1 2 Czer...Czer now itz EIn Studienprojekt von Helena Bernhardt, Magdalena Bürbaumer, Maximilian...

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CZERNOWITZ Altstadt Großwohnsiedlung Pruth Markt Identitäten einer Stadt Kaliniwski-Markt Nesaleschnosti-Prospekt Herrengasse Pruth Czernowitz ist eine Stadt mit umkämpfter Identität: Kosmopolitische Provinz, habsburgi- sche Kultur, Jerusalem am Pruth, rumänische Grenzstadt, sowjetisches Einflussgebiet, post - sozialistischer Nationalismus und Vermarktung der geschichtlichen Multikulturalität vereinen hier. Schon zu vielen Einflusssphären gehörte Czernowitz: Zum Habsburgerreich, zu Rumäni- en, zur Sowjetunion, zur Ukraine (Koziura 2018: 5-6). Anhand von vier städtebaulich, strukturell, so- wie funktional unterschiedlichen Orten nähert sich die Forschung der Frage: Wie werden in Czernowitz Identitäten durch den öffentlichen Raum produziert? Hier scheint der Kitsch König, was durch Artefakt #028 versinnbildlicht: Eine 10cm hohe Schneekugel in deren inneren Mitte eine Ananas thront, gesäumt von Hawaii-Blüten, umweht von bunt glitzerndem Konfetti. Losgelöst von jeder lokalen Symbolik und jedwedem ortsspezifischen Zusammenhang steht sie unschuldig im Regal in einem dieser Läden, in dessen Räumlichkeiten sich wohl einst ein Wohnzimmer befand. Ein Willkommensgruß der Post-Postmoderne im Postsozialismus. Artefakt #028 SCHNEEKUGEL (Nesaleschnosti-Prospekt) Alltägliche Überformungen der sowjetischen Ära Negation der Sowjetzeit durch den globalisierten Kapitalismus Die Treppe hinab zum Markt fühlt sich an wie der Einstieg in die Arena des Kaufrau- sches: prunkvolle Brautmoden, meterlange Basecap-Regale und bunte Leuchtreklamen. Bewegt man sich vom dominierenden Ge- brauchs- zum relativen Kunstwert und inter- pretiert das »historische Kunstwollen« (Riegl 1988), zeigen v. a. die mit Glasarkaden über- bauten Gänge, wofür der Kaliniwksi-Markt in der lokalen Identitätsproduktion steht: Hier ist alles so gewollt globalisiert-westlich, dass selbst für die andernorts omnipräsenten blau-gelben Nationalfarben kaum Platz bleibt. Ursprünglich ein temporärer Ausweichplatz nach dem Zerfall der Sowjetunion, bildete sich hier der zwischenzeitlich größte nationale Um- schlagplatz für Bekleidung. In Erzählungen überstrahlt die Goldgräberstimmung der 90er das Jetzt: Erinnerung an den radikalen Bruch, den Aufbruch, aber auch Prekarität dieser Zeit. Im Sinne der Zeit als Falte nach Serres (Malich 2011) ist diese, aber auch die Negation der So- wjetzeit, besonders nahe. Die im Baulichen ablesbare Stagnation erzählt davon, dass die Verheißungen des Umbruchs nur für manche Realität wurden. Nun räche sich, dass nicht in eine Verbesserung gemein- samer Infrastruktur - wie Umkleiden - inves- tiert wurde, sagt Oxana Matiychuk. Für sie ein Sinnbild lokaler Mentalität: Kurzfristige not- dürftige Funktionalität für wenig Geld stehe im Vordergrund. Eine Folge der historischen Er- fahrung radikaler Brüche, die langfristige Pläne schlagartig irrelevant machen? Von einem überdimensionalen Kreisverkehr bahnt sich der vierspurige Nesaleschnosti-Pro- spekt schnurgerade seinen Weg gen Osten. Flankiert von sozialistischen Zeilenbauten und den Bänken der Fußgängerpromenade blitzen Reklamen von Geschäften auf. im Hintergrund erheben sich die übrigen Wohnblocks. Umge- ben von üppigem Grün entziehen sie sich dem Trubel an der Hauptachse. Zu Sowjetzeiten als »Schlafstadt« (Spalnij Rajon) geplant, stellt das Gebiet eine klassisch moderne Stadterweite- rung dar – ausgerichtet auf eine Gesellschaft, in der die Versorgung zwar extrem effizient ist, aber nie über das Nötigste hinaus geht. Auch heute steht der Gebrauchswert (Riegl 1988) im Vordergrund. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die Wohnungen privatisiert. Aus Hochparterre- wohnungen wurden kurzerhand Ladenloka- le, der Kapitalismus überformt den sozialisti- schen Städtebau. Konträre Wahrnehmungen der StadtbewohnerInnen und Stadtverwaltung (Maxymchuk 2019) sorgen für einen hohen Streitwert: Während Zentrums-Czernowitzer -Innen den Prospekt stigmatisieren, überwiegt im kollektiven Gedächtnis (Moller 2010) der Be- wohnerInnen das damalige Glück einer eigenen Wohnung. Die Zuständigkeit für die öffentlichen Räume ist heute unklar. Was nicht geplant war oder fehlt, fügten die BewohnerInnen selbst hinzu. Parallel zum zunehmenden Verfall des öffent - lichen Raum finden kleine Aneignungen, etwa durch Gemüsebeete, statt. (Repräsentations- räume der BewohnerInnen - Lefebvre 2006). Die Alltagspraxis überwiegt eine mögliche Neu - konzeptionen oder den Erhalt sowjetischer Raumrepräsentationen. Der Pruth hat viele Gesichter. Die literarischen Reminiszenzen an den Strom bei Ausländer, Sperber, Celan und Appelfeld, aber auch die Zuschreibungen vom Jerusalem am Pruth, dem Basar am Pruth, zeugen vom gewollten Erinne- rungswert an diesen Fluss. Doch es ist schwie- rig an ihn heranzukommen: Die rechte Uferzo- ne ist durch einen Damm geschützt. Dieser hat historischen Wert (Riegl 1988) als Ausdruck der Zähmung des Flusses und Nutzbarmachung des Sumpfs. Das Projekt Pruth Anew will die Uferzone re- aktivieren, man beruft sich auf ein Strandbad aus Habsburgerzeiten. Geworben wird mit als Memes adaptierten Fotografien aus dem 19. Jahrhundert. Die chronologisch ferne Habsbur- gerzeit wird zum nahen Referenzpunkt (Malich 2011). Seit den 90ern herrschen am Pruth unklare Besitzverhältnisse. Ein Verantwortungsvaku- um hat sich aufgetan. Diese Lücke scheint die individuelle Nutzung zu beflügeln; kollektive Ansprüche bleiben aus. Die Flussabschnit- te haben hohen Gebrauchswert (Riegl 1988): Fischen, Pilze sammeln, Auto waschen, Grill- und Drogenpartys, DJ-Sets. Sogar der ein oder andere Schusswechsel soll vorgekommen sein (Lefebvre 2006; Räumliche Praxis). Zwischen großer Literatur und unklaren Besitz - verhältnissen zeigt der Pruth eine offene Iden- tität: Versteckte Raumpraxen (Lefebvre 2006) die dennoch zu keiner Produktion von Reprä- sentationsräumen (ebd.) führen und dabei al- lerlei Inkonsistenzen entstehen lassen. Vakuum an Zuständigkeiten zwi- schen Staat und Zivilgesellschaft Die Pflaster- und Promenadenstraße Herren - gasse erinnert an österreichische Kleinstädte. Die Dominanz der Habsburgerzeit ist augen- fällig. Sie ist hier präsenter, als die – chro- nologisch näheren – rumänischen und so- wjetischen Epochen (Serres) und dient der Repräsentation des Raumes (Lefebvre 2006). Koziura beschreibt dies als Habsburg-Nostal- gie, die zur Distanzierung der Sowjetzeit nutzt. Sie wird aus ukrainischem Blickwinkel betrach- tet und zur Stärkung der ukrainischen Identität instrumentalisiert (2018: 3-4, 12). Über den notdürftig restaurierten Fassaden der Erdgeschoßzonen wird das tatsächliche Alter der Fassaden durch bröckelnden Putz sichtbar (Alterswert. Riegl 1988). Die Straße kann durch ihre habsburgische Stadtstruktur als Zeugin des Planungszugangs jener Zeit verstanden werden (historischer Wert, Riegl 1988). Die Herrengasse präsentiert am deutlichsten das multiethnische Erbe Czernowitz‘. Das hier ansässige deutsche, rumänische und polnische Kulturhaus sind Repräsentationen des Raumes (Lefebvre 2006). Der Stadtname ist in den un- terschiedlichen Schreibweisen der Volksgrup- pen auf einigen Pflastersteinen eingraviert. Dies betont erneut die Habsburgerzeit sowie das multikulturelle Erbes (Erinnerungswert, Riegl 1988). Die Herrengasse ist beliebter Treffpunkt (Ge- brauchswert, Riegl 1988). Diese räumliche Pra- xis (Lefebvre 2006) unterscheidet sich zwi- schen Straßenraum und Hinterhof. Ersterer ist das Podium der Stadt und touristisch genutzt, zweiterem ist vorderrangig Wohnnutzung zuge- ordnet. Verknüpfung ukrainischer Natio- nalismen mit der Habsburgerzeit Produktion des Raumes (Lefebvre) Raum ist sozial produziert Analyse durch Raumtriade: räumliche Praxis (nicht-reflexives Alltags- handeln), Repräsentation des Raums (offiziell konzipierter Raum), Raum der Repräsentation (gelebter Raum der Nutzenden, Mythen von Gruppen und individuellen Geschichten) (Lefebvre 2006 [1974]: 331–339) Denkmalwerttheorie (Riegl) Gewollte und gewordenen Wertsetzungen von Objekten im Raum Anlayse durch 7 Denkmalwerte: Gegenwartswerte (Gebrauchswert, Neuheits- wert, relativer Kunstwert), Erinnerungswerte (Alterswert, historischer Wert, gewollter Er- innerungswert, Streitwert) (Riegl 1988: 47–57, 68–70. Dolff-Bonekämper 2010) Zeit als Falte (Serres) Zeit ist nicht linear oder abgrenzbar, keine kausal zusammenhängende Phasen Analyse durch Taschentuchmodell: Glatt gestrichen sind Abstände zwischen Punkten genau bestimmbar, zusammenge- knüllt liegen vorher weit entfernte Punkte nahe zusammen (Malich 2011: 371–372) Theorie Methode Fragmentarische Beobachtungen und Blogeinträge (https://www.futurelab.tuwien.ac.at/blog/category/czernowitz/) zu verschiedenen Tagen und Zeiten Artefaktensammlung als persönliche Wahrnehmungen, zur erhöh- ten Raumaufmerksamkeit Austellung der Ergebnisse vor Ort zur Diskussion mit Czernowitzer*innen und Erkenntnisserweiterung 2 1 Nesaleschnosti-Prospekt Herrengasse Pruth Kaliniwski-Markt Czernowitz Die vier Orte lassen sich als verschiedene Teile der lokalen Identitätsproduktion betrachten. In einem Vakuum an Zuständigkeiten, wie im Nie- mandsland Pruth, fehlt es insgesamt außerhalb nationalistischer Symbolpolitik Raumkonzepte des Staates, die als Raumrepräsentationen in der lokalen Raumproduktion wirksam werden könnten. Gleichzeitig fehlt es aber auch Be - wohner*innen an Visionen, das Vakuum pro- duktiv auszunutzen und mit Alternativen zu füllen. Czer now itz EIn Studienprojekt von Helena Bernhardt, Magdalena Bürbaumer, Maximilian Dietz, Gunnar Grandel und Jakob Holzer (TU Wien, M. Sc. Raumplanung, M. Sc. Architektur, SoSe 2019) 3 3 4 4 1 2

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CZERNOWITZ

5 Methodik

Altstadt

Großwohnsiedlung

Pruth

Markt

SpaziergangTeilnehmende Beobachtung

Mental MappingInterviews

Medienanalyse

Identitäten einer Stadt

Kaliniwski-Markt

Nesaleschnosti-Prospekt

Herrengasse

Pruth

Czernowitz ist eine Stadt mit umkämpfter Identität: Kosmopolitische Provinz, habsburgi-sche Kultur, Jerusalem am Pruth, rumänische Grenzstadt, sowjetisches Einflussgebiet, post-sozialistischer Nationalismus und Vermarktung der geschichtlichen Multikulturalität vereinen hier. Schon zu vielen Einflusssphären gehörte Czernowitz: Zum Habsburgerreich, zu Rumäni-en, zur Sowjetunion, zur Ukraine (Koziura 2018: 5-6).

Anhand von vier städtebaulich, strukturell, so-wie funktional unterschiedlichen Orten nähert sich die Forschung der Frage:

Wie werden in Czernowitz Identitäten durch den öffentlichen Raum produziert?

Hier scheint der Kitsch König, was durch Artefakt #028 versinnbildlicht: Eine 10cm hohe Schneekugel in deren inneren Mitte eine Ananas thront, gesäumt von Hawaii-Blüten, umweht von bunt glitzerndem Konfetti. Losgelöst von jeder lokalen Symbolik und jedwedem ortsspezifischen Zusammenhang steht sie unschuldig im Regal in einem dieser Läden, in dessen Räumlichkeiten sich wohl einst ein Wohnzimmer befand. Ein Willkommensgruß der Post-Postmoderne im Postsozialismus.

Artefakt #028SCHNEEKUGEL (Nesaleschnosti-Prospekt)

Alltägliche Überformungen der sowjetischen Ära

Negation der Sowjetzeit durch den globalisierten Kapitalismus

Die Treppe hinab zum Markt fühlt sich an wie der Einstieg in die Arena des Kaufrau-sches: prunkvolle Brautmoden, meterlange Basecap-Regale und bunte Leuchtreklamen. Bewegt man sich vom dominierenden Ge-brauchs- zum relativen Kunstwert und inter-pretiert das »historische Kunstwollen« (Riegl 1988), zeigen v. a. die mit Glasarkaden über-bauten Gänge, wofür der Kaliniwksi-Markt in der lokalen Identitätsproduktion steht: Hier ist alles so gewollt globalisiert-westlich, dass selbst für die andernorts omnipräsenten blau-gelben Nationalfarben kaum Platz bleibt.

Ursprünglich ein temporärer Ausweichplatz nach dem Zerfall der Sowjetunion, bildete sich hier der zwischenzeitlich größte nationale Um-schlagplatz für Bekleidung. In Erzählungen überstrahlt die Goldgräberstimmung der 90er das Jetzt: Erinnerung an den radikalen Bruch, den Aufbruch, aber auch Prekarität dieser Zeit. Im Sinne der Zeit als Falte nach Serres (Malich 2011) ist diese, aber auch die Negation der So-wjetzeit, besonders nahe.

Die im Baulichen ablesbare Stagnation erzählt davon, dass die Verheißungen des Umbruchs nur für manche Realität wurden. Nun räche sich, dass nicht in eine Verbesserung gemein-samer Infrastruktur - wie Umkleiden - inves-tiert wurde, sagt Oxana Matiychuk. Für sie ein Sinnbild lokaler Mentalität: Kurzfristige not-dürftige Funktionalität für wenig Geld stehe im Vordergrund. Eine Folge der historischen Er-fahrung radikaler Brüche, die langfristige Pläne schlagartig irrelevant machen?

Von einem überdimensionalen Kreisverkehr bahnt sich der vierspurige Nesaleschnosti-Pro-spekt schnurgerade seinen Weg gen Osten. Flankiert von sozialistischen Zeilenbauten und den Bänken der Fußgängerpromenade blitzen Reklamen von Geschäften auf. im Hintergrund erheben sich die übrigen Wohnblocks. Umge-ben von üppigem Grün entziehen sie sich dem Trubel an der Hauptachse. Zu Sowjetzeiten als »Schlafstadt« (Spalnij Rajon) geplant, stellt das Gebiet eine klassisch moderne Stadterweite-rung dar – ausgerichtet auf eine Gesellschaft, in der die Versorgung zwar extrem effizient ist, aber nie über das Nötigste hinaus geht. Auch heute steht der Gebrauchswert (Riegl 1988) im Vordergrund.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die Wohnungen privatisiert. Aus Hochparterre-wohnungen wurden kurzerhand Ladenloka-le, der Kapitalismus überformt den sozialisti-schen Städtebau. Konträre Wahrnehmungen der StadtbewohnerInnen und Stadtverwaltung (Maxymchuk 2019) sorgen für einen hohen Streitwert: Während Zentrums-Czernowitzer -Innen den Prospekt stigmatisieren, überwiegt im kollektiven Gedächtnis (Moller 2010) der Be-wohnerInnen das damalige Glück einer eigenen Wohnung.

Die Zuständigkeit für die öffentlichen Räume ist heute unklar. Was nicht geplant war oder fehlt, fügten die BewohnerInnen selbst hinzu. Parallel zum zunehmenden Verfall des öffent-lichen Raum finden kleine Aneignungen, etwa durch Gemüsebeete, statt. (Repräsentations-räume der BewohnerInnen - Lefebvre 2006). Die Alltagspraxis überwiegt eine mögliche Neu-konzeptionen oder den Erhalt sowjetischer Raumrepräsentationen.

Der Pruth hat viele Gesichter. Die literarischen Reminiszenzen an den Strom bei Ausländer, Sperber, Celan und Appelfeld, aber auch die Zuschreibungen vom Jerusalem am Pruth, dem Basar am Pruth, zeugen vom gewollten Erinne-rungswert an diesen Fluss. Doch es ist schwie-rig an ihn heranzukommen: Die rechte Uferzo-ne ist durch einen Damm geschützt. Dieser hat historischen Wert (Riegl 1988) als Ausdruck der Zähmung des Flusses und Nutzbarmachung des Sumpfs.

Das Projekt Pruth Anew will die Uferzone re-aktivieren, man beruft sich auf ein Strandbad aus Habsburgerzeiten. Geworben wird mit als Memes adaptierten Fotografien aus dem 19. Jahrhundert. Die chronologisch ferne Habsbur-gerzeit wird zum nahen Referenzpunkt (Malich 2011).

Seit den 90ern herrschen am Pruth unklare Besitzverhältnisse. Ein Verantwortungsvaku-um hat sich aufgetan. Diese Lücke scheint die individuelle Nutzung zu beflügeln; kollektive Ansprüche bleiben aus. Die Flussabschnit-te haben hohen Gebrauchswert (Riegl 1988): Fischen, Pilze sammeln, Auto waschen, Grill- und Drogenpartys, DJ-Sets. Sogar der ein oder andere Schusswechsel soll vorgekommen sein (Lefebvre 2006; Räumliche Praxis).

Zwischen großer Literatur und unklaren Besitz-verhältnissen zeigt der Pruth eine offene Iden-tität: Versteckte Raumpraxen (Lefebvre 2006) die dennoch zu keiner Produktion von Reprä-sentationsräumen (ebd.) führen und dabei al-lerlei Inkonsistenzen entstehen lassen.

Vakuum an Zuständigkeiten zwi-schen Staat und Zivilgesellschaft

Die Pflaster- und Promenadenstraße Herren-gasse erinnert an österreichische Kleinstädte. Die Dominanz der Habsburgerzeit ist augen-fällig. Sie ist hier präsenter, als die – chro-nologisch näheren – rumänischen und so-wjetischen Epochen (Serres) und dient der Repräsentation des Raumes (Lefebvre 2006). Koziura beschreibt dies als Habsburg-Nostal-gie, die zur Distanzierung der Sowjetzeit nutzt. Sie wird aus ukrainischem Blickwinkel betrach-tet und zur Stärkung der ukrainischen Identität instrumentalisiert (2018: 3-4, 12).

Über den notdürftig restaurierten Fassaden der Erdgeschoßzonen wird das tatsächliche Alter der Fassaden durch bröckelnden Putz sichtbar (Alterswert. Riegl 1988). Die Straße kann durch ihre habsburgische Stadtstruktur als Zeugin des Planungszugangs jener Zeit verstanden werden (historischer Wert, Riegl 1988).

Die Herrengasse präsentiert am deutlichsten das multiethnische Erbe Czernowitz‘. Das hier ansässige deutsche, rumänische und polnische Kulturhaus sind Repräsentationen des Raumes (Lefebvre 2006). Der Stadtname ist in den un-terschiedlichen Schreibweisen der Volksgrup-pen auf einigen Pflastersteinen eingraviert. Dies betont erneut die Habsburgerzeit sowie das multikulturelle Erbes (Erinnerungswert, Riegl 1988).

Die Herrengasse ist beliebter Treffpunkt (Ge-brauchswert, Riegl 1988). Diese räumliche Pra-xis (Lefebvre 2006) unterscheidet sich zwi-schen Straßenraum und Hinterhof. Ersterer ist das Podium der Stadt und touristisch genutzt, zweiterem ist vorderrangig Wohnnutzung zuge-ordnet.

Verknüpfung ukrainischer Natio-nalismen mit der Habsburgerzeit

Produktion des Raumes (Lefebvre)Raum ist sozial produziert

Analyse durch Raumtriade: räumliche Praxis (nicht-reflexives Alltags-handeln), Repräsentation des Raums (offiziell konzipierter Raum), Raum der Repräsentation (gelebter Raum der Nutzenden, Mythen von Gruppen und individuellen Geschichten)(Lefebvre 2006 [1974]: 331–339)

Denkmalwerttheorie (Riegl)Gewollte und gewordenen Wertsetzungen von Objekten im Raum

Anlayse durch 7 Denkmalwerte: Gegenwartswerte (Gebrauchswert, Neuheits-wert, relativer Kunstwert), Erinnerungswerte (Alterswert, historischer Wert, gewollter Er-innerungswert, Streitwert)(Riegl 1988: 47–57, 68–70. Dolff-Bonekämper 2010)

Zeit als Falte (Serres)Zeit ist nicht linear oder abgrenzbar, keine kausal zusammenhängende Phasen

Analyse durch Taschentuchmodell: Glatt gestrichen sind Abstände zwischen Punkten genau bestimmbar, zusammenge-knüllt liegen vorher weit entfernte Punkte nahe zusammen(Malich 2011: 371–372)

Theorie

Methode

Fragmentarische Beobachtungen und Blogeinträge (https://www.futurelab.tuwien.ac.at/blog/category/czernowitz/)

zu verschiedenen Tagen und Zeiten

Artefaktensammlungals persönliche Wahrnehmungen, zur erhöh-ten Raumaufmerksamkeit

Austellung der Ergebnisse vor Ortzur Diskussion mit Czernowitzer*innen und Erkenntnisserweiterung

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Nesaleschnosti-Prospekt

Herrengasse

Pruth

Kaliniwski-Markt

Czernowitz

Die vier Orte lassen sich als verschiedene Teile der lokalen Identitätsproduktion betrachten. In einem Vakuum an Zuständigkeiten, wie im Nie-mandsland Pruth, fehlt es insgesamt außerhalb nationalistischer Symbolpolitik Raumkonzepte des Staates, die als Raumrepräsentationen in der lokalen Raumproduktion wirksam werden könnten. Gleichzeitig fehlt es aber auch Be-wohner*innen an Visionen, das Vakuum pro-duktiv auszunutzen und mit Alternativen zu füllen.

Czernowitz

EIn Studienprojekt von Helena Bernhardt, Magdalena Bürbaumer, Maximilian Dietz, Gunnar Grandel und Jakob Holzer (TU Wien, M. Sc. Raumplanung, M. Sc. Architektur, SoSe 2019)

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