1. Das Ende der Frühen Neuzeit in Japan (1793-1868) · 1. Das Ende der Frühen Neuzeit in Japan...

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1. Das Ende der Frühen Neuzeit in Japan (1793-1868) Auch der soziale und symbolische Raum des frühmodernen Japan ist nach Pierre Bourdieu „ein Raum von Unterschieden“, in dem es gilt, „die grundlegenden Unterscheidungsprinzipien zu bestimmen“, 1 nach denen sich das gesellschaftliche Ensemble konfigurierte. Und auch hier ist es der Besitz von Kapital in unter- schiedlichen Spielarten (ökonomisch, politisch, sozial, informationell, kulturell usw.), welcher das unmittelbare Unterscheidungsprinzip darstellte. Die Verfü- gungsgewalt über solches Kapital und die Mechanismen, mit deren Hilfe Kapital- sorten im Bedarfsfall konvertiert werden konnten, bilden deshalb den Schlüssel zum Verständnis sowohl der Beziehungen zwischen sozialen Gruppen innerhalb der Räume, in denen sie agierten, als auch der Strukturen der Räume selbst. Be- schreibbare Strukturen entstehen überhaupt erst aufgrund der ungleichen Vertei- lung von Ressourcen. 1.1 Strukturen des symbolischen Raumes der Frühen Neuzeit Der symbolische Raum Japans – der Raum also, in dem sich das Feld der Macht konstituierte – bestand aus drei Unterräumen: dem Machtapparat des Hauses To- kugawa, den japanischen Fürstentümern und dem Hof des japanischen Kaisers. Tokugawa Ieyasu gelang es zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die politische Füh- rung in Japan zu erringen und die Vorherrschaft seines Hauses für das folgende Vierteljahrtausend zu begründen. In dieser Zeit war Japan als föderaler Bund von Fürstentümern verfasst, der zwei überregionale Machtzentren aufwies: Das Zent- rum des politischen Kapitals bildete das Haus Tokugawa. Sein Hauptsitz war die Burgstadt Edo (das heutige To ¯kyo ¯ ). Das Zentrum des symbolischen Kapitals stellte dagegen der Hof der seit dem 8. Jahrhundert in Kyo ¯ to residierenden Kai- serdynastie dar. Dass die Vorherrschaft der Tokugawa rund 250 Jahre lang andau- erte, erklärt sich dadurch, dass es den Tokugawa gelungen war, ihre politische Hegemonie mit wirtschaftlicher Macht zu untermauern und das symbolische Ka- pital des Kaiserhofes weitgehend zu kontrollieren und zu ihren Zwecken einzu- setzen. Allerdings war die Macht der Tokugawa keine absolute; sie war auf die Kooperation mit den übrigen Fürstenhäusern angewiesen, die mehr oder weniger großen Einfluss auf die Ausübung der Macht der Tokugawa besaßen, und auch ihre Hegemonie über den Kaiserhof war begrenzt. Seit dem Ende des 18. Jahr- 1 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M. 1998, S. 26 f mit ausdrücklichem Bezug auf Japan.

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1. Das Ende der Frühen Neuzeit inJapan (1793-1868)

Auch der soziale und symbolische Raum des frühmodernen Japan ist nach PierreBourdieu „ein Raum von Unterschieden“, in dem es gilt, „die grundlegendenUnterscheidungsprinzipien zu bestimmen“,1 nach denen sich das gesellschaftlicheEnsemble konfigurierte. Und auch hier ist es der Besitz von Kapital in unter-schiedlichen Spielarten (ökonomisch, politisch, sozial, informationell, kulturellusw.), welcher das unmittelbare Unterscheidungsprinzip darstellte. Die Verfü-gungsgewalt über solches Kapital und die Mechanismen, mit deren Hilfe Kapital-sorten im Bedarfsfall konvertiert werden konnten, bilden deshalb den Schlüsselzum Verständnis sowohl der Beziehungen zwischen sozialen Gruppen innerhalbder Räume, in denen sie agierten, als auch der Strukturen der Räume selbst. Be-schreibbare Strukturen entstehen überhaupt erst aufgrund der ungleichen Vertei-lung von Ressourcen.

1.1 Strukturen des symbolischen Raumes der

Frühen Neuzeit

Der symbolische Raum Japans – der Raum also, in dem sich das Feld der Machtkonstituierte – bestand aus drei Unterräumen: dem Machtapparat des Hauses To-kugawa, den japanischen Fürstentümern und dem Hof des japanischen Kaisers.

Tokugawa Ieyasu gelang es zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die politische Füh-rung in Japan zu erringen und die Vorherrschaft seines Hauses für das folgendeVierteljahrtausend zu begründen. In dieser Zeit war Japan als föderaler Bund vonFürstentümern verfasst, der zwei überregionale Machtzentren aufwies: Das Zent-rum des politischen Kapitals bildete das Haus Tokugawa. Sein Hauptsitz war dieBurgstadt Edo (das heutige Tokyo). Das Zentrum des symbolischen Kapitalsstellte dagegen der Hof der seit dem 8. Jahrhundert in Kyoto residierenden Kai-serdynastie dar. Dass die Vorherrschaft der Tokugawa rund 250 Jahre lang andau-erte, erklärt sich dadurch, dass es den Tokugawa gelungen war, ihre politischeHegemonie mit wirtschaftlicher Macht zu untermauern und das symbolische Ka-pital des Kaiserhofes weitgehend zu kontrollieren und zu ihren Zwecken einzu-setzen. Allerdings war die Macht der Tokugawa keine absolute; sie war auf dieKooperation mit den übrigen Fürstenhäusern angewiesen, die mehr oder wenigergroßen Einfluss auf die Ausübung der Macht der Tokugawa besaßen, und auchihre Hegemonie über den Kaiserhof war begrenzt. Seit dem Ende des 18. Jahr-

1 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M. 1998, S. 26 fmit ausdrücklichem Bezug auf Japan.

hunderts wurde das Zusammenspiel dieser drei Elemente des Feldes der Machtallerdings mit zunehmender Heftigkeit neu verhandelt. An diesen Auseinander-setzungen ist nichts Ungewöhnliches, wenn man sie mit Bourdieu als konstitutivfür das Feld der Macht betrachtet. Denn „dass die Geschichte des Feldes die Ge-schichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrneh-mungs- und Bewertungskategorien ist: diese Aussage ist noch unzureichend; esist vielmehr der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes ausmacht; durch denKampf tritt es in die Zeit ein.“2

Bei den Konflikten handelte es sich demnach nicht um weltanschauliche Ent-scheidungsschlachten, die auf den völligen Umbau des symbolischen Raumesoder auf die Beseitigung anderer Teilnehmer abzielten. Die ständige Bereitschaftzum Konflikt demonstrierte vielmehr die Entschlossenheit, das Feld der Machtnicht zu räumen, und förderte einen evolutionären Prozess der Distinktion zwi-schen den Teilnehmern. Zugleich wirkte sie stabilisierend auf den sozialen Raum,denn „die Kämpfe … tragen dazu bei, den Glauben an das Spiel, das Interesse anihm und an dem, was dabei auf dem Spiel steht, fortwährend zu reproduzieren.“3

Sie besaßen mit anderen Worten agonalen und nicht systemüberwindenden Cha-rakter; jedenfalls solange, bis die geschärften Profile der Konkurrenten und ihreHegemonieansprüche miteinander unvereinbar geworden waren.

1.1.1 Das Tokugawa-Bakufu

Der Machtapparat der Tokugawa umfasste die privaten und öffentlichen Institu-tionen und Machtmittel, über welche die Angehörigen des Hauses Tokugawazwischen 1603 und 1868 verfügten.4 Das Zentrum dieses Apparates bildete dasjeweilige Oberhaupt des Hauses Tokugawa selbst. Wie in allen dynastischen Or-ganisationen Japans ging diese Stellung als Oberhaupt in der Regel vom Vater aufden Sohn über – nicht unbedingt den ältesten Sohn, sondern denjenigen Sohn,welchen der Vater und Amtsvorgänger für geeignet hielt (Unigenitur). Gab eskeine leiblichen Söhne, konnte ein Verwandter als Sohn und Erbe adoptiert wer-den. War auch dies nicht geregelt worden, so entschied ein Familienrat über dieNachfolge.

Tokugawa Ieyasu übte seine 1600 errungene Macht in erster Linie als Ober-haupt der Tokugawa aus, ließ sich jedoch 1603 vom Inhaber des höchsten kultu-rellen Kapitals, dem Kaiser, den Titel eines kaiserlichen Militärbefehlshabers imKampf gegen die Barbaren (Shogun) verleihen. Mit diesem Titel verband sich seit

2 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurta.M. 1999, S. 253

3 Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 3604 Oguchi Yujiro; Takagi Shosaku: Nihon kinsei-shi. Hoso Daigaku kyoiku shinko-kai 1994;

Conrad Totman: Early Modern Japan. Berkeley 1995; ders: Politics in the Tokugawa Bakufu.Cambridge 1967

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dem 12. Jahrhundert politische und rechtliche Autorität gegenüber den übrigenFürstenhäusern, gegenüber dem Kaiserhof und – seit dem 14. Jahrhundert – auchgegenüber den auswärtigen Beziehungen einschließlich Diplomatie und Außen-handel. Die symbolische Macht des Hauses Tokugawa kulminierte im Shogun-Titel; die übliche zeitgenössische Anrede für den Shogun war kogi, d.h. „öffentli-che Gewalt“; ihm stand jeder Anspruch auf legitime Herrschaft zu. Davon ist dierealpolitische Macht der jeweiligen Oberhäupter der Tokugawa jedoch zu unter-scheiden. In der historischen Entfaltung dieser politischen Macht lassen sich vierPhasen unterscheiden: persönliche Herrschaft, Regentschaft, Kammerherrenherr-schaft und Ältestenherrschaft.

Die persönliche Herrschaft der drei ersten Shogune

Tokugawa Ieyasu verließ sich als Politiker auf seine kampferprobten Gefolgsleuteund vertraute diesen auch einen Großteil seiner Regierungsgeschäfte an. Wichti-ge Entscheidungen traf Ieyasu jedoch selbst. Nach dem entscheidenden Sieg inder Schlacht bei Sekigahara am 21. Oktober 1600 teilte er seinen Machtapparat.Er selbst blieb zunächst in seiner Burg Fushimi bei Kyoto, um den Kaiserhof unddas westliche Japan im Auge zu behalten. Seinen dritten Sohn Hidetada ließ erden japanischen Osten von der Tokugawa-Hauptburg Edo aus kontrollieren.1605 trat er ihm auch den Shogun-Titel ab und installierte Hidetada damit als sei-nen Nachfolger. Nach der weiteren Befriedung Japans residierte Ieyasu als Toku-gawa-Oberhaupt (ogosho) in der Stammburg Sunpu (heute Shizuoka) und kon-trollierte mit Hilfe seiner persönlichen Ratgeber die Politik seines SohnesHidetada. Seine Ratgeber, im damaligen Sprachgebrauch „die herausragendenKöpfe“ (shuttonin) genannt, hatten jederzeit Zutritt zu Ieyasu und besaßen seinvolles Vertrauen. Solche Ratgeber-Zirkel gab es auch an den meisten anderenFürstenhöfen; man nannte sie allgemein „Älteste“ oder „Hausälteste“ (karo oderroju). Sie dienten als Mittler zwischen dem Fürsten und allen übrigen Vasallen.Nur in Ausnahmefällen durften sich Vasallen, die nicht zu den Ältesten gehörten,direkt an ihren Fürsten wenden. Im Normalfall übermittelten die Ältesten dieBefehle und Entscheidungen des Fürsten in den von ihnen abgefassten und sig-nierten Dokumenten und nahmen die schriftlichen Eingaben der Vasallen entge-gen. Die Ältesten führten also die Geschäfte des Fürsten und verhandelten dieWünsche, Beschwerden und Rechtsstreitigkeiten der Vasallen. Ihre Macht war soeng mit der Person des Fürsten verbunden, dass ihr Wort einerseits als das desFürsten galt; andererseits folgten noch bis Mitte des 17. Jahrhunderts viele Ältes-te ihrem Fürsten in den Tod, weil ihr Leben damit seine Bestimmung verlorenhatte.

Tokugawa Hidetada führte Ieyasus Herrschaftsstil fort und ersetzte nach Ieyasus Tod 1616 dessen Älteste durch seine eigenen Vertrauten. Er führte als neuesElement der Herrschaft jedoch ab 1615 eine alternierende Dienstpflicht (sankinkotai) für die übrigen Fürsten an seinem Hof ein. Die Fürsten mussten nun für

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eine bestimmte Zeit ihre Fürstentümer verlassen, in Edo residieren und an Hide-tadas Hof Dienst leisten. Begründet wurde dies zunächst mit der Heerfolge-pflicht (gun’yaku) der Vasallen, und der militärisch erwünschte Nebeneffekt war,dass die fürstlichen Reisenden unterwegs für Sicherheit auf den wichtigen Haupt-und Heerstraßen sorgten. Hidetada übergab den Shogun-Titel 1623 an seinen äl-testen Sohn Iemitsu und zog sich in den bescheideneren Westteil der Burg Edozurück, kontrollierte jedoch Iemitsus Amtsführung bis zu seinem Tod 1632. Mitder Entscheidung, seinen verstorbenen Vater Ieyasu unter dem KultnamenTosho („Licht des Ostens“) in Anspielung auf die Ahnengöttin des KaiserhausesTensho oder Amaterasu („Licht des Himmels“) vergöttlichen zu lassen, legteHidetada 1616 zudem die Grundlage für einen im ganzen Land propagierten To-kugawa-Kult.

Iemitsu verteilte inzwischen die Aufgaben unter den Ältesten (die grundsätz-lich ebenfalls Fürsten waren) neu. 1634 teilte er sie in zwei Gruppen mit unter-schiedlichen Kompetenzen: Die vier oder fünf „Senioren“ (otoshiyori, später rojugenannt), von denen je zwei kollegial für einen Monat die Geschäfte führten, wa-ren zuständig für die Angelegenheiten des Kaiserhofes, der Fürsten, der religiö-sen Institute, der auswärtigen Beziehungen und des für militärische Zwecke undfür die Steuererhebung wichtigen Kartenwesens. Die vier bis sechs „Junioren“(zur Zeit Iemitsus „Sechsmännergruppe“, rokuninshu, genannt; seit 1662 waka-doshiyori) befassten sich v.a. mit den nichtfürstlichen Vasallen sowie der Verwal-tung der wichtigen Städte und Burgen von Kyoto, Osaka und Sunpu. Da auchIemitsu seine eigenen Vertrauten in Schlüsselpositionen bringen wollte, erfand er1638 zusätzlich das von allen praktischen Pflichten ledige Amt des „Groß-Ältes-ten“ (tairo), auf das er zwei ehemalige Ratgeber seines verstorbenen Vaters ab-schob. Dieses Ehrenamt wurde auch später nur Fürsten der altgedienten Famili-en Hotta, Ii oder Sakai übertragen. Später bildete sich das Amt des vorsitzendenSenior-Ältesten (roju shuza) heraus.

Iemitsu hatte damit die für die folgenden Generationen verbindliche Organisa-tionsform des Tokugawa-Machtapparates gefunden. Die Ältesten standen dabeian der Spitze des Verwaltungsstabes. Dieser Stab wurde ergänzt durch den Statt-halter des Shogun in Kyoto (Kyoto shoshidai), der mit der Aufsicht über den Kai-serhof betraut war; den Burgvogt von Osaka (Osaka jodai), der die verkehrstech-nisch und wirtschaftlich zentrale Burg von Osaka verwaltete; die 20 bis 30Zeremonienmeister (sojaban), die für die Organisation der Zeremonialgeschäfteam Hofe verantwortlich waren; und die vier aus den Reihen der Zeremonien-meister ernannten Kommissare für Tempel und Schreine (jisha bugyo), welchendie Aufsicht über die geistlichen Institute und den Klerus im ganzen Land über-tragen war. In die bislang genannten Stellungen konnten nur Fürsten berufenwerden, so dass ständig zwischen 30 und 50 der etwa 250 japanischen Fürstenzum Tokugawa-Verwaltungsstab gehörten.

Zum fürstlichen Stab kamen noch Amtsträger aus den Reihen der nichtfürstli-chen Vasallen (hatamoto) hinzu: Zunächst die vier Finanzkommissare (kanjo bu-

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gyo), denen die Verwaltung der Tokugawa-Domänen, die Finanzverwaltung (kat-tegata) und die Rechtsprechung (kujikata) unterstanden. Unterstützt wurden siedabei von den gegen Gehalt als Amtmänner (daikan und gundai) in der Lokal-verwaltung eingesetzten Vasallen;5 ihre Zahl schwankte zwischen 40 und 50. Je-der daikan besaß einen Amtssitz (jin’ya) in der Region, für die er zuständig war.Ihm unterstanden zwei Stellvertreter sowie etwa 30 Schreiber, Diener undKnechte.

5 Ulrich Goch: „Zur Amtslaufbahn der Lokalverwalter des Schogunats im Japan des 18. und 19.Jahrhunderts.“ In: Bochumer Jahrbuch für die Ostasienforschung 17 (1993), S. 27-75; ders.:„Bashogae und moyorigae bei den lokalen Statthaltern (daikan) des Tokugawa-Schogunats.“In: Bochumer Jahrbuch für die Ostasienforschung 19 (1995), S. 135-146

6 Minami Kazuo: Edo no machi bugyo. Yoshikawa Kobunkan 20057 Marius B. Jansen: China in the Tokugawa World. Cambridge 1992

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Abb. 1: Sitz des Amtmanns von Hida-Takayama

Zu den obersten Bakufu-Beamten gehörten ferner die zwei Stadtkommissare vonEdo (machi bugyo), denen die Verwaltung und Rechtsprechung über die zivileBevölkerung der Stadt Edo oblag.6 Auch für die Verwaltung der Stadt Nagasakiund des dort mit China7 und Holland abgewickelten Handelsverkehrs wurdenzwei Kommissare (Nagasaki bugyo) bestallt. Schließlich amtierten vier bis fünfVasallen als Oberzensoren (ometsuke), welche Amtsführung und Lebenswandelder Fürsten überwachen sollten; sie wurden von zehn Zensoren (metsuke) unter-

stützt. Insgesamt waren also zwischen 60 und 70 nichtfürstliche Vasallen im zent-ralen Apparat beschäftigt.

Demnach umfasste die Spitze des Tokugawa-Verwaltungsstabes 90 bis 120 fürst-liche und nichtfürstliche Amtsträger. Ihre Amtsräume und die für die Treffen mitFürsten vorgehaltenen Audienzzimmer (tsumenoma) in der Burg Edo wurden alsdie „Vorderseite“ (omote) der Shogun-Residenz bezeichnet. Für den Tokugawa-Apparat bürgerte sich im 19. Jahrhundert die inoffizielle Bezeichnung „Bakufu“ (ei-gentlich Feldherrnlager eines Shogun) ein. Sie war ursprünglich abwertend gemeint,weil man damit den Charakter der Tokugawa-Herrschaft als legitime öffentlicheGewalt (kogi), wie sie sich selbst bezeichnete, leugnen konnte.8 Heutzutage wird siejedoch wertfrei benutzt und in dieser Darstellung im folgenden auch so gemeint.

Der Shogun verbrachte sein Alltagsleben in den Privatgemächern (nakaoku)der Residenz. Ihm standen dafür persönliche Diener (sobashu) zur Seite, die auf-grund ihrer Vertrauensstellung mitunter Einfluss auf den Shogun erwarben. Seitder Zeit Iemitsus kam zudem dem dritten, als „Frauenquartier“ (ooku) bezeich-neten Teil der Residenz erhöhte Bedeutung zu. Das Frauenquartier war an sichder mit der physischen Reproduktion der Tokugawa betraute Teil des Hauses:Hier lebten die Haupt- und die Nebenfrauen des Shogun mit ihren Kindern undBediensteten. Iemitsu stand lange Zeit unter dem besonderen Einfluss seiner Am-me Kasuga no Tsubone, der er es zu verdanken hatte, dass ihn sein Vater Hideta-da überhaupt zu seinem Erben machte. Kasuga no Tsubone nutzte ihre Vertrau-ensstellung, um Günstlingen auf informellem Weg Gehör bei Iemitsu zuverschaffen. In der Folgezeit schaltete sich das Frauenquartier immer wieder aufähnliche Weise in die Politik ein. Dabei ist von Bedeutung, dass es sich bei denEheschließungen der Shogune und Fürsten grundsätzlich um politische Heiratenhandelte, mit denen Allianzen geschlossen und bekräftigt werden sollten.

Die übrigen Mitglieder seiner Familie kontrollierte Iemitsu konsequent, um sieals Machtkonkurrenten auszuschalten. Seinen Bruder Tadanaga zwang er zumSelbstmord, seine Onkel, die Fürsten von Owari (mit Sitz in Nagoya), Kii (Wa-kayama) und Mito (Mito), allesamt jüngere Söhne Ieyasus, schüchterte er syste-matisch ein und verlieh ihnen als Oberhäuptern der sog. „Drei erhabenen Häu-ser“ (go-sanke) zwar eine herausgehobene Stellung oberhalb der übrigen Fürsten,schloss sie aber von der Nachfolge im Haupthaus der Tokugawa aus. Seinen eige-nen Söhnen verschaffte Iemitsu zugleich wichtige Fürstentümer. Mit dem 1636vollendeten kostspieligen Bau eines überaus aufwendigen Mausoleums für seinenvergöttlichten Großvater Ieyasu und seinen Vater Hidetada in Nikko schuf Ie-mitsu zusätzliches symbolisches Kapital für seine Herrschaft.

Die von Hidetada eingeführte alternierende Hofdienstpflicht der Fürsten warvon Iemitsu 1629 vorübergehend ausgesetzt worden. 1635 führte er sie für die„außenstehenden“ Fürsten, 1642 auch für die übrigen Fürsten wieder ein und gab

8 Auch die aus der chinesischen Staatsrechtsterminologie stammende Bezeichnung han für dieFürstentümer wurde erst nach der Meiji-Renovation 1868 offiziell.

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ihr ihre endgültige Gestalt. Der Fürst von Mito als Repräsentant der drei Toku-gawa-Zweighäuser und die als Räte amtierenden Fürsten mussten von nun anständig in Edo residieren, die Fürsten aus der ostjapanischen Machtbasis der To-kugawa hatten für jeweils ein halbes Jahr dort Dienst. Die meisten anderen Fürs-ten verbrachten abwechselnd ein Jahr in Edo und ein Jahr in ihren eigenen Lan-den. Nur einige wenige, die an der japanischen Peripherie lebten, waren vomHofdienst befreit. Dieses Verfahren brachte wegen der aufwendigen Reisen undder doppelten Haushaltsführung enorme finanzielle Belastungen für die Fürstenmit sich, was durchaus im Sinne Iemitsus war.

Dem Haus Tokugawa ging es unter den ersten drei Shogunen in wirtschaftli-cher Hinsicht dagegen ausgesprochen gut. Ieyasu hinterließ bei seinem Tod 1616neben beträchtlichen Sachwerten ein Barvermögen von fast 2 Mio. ryo, von de-nen Hidetada 1,2 Mio. erhielt. Von seinen jüngeren Söhnen bedachte Ieyasu dieFürsten von Owari und Kii mit jeweils 0,3 Mio. und den Fürsten von Mito mit0,2 Mio. Hidetada hinterließ seinem Erben Iemitsu sogar 2,5 Mio. ryo und ver-machte bedeutende Summen an weitere Fürsten und Vasallen. Als Iemitsu 1651starb, war das Vermögen der Tokugawa trotz der großen Ausgaben, die er zuLebzeiten für Repräsentationsbauten, den Ausbau Edos und Reisen mit großemGefolge getätigt hatte, weiter gewachsen.

Der Außenhandel

Der Hauptgrund für diesen Vermögenszuwachs waren die steigenden Gewinneaus dem Erzbergbau, den die Tokugawa kontrollierten. Japan exportierte bis indie 1660er Jahre beträchtliche Mengen von Silber nach China und erwirtschafteteeinen Handelsüberschuss, der die Kassen der Tokugawa füllte.

Nur der Shogun und die Fürsten von Tsushima, Matsumae und Satsuma durf-ten mit dem Ausland Handel treiben. Über die Hafenstadt Nagasaki auf der In-sel Kyushu verkehrte der Shogun mit chinesischen, südostasiatischen und hol-ländischen Händlern (diplomatische Beziehungen gab es zu China und Hollandnicht). Tsushima pflegte im Namen des Shogun den diplomatischen und Waren-verkehr mit Korea. Matsumae auf der Insel Ezo (das heutige Hokkaido) hieltKontakt zu den Ainu, die dort autonome Herrschaften besaßen. Satsuma aufKyushu brachte zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit Zustimmung der Tokugawadas Königreich der Ryukyu-Inseln in seine Gewalt, das eine wichtige Dreh-scheibe im pazifischen Handel zwischen Ost- und Südostasien war. Formell galtRyukyu als Tributstaat der Tokugawa.9 Alle anderen Formen von Außenhandelwaren verboten, und die Tokugawa nutzten ihr außenpolitisches Monopol, um ihren Herrschaftsanspruch im Inland symbolisch zu untermauern; beispielsweise durch die spektakulären Umzüge von Kyushu bis Edo, in wel-

9 Akamine Mamoru: Ryukyu okoku. Kodansha 2004; Gregory J. Smits: Visions of Ryukyu:Identity and Ideology in Early-Modern Thought and Politics. Honolulu 1999

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chen die koreanischen und ryukyuanischen Gesandten, die holländischen Kauf-leute oder auch exotische Tiere wie Elefanten und Kamele der staunenden japa-nischen Bevölkerung vorgeführt wurden.10 Die wirtschaftlichen Profite ausdem Außenhandel waren jedoch für alle Beteiligten beträchtlich. Deshalb be-gannen sich seit dem späten 18. Jahrhundert auch diejenigen Fürsten dafür zu

10 Ronald P. Toby: State and Diplomacy in Early Modern Japan: Asia in the Development of the Tokugawa Bakufu. Princeton 1984; ders.: „Carnival of the Aliens. Korean Embassiesin Edo-Period Art and Popular Culture.“ In: Monumenta Nipponica 41:4 (1986), S. 415-456

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Abb. 2: Hafen von Nagasaki mit Schiffen aus Holland, Siam und China (1745)

interessieren, die bisher nicht zum exklusiven Kreis der Außenhandelsberech-tigten gehörten.

Die Regentschaft

Beim Tode Iemitsus (zum letzten Mal folgte ihm eine Reihe seiner Ratgeber frei-willig in den Tod) war sein ältester Sohn und Erbe Ietsuna zehn Jahre alt undkränklich. An eine persönliche Herrschaft war zeit seines Lebens nicht zu den-ken. Gemäß dem Letzten Willen Iemitsus übernahm dessen jüngerer BruderHoshina Masayuki daher zunächst die Regentschaft. Hoshina bemühte sich sehrum eine ausgleichende und gerechte Ausübung seiner Macht und erwarb hohesAnsehen. Jedoch verlor er gegenüber den neuberufenen Ältesten stetig an Ein-fluss. Da die Stadt Edo bei einem Großbrand am 2. März 1657 weitgehend zer-stört wurde, musste zudem ein Großteil des Tokugawa-Vermögens für den Wie-deraufbau von Burg und Stadt und für Hilfeleistungen an Fürsten, Vasallen undStadtbevölkerung aufgewandt werden. Die finanziellen Spielräume des Tokuga-wa-Bakufu schmolzen dramatisch zusammen. Die meisten Erzbergwerke warenerschöpft, den früher so einträglichen Handel mit Übersee hatten die Tokugawaseit den 1630er Jahren weitgehend eingestellt, um ein weiteres Vordringen desChristentums zu verhindern. Nach Hoshinas Tod 1672 wurde der Groß-ÄltesteSakai Tadakiyo neuer starker Mann. Doch als sich 1680 der Tod des erbenlosenShogun Ietsuna ankündigte und Sakai vorschlug, einen kaiserlichen Prinzen alsneuen Shogun einzusetzen, wurde er vom Fürsten von Mito, Tokugawa Mitsu-kuni, und vom Ältesten Hotta Masatoshi, dem Adoptivsohn und Erben der Ka-suga no Tsubone, zum Rücktritt gezwungen. Mito Mitsukuni und Hotta setzenstatt dessen durch, dass Tokugawa Tsunayoshi, ein jüngerer Bruder Ietsunas, alsShogun nachfolgte. Hotta Masatoshi stieg unter Tsunayoshi zum Groß-Ältestenauf und gewann die vollständige Kontrolle über die in drängende Not gerateneTokugawa-Finanzverwaltung. Nachdem der Außenhandel keine Rolle mehrspielte, musste jetzt der bäuerliche Erntetribut die Haupteinnahmequelle sein,und Hotta straffte daher die für das Eintreiben des Erntetributs zuständige Lo-kalverwaltung. Seine strikte Sparpolitik, die Verfolgung von Korruption und dieVerrechnung der bisherigen Amtszulagen der Tokugawa-Beamten mit ihrensonstigen Einkünften schufen ihm jedoch Feinde. 1684 wurde er von einemCousin in der Burg Edo erschlagen.

Die Kammerherrenherrschaft

Auf dieses gewaltsame Ende seines engsten Ratgebers und den bereits ein Jahrfrüher erfolgten Tod seines einzigen Sohnes reagierte Tsunayoshi mit einemRückzug aus der Öffentlichkeit. Die Ältesten tagten seither nicht mehr in seinenRäumen, nur noch seine vertrauten Leibdiener und Kammerherrren (sobayonin)hatten bei ihm Zutritt.11 Yanagisawa Yoshiyasu gelangte in dieser Position des

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