal ganz konkret: Wie intensivsollte man seinem Kind erklären, weshalbman eine Sache verbietet oder erlaubt?Wann ist der Zeitpunkt gekommen zu sa-gen: ,,Ich habe das jetzt entschieden. Bittemach dasl"?

Familientherapeut Juul

,,Kämpfe sind notwendig"

Juul: Das ist genau das Wesen der persön- ,

lichen Autorität: Mit ihr gelingt es, das Ver-trauen der Kinder zu gewinnen. Es wirddann weniger wichtig, ob sie alle Entschei-dungen auch verstehen. Wenn Kinder - und :

auch Erwachsene - sich ernst genommenfühlen, verschwindet ihr Bedürfnis, aus je-dem Streit als Sieger hervorzugehen. i

SPIEGEL: Sie beklagen, dass viele Eltern inder Erziehung ihrer Kinder in Rollenschlüpfen, dass sie das Elternsein gewis-sermaßen nur vorspielen. Was meinen Siedamit?Juul: Eltern scheinen zu glauben, dass siebesser oder anders sein müssten, um guteEltern zu sein. So, als hätte man ein Vor-stellungsgespräch vor sich oder ein Rendez-vous und müsste sich dabei verstellen, umzu gefallen. Es mag befriedigend und aus-kömmlich sein, in der Arbeit gut schau- ,

spielern zu können. Aber es funktioniert

nicht in Beziehungen, die auf Liebe basie-ren - weil es Nähe verhindert.SPIEGEL: Aber weshalb sollten Eltern sichverstellen? Die gesellschaftlichen Erwar-tungen vor allem an das, was erfüllteMutterschaft ausmacht, haben sich dochin den vergangenen Jahrzehnten deutlichverringert; Väter und Mütter sind freiergeworden im Hinblick darauf, wie sie ihrePartnerschaft leben, wie sie ihre Kindererziehen.luul: Eltern beobachten andere Eltern, soentwickeln sie eine Vorstellung davon, wiesie handeln müssen, um als gute Eltern zugelten. Und das ist ihnen so lange wichtig,bis ihr Kind gegen den dadurch entstehen-den Mangel an persönlicher Substanz auf-begehrt.SPIEGEL: Sie schreiben, Kinder würden ih-rer Autonomie einen derart hohen \\-ertbeimessen, dass sie sich dafür in härtesteKämpfe begäben - müssen Eltern da wirk-lich mitspielen? Wäre es nicht besser, sol-che Machtkämpfe von vornherein zv ver-hindern?Juul: Ich glaube nicht, dass das möglich ist.Diese Kämpfe sind notwendig, um darauszu lernen. Für Kinder genauso wie für El-tern. Nur wenn der gleiche Konflikt umdas gleiche Problem sich ständig wieder-holt und in kürzeren Abständen auftritt,gibt es einen Grund, sorgfältiger zu unter-suchen, was schiefläuft.SPIEGEL: Der Klassiker in vielen Familienist der Nachmittag, nach der Schule: Schondie Hausaufgaben fallen dem Kind schwer,nun steht auch noch ein Test an, es mussgelernt werden. Was tun?Juul: Es gibt nicht den einen, bestenWeg, was in Konfliktsituationen zu tunist, hängt immer von der Art der Bezie-hung zwischen Eltern und Kind ab. ImAllgemeinen würde ich vorschlagen, dassdie Eltern die Initiative ergreifen und sa-gen: ,,Wir wissen beide, dass Schule nichtdein Lieblingsort ist. Und wir wissen auch,dass man einen Test so gut wie möglichbestehen sollte. Wie kann ich dir ambesten dabei helfen?" Die Idee ist, dasKind wählen zu lassen, wie ihm geholfenwird - aber nicht, ob. Eltern müssen auf-hören, ständig zu wiederholen, wie wich-tig Schule und Ausbildung für die Zukunftdes Kindes sind. Das Wissen darum istbereits ein Teil seines Dilemmas, und esständig zu wiederholen führt nur dazu,

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Wissenschaft

dass sich das Kind noch unzureichenderfühlt.SPIEGEL: Eltern wünschen sich ein partner-schaftliches Miteinander, eine gute emo-tionale Bindung zu ihrem Kind. Ist dage-gen etwas einzuwenden?Juul: Die Idee, eine gute emotionale Bindungzu seinem Kind herstellen zu können, indemman ihm alle seine Wünsche erftillt, istschlichtweg falsch. Beliebt zu sein ist beiWeitem nicht das Gleiche, wie geliebt zuwerden. Eltern müssen gar nichts tun, umvon ihren Kindern geliebt zu werden, Kin-der lieben sie bedingungslos. Sich bei ihnenbeliebt zu machen ist ein sehr egozentrischesProjekt, das dem Kind überhaupt nichts anWerten vermittelt. Es ist so, als würde manihm nur Süßigkeiten geben anstelle vonnahrhaftem Essen. Jede Beziehung, in derein Teil stets versucht, dem anderen bloßzu gefallen, steuert auf eine Katastrophe zu.SPIEGEL: Viele Eltern beschreiben das Pro-blem, nicht gero.au zu wissen, was richtigund was falsch ist, sie können vor lauterUnsicherheit nicht authentisch handeln.Lässt sich die verlorene Intuition irgendwie*'iederherstellen?Juul: Authentizität ist eine Qualität, die mitder Beziehung wächst. Es ist ähnlich wiemit der Beziehung zwischen den Eltern:Zu Beginn sind sie einfach nur verliebt.Aber nach und nach müssen sie lernen,

,,Der Unterschied istwichtigJ: zrrYischen dem,was Kinderwollen, unddem, was sie brauchen."

welcher Weg der beste ist, einander wei-terhin zu lieben. Das schafft man nur,wenn man sich selbst und den anderen gutkennt. Je mehr man dabei lernt, desto au-thentischer wird man in seiner Beziehungsein können. Wir müssen nicht immer au-thentisch sein, um persönliche Autoritätaufzubauen. Aber wir brauchen diesenWunsch, unseren Kindern gegenüber sowahrhaftig wie möglich zu werden. Dasschließt auch die Fähigkeit mit ein, zuz'o-geben, wenn wir in einer Sackgasse ste-cken. Ich würde gern ein neues Erziehungs-motto für das nächste Jahrzehnt ausgeben.SPIEGEL: Wie sollte das heißen?Juul: Gut genug ist perfekt. Wenn Elternsich damit abfinden, gut genug für ihreKinder zu sein, dann ist schon viel gewon-nen. Weil niemand perfekt ist.SPIEGEk Stellen sich Eltern heute zu sehrin den Dienst ihrer Kinder?Juul: O ja. Und wenn ich die Eltern, meistsind es die Mütter, zu dieser Dienstboten-einstellung befrage, bekomme ich in derRegel zwei Antworten: Die einen möchtensicher sein, dass ihr Kind alles bekommt,\ilas es braucht. Sie wissen oft nicht, wie

118 orn sprEoer s/zore

wichtig der Unterschied ist zwischen dem,was Kinder wollen, und dem, was sie brau-chen. Andere leben in ständiger Angst,weil sie denken, dass KonJlikte nicht Teileiner liebevollen Beziehung sein dürfen,und sie deshalb um jeden Preis vermeidenmöchten. In jedem Fall fehlt die Fähigkeit,persönliche Grenzen zu ziehen.SPIEGEL: Was ist die Folge?Juul: Verantwortung und Führung werdenletztendlich dem Kind überlassen. AberKinder sind noch nicht kompetent genug,diese Verantworlung zu tragen. Sie werdenzwar mit viel Weisheit, aber ohne Erfah-rung geboren. Sie brauchen Führung, dieauf Dialog basiert.SPIEGEL: Wieso fällt es vielen Eltern soschwer, sich abzugrenzen?luut: Viele kennen ihre persönlichen Gren-zen selbst nicht gut. Oder sie haben sieverschoben, weil ihnen beigebracht wurde,dass ihre eigenen Bedürfnisse nicht wichtigsind. Dabei ist das vielleicht eines der größ-ten Geschenke, die Kinder ihren Eltern ge-ben: der Ausbau ihres Selbstwertgefühls.SPIEGEL: Was ist eigentlich so verkehrt da-ran, Harmonie in der Familie anzustreben?Juut: Das grundlegende Problem dabei ist,dass diese Philosophie so wenig Raum furdas wirkliche Leben lässt. Genauso wenigwie eine Philosophie, die davon ausgeht,dass Entwicklung immer schmerzhaft seinmuss. Das Leben ist nur lebenswert, wennes uns erlaubt, Gegensätze zu erfahren.Nur wenn wir wissen, wie sich Streit an-fühlt, können wir Harmonie schätzen.Wenn wir die Ei:rsamkeit kennen, könnenwir die Gegenwart anderer schätzen.Wenn wir wissen, was Egoismus ist, lernenwir, Mitgefühl zu schätzen.SPIEGEL: Viele Eltern unterstätzen ihre Kin-der in der Schule, indem sie nachmittagsmit ihnen lernen und am WochenendeLernspiele anbieten. Muss das sein?Juul: Eine Freundin von mir hat diese Frageeinmal gut beantwortet, als sie sich vonihrem Mann, einem weltbertihmten Arzt,scheiden ließ. Sie sagte: ,,Ich habe unheim-lich viel von ihm gelernt. Aber wer willschon jeden Tag zur Schule gehen?" Werdaheim weiter unterrichtet, macht aus demLernen eine Einbahnstraße, an deren Endedie Eltern als die ewigen Besserwisser ste-hen. Dadurch fühlen sich die Kinder min-derwertig, die Entwicklung ihres Selbst-wertgefühls wird beeinträchtigt. Den El-tern jedoch verschafft das vorübergehendeErfolgserlebnisse. Es steigert vor allem ihrSelbstvertrauen - nicht das ihrer Kinder.sPlEGEk Herr Juul, wir danken Ihnen fürdieses Gespräch.

Jesper Juul beantwortet Fragen der SPIEGEL-

Leser - via E-Mail. Ab Montag ist dafür die Adres-se [email protected] freigeschaltet.Bitte haben Sie Verständnis, dass nicht ledeZuschrift berücksichti§t werden kann.