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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 75. Jahrgang 2 / 12 ISSN 0721-2402 H 54226 Mystische Abenteuerwelt Der Kult um Rollenspiele Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern in Heidelberg Michael Nüchtern als Apologet Buddhismus und Christentum Chancen und Grenzen der Verständigung Stichwort: Sikhismus Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

75. Jahrgang 2/12IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Mystische AbenteuerweltDer Kult um Rollenspiele

Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern in Heidelberg

Michael Nüchtern als Apologet

Buddhismus und ChristentumChancen und Grenzen der Verständigung

Stichwort: Sikhismus

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Jens SchultzkiMystische Fantasie- und AbenteuerweltDer Kult um Rollenspiele 43

Jan Badewien„Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten“Ein Bericht vom Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern (1949-2010) 52

Jan BadewienApologie als Aufgabe der TheologieMichael Nüchtern als Apologet 54

Horst Georg PöhlmannBuddhismus und ChristentumChancen und Grenzen der Verständigung 58

AtheismusChristopher Hitchens ist gestorben 64

Psychologie/PsychotherapieDie Transpersonale Psychologie will das menschliche Bewusstsein weiterentwickeln 65

RosenkreuzerEin Besuch beim Lectorium Rosicrucianum in Berlin 67

In eigener SacheDie EZW auf Exkursion im Taunus 69

INHALT MATERIALDIENST 2/2012

DOKUMENTATION

ZEITGESCHEHENIM BLICKPUNKT

BÜCHERINFORMATIONEN

ZEITGESCHEHENBERICHTE

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Sikhismus / Sikhi 70

Heinz-Werner KubitzaDer JesuswahnWie die Christen sich ihren Gott erschufen 75

Mary BauermeisterIch hänge im TriolengitterMein Leben mit Karlheinz Stockhausen 77

STICHWORT

BÜCHER

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Seit Ende der 1980er Jahre sind inDeutschland neue und vielfältige Formenvon Rollenspielen marktfähig geworden.Außer von Computer-Rollenspielen sindvor allem junge Erwachsene von soge-nannten Live- und Tisch-Rollenspielen fas-ziniert. Sie treffen sich in privaten Räum-lichkeiten und spielen in Kleingruppenfantasiereiche Abenteuer. Sie verwendendafür vorgefertigte oder selbst erstellte Re-gelwerkbücher und Würfel. Oder sie lau-fen verkleidet und spielerisch bewaffnetals Druiden, Vampire, Ritter, Orks, Zaube-rer oder Elben durch die Straßen und Wäl-der und spielen in einer mystischen Aben-teuerwelt. Bei diesen Live-Rollenspielenkommen teilweise bis zu 2000 Spieler zu-sammen, die von archaischen kleinen(Kunst-)Handwerksbetrieben unterstütztwerden. Auch Jugendverbände und kom-munale Jugendeinrichtungen haben die-sen Kult wahrgenommen und bieten sol-che Spiele als Freizeitmaßnahmen an.Neben den Spielern, den verwundertenAnwohnern und Passanten und den Ver-treibern gibt es noch die Kritiker, die ihreSorge über den Spielekult äußern. Es sindvor allem Eltern und Initiativen von Eltern,die sich hilfesuchend an Ämter und Ju-gendbeauftragte wenden, um zu erfahren,ob diese Form des Spielens einen gefähr-lichen Kultcharakter hat und ob man daseigene Kind davor schützen sollte. Außer-dem gibt es unter christlichen Gruppie-rungen die Extremposition, die diese Rol-lenspiele als okkult belastet deklariert.

Von Kind an ist das Rollenspiel in uns an-gelegt – sei es das Cowboy- und Indianer-spiel oder das Spielen mit Action- oderBarbiefiguren. Wir geben unseren Gedan-ken einen virtuellen Raum und interagie-ren mit Spielgeräten, die uns zur Verfü-gung stehen. Figuren bekommen Namen,das Kinderzimmer wird zum Abenteuer-land. Die Fantasie veranlasst uns Menschen,auch im Jugend- und Erwachsenenalterweiterhin zu spielen. In einem Rollenspielnehmen die Spieler fiktive Charakterrollenan, die sie selbst handelnd in Situationenbzw. Abenteuern in einer erdachten Welterleben. In einigen Rollenspielen werdendie Abenteuer physisch real erlebt. Fürdas Rollenspiel ist neben Fantasie ein Re-gelwerk nötig, um das Spiel zu strukturie-ren.

Computer-Rollenspiele

Seit Ende der 1980er Jahre haben sichComputer-Rollenspiele, „Computer RolePlaying Games“ (CRPG), etabliert. An-hand eines vorgegebenen Regelwerks er-stellt sich der Spieler einen Charakter, mitdem er an einem Handlungsstrang spieltund so sein Abenteuer erlebt. CRPG ha-ben sich in verschiedene Richtungen ent-wickelt: Als „Tactic-“ und „War-Games“hat der Spieler die Aufgabe, durch kriege-rische Handlungen sein Ziel zu erreichen.Diese Spielsysteme (auch als „Ego-Shoo-ter“ bekannt) sind seit den Amokläufen an

Jens Schultzki, Badbergen

Mystische Fantasie- und AbenteuerweltDer Kult um Rollenspiele

IM BLICKPUNKT

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Schulen verstärkt in die Kritik geraten. Seit„Counter Strike 1.6“ ist es möglich,Räume zu entwerfen und personifizierteCharaktere einzusetzen. Das führte dazu,dass Jugendliche ihre Schule grafisch dar-stellten und ihre eigenen Lehrer einsetz-ten, die dann virtuell mit Waffen elimi-niert werden konnten. „Massive Multiplayer Online RoleplayingGames“ (MMORPG) dienen dazu, Dut-zende bis Tausende von Usern auf einemServer in eine virtuelle Welt eintauchenund dort ein eigenes Leben führen zu las-sen. Per Voicechat, Chat, Foren oder überE-Mail können die Spieler untereinanderKontakt aufnehmen. Anbieter und Usergestalten dabei gemeinsam die virtuelleWelt. Die Spieler können ziellos umher-streifen, sich zufällig begegnen und be-wusste Handlungen ausführen. Eines derbekannten Spiele ist „Second Life“. DasSpielen eines zweiten Lebens in einer vir-tuellen Welt hat bei vielen Usern eineRealitätsflucht und Computersucht ausge-löst. Die Möglichkeit, in dieser WeltDinge zu tun, die man in der Realitätnicht durchführen würde, führte auchdazu, sich in der virtuellen Welt in mora-lisch verwerfliche Situationen zu bege-ben. Computer-Rollenspiele begünstigen Live-und Tisch-Rollenspiele. Das vernetzte, ge-meinsame Spielen und die herausragen-den Grafiken verstärken die Bereitschaftzum Spielen in Fantasiewelten.

Live-Rollenspiele

Neben den Computer-Rollenspielenblühte der Trend auf, Rollenspiele phy-sisch, sozusagen live zu erleben. Live-Rol-lenspiele werden LARP genannt (LiveAction Role Playing). Der Spieler kommtselbst als fiktive Charakterrolle physischzum Einsatz. Er verkleidet und bewaffnet1sich, verkörpert seinen Charakter und

spielt in einer Fantasiewelt. Diese wird anbesonderen Spielorten inszeniert, derenAmbiente der Spielhandlung entspricht.Die Anbieter bereiten die Örtlichkeiten,die Story und die Begegnungen mit ande-ren Charakterrollen vor. Dabei spielen sieselbst häufig verschiedene Charakterrol-len, sogenannte „Nicht-Spieler-Charak-tere“ (NSC), mit denen die Spieler ins Ge-spräch kommen oder auch in kontroverseSituationen geraten können. Live-Rollen-spiele sind wie Improvisationstheater. Die teils mehrtägigen Spiele finden meistin Mittelalter-Szenarien statt und orientie-ren sich an Vorgaben wie Tolkiens „Herrder Ringe“ oder an Tisch-Rollenspielenwie „Das Schwarze Auge“ oder „Vam-pire“. Die Veranstaltungen werden als„Con“ (Convention) bezeichnet und vonPrivatleuten oder Vereinen organisiert. Zuden kleinen Veranstaltungen versammelnsich ca. 30 bis 50 Personen, zu den gro-ßen bis zu 5000 („Conquest of Mythodea“auf dem Rittergut Brokeloh bei Nienburgoder das „Drachenfest“ in Diemelstadt beiKassel). In Deutschland gibt es jährlichHunderte öffentlich ausgeschriebeneLARP-Veranstaltungen. Das reale Spielenvirtueller Charakterrollen nimmt denWunsch nach Erlebnissen auf. „Dann‚hecheln einige Freaks als Cyber-Punk-Soldaten mit Laserwaffen durch die Frank-furter Innenstadt, andere treffen sich aufeinem Münchner Friedhof zum Vampir-Wettbeißen’...“2

Mystisches Rollenspielen am Tisch

Das Tisch-Rollenspiel wird als „Pen-&-Pa-per-Rollenspiel“ bezeichnet. Es ist einesder beliebtesten und vielseitigsten Rollen-spielsysteme und eine Mischung aus Ge-sellschaftsspiel, Erzählung und Schau-spiel. Die Teilnehmer und ein „Spielmeis-ter“ sitzen an einem Tisch und spielen fik-tive Charaktere in einer fantasievollen

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Abenteuerwelt. Das Spiel funktioniert inGesprächsform, dessen Ausgang immerunklar ist. Das System orientiert sich aneinem umfangreichen Regelwerk. Erfolgund Misserfolg der fiktiven Handlungenwerden mithilfe von Würfeln oder Kartensimuliert. Der Spielmeister leitet einAbenteuer an, das die Spieler mit ihrenCharakterrollen erleben. Pen-&-Paper gibt es in ganz verschiede-nen Genres, und je nach Spielsystem kön-nen die Spiele mythologische, mystische,magisch-okkulte oder Gewalt verherr-lichende Akzente haben. Aus solchenSpielen resultiert gelegentlich, dass Ju-gendliche ein erstaunliches Wissen überreale Waffensysteme haben. Verlage wie„Pegasus-Spiele“, „Feder und Schwert“oder „Ulisses-Spiele“ bringen für die Pen-&-Paper-Spiele fast wöchentlich neueQuellenbücher, Regelwerke und vorgefer-tigte Abenteuer heraus. Pen-&-Paper entstand wohl 1967 in LakeGeneva, Wisconsin. Dort fand das jähr-liche „Gen Con” statt, ein sogenanntesWargame-Treffen. Dabei werden Spiel-figuren auf erstellten Modellen in kriegeri-schen Manövern gezogen. Bei diesen GenCons trafen sich Gary Gygax und DaveArneson. Angeregt durch Tolkien- und Co-nan-Romane entwickelten sie ihre Alter-native: das erste Pen-&-Paper-Spiel „Dun-geons & Dragons” (D&D). In diesemSpielsystem konzentrierten sie sich aufdas Schicksal einzelner Helden und derenAbenteuer. 1974 erschien D&D in seinerersten Auflage. Erst breitete sich das Kon-zept an amerikanischen Colleges aus.1979 verschwand dann ein Student derMichigan University, der D&D gespielthatte, spurlos. Obwohl er wieder auf-tauchte und sein Verschwinden nichts mitdem Spiel zu tun gehabt hatte, geriet dasSpiel unter Okkultismus-Verdacht. Dasmachte den Vertrieb aber umso erfolgrei-cher.

In Deutschland hingegen erschien 1978als erstes Pen-&-Paper das Spiel „Magira”,das später in „Midgard“ umbenanntwurde. 1984 eroberte „Das SchwarzeAuge“ (DSA) den deutschen Markt. Eswurde vor allem von Jugendlichen undjungen Erwachsenen gespielt. Inzwischengibt es diverse private Anbieter eigenerRollenspiele und Kleinverlage, die sicheher auf einen kleinen Kreis Interessierterkonzentrieren. Die großen Spieleanbietervermarkten hingegen ihre Rollenspiele er-folgreich.3 Die Zahl der Tisch-Rollenspie-ler wird in Deutschland auf über 300 000geschätzt.4 Jährlich treffen sich Hundertevon Interessierten bei der Spielemesse inEssen oder auf der „NordCon“ in Ham-burg. Spiele wie Midgard, D&D und DSA er-schienen in Deutschland in den frühen1990er Jahren. Sie haben mythische, teilsauch mystische Inhalte. Die Götterfigurenkönnen von den Charakteren der Spielerangebetet werden, sie können diese be-schenken oder retten oder Schicksals-schläge austeilen. Dennoch spielen dieGötter nur eine untergeordnete Rolle. Siedienen als Hintergrund, als Erklärhilfe derSpielwelten. Die Spieler haben außerdemdie Möglichkeit, verschiedene Arkandis-ziplinen und magische Fähigkeiten zu er-lernen. Einige neuere Pen-&-Paper-Spielehaben hingegen magisch-okkulte Inhaltezu ihrem Hauptbestand gemacht. Die fol-genden vier Beispiele verdeutlichen das:• Dämonen und Engel: Das Pen-&-Paper-Rollenspiel „In Nomine Satanis / MagnaVeritas“ (INS/MV)5 stammt aus Frankreichund erschien 1994 in Deutschland. DieSpieler übernehmen die Rollen von Dä-monen oder Engeln, die in menschlichenKörpern umherlaufen und von normalenMenschen nicht enttarnt werden dürfen.Die Engel dienen den Erzengeln, die Dä-monen den Dämonenprinzen. Dement-sprechend sind die Charaktere der Spieler

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verschieden klassifiziert. Dabei kann esjedoch auch vorkommen, dass islamischeEngel mit christlichen nicht einer Mei-nung sind. Bei INS/MV gibt es die Vorstel-lung des einen Gottes, der verschiedeneEngel zu verschiedenen Zeiten geschaffenhat. Luzifer ist ein Engel, aber der Engel,der Gott herausfordert, heißt Samael. Erwollte Engel mit Menschen kreuzen, wasden Zorn Gottes heraufbeschwor. Gott giltals experimentierfreudig und die Engel alsäußerst eigenständig. Jesus gilt als Engel,der sich als Mensch inkarnierte, um Got-tes Wort zu bringen.• Technik und Magie: Bei „Shadowrun“befinden sich die Spieler im Jahr 2072. Eshandelt sich um ein futuristisches Spielmit vielen technischen, aber auch magi-schen Möglichkeiten. Das Spiel ist welt-weit verbreitet, die Fangemeinde beteiligtsich an seiner Weiterentwicklung; sie er-stellt neue Quellenbücher und Vorlagenfür die Fantasywelt und gestaltet die Inter-netseite „shadowhelix.de“ mit. Dazu ge-hört auch, dass ein religiöser Hintergrundaufgebaut wurde. Es gibt in dieser Weltimmer noch den Einfluss der Kirchen,aber ebenso der germanischen Götter. EinProzent der Personen wird als „Erwachte“bezeichnet. Die Magie dient ihnen alsPfad und Möglichkeit für Manipulation.Karmapunkte spielen als Erfahrungs-punkte eine Rolle, mit denen die Charak-tere im Laufe der Spiele aufgewertet wer-den können.• Vampirismus und Mythologie: Das Pen-&-Paper-Spiel „Vampire – Die Maskerade“übte in Deutschland eine große Faszina-tion aus. Erstmals wurde ein Rollenspielmit Begeisterung mehrheitlich von jungenFrauen gespielt. Bei diesem Spiel geht esum verschiedene Vampirclans, die verbor-gen in unserer Welt leben. Der Spielerkann die Rolle eines Vampirs einnehmen. Für das Rollenspiel gibt es das Quellen-buch „Das Buch NOD“. Der Autor „de

Laurent“ schreibt zu Beginn, „dass dieserTeil des Buchs NOD nicht völlig mit dembiblischen Standardkanon überein-stimmt“.6 „Nicht völlig“ ist jedoch unter-trieben: In dem Buch gilt Kain als Stamm-vater der Vampire. Aus Liebe zu Gott hater seinen Bruder geopfert. „Er konnte denTod nicht kennen, da er geboren wurde,ehe der Tod Teil des menschlichen Erfah-rungsschatzes wurde.“7 Die Dämonin Li-lith – ebenfalls aus dem Paradies versto-ßen – kümmerte sich um Kain undbrachte ihm magische Erkenntnisse bei.Die späteren „Kainsleute“ beteten dieMondgöttin an und die „Abelsleute“ denSonnengott. Vom Sonnengott wurden dieKainsleute verflucht, weil diese die Abel-sippe töteten. „Sie betrachten Kain als ih-ren Urvater, den ersten Vampir, der, dervon Gott verflucht wurde, auf ewig nachtszu wandeln. Kain wandte sich zur erstenFrau Adams, Lilith, und erhielt von ihr dasmagische Blut, welches ihm übermensch-liche Kräfte und Fähigkeiten verlieh. Mitdiesem Blut macht er aus Menschen Krea-turen seinesgleichen und diese erschufenwiederum Kinder.“8

Neben dem Pen-&-Paper gibt es das Live-Rollenspiel „Vampire-Live“ und ein Com-puter-Rollenspiel. Bei Vampire-Live wirddie Vampirrolle in der realen Welt ge-spielt. Im Landkreis Vechta gibt es bei-spielsweise eine kommunale Freizeitein-richtung, in der junge Menschen zum Ju-gendleiter ausgebildet werden, um dieseVampire-Rollenspielgruppen zu leiten.Hin und wieder spielen sie das Live-Rol-lenspiel und laufen nachts verkleidetdurch die benachbarte Stadt. Der Anbieterund die Szene bleiben da durchaus imspielerischen Bereich, sodass hier zu-nächst kein Grund zur Sorge besteht.Fraglich ist nur, ob die Leser und Spielerebenfalls immer verstehen, wo die Grenzezur Realität liegt. Bewusst merken die Au-toren von „Vampire“ an: „Beim LARP sind

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Sie das Requisit, und deshalb ist es unbe-dingt nötig, dass Sie mit sich und anderenäußerst behutsam, würde- und respektvollumgehen. Bei diesem Spiel geht es aus-drücklich nicht um „echtes“ Bluttrinken,um echte Jagden, Kämpfe oder erotischeAktivitäten. Sie sind kein Vampir, Sie spie-len nur einen.“9

• Horror und Okkultismus: „Call ofCthulhu“, kurz Cthulhu, ist ein Pen-&-Pa-per-Rollenspiel aus dem Genre Horror. Eserschien in Deutschland erstmals 1986,aber erst die aktuelle Version von 2007lässt sich gut vermarkten. Es basiert aufRomanen u. a. von Howard Phillips Love-craft. In Cthulhu bemühen sich die Spielerdarum, gruselige Geheimnisse zu lüften.Der Spielleiter nimmt die Rolle des Be-wahrers des arkanen Wissens ein. DieSpieler versuchen Dämonen zu überlistenund Geister loszuwerden. Dabei dient derOkkultismus im Spiel dazu, „okkulteCodes zu knacken“10. Dem Spiel liegteine Mythologie zugrunde, nach der dasUniversum von „äußeren Göttern“ be-herrscht wird, die in Form von Naturge-walten auftreten können. „Der CthulhuMythos verdankt seinen Namen einemgottähnlichen Wesen – Cthulhu (‚Kuh-Tuu-Luu’ ...). Es wird immer wieder pro-phezeit, dass eines Tages, ‚wenn dieSterne richtig stehen’, viele Große Alte,insbesondere auch Cthulhu selbst, wiedererwachen werden, um die Welt mit Ver-nichtung und Tod zu überziehen.“11 Esgibt in dem Spiel das „Necronomicon“,ein fiktives Buch aus dem 8. Jahrhundert,in dem Zauber, Geheimnisse und geheim-nisvolle Orte beschrieben sind. Wenn dieFiguren im Spiel aus diesem Buch lernen,können sie davon wahnsinnig werden.Neben dem natürlichen Tod stellt derWahnsinn das Ende eines Charakters dar. H. P. Lovecraft (1890-1937) war ein ame-rikanischer Schriftsteller. Nachdem seinVater gestorben war, beeinflusste sein

Großvater die Erziehung und vermittelteihm fantastische Märchen- und Horrorer-zählungen.12 Nach dessen Tod verarmtedie Familie und musste ihr Haus verlas-sen. Lovecraft litt unter der Situation undhegte Selbstmordgedanken. Kurz vor Be-endigung der High School hatte er einenNervenzusammenbruch, sodass er keinenAbschluss erwarb. Er wurde Autor. In sei-nen Werken mischte er Science-Fiction,Horror und soziale Utopie. Der größte Teilseines Lebens war von Fehlschlägen undfinanzieller Not geprägt. Er entwickelte ei-nen Fremdenhass, der in einigen Werkenzum Ausdruck kommt. Lovecraft vertrat angeblich selbst die An-sicht, dass jenseits des Wissenshorizontseine Unendlichkeit mit anderen Realitä-ten existiere. Die dortigen gigantischenMächte und Rassen drängen in unsereWelt ein und verhielten sich manchmalaktiv feindselig. Das Universum ist lautLovecraft voller irrationaler Ereignisse, un-heiliger Wut und unablässiger Anarchie.Der Blick in diese Wahrheit würde wahn-sinnig machen oder zum Selbstmord füh-ren.13

Aufgrund von Lovecrafts Kurzgeschichtenentstand 1981 das Pen-&-Paper, dem derCthulhu-Mythos zugrunde liegt. Das Spielwar dann die Grundlage für das gleichna-mige Brett- und Kartenspiel, das Brettspiel„Arkham Horror“ und das Computerspiel„Call of Cthulhu – Dark Corners of theEarth“. 2005 hat die „HP Lovecraft Histo-rical Society“ den Schwarz-Weiß-Stumm-film „The Call of Cthulhu“ im Stil der1920er-Jahre verfilmt. Das Pen-&-Paperverbreitet sich indessen durch freie Auto-ren auch ohne den direkten Einfluss desPegasus-Verlags.

Habitualisierung und Realitätsflucht

Ein einzelnes Spiel oder eine Lektüre kön-nen kaum der Grund dafür sein, dass ein

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Mensch mystische und okkulte Vorstellun-gen in sein reales Leben einbezieht. Je-doch scheint es möglich, dass der Konsumden Menschen auf Dauer beeinflusst. DieMedienpsychologie hat den Begriff „Ha-bitualisierungsthese“ geprägt. Diese gehtdavon aus, dass der stetige Konsum vonGewaltfilmen beim Rezipienten aggressi-onssteigerndes Verhalten bewirkt, nachdauerndem Konsum von aggressiven Fil-men mit wiederkehrendem Muster jedochein Gewöhnungseffekt auftritt, der dieemotionale Erregung mindert. Das hat einAbstumpfen gegenüber realer Gewalt zurFolge. Rezipienten mit niedrigem Konsumoder Einsteiger weisen eine stärkere emo-tionale Reaktion auf.14 Die Habitualisie-rungsthese lässt sich auf Rollenspieleübertragen, besonders auf Computer-Rol-lenspiele. Untersuchungen über Online- und Com-putersucht verwenden die Begriffe Reali-tätsverlust oder Eskapismus. In oder durchdie Virtualität kann es zum Realitätsverlustkommen. Der Süchtige vermischt Realitätmit Virtualität.15 Er steigert sich in die vir-tuelle Welt hinein und flüchtet sozusagenin die Virtualität. In gewissem Maße kanndieser Zustand auch durch dauerndes Rol-lenspiel ausgelöst werden. Bei vielen Pen-&-Paper-Rollenspielen treffen sich dieSpieler am Wochenende und spielen einbis zwei Tage durch. Die aktivierte Fanta-sie und die Müdigkeit haben zur Folge,dass vielen Spielern der folgende reale Tagals unlieb und unreal erscheint. Das„Kino im Kopf“ wirkt noch lange nach.Nach angeregten Spielstunden stehen dieSpieler wieder in der Realität, aber träu-men der virtuellen Fantasiewelt hinterher. Die Identifikation mit den Rollenspielwel-ten führt in einigen Fällen dazu, dass sichMenschen intensiver mit der fantastischenvirtuellen Welt auseinandersetzen. Sie re-cherchieren im Internet über möglichereale Verschwörungen, erweitern ihr Wis-

sen über Waffengattungen, kaufen sichUtensilien, z. B. ein Necronomicon-Buch,suchen nach magischen Sätzen, interes-sieren sich für die Geschichten von Göt-tern und Dämonen oder die Vorstellungenvon magischen Astralleibern.

Chaosmagie und realer Vampirismus

Real-magische Vorstellungen und Fantasy-Literatur oder -Rollenspiele können sichgegenseitig bedingen. Zum einen greifendie Hersteller der Rollenspiele vorhan-dene mythische, mystische, magische,spiritistische oder okkulte Vorstellungenauf, zum anderen beeinflussen die Fan-tasy-Produkte diejenigen, die diese real-magischen Vorstellungen als Wirklichkeitverstehen. Die Tischmanöverspiele „WarhammerFantasy“ und „Warhammer 40.000“ (Her-ausgeber: Games Workshop) greifen diesogenannte Chaosmagie auf. In den Spie-len werden die „Anhänger des Chaos“ alsschlecht dargestellt. Sie tragen den Cha-osstern, ein populäres Symbol der realenChaosmagier, auf ihren Rüstungen. Esstammt ursprünglich aus den Fantasy-Ro-manen von Michael Moorcock16. Chaos-magier glauben, durch verschiedene Tech-niken das wache Bewusstsein überwindenund die Wirklichkeit magisch beeinflus-sen zu können. Der Okkultist Peter Car-roll17 nimmt die Vorstellung der Chaosma-gie in seinem Buch „Liber Null“ auf. Er er-klärt den Chaosstern als Zeichen des Or-dens der Illuminaten und bezeichnetChaos, im gnostischen Sinne, als magischuniversale Kraft, die es anstelle eines Got-tes gebe.18

Seit einigen Jahren baut sich ein großesNetzwerk auf, in dem sich Menschen als„Vampire“ oder „Vampyre“ bezeichnen.„Heute umfasst die sogenannte Vampir-Szene in Deutschland einen großen Per-sonenkreis, der sowohl real als auch virtu-

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ell verknüpft ist, v. a. durch Vereine,Homepages, Stammtische, Rollenspiele,Vampirfilmfestivals, Lesungen aus Vampir-romanen.“19 Die einschlägigen Internet-seiten geben ein vielfältiges Bild dieserSzenen wieder. Die Seiten sind in denmeisten Fällen miteinander verlinkt, so-dass ein reger Austausch stattfindet. Aufden Seiten finden sich dadurch die einfa-chen Anhänger von Vampirspielen, Lieb-haber der Dark-Wave-Szene, aber auchdie sogenannten „Vampyre“, die sich alsechte Blutsauger verstehen.20

In extremen Vampyr-Szenegruppen wer-den esoterische Vorstellungen mit sexuell-magischen und erotischen Praktiken ver-mischt. Der Biss und das Bluttrinken übendabei eine Machtwirkung aus. Emotionenund Fähigkeiten sollen auf den Bluttrinkerübergehen. In privaten Vampyr-Veranstal-tungen finden sich kleine Personengrup-pen zusammen, die Blut miteinander tau-schen oder in denen sich Personen zumBlutverzehr anbieten. Um Infektionen undschwere Verletzungen zu vermeiden, wer-den häufig Injektionsnadeln und Messerverwendet.Die Internet-Fanseite der DortmunderVampire-Rollenspiel-Szene „nachtvolk.de“stellt ihre skurrilen Texte und die Fotos derletzten LARP-Treffen ins Netz. Je tieferman in diese Szene gerät, desto stärkerverschwimmt die Grenze zwischen Reali-tät und Virtualität.

Einschätzung

Für Rollenspieler steht im Allgemeinenzunächst kein reales religiöses Weltbildhinter dem Spiel. Die Spieler verstehensich nicht als religiöse Vereinigung undhaben nicht die Absicht, ein religiöses An-liegen zu vermitteln. Der mythologische,mystische, magische oder auch okkulteHintergrund in den Regelwerken sorgteaber immer wieder für Aufsehen, vor al-

lem in christlich-fundamentalistischenKreisen. Die Amerikanerin Patricia A. Pulling, Mit-glied der Anti-Rollenspielgruppe BADD(Bothered about Dungeons and Dragons),schrieb das Buch „Das Teufelsnetz – Siewollen unsere Kinder; und wenn wir unsnicht wehren, ist es zu spät“. Sie schildert,dass sich ihr Sohn, der sich das Lebennahm, in ein okkultes Netzwerk verstrickthatte. Die Schuldfrage wird in dem Bucheinfach gelöst: Der Schuldige ist Satan,und Rollenspiele gehören zu seinen Re-krutierungsmethoden. Aus dem deutschenKlappentext: „Dieser Report zeigt auf, wieSatan nach unseren Kindern greift. Fern-sehserien, die Gewalt verherrlichen, BlackMetal Music und ‚Trash’-Videos sind nureinige Maschen des Netzes, das sich im-mer enger zieht. Nur wenn wir die Strate-gie des Bösen kennen, können wir gegensie angehen.“ Auch in Rollenspiel-Com-munities melden sich Leute zu Wort, diedie Rollenspieler warnen wollen, z. B.:„In dieser Hinsicht sind Rollenspiele vielschlimmer als die Killerspiele vom PC,denn sie untergraben unseren Glauben anGott. Anstatt christlichen Werten wirdheidnische Magie angewandt und dieseist definitiv des Teufels. Die Kirche solltesich einschalten, der Papst sollte mal wasgegen diese Rollenspiele sagen, denn siesind das Werk Satans. Sie verderben dieSeelen unserer Jugend. Ich fordere einVerbot von Rollenspielen jeglicher Art!“21

Dem dualistischen Denken, das den Teu-fel so personifiziert und ihn für die Rollen-spiele verantwortlich macht, muss einedeutliche Absage erteilt werden. DerartigeEinstellungen führen lediglich dazu, dasschristlicher Glaube nicht ernst genommenwird. In der apologetischen Auseinander-setzung ist allerdings darauf hinzuweisen,dass sich viele Regelsysteme magisch-ok-kulter Inhalte bedienen, um das Spiel reiz-voll zu machen, und dass solche Inhalte

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von vielen Spielern unreflektiert ange-nommen werden. Der gesellschaftlicheTrend zur Mystifizierung (siehe Mystery-Serien oder Fantasy-Trivialliteratur) wirktin die Spielewelt hinein, und es gibt eineVermischung zwischen dem Gespieltenund populären okkulten Szenen, vor al-lem durch vernetzte Internetkontakte. Für psychisch labile Menschen besteht dieGefahr, dass sich die virtuelle und realeWelt vermischen und die Grenzen zwi-schen Spielen, Denken und schließlichHandeln aufweichen können – mit ent-sprechend negativen Folgen bei gewalt-haltigen Charakterdarstellungen. Das Rol-lenspiel kann aber auch heilsam wirken.Der zeitweilige Rückzug aus der Alltags-welt kann zu neuer Fantasie, Kreativitätund Produktivität führen. Das Spielen bie-tet viele positive pädagogische Ansätze. Inder spielerischen Auseinandersetzung mitdunklen Mächten und Gewalten könnensogar Ängste und Ohnmachtgefühle kom-pensiert werden. Das Testen von Charak-terzügen kann sich positiv auswirken. Hinter dem Rollenspiel steckt zunächstein einfacher Wunsch nach Erlebnissenund Spielen. Der Wunsch, in Live-SpielenAbenteuer zu erleben und spirituelle Er-fahrungen zu machen, ist eine Reaktionauf eine Gesellschaft, die von Leistungs-druck, permanenten rein virtuellen Aktivi-täten und wenig beeinflussbaren Struktu-ren und Ritualisierungen geprägt ist. Die

Menschen sehnen sich nach ein wenigVerzauberung in ihrem Alltag, und kirch-liche Angebote können diesem Wunschnachkommen, indem sie spielerische Er-lebnisräume schaffen. So können auch diezunächst scheinbar skurrilen mythologi-schen Fragen und Inhalte aufgegriffenwerden, mit denen sich die Spieler be-schäftigen. Wenn Jugendliche fragen, werBeliar oder Lilith ist, sollten diese Fragennicht einfach als mythologischer Unsinnabgetan werden. Wenn die Erfahrungs-welt christlichen Glaubens auf einerEbene mit mythologischen Fantasieweltenerscheint, sind die kirchlichen Mitarbeitergefordert, sich theologisch damit ausein-anderzusetzen. Alternative Vampyr-Sze-nen geben auf solche Fragen nämlichgerne ihre eigenen Antworten.Einige kirchliche Anbieter haben schonfrüh auf die Beliebtheit von Rollenspielenreagiert: Bibliolog und Bibliodrama sindBeispiele, wie das Rollenspiel im Ge-meindealltag Anwendung finden konnte.Auch einige Anbieter der evangelischenJugendarbeit haben eigene Rollenspieleentworfen, z. B. zum Thema „LandnahmeIsraels“. Für die Gemeinde- und Jugendar-beit bedeutet die Popularisierung der Rol-lenspiele, die Thematik als pädagogischeund weltanschauliche Herausforderung inden Blick zu nehmen und für inhaltlicheFragen und in der Seelsorge kompetentzur Verfügung zu stehen.22

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Anmerkungen

1 Es handelt sich immer um gepolsterte Waffen.Schwerter werden beispielsweise aus einem Fiber-glasstab hergestellt, der mit Schaumstoff ummanteltwird. Durch Latex und Farbe erhält das Schwertsein Aussehen.

2 Bernd Harder, In Nomine Satanis, www.gwup.org/infos/themen-nach-gebiet/88-okkultismus/762-verfuehren-fantasy-rollenspiele-und-computer-games-zu-magie-und-okkultismus (5.1.2012). Harder zi-tiert eine Rollenspielerin namens Amelie Stein.

3 Midgard (Pegasus Spiele), Dungeons and Dragons(Verlag: Feder und Schwert), Das Schwarze Auge(Ulisses Spiele), Call of Cthulhu (Pegasus Spiele),Shadowrun (Pegasus Spiele), Vampire – Die Maske-rade (Feder und Schwert).

4 Vgl. www.nexus-berlin.de/Abgetippter_Artikel_aus_der_Zeit (5.1.2012); nimmt Bezug auf einen Artikelaus der „Zeit“ vom 25.7.1997.

5 Mario Truant Verlag, Mainz. Das Spiel wurde von1989 bis 2006 veröffentlicht.

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6 Sam Chupp/Andrew Greenberg, Das Buch NOD,Mannheim 1993, 16.

7 Ebd.8 Rainer Fromm, Schwarze Geister, Neue Nazis – Ju-

gendliche im Visier totalitärer Bewegungen, Mün-chen 2008, 198.

9 Justin Achilli u. a., Vampire – Die Maskerade,Mannheim 1993, 25.

10 Sandy und Willis Petersen, Cthulhu. Rollenspiel-Ba-sis-Buch, deutsche Ausgabe Friedberg 1999, 16.

11 Ebd., 9.12 Vgl. Lyon Sprague de Camp, Lovecraft. Eine Biogra-

phie, deutsche Übersetzung von Rainer Schmidt(gekürzte Ausgabe), Frankfurt a. M. 1989, 18.

13 Vgl. Sandy und Willis Petersen, Cthulhu, a.a.O., 68und 101.

14 Vgl. Michael Kunczik/Astrid Zipfel, Gewalt und Me-dien. Ein Studienhandbuch, Köln 2006, 113, 305.

15 Vgl. Catherine Bouchon, Macht das Internet ein-sam? Seminararbeit, München 2005, 32.

16 Britischer Science-Fiction- und Fantasy-Schriftstel-ler, geb. 18.12.1939.

17 Geb. 8.1.53, Begründer des Ordens Illuminaten vonThanateros und Mitbegründer der Chaosmagie.

18 Vgl. Peter Carroll, Liber Null, York Beach, ME,1987, 28.

19 Rainer Fromm, Schwarze Geister, a.a.O., 182.20 Zur Vampyr-Szene vgl. Rainer Fromm, Schwarze

Geister, a.a.O., 183: „Innerhalb der Szene differen-

ziert man die ‚Vampyre’ in den zahlreichen Com-munities zwischen ‚Nighttimers’, ‚Classicals’ und‚Inheriters’. Es handelt sich dabei um die Unter-scheidung zwischen ‚geborenen’ Vampyren, alsodenen, die angeblich schon immer welche gewesensind und irgendwann ihre wahre Natur entdeckt ha-ben (‚Awakening’) und sogenannten ‚gemachten’Vampyren, die irgendwann von Dritten durch‚Übertragung’ oder ‚Blutaustausch’ ihre Vampyr-existenz eingehaucht bekamen. Dazu existiert einedritte Gruppe sogenannter ‚Zwischenwesen’.“

21 Aus der Google Group zum Thema „Rollenspielesind okkulte Hexerei wider den christlichen Glau-ben“, vom 30.12.2008.

22 Weitere Literatur: Bob Larson / Isolde Steigemann,Geht unsere Jugend zum Teufel?, Neuhausen 1990;Martina Hübner, Das Fantasy-Rollenspiel – einkreatives Medium zur Gewaltprävention? Informa-tionen – Pro & Contra – Projektbericht – Perspek-tiven, hg. von der Aktion Jugendschutz, Landesar-beitsstelle Bayern, Bayerisches Staatsministeriumfür Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit,München 1995; Patricia A. Pulling, Das Teufelsnetz– Sie wollen unsere Kinder; und wenn wir uns nichtwehren, ist es zu spät, Marburg 1990 (Orig.: TheDevil’s Web, 1989); Jeannette Schmid, Fantasy-Rol-lenspiel: Gefahren und Chancen, Vortrag am4.5.1995, www.rpgstudies.net/schmid/vortrag.html(5.1.2012).

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Die Vorträge, die beim Symposium gehal-ten wurden, thematisierten die verschie-denen Aspekte des Wirkens von MichaelNüchtern als Theologe und als Mitglieddes Leitungsgremiums der badischen Lan-deskirche. Landesbischof Ulrich Fischer hob Nüch-terns „Beitrag zur theologischen Leitung“hervor. Er verwies auf seine wesentlicheBeteiligung an der EKD-Impulsschrift „Kir-che der Freiheit“1, die zwar viel Kritik aufsich gezogen, aber wichtige Hinweise fürdie weitere Gestalt der Landeskirchen inDeutschland gegeben hat. Nüchterns Fä-higkeit zur Analyse eines Problems, sein„zweiter Blick“, mit dem er neue Perspek-tiven eröffnet habe, sei in vielen Fragestel-lungen der Kirchenleitung wegweisendgewesen. Sein Konzept einer „Kirche beiGelegenheit“ mit einer Neubewertung derBedeutung von Kasualien und kirchlichenEvents erweise sich als zukunftsweisend,

habe es doch Möglichkeiten eines verbes-serten Kontakts zu vielen Menschen eröff-net, denen Kirche fremd geworden ist. Das Referat von Fritz Lienhard (UniversitätHeidelberg) vertiefte diesen Aspekt undbetonte Nüchterns Rolle als Vordenkervon „Strukturen einer Kirche der Zu-kunft“. Er verwies auf Nüchterns Ansatzfür eine neue Positionierung einer „Kirchebei Gelegenheit“2, die sich auf punktuelleKontakte mit vielen ihrer Mitglieder ein-stellt und sie positiv gestaltet. HelmutSchwier (Universität Heidelberg) konkreti-sierte Nüchterns Arbeit zur Reform der Li-turgie. So verstand Nüchtern Liturgie alsTraditionspräsentation mit der Wiederent-deckung der Möglichkeiten des Kirchen-raums und der Kirchenmusik für eine ge-genwartsnahe Spiritualität. Und er entwi-ckelte liturgische Möglichkeiten zur Ge-staltung von Kasualien als Form von bio-grafiebezogenen Segenshandlungen. Mar-

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Michael Nüchtern, der im Juli 2010 im Alter von 60 Jahren verstarb, war von 1995 bis1998 Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). An-schließend wurde er theologisches Mitglied des Oberkirchenrats der Evangelischen Lan-deskirche in Baden. An der Universität Heidelberg lehrte er im Fach Praktische Theolo-gie. Am 19. Oktober 2011 veranstaltete die badische Landeskirche gemeinsam mit derTheologischen Fakultät der Universität Heidelberg ein „Akademisches Symposium zumGedenken an Michael Nüchtern“. Das Thema lautete: „Die Kirche der Freiheit evange-lisch gestalten – Michael Nüchterns Beiträge zur Praktischen Theologie“. Jan Badewien,Akademiedirektor der Evangelischen Akademie Baden, hat einen Tagungsbericht ge-schrieben. Im Anschluss daran dokumentieren wir seinen Tagungsbeitrag.

Jan Badewien, Karlsruhe

„Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten“Ein Bericht vom Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern(1949-2010)

DOKUMENTATION

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kus Mühling (ebenfalls Universität Heidel-berg) formulierte im Anschluss an Nüch-terns Arbeiten zu Kirche und Kultur The-sen zum Zusammenspiel von Theologieund Literatur. Klaus Nagorni (Evangelische AkademieBaden) hob Nüchterns Beitrag für dieWeiterentwicklung der Arbeit der Evange-lischen Akademie Baden hervor, in derenLeitung Nüchtern von 1978 bis 1995 tätigwar. Nüchtern entwickelte neue Konzep-tionen für diesen Arbeitsbereich auf derGrenze zwischen Kirche und Gesell-schaft, die in der Akademiearbeit wichtigsind. Er benannte vier idealtypische Kon-zeptionen, die bis heute im Wechselspieldie Arbeit evangelischer Akademien prä-gen: 1. Die Akademie entwickelt sich zumForum im Streit der Meinungen. 2. Siewird als kritisches Gegenüber zu denetablierten Institutionen der Gesellschaftzum Faktor. 3. Sie beteiligt sich an dernotwendigen Vermittlung ethischer Orien-tierung in den vielfältigen Veränderungs-prozessen, denen die moderne Gesell-schaft unterliegt. 4. Sie hat seelsorgerlicheFunktion und bezieht sich auf die Lebens-problematik von Menschen. Mein eigener Beitrag stellte Nüchtern alsapologetischen Theologen vor, der in ver-schiedenen Funktionen den gegenwärti-gen „Markt der Religionen“ beobachtetund analysiert hat – als LandeskirchlicherBeauftragter für Weltanschauungsfragen,als Leiter der EZW und als Oberkirchen-rat, der u. a. für die Weltanschauungsar-beit der Landeskirche Verantwortung trug.In seinen vielfältigen Ausführungen überdie „Kirche in Konkurrenz“3, über Tenden-zen und Strömungen im „Panorama derneuen Religiosität“4 ging es ihm stets umdie darin sich eröffnenden Chancen undHerausforderungen für die Kirche, wobeiauch die Spiegelung weltlicher Bezüge

auf biblische Themen und Gestalten in Li-teratur und Werbung für ihn von besonde-rer Bedeutung war.Georg Lämmlin (Universität Heidelberg),der das Symposium vorbereitet und gelei-tet hat, beschloss die Reihe der Referatemit Ausführungen zu „Kirche bei Gele-genheit – dem segnenden Gott auf derSpur“. Er wies darauf hin, dass sich inNüchterns Konzeption eine „kritische undkonstruktive Sicht auf die Situation derKirche im Kontext der dynamischen, plu-ralistischen und individualistischen mo-dernen Gesellschaft“ findet. „Kirche beiGelegenheit“ nimmt die „Dynamik undFlüchtigkeit lebensweltlicher Kommunika-tion in ihrer grundlegenden Auswirkungauf kirchliche Praxis“ ernst und wirbt füreine „kirchliche Praxis, die dem segnen-den Gott auf der Spur und den Lebensge-schichten der Menschen nahe bleibt“. Ein liturgisch-musikalisch gestalteterAbend mit Rezitation von Texten von Mi-chael Nüchtern beschloss die Veranstal-tung. Das Symposium war eine angemes-sene Würdigung des leider so früh verstor-benen Theologen, dessen weit gespannteInteressen und Aufgabenbereiche unddessen bleibende Impulse für Theologieund Kirche an diesem Tag deutlich wur-den.

Anmerkungen

1 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangeli-sche Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapierdes Rates der EKD, 2006.

2 Michael Nüchtern, Kirche bei Gelegenheit. Kasua-lien, Akademiearbeit, Erwachsenenbildung, Stutt-gart 1991.

3 Michael Nüchtern, Kirche in Konkurrenz. Heraus-forderungen und Chancen in der religiösen Land-schaft, Stuttgart 1997.

4 Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama derneuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechenzu Beginn des 21. Jahrhunderts; Gütersloh 2001(22005).

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„Seid stets bereit, jedem Rede und Ant-wort zu stehen, der nach der Hoffnungfragt, die euch erfüllt; aber antwortet be-scheiden und ehrfürchtig, denn ihr habtein reines Gewissen.“ Von Anbeginn anwar dieses Wort aus 1. Petr 3,15 eineGrundformel für apologetische Theolo-gie.2 Auch Michael Nüchtern hat sich da-rauf berufen. Apologetik ist also zu aller-erst antwortende Theologie, die Men-schen Hilfestellung gibt, die nach Orien-tierung fragen und ein Ziel für ihr Lebensuchen. In einem kleinen Aufsatz mit The-sen zur apologetischen Theologie definiertNüchtern „apologetische Theologie alsDarstellung des Christlichen im Gegen-über zu anderen Lebens- und Weltver-ständnissen“3. Als solch antwortender Theologe betriebMichael Nüchtern seine Apologetik. Erwar nicht kämpferisch, nicht polemischund vermied Abwertungen Andersglau-bender. Aber er war klar in seinem Urteilund in seiner Diagnose der Entwicklun-gen. Er hat die religiös-weltanschaulichenStrömungen der Gegenwart beobachtet,zuerst als Landeskirchlicher Beauftragterfür Weltanschauungsfragen der Evangeli-schen Landeskirche in Baden. Im Rahmeneiner Umstrukturierung kam dieser rechtdiffuse Arbeitsbereich der Beschäftigungmit religiösen Strömungen neben den Kir-chen zu seinen schon zuvor vielfältigenAufgaben an der Akademie hinzu – mit al-lem, was man gerne als den Markt der re-ligiösen und weltanschaulichen Möglich-keiten bezeichnet: mit sogenannten Sek-ten, fremdreligiösen Gemeinschaften,

mehr oder weniger dubiosen Heilern undGurus, mit Esoterik, Okkultismus und Ma-gie. Dabei geht es einerseits um Informa-tionen in die Kirche hinein, aber auch umdie Beratung von Einzelpersonen, Institu-tionen aus den Bereichen Politik, Recht,Wirtschaft. Und es geht um die großenGrundsatzfragen nach der Rolle der Reli-gion (der christlichen vor allem) in unsererGesellschaft – Fragen, die wiederum inAkademieveranstaltungen Raum findenkonnten.1995 wurde Michael Nüchtern zum Leiterder Evangelischen Zentralstelle für Welt-anschauungsfragen (EZW) berufen. DieThemen der apologetischen Theologie ha-ben ihn seither nie verlassen – als Ober-kirchenrat in Karlsruhe seit 1998 trug erdie Verantwortung für die apologetischeArbeit in der Landeskirche. Dabei verlorer nie die beiden Richtungen einer verant-wortungsvollen Apologetik aus den Au-gen, die miteinander korrespondieren, dieaber zu unterscheiden sind: die Blickrich-tung nach außen im Dialog und auch inder Abgrenzung im Verhältnis zu Grup-pierungen und Gemeinschaften nebenden Kirchen, und den Blick nach innenmit Fragen, welche Konsequenzen, wel-che Probleme und welche Chancen sichaus den neuen Entwicklungen für die ei-gene Kirche und die Gemeinschaft derÖkumene ergeben, wie dadurch die Kir-che herausgefordert und schließlich ge-stärkt und gefestigt werden könnte. Michael Nüchtern hat seine Überlegun-gen zu einer zeitgemäßen, angemessenenapologetischen Theologie in vielen Aufsät-

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Jan Badewien

Apologie als Aufgabe der Theologie1

Michael Nüchtern als Apologet

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zen im Materialdienst der EZW und inEZW-Texten, aber auch in mehreren Bü-chern niedergelegt. Ich erinnere vor alleman sein Buch „Kirche in Konkurrenz“(1997), das Aufsätze aus den 1990er Jah-ren enthält, die Nüchtern vor allem wäh-rend seiner Zeit als Leiter der EZW gehal-ten hat. Mit dem Untertitel „Herausforde-rungen und Chancen in der religiösenLandschaft“ hat er gezeigt, dass er dieAuseinandersetzung mit denen aufnimmt,die diese religiöse Landschaft bevölkern.Ich erinnere an das von ihm verantworteteKapitel im Sammelband „Panorama derneuen Religiosität“, in dem er sich mit der„Weihe des Profanen – Formen säkularerReligiosität“4 auseinandersetzt. Auch indiesem Teil des Grundlagenwerks geht esum die Auseinandersetzung mit einem ge-sellschaftlichen Trend: mit einer Haltung,die eine unbestimmte Spiritualität bejaht,aber dabei die säkulare, areligiöse Grund-haltung aufrechterhält. Auch nach der Übernahme der neuenAufgaben in Karlsruhe hat Michael Nüch-tern sich immer wieder im apologetischenDiskurs zu Wort gemeldet, vor allem mitgrundsätzlichen Aufsätzen und Vorträgen.Dabei ging es ihm in all seinen Textennicht so sehr um die Darstellung und Kri-tik einzelner Sekten, Psychogruppen oderanderer problematischer Randerscheinun-gen im religiösen Spektrum unserer Ge-sellschaft. Es ging ihm immer um Zentra-leres: um die Zukunft der Kirche in einersich wandelnden Welt. Er vermied es, indie Klage einzustimmen, die so oft zu hö-ren ist: von den Fehlern und Versäumnis-sen der Kirche, von all jenen Elementen,die sie vergessen und verdrängt habe,weshalb sie sich nun anzupassen habe.Nein, für ihn war Kirche auf dem Marktder religiösen Möglichkeiten oder – wie eres ausgedrückt hat – „Kirche in Konkur-renz“ positiv zu sehen, eben als eine Herausforderung und eine Chance zu ei-

nem zukunftsfähigen Wandel: Er war da-von überzeugt, dass die Kirche in ihrerBotschaft, ihrer reichen Tradition und inihren gegenwärtigen Strukturen so viel Po-tenzial in sich trägt, dass sie die Auseinan-dersetzung mit der gegenwärtigen weltan-schaulichen Szene mit ihren esoterischen,charismatischen oder fremdreligiösen Ein-flüssen nicht zu scheuen braucht – undebenso wenig den Drang zur Säkularisie-rung und Paganisierung, den er vor allemnach der Wiedervereinigung mit neuemSchwung am Werk sah.5So legte er selbstbewusst Wert darauf,dass „die Kirchen in den Transformations-prozessen der Gegenwart nicht nur pas-sive Opfer anonymer Entwicklungen, son-dern aktive Mitgestalterinnen“ sein soll-ten.6 Um die Kirche für diese Aufgabe zuqualifizieren, verstand sich Nüchtern alsBeobachter und Analyst dieses Marktge-schehens, auf dem die unterschiedlichstenAngebote jederzeit von allen Interessier-ten getestet und beliebig kombiniert wer-den können. Nüchtern diagnostizierte – mit anderen –die gegenwärtigen gesellschaftlichenTrends ganz wesentlich als Individualisie-rungsprozesse und ihre Folgen. Dabei wa-ren das für ihn Betrachtungen aus der„Vogelperspektive“, die er als Apologetgerne einnahm: nicht, um sich über dieNiederungen der Konkretionen zu erhe-ben, sondern um Bewegungen, Trends,Strömungen besser wahrzunehmen, ihreUrsprünge zu diagnostizieren und ihreRichtung zu bestimmen. Daraus leitete erab, wie die Kirche sich diesen Herausfor-derungen zu stellen habe, um den Men-schen beizustehen, die Orientierung su-chen, und zugleich die Kirche als verant-wortliche Institution ins Spiel zu bringen.So sah er in der zunehmenden Privatheitvon Religion eine seelsorgerliche Heraus-forderung für die Kirchen, die eineSchutzverpflichtung für einzelne Men-

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schen wahrzunehmen hätten, die demvielgestaltigen religiösen Marktangebotoft hilflos ausgeliefert seien. Erst in der Folge dieser Aufgaben hielt erdie kritisch-diskursive Reflexion der soge-nannten Patchwork-Religiosität für ange-bracht, in der die Zeitgenossen in ihrer je-weiligen Lebenssituation ihre eigene Reli-gion basteln, indem sie für sich jene welt-anschaulichen Elemente zusammenfügen,die ihnen gerade angemessen scheinen.Ein markantes Beispiel dafür ist die Ver-breitung des Glaubens an Reinkarnationund Karma, der sich weit in die evangeli-sche Kirche hinein erstreckt. Nüchtern mahnte die Kirchen immer wie-der, ihrer Verantwortung gerecht zu wer-den, um den Suchenden in Lebenswen-den und -krisen Orientierung anzubieten.Die Großkirchen seien dazu in besonde-rer Weise geeignet, weil sie eine Balancezwischen „Gemeinschaft und Nähe aufder einen Seite und Individualität undDistanz auf der anderen Seite“7 ermög-lichen. Die Vielfalt der Kirchen bedeutetefür Michael Nüchtern – und ich stimmeihm hier aus voller Überzeugung zu – ihreStärke, nicht ihre Schwäche, wie von rigo-rosen Flügeln immer gern vermutet wird.Die Vielfalt mit ihren verschiedenen Fa-cetten des Glaubens, in denen Nähe undFerne möglich sind, Progressivität und Tra-ditionalismus, Spiritualität und Diakonie,schenkt Freiheit, wo sie gewünscht wird,und ermöglicht Verbindlichkeit, wo sie ge-sucht wird. Nüchtern hat in seinem apolo-getischen Arbeiten immer wieder die „Le-bensdienlichkeit“ der Kirche hervorgeho-ben und damit ein Kriterium benannt, reli-giöse Hilfen von weltanschaulichen Fehl-entwicklungen zu unterscheiden. Ein besonderes Augenmerk hatte Nüch-tern auf jene gesellschaftliche Entwick-lung, die er als „Erlebnisorientierung“ be-zeichnet hat: die Suche nach dem Beson-deren, nach dem, was aus dem Alltäg-

lichen heraushebt. Nüchtern suchte – undfand – christliche Wurzeln dieses Dranges– so bei Schleiermacher, Wilhelm Herr-mann und Martin Kähler. Er folgerte da-raus, dass die Kirche sich nicht nur nega-tiv diesem Trend gegenüber verhaltensolle, sondern dass sie ihre eigenen erleb-nisorientierten Traditionen herausstellenmüsse, um darin Beziehungen zur Gegen-wartskultur aufzubauen. Einen großen Teil seiner apologetischenArbeit verband Michael Nüchtern mit sei-nen Interessen an der medizinischenEthik, einem Bereich, dem er in der Aka-demiearbeit große Aufmerksamkeit ge-widmet hat. „Medizin – Magie – Moral.Therapie und Weltanschauung“8 war ei-nes der Bücher, mit denen er sich diesemkomplexen Bereich zuwandte. Dort ana-lysierte er die weltanschaulichen Implika-tionen des fast undurchschaubaren Dick-ichts alternativer, esoterischer, schamanis-tischer oder indianischer Heilungsange-bote. Auch hier geht es um die Frage nachdem, was Menschen antreibt, welcheSehnsucht, welche Hoffnung sie motiviert,solche Wege neben denen einer moder-nen wissenschaftlichen Medizin zu su-chen. In seinem letzten Beitrag für den Material-dienst der EZW widmete sich Nüchternnoch einmal einem weiteren Themenbe-reich, den er Zeit seines Wirkens verfolgthat: dem Verhältnis von Kirche und Kultur.In apologetischem Interesse untersucht er,wie die Person Jesu in der Belletristik undin der Trivialliteratur der letzten Jahre dar-gestellt wird. Für ihn liegen hier „Belegefür die kulturelle Präsenz der Gestalt Jesuund die Faszination, die von ihr aus-geht“.9 Die Durchdringung der Gegen-wartskultur mit christlichen Motiven hatNüchtern auch in der Werbung gesehenund viele kuriose und krude Beispiele ge-sammelt. Auch das war für ihn ein Bereichapologetischer Theologie: die Säkularisie-

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rung und oftmals Banalisierung christli-cher Glaubensformen und -inhalte. Siegalten ihm aber als Möglichkeiten der An-knüpfung und als Beleg dafür, dass derchristliche Hintergrund der Kultur nochimmer nicht ganz vergessen ist, wennauch die Verfremdungen manches Maldas für Christen erträgliche Maß über-schritten haben. Die Tatsache, dass die Sinnsuche so vielerMenschen sich auf säkulare Angebote undauf andere religiöse Muster richtet als aufdie kirchlichen, hat Michael Nüchtern herausgefordert zu prüfen, ob die neue re-ligiöse Situation von der Kirche wahrge-nommen wird und ob sich kirchlicheHandlungsfelder, kirchliches Reden undkirchliche Leitbilder auf die religiösen Be-dürfnisse der Gegenwart beziehen. Es ist wieder der Blick auf das Eigene, dieMahnung, Chancen zu ergreifen, die anerster Stelle steht. Gegenüber esoterischenund neureligiösen Entwürfen, die von derMachbarkeit der Selbsterlösung des Men-schen überzeugt sind, die von seiner Ver-vollkommnung träumen und von der Her-beiführung eines neuen Zeitalters („NewAge“) der Harmonie, der Wahrheit, derKlarheit, betont Nüchtern immer wieder,dass der christliche Glaube von der End-lichkeit des Menschen ausgeht, von seinerBegrenztheit und davon, dass er letztlichnur „Vorletztes“ schaffen, nicht aber überletzte Dinge verfügen kann. In seinemAufsatz „Was ist evangelische Weltan-schauung?“10 verweist er darauf, dass ge-rade protestantische Theologie unterschie-den hat zwischen dem Reich Gottes unddem Reich der Welt, zwischen letzten undvorletzten Dingen – und daraus einegroße Freiheit zur Gestaltung der Welt ge-wonnen habe. Nüchtern schrieb: „DasBewusstsein, dass es für das Machen einesanderen mit mir und für mein eigenes Ma-chen Grenzen gibt, begründet die Frei-

heit, endlich zu sein oder auch einmal et-was endlich sein zu lassen.“11 Und weiter:„Es dürfen, wenn es Gott und sein vollen-detes Anschauen gibt, Dinge für Men-schen uneinsichtig und Lebensgeschich-ten fragmentarisch bleiben. Trauer überdie Verlustgeschichte des Lebens kann zu-gelassen und muss nicht unter demZwang zu positivem Denken verdrängtwerden.“12

Wir blicken unter dem Eindruck dieserseiner eigenen Worte auf das Werk undauf das Leben Michael Nüchterns zurück.Die Trauer über seinen Tod, darüber, dassseine Stimme die Herausforderungen undChancen der religiös-weltanschaulichenSituation in unserer Zeit nicht mehr ord-nen und sichten kann, ist groß. Im Bereichder apologetischen Theologie, der weltan-schaulichen Diagnose der Zeit verdankenwir ihm entscheidende Hinweise. Gernehätte er sie weiter ausgeführt, es war ihmnicht vergönnt.

Anmerkungen

1 Vortrag auf dem Symposium „Die Kirche der Frei-heit evangelisch gestalten – Michael Nüchterns Bei-träge zur Praktischen Theologie“ am 19.10.2011 inHeidelberg.

2 Vgl. Michael Nüchtern, Apologetik ist nötig, in:Matthias Petzoldt / Michael Nüchtern / ReinhardHempelmann, Beiträge zu einer christlichen Apolo-getik, EZW Texte 148, Berlin 1999, 16.

3 Michael Nüchtern, Kirche in Konkurrenz. Heraus-forderungen und Chancen in der religiösen Land-schaft, Stuttgart 1997, 93-98, hier 93.

4 Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama derneuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechenzu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005,darin 23-95.

5 Michael Nüchtern, Kirche in Konkurrenz, a.a.O., 9.6 Ebd., 10.7 Ebd., 61.8 Michael Nüchtern, Medizin – Magie – Moral. The-

rapie und Weltanschauung, Stuttgart 1995.9 Jesus außerhalb der Kirche. Theologie als Belletris-

tik und Schmöker, in: MD 3/2010, 95-99, hier 95.10 Michael Nüchtern, Kirche in Konkurrenz, a.a.O.,

99-111.11 Ebd., 109.12 Ebd., 110.

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Während dreier Gastprofessuren in Indienhatte ich die Gelegenheit, mit bekanntenbuddhistischen Theologen in Indien undSri Lanka zu sprechen.1 Ich möchte vondiesen Dialogen berichten. Es waren Dia-loge mit Mönchen des Theravada-Buddhismus, des ältesten und Ur-Buddhismus (Hinayana).

Kommt alles Leid aus dem selbstsüchtigen Begehren?

Konstante in den Variablen aller meinerDialoge mit buddhistischen Theologenwar die Grundeinsicht Buddhas: Ursachealles Übels und Leidens (Dukkha) ist dasselbstsüchtige Wünschen und Begehrendes Menschen, sein „Durst“ (Tanha). Nurwenn diese Ursache beseitigt wird, wer-den auch das Leiden und das Übel besei-tigt.2 Nur wenn die Gier, alles an sich zureißen, aus der alles Unglück kommt,überwunden wird, wird der Mensch wie-der glücklich. Das selbstsüchtige Begeh-ren wurzelt nach Meinung meiner Ge-sprächspartner im Selbst (Atman) desMenschen, das ständig „I“, „my“, „Ego“sagt, das der Buddhismus – ganz im Un-terschied zum Hinduismus – verneint.Zielwert des Buddhismus ist daher das„Nicht-Selbst“ oder Anatta, die Selbstlo-sigkeit, die Liebe, die sich selbst aufgibt.Dieses Menschenbild steht im schroffenWiderspruch zu dem westlich-christlichen

Menschenbild, das auf Selbstfindung undSelbstverwirklichung abzielt. Doch in derBibel suchen wir vergeblich so etwas wieeine Selbstfindung und Selbstverwirk-lichung. Wir finden in ihr eher dasbuddhistische „Nicht-Selbst“, wenn Pau-lus von der Liebe sagt: „Sie sucht nichtsich selbst“ (1. Kor 13,5) oder wenn nachihm der Christ sein Selbst preisgibt, damitChristus sein neues Selbst werden kann:„Nicht mehr ich lebe, sondern Christuslebt in mir“ (Gal 2,20). Hat nicht auch Je-sus wie Buddha seine Jünger aufgefordert,sich selbst zu verleugnen? „Denn wer seinSelbst retten will, wird es verlieren, weraber sein Selbst ... verliert, wird es gewin-nen“ (Matth 16,24f). Sicher soll in christ-licher Sicht der Mensch sein Selbst gewin-nen, indem er es aufgibt. Welches neueSelbst der Mensch gewinnt, wenn er espreisgibt, deutet Paulus an. Die MystikerinTherese von Lisieux treibt diesen Gedan-ken weiter, wenn sie von ihrer erstenKommunion schreibt: „Therese war ver-schwunden, wie sich ein Wassertropfenim weiten Ozean verliert – Jesus alleinwar zurückgeblieben.“3 Wir sind nicht sowichtig. Wir haben aus der Selbstverwirk-lichung ein goldenes Kalb gemacht. DerBuddhismus kann uns hier einen Spiegelvorhalten.Das gilt auch von der Begierde. Auch hierkann der Buddhismus uns Christen aneine vergessene Wahrheit unserer Reli-

Horst Georg Pöhlmann, Wallenhorst

Buddhismus und ChristentumChancen und Grenzen der Verständigung

BERICHTE

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gion erinnern. Auch in der Bibel ist dieBegierde – ähnlich wie im Buddhismus –eine Grundsünde (Röm 7,7; Gal 5,24).Zweimal finden wir in unseren Zehn Ge-boten das Verbot „Du sollst nicht begeh-ren“ (2. Mose 20,17). Was im Jakobusbriefsteht, könnte auch Buddha gesagt haben:„Jeder wird von seiner eigenen Begierde,die ihn lockt und fängt, in Versuchung ge-führt. Wenn die Begierde dann schwangergeworden ist, bringt sie die Sünde zurWelt; ist die Sünde reif geworden, bringtsie den Tod hervor“ (Jak 1,14f). „Wo Be-gierde und Ehrgeiz herrschen, da ist Un-ordnung und böse Taten jeder Art“ (Jak3,16). Unsere westliche Egogesellschaftgeht an ihrer Habgier, immer mehr habenund immer mehr sein zu wollen, zu-grunde – wie wir alle wissen. Nur die Be-scheidung und Selbstlosigkeit können unsnoch retten. Die lächelnden buddhisti-schen Mönche, die nichts haben undnichts sein wollen, können uns hier Vor-bild sein.

Die Welt, ein Wirbelstrom der Impermanenz oder Schöpfung?

In vielen Dialogen mit buddhistischenTheologen wurde immer wieder betont:Alles ist „impermanent“, alles ist im Fluss.Man kann sich an nichts festklammern,sowenig wie man sich an einer Wasser-welle festhalten kann. Die Gier, die nachetwas greift, greift ins Leere. Die Begierde,die nach Buddha Wurzel alles Leides ist,greift nach etwas, das es gar nicht gibt,und spielt so absurdes Theater. Alles istvergänglich; wer sich ans Vergänglichehält, der vergeht.4 Alles ist vergänglich,auch der Mensch, der nach dem Bhikkhu5

Ratarapala nur eine „Pusteblume des Au-genblickes“ ist.6 Der Unterschied zumChristentum wurde immer wieder daringesehen, „dass für den Buddhisten dieWelt keine Schöpfung eines Gottes ist,

sondern ein Wirbelstrom ohne Woher undWohin“ – so von dem Bhikkhu WellamateGnanabhiwansa Thero.7Sicher, hier wird ein echter Unterschiedmarkiert: Gott ist für uns Christen Schöp-fer der Welt und Evolutor der Evolution.Aber ist nicht andererseits auch nach derBibel unser Leben vergänglich und nichtigund alles, was wir festhalten, wie Sand,der uns durch die Finger rinnt? DerBuddhismus kann uns wieder daran erin-nern. So lesen wir in Psalm 103: „Wirsind Staub. Des Menschen Tage sind wieGras, er blüht wie die Blume des Feldes.Und wenn der Wind darüber fährt, ist siedahin, der Ort, wo sie stand, weiß von ihrnichts mehr“ (Ps 103,14-16). Beim Predi-ger Salomo heißt es gar „Windhauch,Windhauch ..., alles ist Windhauch“ (Pred1,2). Nicht minder skeptisch äußert sich –trotz des Schöpfungsglaubens – das NeueTestament, wie etwa der Jakobusbrief: „Ihrwisst nicht, was morgen mit eurem Lebensein wird. Ein Dampf seid ihr, den maneine Weile sieht, dann verschwindet er“(Jak 4,14).Wohl das eingefleischteste westliche Vor-urteil gegen den Buddhismus ist, dass ereine „pessimistische Religion“8 sei. Ed-ward Conze, Helmuth v. Glasenapp, PerrySchmidt-Leukel und Heinrich Dumoulinhaben diesem Vorurteil widersprochen9,Papst Johannes Paul II hat es erneut kol-portiert.10 Ich war in meinen Gesprächenmit buddhistischen Theologen immer wie-der überrascht, wie energisch sie dieseswestliche Vorurteil zurückwiesen, derBuddhismus sei eine lebensfeindliche Re-ligion des Jammertals. So meinte derBhikkhu Buddharakkhita: „Ziel unsererReligion ist nicht das Leid, sondern dasGlück, das darin besteht, dass ich das Leidmit seiner Wurzel ... beseitige, der Be-gierde, die alles an sich reißen will.“11 Einanderer buddhistischer Theologe, BhikkhuNandana Vanse, äußerte sich ähnlich:

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„Der Buddhismus will nichts anderes alsdie Menschen vom Leid befreien, indemsie erkennen: alles, woran wir uns an-klammern, ist impermanent. Daher laß al-les los, nur dann wirst du glücklich. DerBuddhismus ist eine Glückslehre.“12 Er isteine Glücksreligion, ähnlich wie das Chris-tentum (Matth 25,21-23; 11,5; Offb 21,4).

Religion ohne Gott?

Bis heute wird häufig die Meinung ver-fochten, der Buddhismus sei ein atheisti-sches System (so z. B. von Papst JohannesPaul II.13). Ich habe die Frage, ob derBuddhismus ein Atheismus sei, auch mei-nen buddhistischen Dialogpartnern ge-stellt, die sie in der Regel verneinten. ZurBegründung, dass der Buddhismus keinAtheismus sei, wurde nicht nur derGlaube an „Götter“ oder Devas genannt,die den christlichen Engeln vergleichbarsind, sondern vor allem der Glaube aneine transpersonale Transzendenz, diesich Gebeten entzieht: das Nirvana.14

Dieses sei keine persönliche Gottheit wieim Christentum, sondern „das Göttliche“– so der buddhistische Theologe BhikkhuVivekananda.15 Er meinte: „Man kann dasNirvana nicht beschreiben, weil es dasUnbeschreibliche ist, es ist nicht in Be-griffe zu fassen, sondern das Unbegreif-liche, das dem Zugriff der Begriffe entzo-gen ist, es ist das Ende von allem Begrei-fen und Greifen, ja die Befreiung von al-lem Begreifen und Greifen als der Wurzelallen Übels.“16

Mein Gesprächspartner war überrascht,dass ich ihm hier als Christ zustimmenkonnte. Auch aus christlicher Sicht ist Gottein absolutes Geheimnis, das sich allenBegriffen von Gott entzieht, kein geheim-nisloses Ding, viereckig, nummeriert, sor-tiert, bewiesen, vorzeigbar, wozu ihn dertheologische Rationalismus aller Zeitenverfälschte. Es gibt im Christentum eine

„theologia negativa“, derzufolge wir„keine Aussage“ über Gott machen kön-nen – so der Kirchenvater Justin.17 „Wenndu ihn begriffen hast, ist es nicht Gott“,sagt Augustinus.18 Die vollmundige christ-liche Theologie hat das vergessen, und siekönnte es wieder neu vom Buddhismuslernen.Wenn wir dieses Geheimnis zwar nichtbeschreiben können, so dürfen wir esaber doch umschreiben. Beide Religionentun das, und sie tun es überraschend über-einstimmend – etwa wenn der Meinungs-führer des Theravada-Buddhismus,Bhikkhu Buddharakkhita, das „Göttliche“oder „Nirvana“ als „summum bonum“oder „höchstes Gut“, als die „letzte, letzt-gültige höchste Wirklichkeit“ und das„letzte, letztgültige Unbedingte“ um-schreibt.19 Konnten genauso nicht auchchristliche Theologen Gott umschreiben,etwa Augustinus, für den Gott das „sum-mum bonum“, das „höchste Gut“20, dasunvergleichlich Höchste, das all unsereGedanken und Träume überbietet, dasvolle Glück ist? Ebenso konnte, wie derBhikkhu, Paul Tillich Gott als das bezeich-nen, „was den Menschen letztgültig“,„was ihn unbedingt angeht“21, was ihmden Atem nimmt, was ihn vom Stuhl reißt.Man könnte den Eindruck gewinnen,Buddhisten und Christen glaubten an den-selben Gott. Doch in der Frage, ob Gottein persönlicher Gott ist, besteht ein Un-terschied, auf dem man buddhistischer-seits immer wieder insistierte.22 Der Gottder Bibel ist ein persönlicher Gott, sosehrer ein Geheimnis ist, das alle personalenwie nichtpersonalen Begriffe hinter sichlässt – unbegreiflich und doch greifbar,greifbar als Jahwe und als der Mensch ge-wordene Gott Jesus Christus. Merkwürdig,wie stark der Widerspruch der Studentenzum Buddhismus in Sachen persönlicherGott in einem meiner Buddhismus-Semi-nare war – trotz allem, was man sonst von

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dieser Religion lernen kann. Sie konntensich ein Leben ohne persönlichen Gott,zu dem man betet, nicht vorstellen. Ist dasGebet nicht ein Essential von Religion?Braucht der Mensch nicht ein Du, das ihnhält und trägt, um glücklich zu sein?

Gibt es eine Selbsterlösung?

Im Unterschied zum Mahayana-Buddhis-mus erlöst sich nach dem Hinayana- oderTheravada-Buddhismus der Menschselbst. Wie Gustav Mensching sehen vieleden entscheidenden Unterschied zwi-schen Christentum und dem Theravada-Buddhismus in der Selbsterlösung.23 Aus-nahmslos alle meine buddhistischen Ge-sprächspartner verstanden ihren Heilswegals Selbsterlösung.24 So konnte z. B. derBhikkhu Ananda sagen, Erlösung sei „un-sere Eigenleistung, kein Geschenk von au-ßen“. „So ein Geschenk zu erwarten“,wäre ein selbstsüchtiges „grasping anddesiring, wo ich mich an etwas festklam-mere und etwas zu haben wünsche undbegehren will“ – nach Buddha „dieQuelle allen Leides. Religion ist ein Tun,kein Geschenk ... Denn ich bin selbst ver-antwortlich für mich und für meinGlück“.25 Nach Aussage des Bhikkhu Ma-hathera Piyadassi ist der Buddhismus„Selbsterlösung“, nicht „Fremderlösung,die den Menschen fremdbestimmt undseine Selbstbestimmung blockiert“ wie imChristentum.26 Der Bhikkhu Buddha-rakkhita begründete die „Selbsterlösungdes Menschen“ mit dem Satz Buddhas:„Man ist seine eigene Zuflucht, wer ande-res könnte die Zuflucht sein?“27

Ich hielt dem entgegen, dass das Christen-tum an eine Fremderlösung glaube, da derMensch sich doch erfahrungsgemäß nichtaus eigener Kraft aus dem Gefängnis desBösen befreien kann. Dieses Gefängniskönne – wie jedes Gefängnis – nur vonaußen geöffnet werden. Ich wies darauf

hin, dass gerade die jüngste Geschichtegezeigt habe, dass der Mensch sich nichtselbst erlösen kann, was der Zusammen-bruch des marxistischen Machbarkeits-glaubens und des westlichen Fortschritts-glaubens erwiesen hätten. Der heutigeMensch habe ganz neu erkannt, dass eskein „Do-it-yourself-Paradies“ gibt unddass nur ein aus der Geschichte nicht ab-leitbarer Eingriff von außen die ersehnteErlösung bringt.28 Was der Mensch leistenkönne, sei keine bessere Welt, nur eineweniger schlechte – und oft nicht einmaldas. Das Gebot der Stunde heute sei dieVerkleinerung des Menschen auf seinenatürliche Größe. Die Maxime Buddhas„Man ist seine eigene Zuflucht“ würdemich in die Verzweiflung treiben. Christussei unsere einzige Zuflucht, der Schlüssel,mit dem das Gefängnis aufgesperrt wer-den könne. Als ich das dem BhikkhuAnanda in einem anderen Gesprächsagte, lächelte er und meinte: „Warumnicht? Christus ist für dich die einzigeWahrheit, aber nicht für alle. Jeder hatseine eigene einzige Wahrheit.“29 DieseToleranz, auf die ich auch bei anderenbuddhistischen Mönchen immer wiederstieß, hat mich tief beeindruckt. Hier kannman lernen.

Die Meditation als Heilsweg?

Das Nirvana ist eine fensterlose Transzen-denz und ein absolutes Geheimnis, überdas wir nicht sprechen können und zudem wir nicht sprechen können. Wir kön-nen vor ihm nur schweigen. Daher ist dieMeditation im Buddhismus der Heilsweg,nicht das Gebet und nicht Sakramente wieim Christentum. Scheidet dieses Essentialdes Buddhismus die Religionen oder un-terscheidet es sie nur, sodass sie vonein-ander lernen können?Immer wieder wurde mir in meinen Ge-sprächen mit den Mönchen klargemacht:

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In der Meditation des Theravada-Buddhis-mus des Hinayana ist nicht, wie in derZen-Meditation des Mahayana, das Leer-werden das Entscheidende, sondern dieFokussierung eines kleinen Punktes, einerkleinen Sache, eines kleinen Inhalts odereines kleinen Gegenstandes wie in derhinduistischen Yogameditation, wobeiman immer die „Vier Edlen Wahrheiten“Buddhas über die Ursache und die Besei-tigung des Leides im Blick haben soll. Fürden ganzen meditativen Lebensstil sei dersiebte des „Achtfachen Pfades“ Buddhaswichtig: die „Wachheit“ oder „Achtsam-keit“, mit der man kleine und kleinsteDinge des Lebens wahrnimmt.30 Urmusteraller Meditationen sei das bewusste Ein-und Ausatmen, Wunschziel der Medita-tion die Erleuchtung oder Ekstase (Sa-madhi), in der das Nirvana aufblitzt undmich ein Glücksgefühl überfällt, das zumGleichmut und zur Wunschlosigkeitführt.31

Besonders hilfreich erschienen mir vonden vielen Meditationsarten des Hinayanadie Atemmeditation des Anapanasati, beider ich einfach nur auf das Ein- und Aus-atmen achte und darüber ruhig werde32,die Vipassana-Meditation, die darauf ab-zielt zu lernen, im Leben nicht zu reagie-ren, sondern zu agieren33, sowie dieMetta-Meditation oder „Meditation derLiebe“, in der in immer weiteren Kreisenan Menschen gedacht wird, die wir liebensollen, von den „liebsten Menschen“ biszu den „neutralen“ und „verfeindetenMenschen“, von den Menschen in der ei-genen Straße bis zu denen im eigenenOrt, Land, anderen Ländern bis hin zu de-nen in anderen Erdteilen.34 Ich habe selbstoft diese Metta-Meditation praktiziert undpraktiziere sie bis heute, weil in ihr mitder Liebe, die ja auch nach dem NeuenTestament keine Grenzen kennt (Matth5,44), wirklich ernst gemacht wird. Verlie-ren wir unsere christliche Identität, wie

manche befürchten, wenn wir die ge-nannten Meditationsformen vom Bud-dhismus übernehmen, zumal es sich beiihnen auch um unsere eigene Sache han-delt, die selbstlose Liebe? Niemand, derdas tut, will das Gebet als Essential christ-lichen Glaubens ersetzen. Sicher, Jesushat nie gesagt: „Meditiert“. Trotzdemsuchte er immer wieder die Einsamkeitund Stille, aus der er wirkte (Mark 1,12;Joh 6,15). Denn Gott offenbart sich nur inder Stille, abseits vom Lärm dieser Welt,wie wir auch von Elia am Horeb wissen(1. Kön 19,11f). Auch in unserem Lebengeschehen die großen Dinge in der Stille.Hier muss auch das Sabbatgebot in unse-ren Zehn Geboten genannt werden, dasJesus nie aufgehoben hat, wenn er es auchvon seiner Gesetzlichkeit befreit hat. DerBuddhismus erinnert uns an dieses ver-gessene Gebot, in dem sich ja auch einmeditativer Lebensstil ausdrückt. Es istkein Zufall, dass dieses Ruhegebot denTätigkeitsgeboten vier bis zehn voraus-geht. Unsere Aktion muss aus der Medita-tion kommen, sonst ist sie nichts wert.Unser Tun muss aus der Ruhe kommen,sonst ist es hektisch, nervös, verkrampftund zerfasert. Hier gilt es, vom Buddhis-mus zu lernen.Die buddhistische Meditation erinnert unsnicht nur an vergessene biblische Wahr-heiten, sondern auch an Einsichten unse-rer christlichen Mystik, die wir im Protes-tantismus zu Unrecht von unserer einseiti-gen Worttheologie her disqualifiziert ha-ben. Doch es stellt sich die Frage: Könnenwir überhaupt noch in die Stille gehen imLärm unserer Zeit, können wir uns über-haupt noch sammeln in der totalen Zer-streuung unserer Welt mit ihrer Fernseh-und Reisesucht, ihren dröhnenden Lärm-kulissen, ihrem hektischen Nachrichten-Kurzfutter, ihren Werbespots und ihremGesetz des „immer schneller, immer grel-ler, immer schriller, immer fetziger“?

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Das gemeinsame Grundgebot der Liebe?

In beiden Religionen scheint die radikale,alle Grenzen durchbrechende Liebe dasHauptgebot zu sein. Aber versteht mannicht unter Liebe oder Metta hier und dortetwas Verschiedenes? Nach Helmuth v.Glasenapp ist Metta im Buddhismus imUnterschied zur christlichen Liebe nur ein„leidenschaftsloses Wohlwollen“35, nachGustav Mensching nur ein „impersonalesWohlwollen“ und „Mitleid“36. Dieser Un-terschied bestätigte sich mir durch meineGespräche nicht. Meine buddhistischenGesprächspartner sahen nicht nur in derLiebe, die in beiden Religionen einHauptgebot ist, eine wichtige Gemein-samkeit zwischen ihnen37, sie definiertenLiebe auch ähnlich wie wir Christen.Liebe ist für sie wie für uns Christen eineLiebe, die grenzenlos alle liebt und nichteinmal am Feind eine Grenze findet.38 Sieist auch für sie wie für uns eine Liebe, dienichts wünscht und begehrt, sondern sichselbstlos hingibt39, ja sich so sehr preis-gibt, dass sie ihre Identität aufgibt.40

Christliche Liebe ist nicht mehr alsbuddhistische Metta. Ich habe seltenchristliche Liebe in solcher Radikalität er-lebt wie bei den buddhistischen Mön-chen, denen ich in Indien und Sri Lankabegegnete. Diese Liebe wird durch dietägliche Metta-Meditation eingeübt. Wowird im Christentum Liebe eingeübt?Auch hier wie sonst ist der Buddhismusder vorgehaltene Spiegel des Christen-tums.Ich schließe mit den Worten über dieLiebe aus der Abschiedsrede des BhikkhuBuddharakkhita, die ich am 14. Juli 1996in seinem Kloster hörte. Was will die Bibelanderes, als Buddharakkhita hier fordert?Er sagte: „Liebe ist nur echt, wenn sieLiebe zu allen ist, auch zu den von uns ...

gehassten Menschen. Liebe heißt teilen,nicht raffen. Liebe heißt naiv sein, nichtraffiniert. Liebe ist positive thinking. Liebeheißt nicht schimpfen auf das, was nichtgut ist, sondern sich an dem freuen, wasgut ist. Liebe heißt in allem noch so Un-guten etwas Gutes entdecken. Liebe heißtüber nichts urteilen, nichts verurteilenund sich an allem freuen. Liebe heißt nieschlecht über andere reden. Die Liebehält sich fern von geschwätzigen Men-schen und allem klebrigen Klatsch undTuschelnischen. Liebe heißt nie zornigund unbeherrscht sein. Liebe heißt nichtetwas vom anderen erwarten, sondern im-mer für ihn da sein. Liebe heißt keine Vor-würfe machen und nichts übel nehmen.Liebe heißt keine Vorurteile über anderehaben und niemanden mit Umhänge-schildern versehen. Der kürzeste Weg derLiebe ist ein Lächeln. Liebe ist frei von je-der Antipathie und Sympathie. Liebe lei-det mit allen leidenden Menschen undTieren. Liebe lebt bewusst und enthältsich von allem Berauschenden ...“41

Fazit

Beide Religionen gehen darin einig, dassdie Liebe Zielwert und Grundwert jederReligion und der Lackmustest der wahrenReligion ist. Der Bhikkhu Ananda sagte zuRecht: „Es gibt nur eine wahre Religion,die der Liebe. Die Religionen sind sowahr und so falsch, so viel und so wenigsie lieben.“42 Wir waren uns darin einig,dass nach beiden Religionen die Liebe al-lein zählt, die ja auch nach dem NeuenTestament über dem Glauben steht (1. Kor13,2 und 13) und über allen Glaubensbe-kenntnissen. Auch nach unserer christ-lichen Religion macht nur die Liebe denGlauben glaubwürdig, wie verschiedenauch immer die Wege dieses Glaubenssein mögen.

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33 Vgl. ebd., 55ff.34 Vgl. ebd., 95ff.35 Helmuth v. Glasenapp, Die Weisheit des Buddha,

a.a.O., 98.36 Gustav Mensching, Buddha und Christus – ein Ver-

gleich, a.a.O., 84f.37 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem

Buddhismus, a.a.O., 61f, 90ff, 124.38 Vgl. ebd., 49, 89, 96.39 Vgl. ebd., 33, 48f, 89, 90f, 94f, 109, 125f.40 Vgl. ebd., 92f.41 Ebd., 49f.42 Ebd., 129.

Anmerkungen

1 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit demBuddhismus, Frankfurt a. M. 22005.

2 Vgl. die erste Predigt Buddhas, in: Reden desBuddha, Stuttgart 1996 (Nachdruck), 32ff; EdwardConze, Der Buddhismus, Stuttgart 51974, 39f; Wal-pola Sri Rahula, What the Buddha Taught, NewYork 1978, 16ff, 29ff, 35ff.

3 Therese von Lisieux, Geschichte einer Seele, Kir-nach-Villingen 1938, 55.

4 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit demBuddhismus, a.a.O., 21, 57, 70, 103, 123.

5 Bhikkhu: buddhistischer Mönch.6 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem

Buddhismus, a.a.O., 57.7 Ebd., 123.8 Edward Conze, Der Buddhismus, Stuttgart 51974, 18.9 Vgl. ebd., 18f; Helmuth v. Glasenapp, Die Weisheit

des Buddha, Baden-Baden 1946, 66f; PerrySchmidt-Leukel, Den Löwen brüllen hören, Pader-born u. a. 1992, 52ff; Heinrich Dumoulin, Begeg-nung mit dem Buddhismus, Freiburg i. Br. 1982,35ff.

10 Vgl. John Paul II, Crossing the Threshold of Hope,New York 1994, 84ff.

11 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit demBuddhismus, a.a.O., 21.

12 Ebd., 103.13 In: Buddha?, Dialogue, Vol. XXII 1995, 2.14 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem

Buddhismus, a.a.O., 10, 16ff, 105f, 119, 124f.15 Vgl. ebd., 10f.16 Ebd., 10.17 Apol. I, 9, 3.18 Serm. Cl. 0284, Serm. 117, PL 38, Vol. 663.19 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem

Buddhismus, a.a.O., 17.20 Quaest. 83, 21.21 Paul Tillich, Systematic Theology, Vol. I, Chicago

1951, 211.22 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem

Buddhismus, a.a.O., 10, 31, 38, 41, 44, 46f, 58,111, 124ff.

23 Vgl. Gustav Mensching, Buddha und Christus – einVergleich, Stuttgart 1978, 169.

24 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit demBuddhismus, a.a.O., 40, 69f, 107, 112, 125, 130f.

25 Ebd., 71.26 Ebd., 112.27 Ebd., 40.28 Ebd.29 Ebd., 131.30 Ebd., 24ff, 55f, 98f; vgl. Richard F. Gombrich, Der

Theravada-Buddhismus, Stuttgart u. a. 1997, 72f;Heinrich Dumoulin, Spiritualität des Buddhismus,Mainz 1995, 66f; Michael v. Brück, Buddhismus,Gütersloh 1998, 117f.

31 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit demBuddhismus, a.a.O., 27ff, 77f, 104.

32 Vgl. ebd., 24ff.

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ATHEISMUS

Christopher Hitchens ist gestorben. DerJournalist und Autor zahlreicher BücherChristopher Hitchens ist gestorben. Am15. Dezember 2011 erlag er 62-jährig ei-nem Krebsleiden. Zahlreiche Nachrufe lo-ben den gebürtigen Briten, der mit 58 Jah-ren amerikanischer Staatsbürger wurde,für seine Wortgewandtheit, seinen Humor,seine polemische Schärfe, seinen journa-listischen Mut und Spürsinn. In Deutschland wurde er vor allem 2007mit seinem Bestseller „Der Herr ist keinHirte – Wie Religion die Welt vergiftet“bekannt. Darin profilierte er sich als einWortführer des sogenannten „NeuenAtheismus“. Sein Charme und seine Rhe-torik lassen ihn ruhig und überlegt er-scheinen, wo seine Brüder im Geist mitaggressiver Verächtlichkeit auftreten (Ri-chard Dawkins) und Respektlosigkeit zumProgramm erheben (Michael Schmidt-Sa-lomon). In der Sache vertritt er die üblichePosition des „Neuen Atheismus“, dass alleReligion im Grunde dumm und schädlichsei. Auch wenn er dabei vergleichsweiserespektvoll auftritt, kann all seine geschlif-fene Rhetorik, sein Witz und sein Sinn fürPointen nicht darüber hinwegtäuschen,dass er sich zwar in der traurigen und bru-

INFORMATIONEN

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talen Welt gesellschaftlicher Krisengebieteund in der schönen Welt der Literatur aus-kennt, seine historischen und religiösenKenntnisse aber nur mangelhaft sind. Wieso oft ist es auch bei ihm ein Zerrbild desReligiösen, gefertigt vor allem aus Versatz-stücken realer Fälle religiösen Miss-brauchs, religiöser Einfalt, religiöser Miss-verständnisse und religiösen Fundamenta-lismus sowie aus einseitigen und falschenhistorischen Darstellungen, das zur Dar-stellung und Abwehr alles Religiösen her-halten muss. Es fehlen ihm Kenntnisseund der Wille zur Differenzierung, umdem vielfältigen Phänomen Religion ge-recht zu werden.Gegen die Religion bringt er die Vernunft,vor allem in philosophischer Tradition, inStellung, leider auch dies in einseitigerGegenüberstellung, sowie die Erkennt-nisse der Naturwissenschaften. Dabei umihre Grenzen wissend, sieht er sich, an-ders als Dawkins, nicht in der Versu-chung, beides in religiösen Rang zu he-ben. Im Glauben, eine Welt ohne Religionsei eine bessere Welt, versäumt es Hit-chens, das zum Teil brutale Vorgehen ge-gen Andersdenkende und Religion inStaaten zu berücksichtigen, die den Athe-ismus zur Staatsdoktrin erhoben hattenund haben. An dieser Stelle setzt die um-fassende Replik „The Rage Against God“(2010) seines Bruders Peter Hitchens an,ebenfalls ein Journalist, der den christli-chen Glauben gegen den „Neuen Atheis-mus“ verteidigt.Letztlich deutet die Polemik ChristopherHitchens’ und anderer Vertreter des„Neuen Atheismus“ darauf hin, dass auchihnen der religiöse und weltanschaulichePluralismus Probleme bereitet. Offenbarstellt sich ihnen dieser Pluralismus vor al-lem als Quelle der Gewalt dar, auch wennsie dies nicht so sagen. Aus ihrer Sicht of-fenbaren die Konfliktherde dieser Welt,dass Gewalt zum Wesen der Religionen

gehört. In ihren Augen wäre die Weltfriedlicher, wenn sich überall die abend-ländische Aufklärung mit ihrem Vernunft-denken und ihrer naturwissenschaftlichenErkenntnisgewinnung durchsetzen wür-de. Ohne dass dies gesagt wird, läuft die-ser Wunsch in der Tat auf die Auflösungdes religiösen und weltanschaulichen Plu-ralismus hinaus. Obwohl Atheisten, diediese Ansicht vertreten, einen tolerantenund liberalen Individualismus für sich be-anspruchen, offenbart ihre Argumentationdamit doch eine mal heimliche, mal of-fene Tendenz zum Totalitären.Es lohnt sich dennoch, Christopher Hit-chens aufmerksam zuzuhören. Aus ihmspricht der Zweifel unserer Zeit. Sich mitdiesem Zweifel auseinanderzusetzen,heißt, sich mit der eigenen Zeit und letzt-lich mit sich selbst auseinanderzusetzen.Zudem weist Hitchens zu Recht auf reli-giöse Missstände hin. Er hat bei seiner Po-lemik gegen das Christentum vor allemdie Situation in Nordamerika vor Augen,aber nicht nur diese. Wie wird christlicheBildung an Schulen vermittelt? Wie stehendie Kirchen zum Kreationismus? Wie be-gegnen Christen Andersglaubenden, wiebegegnen sie Atheisten? All das sind ernstzu nehmende Fragen. Richtig ist es, wennHitchens religiösen Vertretern, die anderesbehaupten, entgegenhält, dass Moralkeine religiöse Begründung braucht. Mitihm kann man bedauern, dass in unsererZeit intellektuell kraftvolle religiöse Stim-men in der Gesellschaft kaum zu hörensind. Claudia Knepper

PSYCHOLOGIE / PSYCHOTHERAPIE

Die Transpersonale Psychologie will dasmenschliche Bewusstsein weiterentwi-ckeln. (Letzter Bericht: 2/2010, 67f, vgl.auch 4/2009, 123ff) Das Thema Bewusst-sein ist zu einem neuen Schwerpunkt-

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thema der Transpersonalen Psychologieerklärt worden. Besonderen Ausdruck fin-det diese Veränderung in der Umbenen-nung der Zeitschrift „Transpersonale Psy-chologie und Psychotherapie“, die alsmaßgebliches Publikationsorgan derTranspersonalen Psychologie in Deutsch-land seit 1995 halbjährlich erscheint.Ende letzten Jahres erschien die Nummer2/2011 unter dem neuen Titel „Bewusst-seinswissenschaften“. Im Editorial begrün-den die Herausgeber die Umbenennungdamit, dass die Transpersonale Bewegungseit jeher versuche, Haltungen, Methodenund Strategien zur Beeinflussung und Ver-änderung des menschlichen Bewussteinszu entwickeln. Auch der Vordenker dieserBewegung, Ken Wilber, habe sich haupt-sächlich mit der Entwicklung des Be-wusstseins beschäftigt und ein integralesModell dazu entwickelt.Mit einem Symposium trat ebenfalls Ende2011 die „Stiftung Bewusstseinswissen-schaften“ an die Öffentlichkeit, die mit564 000 Euro den Lehrstuhl „Ange-wandte Bewusstseinswissenschaften“ ander Abteilung für Psychosomatische Medi-zin der Universität Regensburg eingerich-tet hat. Gründungsstifter ist Joachim Ga-luska, ärztlicher Direktor der transperso-nal orientierten Heiligenfeld-Kliniken inBad Kissingen (und Mitherausgeber derZeitschrift „Bewusstseinswissenschaften“).Als Ziel formuliert die Stiftung eine „anwendungsbezogene Bewusstseinsfor-schung, die im ganzheitlichen Sinne so-wohl das individuelle als auch das kollek-tive Bewusstsein und deren biologischeund kulturelle Grundlagen einbezieht“.Dabei sehen die Initiatoren den entschei-denden Schritt in der Evolution derMenschheit gegenwärtig in der Entwick-lung des menschlichen Bewusstseins. Einaufgeklärter, souveräner Mensch lebt nachAnsicht der Stiftung aus der Erfahrung derunauflösbaren Verbundenheit mit seinen

Mitmenschen und seiner Mitwelt. Ausdieser Erfahrung entspringe „ein Werte-system, das die Würde zu sich selbst alsgeschenkte und verantwortungsvolle Teil-habe am gesamten kosmischen Gesche-hen erfahren“ könne (http://stiftung.heiligenfeld.de). Auch andere psychospirituelle Angebotebetonen die Bedeutung des Bewusstseins:Die Klinik für Psychosomatik in Dresdenveranstaltet zusammen mit dem Institutfür Kontemplative Psychotherapie Sach-sen den Kongress „Bewusstseinskultur“.Namhafte Psychotherapeuten treffen imApril 2012 auf Experten buddhistischerGeistesschulung. Der Kongress will Wegeder Kultivierung heilsamer Bewusstseins-zustände aufzeigen, Möglichkeiten undMethoden der Integration meditativ-kon-templativer Ansätze in psychotherapeuti-sche Prozesse darstellen und möchte auchdie Herausforderungen und Grenzen ei-ner solchen Zusammenarbeit beleuchten(www.bewusstseinskultur-kongress.de).Die Jahrestagung der „Milton EricksonGesellschaft für Klinische Hypnose“, diein der Regel von über 1000 Teilnehmernbesucht wird, beschäftigt sich im März2012 in Bad Kissingen mit „Heilen in ver-änderten Bewusstseinszuständen“. Sie istinterkulturell und interdisziplinär ange-legt. Der Trancezustand bietet nach Über-zeugung der Veranstalter eine effektiveMöglichkeit, das Alltagsdenken zu trans-zendieren und dadurch dem Bewusstseinneue Perspektiven und Lösungen zu eröff-nen (www.meg-tagung.de). Die „Deut-sche Gesellschaft für Systemaufstellun-gen“ hat zum Ziel, „eine Spiritualität alsErfahrung der grundlegenden Verbunden-heit und Nichtgetrenntheit aller Lebens-formen“ darzustellen und weiterzuentwi-ckeln. Spiritualität wird dabei aufgefasstals die „begründete Erfahrung von Be-wusstsein, das als einschließend, Polaritä-ten und begrenzendes Urteilen über-

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schreitend und in seiner Ursprungsquali-tät als liebend wahrgenommen wird“(www.praxis-der-systemaufstellung.de).Mit dem Fokus auf veränderten Bewusst-seinszuständen wird der immanente„Weltinneraum“ (Rilke) von der Transper-sonalen Psychologie stärker in den Mittel-punkt gerückt. Dabei geht der Aspekt desDialogs mit einer als umfassend erlebtenWirklichkeit, die Christen Gott nennen,verloren. Wahrscheinlich führt die Erfor-schung veränderter Bewusstseinszuständezu konkreteren Ergebnissen, als dies imZusammenhang mit dem vagen Konzeptdes Transpersonalen möglich war. Aller-dings sind noch viele Fragen ungeklärt –zum Beispiel, ob spirituelle Erfahrungenhier primär zur Bewusstseinssteigerungeingesetzt werden. Michael Utsch

ROSENKREUZER

Ein Besuch beim Lectorium Rosicrucia-num in Berlin. (Letzter Bericht: 10/2007,383ff, vgl. auch 3/2001, 84ff) Die Rosen-kreuzer gelten nach wie vor als geheime,mystische Gesellschaft, die ihr Wissennicht nach außen trägt. Umso spannendererscheint der Besuch eines Tempeldiens-tes der Rosenkreuzer-Gemeinschaft Lecto-rium Rosicrucianum, deren InternationaleSchule des Goldenen Rosenkreuzes ihrenBerliner Sitz in Neukölln hat. Regelmäßigwerden in den Zentren öffentliche Tem-peldienste angeboten, an denen Gästeteilnehmen können. Der Tempeldienst hatim äußeren Rahmen Ähnlichkeit mit demchristlichen Gottesdienst, unterscheidetsich jedoch deutlich in den Inhalten. DieSchule ist in einem schlichten, mehrstö-ckigen Gebäude im Neuköllner OrtsteilRixdorf untergebracht. Neben der verglas-ten Eingangstür, auf der in goldenen Let-tern der Name der Schule eingetragen ist,befindet sich ein Fenster mit Schautafeln.

Nach und nach trafen an einem Sonntag-vormittag im November 2011 die erstenPersonen ein, augenscheinlich „ganz nor-male Menschen“. Wir Gäste wurden wiealle Ankömmlinge von einem älterenHerrn empfangen, der uns freundlich überden weiteren Ablauf informierte. In einemWartebereich im ersten Stock fanden sichallmählich immer mehr Menschen ein.Dieser Bereich war in schlichtem Weißgehalten, unterbrochen durch einige Blu-men und ein an der Stirnseite angebrach-tes Gemälde von einem Phönixvogel, dersich mit prächtigen Schwingen aus einemFlammenmeer erhebt. Die Bestuhlung er-möglichte es den Besuchern, in kleinenKreisen zu sitzen. Der Tempeldienst warals öffentliche Veranstaltung für jeder-mann zugänglich; bei den meisten Anwe-senden handelte es sich aber wohl umMitglieder oder „Schüler“, da sie sich lä-chelnd zunickten und miteinander ver-traut schienen. Die Stimmung im Warte-raum war höflich bis freundlich, Einzelnebegrüßten sich, ansonsten herrschteSchweigen, das einen Hauch von Feier-lichkeit barg, aber auch an die Betreten-heit im Wartezimmer eines Arztes erin-nerte. Die ca. 50 bis 60 Teilnehmer warenüberwiegend in mittleren bis älteren Jah-ren; eine andernorts stattfindende Jugend-konferenz der Rosenkreuzer könnte denhohen Altersdurchschnitt erklären. Man-che Männer waren im Anzug, die meistenhatten Straßenkleidung an, ein paar wech-selten ihre Schuhe. Nach einigen Minutentrat ein weiterer älterer Herr in die Mittedes Raums und bat die Anwesenden, inden zweiten Stock zu gehen, wo der Tem-peldienst stattfinden sollte. Auffällig war, dass beim Verlassen desWarteraums ein scheinbar stiller Konsensdie Menschen nicht nacheinander ausdem Raum gehen ließ, sondern dass sicheinzelne Personen bewusst Zeit ließen,vielleicht zur Besinnung. Mehrmals

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schien es einen Moment lang so, alswollte niemand mehr aufstehen und denRaum verlassen, aber dann ging es dochwieder voran. Im zweiten Stock erwartete uns besinn-liche Klaviermusik, gespielt auf einemweißen Flügel, außerdem Platzanweiser,die uns aufforderten, die Stuhlreihen auf-zufüllen in der Reihenfolge, in der wir ka-men. Auf jedem Stuhl lag ein Liederbuchmit der Aufschrift „Tempellieder“. An derWand hing ein goldenes Kreuz mit einerRosenblüte in der Mitte. Weitere Symbolein dem ansonsten wieder weiß undschmucklos gehaltenen Raum waren einKrug und eine aufgeschlagene Bibel.Nach einer kurzen Einstimmungsphasemit Hintergrundmusik traten eine Frauund ein Mann an ein Pult. Bei der „Pre-digt“ wechselten sie sich ab. Die liturgi-schen Teile übernahm, einer Tradition desLectorium Rosicrucianum folgend, dieFrau, die Ansprache, die sich auf eineStelle aus der Johannesoffenbarung be-zog, verlas der Mann. Üblicherweise wirdbei der Lesung die Lutherübersetzung ver-wendet. Beide trugen sehr sachlich undernst vor, im Stil einer Vorlesung. Die Kla-viermusik setzte mehrmals zwischen-durch zu einem kurzen Intermezzo ein. Der Vortrag vermittelte ein Bild von derLehre des Lectorium Rosicrucianum. DieBemühungen der Vereinigung sind ihrerErlösungslehre gemäß auf ein „unbeweg-liches Königreich“ ausgerichtet, einenvollkommenen Geisteszustand, der fürden Schüler der Gnosis im Prozess einervom Lectorium Rosicrucianum vorgege-benen geistigen Entwicklung erreicht wer-den kann, die sich über Stufen der Schü-lerschaft vollzieht. Der Mensch wird alsgefallenes Wesen betrachtet, ausgesetzteiner dualistischen Wahrnehmung, einemnicht endenden Teufelskreis von Gegen-sätzen, und blind taumelnd durch denSturm von flüchtigen Freuden und Begier-

den. So sieht die Lehre den Menschen vonseinem Weg abgekommen. Aus der Sichtdes Lectorium Rosicrucianum bleibt ihmnur eine Chance: die Distanzierung vomWeltlichen, die Wiedererweckung undEntwicklung des göttlichen Funkens, derdem Menschen in seiner irdischen Exis-tenz innerlich geblieben ist. Das wirddurch die sogenannte Transfiguration er-reicht. Dabei geht es im Wesentlichen umeine „Ich-Zerbrechung“ der gegenwärti-gen Natur des Menschen und den Bau ei-nes neuen, göttlichen Menschen aus demgöttlichen „Geistfunkenatom“, das, derLehre der Rosenkreuzer nach, viele Men-schen in sich tragen.Der Tempeldienst dauerte etwa eine Drei-viertelstunde und wurde durch ein Liedaus dem Liederbuch beendet. Anschlie-ßend begaben sich die Teilnehmer erneutin den Wartesaal, um dort schweigend zuverharren. Nach ein paar Minuten erhobsich eine Frau, bedankte sich für die Teil-nahme am Tempeldienst und lud alle Mit-glieder zu einer weiteren Veranstaltungein.In einem anschließenden Gespräch mitvier Vertretern des Berliner Zentrums desLectorium Rosicrucianum widersprachendiese dem Eindruck der Homogenität derTempeldienstbesucher. Nicht nur Gebil-dete, sondern auch Handwerker und so-zial Schwache gehörten zu den Rosen-kreuzern. Auch spielten Studium undTexte eine weniger große Rolle, als oft an-genommen werde. Es käme vor allem aufdie Haltung im Alltag an. Hier wurde be-sonders genannt, dass man nicht über an-dere Menschen urteilen solle. Eine welt-verneinende Haltung wiesen die anwe-senden Rosenkreuzer von sich. Angespro-chen auf Kontakte zu anderen Gemein-schaften, Religionen und Weltanschauun-gen wurde die Anthroposophie genannt,mit der es verstärkt Gespräche gebe. Ausder Geschichte des Lectorium Rosicrucia-

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num legen sich solche Beziehungen zurAnthroposophie nahe. Das Gesprächwurde in einer freundlichen Atmosphäregeführt. Kritische Anfragen wurdenebenso freundlich beantwortet, ließenaber kaum selbstkritische Ansätze erken-nen. Es ist der Gemeinschaft zu wün-schen, dass sie kritischen Stimmen auchin den eigenen Reihen Raum schaffen undGehör schenken kann.

Tobias Lauer, Marburg, und Claudia Knepper

IN EIGENER SACHE

Die EZW auf Exkursion im Taunus. Vom9. bis 11. November 2011 hatte die Evan-gelische Zentralstelle für Weltanschau-ungsfragen (EZW) Kolleginnen und Kolle-gen aus der evangelischen und katho-lischen Weltanschauungsarbeit zu einerExkursion in den Taunus eingeladen. Aufdem Programm standen Besuche bei ver-schiedenen Religionsgemeinschaften: beiden Mormonen auf dem Tempelgeländein Friedrichsdorf, bei der Wachtturm-, Bi-bel- und Traktatgesellschaft der Zeugen Je-hovas in Selters, bei den Bahá’í in einemihrer weltweit nur sieben „Häuser der An-dacht“ in Hofheim-Langenhain, bei dernoch jungen ReligionsgemeinschaftBhakti Marga in Springen; außerdem fandein Gespräch mit den Initiatoren der Hea-ling Rooms Deutschland statt.Im direkten Vergleich zeigten sich beson-ders deutlich Gemeinsamkeiten und Un-terschiede bei den Begegnungen. Überallwurde die mit 27 Personen recht großeExkursionsgruppe sehr gastfreundlichempfangen. Bei den Gesprächen bedauer-ten es meist beide Seiten, dass nicht mehrZeit zum Austausch war. Einen unverzichtbaren und wertvollenEinblick in das Leben der Gemeinschaftenvermittelten die Gebäude und Räume. Bei

den Mormonen und bei Jehovas Zeugenfiel der amerikanische Gestaltungsstil auf,der ihr gemeinsames Herkunftsland ver-riet. Bemerkenswert ist die Sorgfalt derMormonen im Umgang mit ihrem Tempel,dessen Vorräume wir als Gäste besichti-gen durften. Dass der Tempel den Mormo-nen heilig ist, war gleichsam mit Händenzu greifen. Das große, moderne Druck-zentrum der Wachtturm-Gesellschaft inSelters, von dem aus verschiedenspra-chige Publikationen in alle Welt ver-schickt werden, vermittelte einen Ein-druck von dem Einsatz, mit dem sich dieMitglieder in ihre Gemeinschaft einbrin-gen, und führte die Rolle der Schrifter-zeugnisse der Wachtturm-Gesellschaft beider Mission und beim gemeinsamen Stu-dium vor Augen.Das Haus, in dem sich die GemeinschaftBhakti Marga um ihren aus Mauritiusstammenden spirituellen Meister SriSwami Vishwananda, angesiedelt hat,zeigte eine Gemeinschaft im Aufbau, dienoch dabei ist, sich zu finden. Sie hat2008 ein von außen ganz und gar nichtspirituell wirkendes ehemaliges Gewerk-schafts-Tagungshaus mitten auf dem Landin Besitz genommen und ist dabei, es zuihrem Zentrum bzw. Ashram auszubauen.Alles wirkte noch provisorisch. Auch hierwar das hohe Engagement der Mitgliederder Gemeinschaft und ihr Wille zu erken-nen, ihrer Religiosität und ihrem Lebens-gefühl angemessen und liebevoll Aus-druck zu geben. Im Gegensatz zur striktenKlosterordnung bei Jehovas Zeugen be-gegnete hier eine Gemeinschaft mit gro-ßer individueller Freiheit. Bhakti Margapraktiziert einen erstaunlichen Mix aushinduistischen und christlich-orthodoxenElementen. Der zentrale religiöse Ver-sammlungsraum ist Krishna gewidmet. Inmitten zahlreicher hinduistischer, christ-licher und profaner Figuren und Figürchenan der Stirnseite des Raumes findet sich

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die Gemeinschaft und ihre Vertreter sind.Bei den älteren Gemeinschaften, mit de-nen bereits über einen längeren ZeitraumKontakte bestehen, dienten die Begegnun-gen dazu, im Gespräch zu bleiben. Vor al-lem die Besuche bei den Mormonen undbei den Bahá’í zeigten eine über die Jahregewachsene Vertrautheit und Sicherheitim Umgang miteinander. Anders war dasGespräch bei Jehovas Zeugen, die sichstark abschotten. Umso wichtiger ist es,immer wieder den Kontakt zu suchen. Wirwaren dankbar für die gastfreundlicheAufnahme und Gesprächsbereitschaft inSelters, auch wenn das Gespräch selbstnach wie vor mit Schwierigkeiten verbun-den ist.

Claudia Knepper

der Stuhl, auf dem Vishwananda bei sei-nen Darshans Platz nimmt. In der Mittedes Raumes stehen ein E-Piano, Boxenund weitere Technik für die Musik, die inForm von Lobpreisgesängen eine großeRolle spielt. Ein weiterer Raum ist wieeine orthodoxe Kapelle eingerichtet, mitzahlreichen Ikonen aus eigener Werkstattund mit einer eigenen Reliquiensamm-lung.Die Begegnung mit Vertretern der Bahá’ífand in einem Gemeindehaus neben dem„Haus der Andacht“ statt, das aufgrundvon Renovierungsarbeiten nur von außenbesichtigt werden konnte. Das anregendeGespräch wies die Mitglieder als gebil-dete Anhänger einer Schriftreligion aus. Das Gespräch mit den Initiatoren der Healing Rooms Deutschland, dem Ehe-paar Hanheiser, fand im Religionspädago-gischen Studienzentrum der Evangeli-schen Kirche in Hessen und Nassau inKronberg statt, in dem die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer während der Exkur-sion untergebracht waren. Mit Bernd Han-heiser begegnete uns ein mittelständischerUnternehmer, der gewohnt ist, die Initia-tive zu ergreifen. Die Organisationsstruk-tur und inhaltliche Ausrichtung der Hea-ling Rooms ist so offen, dass größere Un-terschiede in der jeweiligen Theologie zu-tage treten, je nachdem, wer die interkon-fessionell ausgerichteten Healing Roomsvor Ort betreibt. Auch hier begegnete unsein vergleichsweise junges Projekt, ur-sprünglich beheimatet in der Pfingstbewe-gung, das nach einer Zeit des Wachstumsins Stocken geraten ist.Die Begegnungen und Gespräche hatteneinen unterschiedlichen Charakter – jenach Alter und Ausrichtung der Gemein-schaften. Bei den jungen Gemeinschaftenund Projekten Bhakti Marga und HealingRooms waren die Gespräche vor allem in-formierender Art. Die Begegnung zielteauf ein erstes Kennenlernen, welcher Art

Sikhismus / Sikhi

Sikhs, vor allem männliche Gläubige, sindan ihrem markanten Äußeren zu erken-nen: Ein kunstvoll gebundener Turban(Dastar) bedeckt das ungeschnittene Haar,die Männer tragen Bart, häufig sieht manauch den stählernen Armreif, den Sikhsals Zeichen der Gemeinschaft tragen.Nicht selten erleben es Anhänger derSikh-Religion, dass sie mit Ausdrückenwie „Taliban“ oder Schlimmerem bedachtwerden, weil sie für „fanatische Muslime“gehalten werden. Dabei ist der Sikhismus– auch Sikhi genannt – die vierte großeeinheimische Religion Indiens neben Hin-duismus, Buddhismus und Jainismus. Erhat Anteile aus dem Islam und mehr nochaus dem Hinduismus mit mystischen Ele-menten aus dem Sufismus und dem Yogazu einem Glaubenssystem verbunden, dasheute eine eigene Weltreligion darstellt.

STICHWORT

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Geschichte

Sikh heißt Schüler. So bezeichneten sichzunächst die Anhänger von Guru Nanak,der von 1469 bis 1539 in dem seit 1947auf Pakistan und Indien aufgeteilten Fünf-stromland Punjab gelebt und gewirkt hat.Nach einem Berufungserlebnis war Na-nak rastlos unterwegs, um seine reforme-rische Botschaft von dem einen unverän-derlichen, bedingungslos liebenden Gottund der Erlösungsfähigkeit aller Men-schen unabhängig von Stand, Kaste, Ge-schlecht oder Handeln zu verkünden. DerIslam hatte sich in Indien ausgebreitet, abdem 16. Jahrhundert sollte die Mogul-Dy-nastie ihre Herrschaft weit ausdehnen.Schon vor Nanak gab es Protestbewegun-gen gegen die erstarrten Formen der etab-lierten Religionen. Aus dem islamischenSufismus wie aus der hinduistischenBhakti-Bewegung kam Kritik an überkom-menen Tempelriten und Opferpraktiken.Bhakti heißt „Hingabe“ und bezieht sichauf die liebende Zuwendung des Men-schen zu Gott und Gottes zu den Men-schen. Im Anliegen einer unmittelbarenGottesbeziehung, ja der Vereinigung derSeele mit Gott, die Gott aus freier Gnadegewährt, treffen sich mystische Traditio-nen aus dem Islam und der indischen Re-ligion. Ein wichtiger Vertreter in der Tradi-tion der volkstümlichen indischen Sants(„Heiligen“), der eine solche monotheisti-sche Gottesbeziehung über Islam undHinduismus hinaus mit großer Ausstrah-lungskraft vertrat, war Kabir (1440-1518).Wie er ging Nanak mit den Verantwort-lichen für die herrschende soziale und po-litische Lage hart ins Gericht und kriti-sierte in unzähligen Hymnen weltlicheLebensweise ebenso wie religiösen Ritua-lismus und hinduistischen Bilderkult. Nanak bekannte sich zu keiner Religion,doch er wurde als Guru anerkannt undbetonte die Bedeutung des lebenden

Meisters für den Weg zu Gott. Seine neunNachfolger, die jeweils vom Vorgängerbestimmt wurden, festigten die Glaubens-gemeinschaft, sodass im Lauf der Zeit dasSelbstbewusstsein einer eigenen Religionentstand. So wurden unter den ersten Gu-rus eigene Feste und Wallfahrtsorte einge-richtet, die ersten Hymnensammlungenerstellt, die freie Küche (gemeinsames Es-sen für alle, Guru Ka Langar) institutiona-lisiert sowie die Gleichbehandlung vonMännern und Frauen, Armen und Reichenungeachtet der Kastenzugehörigkeit gefor-dert. Die Gründung des späteren Amritsar(„Nektarteich“), das zum Zentrum derSikhs wurde, geht auf den vierten GuruRam Das zurück. Sein Sohn Arjan (1581-1606) ließ in dem Teich das Zentralheilig-tum der Sikhs errichten, den heutigen„Goldenen Tempel“ (Harimandir), dersymbolisch für die Offenheit für alle vonallen vier Himmelsrichtungen begehbarist. Guru Arjan besorgte auch die erste Re-daktion des Adi Granth (des „ursprüng-lichen Buches“), der heiligen Schrift derSikhs, die im Harimandir aufbewahrt undfortlaufend verlesen wird. Nachdem Arjander erste Märtyrer der Sikhs gewordenwar, kam es unter dem sechsten Guru,Hargobind, zu einer dramatischen Wendevon der ursprünglichen pazifistischenHaltung zur Militarisierung der Sikhs.Hargobind führte die Zwei-Schwerter-Lehre ein (Miri und Piri). Der zehnte undletzte der menschlichen Gurus, GobindSingh (1675-1708), der ebenfalls imKampf gegen die Moguln stand, vollen-dete schließlich diese Entwicklung, indemer den Khalsa gründete (Gemeinschaft der„Reinen“), eine religiöse Waffenbruder-schaft, die fortan den „harten Kern“ derSikhs bildete. Von höchster Bedeutungwar seine Entscheidung, keinen weiterenmenschlichen Nachfolger zu bestimmen,sondern dessen Funktionen auf den durchweitere hymnische Werke vervollständig-

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ten Adi Granth zu übertragen. Das Bucherhielt den Titel Sri Guru Granth Sahib,kurz Granth Sahib oder Guru Granth(„Schrift-Guru“) und sollte von nun an dereinzige Meister sein. Die von Gobind 1699 an „Fünf Gelieb-ten“ (aus unterschiedlichen Kasten!) voll-zogene Schwerttaufe ist das Vorbild desheutigen Taufritus (khande di pahul), mitdem man in den Khalsa aufgenommenund auf bestimmte Verhaltensregeln (rahit)verpflichtet wird. Dazu gehören die „fünfKs“ als identitätsstiftende Kennzeichen:kesh, das ungeschorene Körperhaar undder Turban, kangha, der hölzerne Kammzur Pflege, kara, ein eiserner oder stähler-ner Armreif, kirpan, ein Dolch oderSchwert zur Selbstverteidigung, sowiekaccha, bequeme Baumwollshorts. Auchdie typische Namensgebung, dass alleMänner den Nachnamen Singh („Löwe“)und alle Frauen den Nachnamen Kaur(„Prinzessin“) erhalten – ebenfalls ein Zei-chen der aufgehobenen Kastenzugehörig-keit –, soll auf Gobind Singh zurückge-hen. Die Folgezeit verlangte von den Bauernund Kriegern, die das Bild der Sikhs prä-gen, Kampfbereitschaft, die sich auch imKhanda, dem Waffenemblem des Khalsa,symbolisch niedergeschlagen hat. Es istals Sikh-Symbol bekannt: ein doppel-schneidiger Dolch vor einem stählernenWurfring, flankiert von den beiden ge-kreuzten Schwertern Miri und Piri. Nichtalle Sikhs wurden Mitglieder des Khalsa,grob geschätzt sogar nur 15 Prozent. Da-neben blieben andere Gruppen bestehen,die zwar dem Panth (Weg) der Sikhs fol-gen, jedoch nur teilweise die rahit-Regelnoder stattdessen andere Regeln einhalten:so etwa die Keshdhari, die Sahajdhari, dieUdasi und die Akali Sikhs. Äußere und in-nere Faktoren stärkten langfristig denKhalsa als selbstbewussten Repräsentan-ten des Sikhismus.

Anfang des 19. Jahrhunderts bestand imPunjab ein Sikh-Königreich, das 1849durch die britische Kolonialmacht seinEnde fand. Die Sikhs arrangierten sich mitden Briten, die vor allem ihre Verlässlich-keit und ihre militärischen Fähigkeitenschätzten. Noch heute ist jeder fünfte Of-fizier der indischen Armee ein Sikh (bei 2 Prozent Bevölkerungsanteil). Immerwieder gab es jedoch auch Versuche radi-kaler Sikh-Gruppen, mehr Autonomieoder gar die Unabhängigkeit der Sikhsdurchzusetzen. Eine dramatische Eskala-tion ereignete sich im Juni 1984, als dieStürmung des Goldenen Tempels in Amrit-sar durch indische Regierungstruppen ineinem Blutbad endete (Operation BlueStar). In der Folge wurde die indische Pre-mierministerin Indira Gandhi von ihrenSikh-Leibwächtern erschossen. Unter demDruck der Umstände verließen viele Sikhsihre Heimat, was auch die Sikh-Religionin andere Teile der Welt auswandern ließ.

Lehre und Praxis

„Ein Gott, sein Name ist Wahrheit, er istder Schöpfer, er ist die Höchste Wesen-heit, bei ihm ist keine Angst, bei ihm istkeine Feindschaft, seine Gestalt ist zeitlos,er stammt aus keinem Schoß, er ist aussich selbst – durch des Gurus Gnade (wirder erkannt).“ Mit diesen Worten Nanaksbeginnt das Mulmantra, die „Grundfor-mel“ der Sikhs, und mit ihm der AdiGranth. Es enthält die wesentlichen Kern-aussagen des Sikh-Glaubens, der den ur-sprünglichen Impuls der Vermittlung zwi-schen Islam und Hinduismus vielfach auf-genommen hat. Gott ist einer (im Original„Ik Oankaru“ oder „Ek Onkar“, durch dieZiffer 1 mit dem folgenden Symbol ausge-drückt), das ungeteilte höchste Wesen,weder weiblich noch männlich, zeitlosüber dem ewigen Kreislauf von Geburt,Tod und Wiedergeburt, die absolute Wirk-

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lichkeit. Jede Form von Bilderverehrungwird abgelehnt. Die äußerste Annähe-rung, deren der Mensch fähig ist, ge-schieht in der Gebetsversenkung in denGottesnamen. Deshalb ist die meditie-rende Wiederholung von Gottes Namenso wichtig. Sie bereitet den Weg zur Über-windung von Karma und Reinkarnation,die wie im Hinduismus als Realitäten be-trachtet werden. Viele Gottesnamen fin-den Verwendung, häufig Waheguru (gro-ßer Guru) oder Satnam (wahrer Name).Der Guru ist letztlich der sich offenba-rende Gott selbst. Die Autorität desmenschlichen Gurus bzw. des GuruGranth beruht darauf, dass er frei ist vonallem Weltlichen und vollkommen vonGott erfüllt. Menschliches wird nicht ver-göttlicht, vielmehr teilt Gott sich selbstmit. Hier kommt die Gnade ins Spiel, diedie unmittelbare Hingabe des Menschensucht. Dieser Weg steht allen offen, auchNiedrigkastige und Frauen erhalten glei-chermaßen Zugang zum Heil. Dabeikommt es nicht auf äußerliche Riten undsichtbare Tempel oder Moscheen an. Ein Gottesdienst findet in einem Gur-dwara (Tor zum Guru) statt, dem mit dergelben Sikh-Flagge geschmückten Sikh-Tempel. Es gibt kein Priesteramt. JederSikh kann eine Versammlung leiten, auchFrauen, wenngleich es Spezialisten z. B.für die Rezitation (Granthi) oder den Ge-sang (Ragi) gibt. Rezitationen aus demGranth wechseln mit religiösen Gesängen(Bhajan, Kirtan) ab, teilweise gibt es Be-lehrungen, am Ende ein Gebet. Danachwird Prasad, eine gesegnete Süßspeise,gereicht. Das anschließende gemeinsameEssen symbolisiert über den Gemein-schaftsaspekt hinaus die Gleichheit undGeschwisterschaft aller ohne Unterschied. Neben den mystischen Elementen – dasZiel des Lebensweges ist die Vereinigungmit Gott – betont die Sikh-Religion dieEthik. Durch eine rechtschaffene Lebens-

weise strebt der Mensch nach Überwin-dung seines fixierten Ichgefühls. Sie ba-siert auf drei praktischen Grundsätzen: 1) „Gottes Namen beten“ (Nam Japna),was durch meditative Wiederholung, Got-tesgedenken und Hymnen geschieht; 2) „Ehrliche Arbeit leisten“ (Dharam ki Ki-rat Karni), was Aufrichtigkeit, einen eige-nen Lebensunterhalt und ein gutes Famili-enleben umfasst; 3) „Verdienste mit ande-ren teilen“ (Vand Ke Chakna), womit dersoziale Aspekt gemeint ist, die Früchte derArbeit zu teilen, bevor man an sich selbstdenkt. Sikhs verrichten – in vielen Tempeln regel-mäßig – Morgen- und Abendgebet, lebenmonogam, beachten das Verbot von Alko-hol-, Tabak- und Drogengenuss und essenFleisch nur von Tieren, die nach bestimm-ten Vorschriften geschlachtet wurden.

Verbreitung und Organisation

Weltweit leben heute schätzungsweise 20bis 25 Millionen Sikhs, die meisten davonim Punjab, etwa drei Millionen außerhalbIndiens. Die größten Auslandsgemein-schaften bestehen in Kanada und Groß-britannien (jeweils etliche Hunderttau-send), in Deutschland leben mehrere tau-send Sikhs (Zahlen zwischen 5000 und 15 000 werden genannt), die sich inknapp 30 Gurdwaras vor allem in denstädtischen Ballungszentren versammeln.Für die Schweiz werden mehrere Hundertangenommen, für Österreich knapp 3000. Über die Belange der Sikhs wacht eine Artreligiöses Parlament in Amritsar, in dasauch die deutschen Sikhs eingebundensind. Hierzulande verwalten Vereine dieAngelegenheiten des Gurdwara und derOrtsgemeinde (Sangat). Die Finanzierungerfolgt durch Spenden. Aus den gleichen Wurzeln wie der Sikhis-mus ging im 19. Jahrhundert die Radha-soami-Tradition (Sant Mat) hervor. Sie

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knüpft an den frühen guruistischen Sikhis-mus an, bildet aber eine eigenständige,weitverzweigte Religion, die die Bedeu-tung des lebenden Meisters betont. Siefindet im Westen vor allem in der esoteri-schen Szene Resonanz. Dies gilt auch fürdie „3H-Organisation“ (3HO – healthy,happy, holy), die von dem in die USAausgewanderten Sikh Yogi Bhajan gegrün-det wurde, der ab 1968 Kundalini Yoga imWesten lehrte. Manche Konvertiten ka-men indes über 3HO zum Sikhismus.

Einschätzung

Der Sikhismus ist heute eine internatio-nale Gemeinschaft, die von einem regenAustausch zwischen den indischen undden im Ausland lebenden Gruppen ge-prägt ist. Die Erfahrungen im Umgang mitPluralität und interner Vielfalt werden da-durch nur intensiviert. Ein Anliegen desSikh-Glaubens, das historisch sein Poten-zial immer wieder entfaltet hat, ist die Ver-mittlung zwischen Unterschieden und dieBetonung der Gleichheit und Gleichbe-rechtigung aller Menschen (auch wenndie Ideale in Bezug auf das Kastenwesenund die Gleichwertigkeit der Geschlech-ter in der gesellschaftlichen Wirklichkeitweitgehend unerfüllt geblieben sind). Der Sikh-Glaube ist nicht von einem exklusiven Wahrheitsanspruch geprägt.Gute Anknüpfungspunkte für das Ge-spräch bieten die Bedeutung des „Bu-ches“ („Buchreligion“ – nicht der Buch-stabe ist heilig, entscheidend ist das le-bendige Wort) sowie die Anschauung,

dass jeder Mensch gleichermaßen erlö-sungsbedürftig und erlösungsfähig ist. Da-bei erbarmt sich Gott des Niedrigsten undUnwürdigsten – der sich in seiner Glau-benspraxis zu Gott hinwendet und dochauf die freie Gnade Gottes angewiesenbleibt.

Quellen

Sri Guru-Granth Sahib, übers. ins Engl. von GopalSingh, 4 Bde., New Delhi u. a. 1984

Monika Thiel-Horstmann, Leben aus der Wahrheit:Texte aus der Heiligen Schrift der Sikhs, Zürich1988

Die Sikh-Religion, Informationsblatt des Sikh-Forums,www.sikh-religion.de

Die Sikh-Religion, Informationsbroschüre der Sikh Ge-meinde Berlin, o. J.

Guru Granth Sahib. Der Elfte Guru der Sikhs, Informa-tionsbroschüre der Sikh Gemeinde Berlin, o. J.

Internet

www.sikh-religion.de (Sikh-Forum)www.sikhfoundation.orgwww.srigurugranthsahib.orgwww.sikhmissionarysociety.org

Sekundärliteratur

Ulrich Dehn, Sikhismus, in: Michael Klöcker / UdoTworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen 4/X,München 2000

Othmar Gächter, Sikhismus, in: Johann Figl (Hg.),Handbuch Religionswissenschaft. Religionen undihre zentralen Themen, Innsbruck u. a. 2003, 368-383

Monika Horstmann, Der Sikhismus, in: Peter Antes(Hg.), Die Religionen der Gegenwart, Geschichteund Glauben, München 1996, 136-160

Khushwant Singh / Raghu Rai, Die Sikhs, Stuttgart /Bonn 1986

Friedmann Eißler

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Heinz-Werner Kubitza, Der Jesuswahn.Wie die Christen sich ihren Gott erschu-fen. Die Entzauberung einer Weltreligiondurch die wissenschaftliche Forschung,Tectum-Verlag, Marburg 2011, 380 Sei-ten, 19,90 Euro.

Zu den Themen, die unbedingt auf unszukommen werden, gehört der zuneh-mend aggressiver argumentierende Athe-ismus. Wähnt sich die „Kirche der Frei-heit“ noch mit dem „Megatrend Religion“im Bunde, so ist es dringend erforderlich,an dieser Stelle umzudenken: Wir habenin Deutschland nicht nur mit religiöserGleichgültigkeit (die inzwischen prozen-tual die Mehrheit stellen dürfte) zu tun,nicht nur mit diffus esoterischer Religions-bricolage, nicht nur mit einem zuneh-mend selbstbewusst werdenden Islam,sondern eben auch mit einem kämpferi-schen Atheismus, der neben reichlichplatten Attacken auch durchdachte undnicht so einfach beiseitezuschiebende Ar-gumente liefert.Aktuelles Beispiel, das wohl auch nochfür längere Zeit zu Diskussionen zwingenwird, ist das Buch „Der Jesuswahn“ desMarburger Verlegers Heinz-Werner Ku-bitza. Das Buch zwingt zur Auseinander-setzung – schon deshalb, weil Kubitza,der studierter und promovierter Theologeist, vor allem mit Überlegungen aufwartet,die in der theologischen Wissenschaft seitmehr als 50 Jahren diskutiert werden unddie jedem Theologen bekannt sein sollten.Neu sind daher weniger die Ergebnisse,die Kubitza in seinem Buch präsentiert,neu ist vielmehr die Vehemenz, mit der erdiese Ergebnisse gegen den Strich bürstetund sie somit samt und sonders als Argu-mente gegen den christlichen Glaubennutzt.

Kurzgefasst sieht seine Argumentation wiefolgt aus: Der Gott des Alten Testamentsist ein „peinlicher“ Gott – ein Gott desKrieges und der Gewalt, ein Gott der Into-leranz, dessen vermeintliche Forderungennicht mit humanen und freiheitlichenGrundsätzen vereinbar sind. Dass die Ge-schichte dieses Gottes und seines Volkeserst durch spätere Geschichtsschreibungzur gegenwärtigen Form „aufgeblasen“wurde, dass es sich beim Großreich Da-vids und Samuels eher um Provinzfürsten-tümer handelte und dass die Landnahmeweit weniger heroisch vor sich ging, als esdas Buch Josua darstellt, gehört dabeizum Grundbestand dessen, was man vonder Geschichte Israels im Studium lernt.Dass aber der Gott des Alten Testaments –und mit ihm das AT an sich – mehr oderweniger komplett in Bausch und Bogenverworfen wird, entspricht dem Argumen-tationsmuster der „neuen Atheisten“.Nicht zufällig erinnert der Titel „Der Jesus-wahn“ ja auch an den „Gotteswahn“ desRichard Dawkins.Diese Argumentationsstruktur wird unge-brochen auf das Neue Testament und dieVerkündigung Jesu übertragen. Da derGott des AT ein „peinlicher“ Gott ist, undda das NT auf dem AT beruht – hier zeigtsich in durchaus angenehmer Weise, dassKubitza theologisch up to date ist und denbisweilen unternommenen Versuch, das„gute“ NT dem „bösen“ AT gegenüberzu-stellen, nicht unternimmt – kann auchdas, was Jesus verkündet, nicht „gut“ sein.Dabei muss man durchaus positiv anmer-ken, dass sich Kubitza nicht dazu hinrei-ßen lässt, Jesus irgendeine Phantasielehreunterzuschieben. Er unterscheidet sich andiesem Punkt wohltuend von reißerischenEnthüllungsbüchern, wie sie von MichaelBaigent / Richard Leigh oder Dan Browngeliefert werden. Auch wenn einzelne dervon Kubitza präsentierten Ergebnisse inder Forschung umstritten sein mögen – im

BÜCHER

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Wesentlichen orientiert er sich an dem,was neutestamentliche Wissenschaft als„ipsissima vox Jesu“ festgehalten hat. Diese Worte freilich werden radikal undweitgehend kompromisslos gegen Jesusgekehrt. Allein schon der Umstand, dassJesus vom Gericht geredet hat und dass inseiner Verkündigung der Satan Raum hat,bringt Kubitza dazu, Michael Schmidt-Sa-lomon zu zitieren, der in den Gerichts-worten Jesu „ein himmlisches Auschwitzmit Engeln als Selektionären“ angekündigtsieht. Andere Worte Jesu werden von Ku-bitza in den Rahmen jüdischen Glaubenseingeordnet und damit relativiert (so etwadie Feindesliebe, die laut Kubitza wohlnur auf den feindlich gesinnten Volksan-gehörigen bezogen ist) – womit es über-haupt keine spezifisch christliche Ethikgibt. Und ein an sich von tiefem Vertrauengetragenes Wort wie die Rede vom Sorgenin der Bergpredigt (Matth 6,25-26; 31-33)ist für Kubitza „realitätsblinder, frommerUnsinn“, „religiöse Gefühlsduselei“ gar.Dass die Wunder Jesu und vor allem dieAuferstehung als Legendenbildung oderrein subjektive Visionen ohne Wert abge-tan werden, ist bei solcher Sicht absolutkonsequent. Schließlich werden auch sol-che Stellen, die von anderen kritischenAutoren durchaus positiv gewürdigt wer-den, von Kubitza regelrecht vom Tisch ge-fegt – so etwa Jesu Verhältnis zu denFrauen, das Kubitza mit dem Argumentkritisiert, dass Jesus nicht verheiratet warund dies für die Stellung der Frau in derGeschichte des Christentums fatal gewe-sen sei. Neben diese Destruktion dessen, was his-torische Forschung als Botschaft Jesu aus-gemacht hat, tritt noch eine zweite De-struktion: Die angebliche VergöttlichungJesu, mit der Paulus und in seinem Ge-folge die Kirche aus dem frühjüdischenApokalyptiker Jesus, der mit seiner Bot-schaft gescheitert ist, einen Gott gemacht

haben sollen. Allerdings ist auch hier po-sitiv anzumerken, dass Kubitza sich nichtin Verschwörungstheorien verliert. Erbleibt bei einer radikalen Interpretationkirchengeschichtlicher Fakten: Natürlichmuss einmal mehr Kaiser Konstantin her-halten, dessen machtpolitischem Kalküles entsprach, dass Jesus endgültig vergot-tet wurde und damit dann auch alle Kriti-ker als „Ketzer“ ausgeschieden oder ver-folgt wurden.Nimmt man dieses wuchtige Werk alsGanzes wahr, wird deutlich, dass sich hierein Atheismus artikuliert, der polemischeBreitseiten in voller Härte abschießt unddem wohl nichts mehr an vermittelndenGesprächen liegt. Es sind weniger die his-torischen Fakten, die Kubitza präsentiert –sie sollten Theologen an sich bekannt seinund auch in Theologie und Verkündigungeinfließen –, als vielmehr die Art, wiediese Fakten interpretiert werden: radikalgegen alles, was mit „Glauben“ auch nurentfernt zu tun hat.Das Fazit des Buches jedenfalls ist eindeu-tig: „Ein solches Gebäude muss einstür-zen.“ Das bedeutet dann für den einzel-nen Gläubigen, dass er vor der Fragesteht, ob er die Kraft hat, „auch persönli-che Konsequenzen aus einem offensicht-lich unhaltbar gewordenen Weltbild zuziehen oder ob er in religiöser Hartleibig-keit so weiterglauben will wie bisher“.Man wird diese Stimme wahrnehmenmüssen. Sie wird nicht allein bleiben. Zubefürchten ist auch, dass kommende Au-toren weniger Sachkompetenz und dafürumso schärfere Polemik oder aber unhalt-bare Verschwörungstheorien auffahrenwerden.Natürlich kann man versuchen, die The-sen Kubitzas in Frage zu stellen. Vor allemmuss man dann darauf hinweisen, dass esschwierig ist, einem 2000 Jahre alten Textmit modernem Bewusstsein zu Leibe zurücken. Angemessener wäre es doch,

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Texte auf dem Hintergrund ihrer Entste-hungszeit daraufhin zu untersuchen, inwelchem Verhältnis sie zu ihrer Umweltstehen. Und natürlich wäre Kubitzas Ver-ständnis vom Menschen und seinen Ab-gründen ebenso zu hinterfragen wie seinVerständnis der vorgeblich rationalenWissenschaft, die er jeglichem Wunder-glauben entgegenhält. Man muss keinEsoteriker sein – auch wenn Kubitza diesnahelegt –, um zu wissen, dass unsere Er-kenntnis begrenzt ist und dass das, washeute als unumstößliche Tatsache be-hauptet wird, morgen schon in Frage ste-hen kann. Dies alles kann man tun. Undsicher sollten Theologinnen und Theolo-gen ihr Fach derart beherrschen, dass sieauf zentrale Fragen – vor allem auf dieFrage nach der Trinität – differenziertereAntworten geben können als die dochrecht platte Behauptung, dass die Kircheeinen Menschen zum Gott gemacht habe.Ob es allerdings sinnvoll ist, das Gesprächmit den „neuen Atheisten“ zu suchen,möchte ich nach Lektüre dieses Werkesbezweifeln.

Heiko Ehrhardt, Hochelheim/Hörnsheim

Mary Bauermeister, Ich hänge im Trio-lengitter. Mein Leben mit KarlheinzStockhausen, Edition Elke Heidenreichbei C. Bertelsmann, München 2011, 336Seiten, 21,99 Euro.

Bücher mit dem (Unter-)Titel „Mein Lebenmit ...“ wecken bisweilen schon vor derLektüre gemischte Gefühle – einerseitspackt einen die voyeuristische Neugier,andererseits fragt man sich, jedenfalls so-fern ebendiese Neugier nicht zu ausge-prägt ist, ob man eigentlich so genau wis-sen will, was in Schlafzimmern so alleszwischen zwei Liebenden vor sich gegan-gen ist. Mary Bauermeister, Künstlerin undzweite Ehefrau des Komponisten Karl-

heinz Stockhausen (1928-2007) nimmt inihren Memoiren diesbezüglich kein Blattvor den Mund und schildert freimütig die„ménage à trois“ zwischen ihr, dem Kom-ponisten und dessen erster Ehefrau Dorissowie auch andere Affären des Meisters.Aber nochmals: Will man das wissen?Muss man das wissen? Dass Stockhausenbis an sein Lebensende unkonventionellePartnerschaftsformen pflegte, ist bekannt.Und dass Mary Bauermeister und ihn einesehr komplexe, komplizierte, aber künst-lerisch äußerst befruchtende Beziehungverband, weiß man spätestens seit Mi-chael Kurtz‘ Stockhausen-Biografie von1988. Insofern bietet Bauermeisters Buchden Stockhausen-Fans und -Kennern we-nig Neues. Es kann auch gut sein, dassdiese sich angesichts der doch sehr inti-men Enthüllungen und Bekenntnissemehrheitlich mit Grausen abwenden wer-den. Trotzdem kann man das Buch nichteinfach indigniert zur Seite legen. Denndazu bietet es zu viele spannende Einbli-cke in das künstlerische Leben der Bun-desrepublik in den 1960er Jahren, in dasLeben einer jungen, materiell ebenso wiegeistig hungernden Bohème im geradewieder aufgebauten Köln. Sehr schönzeichnet es auch nach, wie sich Stockhau-sen – nicht zuletzt aufgrund seinerschwierigen privaten Situation – vom rhei-nischen Katholizismus löste und verschie-densten spirituellen Traditionen öffnete,etwa dem Sufismus, dem integralen YogaSri Aurobindos oder den Channeling-Bot-schaften des „Urantia-Buches“.Trotzdem kann man sich bei der Lektüreder Memoiren des Eindrucks nicht erweh-ren, dass es im Grunde um eine ganz per-sönliche Aufarbeitung einer letztlich gro-ßen, aber trotzdem (oder gerade deshalb?)gescheiterten Liebe geht. Wahrscheinlichsind die Begriffe „Heilung“ und „Erlö-sung“ die Schlüsselwörter zu diesemBuch. Leider schrammt Mary Bauermeis-

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verstorbene Stockhausen nicht mehr dazuStellung nehmen kann, steht natürlich aufeinem anderen Blatt und stellt die Fragenach der Fairness eines solchen Buchs.

Christian Ruch, Chur / Schweiz

ter dabei immer wieder gefährlich naheam Kitsch und Pathos vorbei. Andererseitsgelingt es ihr geradezu kongenial, Stock-hausens Schaffen prägnant auf den Punktzu bringen, so etwa, wenn sie schreibt:„Stockhausen nimmt alles mit hinein, ermöchte die ganze Menschheit musika-lisch erlösen, seine Musik soll die Chris-tustat wiederholen. Er möchte Erlösungnicht mehr durchs Kreuz, nicht mehrdurch den Leidensweg, sondern durch dieÜberwindung von Schmerzen hin zurFreude erreichen. Jubelt dem Herrn! Karl-heinz Stockhausens Lebenswerk ist dieserWeg der Freude“ (302). Treffender istStockhausens Werk wohl selten beschrie-ben worden.Es bleibt nach der Lektüre ein merkwürdi-ges Gefühl zurück. Denn einerseits plau-dert Bauermeister mit geradezu unbeküm-merter Offenheit über ihr aufregendes Le-ben an der Seite eines der größten Kom-ponisten des 20. Jahrhunderts, anderer-seits macht sie um gewisse heikle Punkteeinen Bogen, der gerade aufgrund ihrerOffenheit seltsam anmuten muss. So er-fährt man beispielsweise nichts darüber,was Mary Bauermeister über Stockhau-sens missverständliche und missverstan-dene Äußerungen zu den Anschlägenvom 11. September 2001 denkt, und auchnichts über die schweren Verwerfungenund Konflikte, die sich zwischen Stock-hausen und den gemeinsamen KindernJulika und Simon ereignet haben. Das istumso erstaunlicher, als sowohl Julika alsauch Simon Stockhausen die Distanz zumVater schon ausführlich in Fernsehsen-dungen öffentlich thematisiert haben.Mary Bauermeister setzt sich deshalb fastunweigerlich dem Verdacht aus, an derLegende einer trotz aller Konflikte heilenFamilie zu stricken. Eigentlich schade,denn über weite Strecken zeugt das Buchvon einer großen und auch selbstkriti-schen Ehrlichkeit. Dass der vor vier Jahren

Dr. theol. Jan Badewien, geb. 1947, Pfarrer,Direktor der Evangelischen Akademie Badenund Landeskirchlicher Beauftragter für Welt-anschauungsfragen, Karlsruhe.

Heiko Ehrhardt, geb. 1962, Pfarrer in Ho-chelheim/Hörnsheim (Kirchenkreis Wetzlar).

Dr. theol. Friedmann Eißler, geb. 1964, Pfar-rer, EZW-Referent für Islam und anderenichtchristliche Religionen, neue religiöseBewegungen, östliche Spiritualität, interreli-giösen Dialog.

Claudia Knepper, geb. 1973, evangelischeTheologin, wissenschaftliche Mitarbeiterinder EZW.

Tobias Lauer, geb. 1984, Student der Kultur-und Religionswissenschaften in Marburg,Praktikant der EZW im Herbst 2011.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Horst Georg Pöhl-mann, geb. 1933, em. Professor für Systema-tische Theologie an der Universität Osna-brück.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Histori-ker, Soziologe, 2001-2011 Mitglied der ka-tholischen Arbeitsgruppe „Neue religiöse Be-wegungen“, Chur/Schweiz.

Jens Schultzki, geb. 1972, Diakon im Kreisju-genddienst des Evangelisch-Lutherischen Kir-chenkreises Oldenburger Münsterland, dortfür Weltanschauungsfragen zuständig.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psycho-loge und Psychotherapeut, EZW-Referent fürchristliche Sondergemeinschaften, Psycho-szene, Scientology.

AUTOREN

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Reinhard Hempelmann (Hg.)Dialog und Auseinandersetzung mit Atheisten und HumanistenEZW-Texte 216, Berlin 2011, 118 Seiten

Der EZW-Text 216 befasst sich mit humanisti-schen und atheistischen Weltdeutungen. Rein-hard Hempelmann gibt einen Überblick überatheistische Bewegungen in der Gesellschaft.Gunther Wenz skizziert die klassischen Vertre-ter radikaler Religionskritik. Robert Gieseckesetzt sich mit dem Humanistischen Verbandauseinander und analysiert dessen Dienstleis-tungsangebote. Bodo Seidel geht es darum, hu-manistische Bewegungen und ihre Repräsen-tanten zu verstehen und sie in den Kontextneuzeitlicher Kulturgeschichte einzuordnen.Uta Gerhardt analysiert Disputationen, die inder Thomaskirche in Leipzig stattfanden. Siezeigt auf, inwiefern interreligiöse Dialogerfah-rungen für die Begegnung mit Atheisten vonBedeutung sind. Ein Dokumentationsteil gibtEinblick in Selbstaussagen wichtiger Repräsen-tanten des Atheismus und humanistischer Or-ganisationen.

NEUE EZW-TEXTE

Reinhard Hempelmann, Friedmann Eißler,Claudia Knepper, Matthias Pöhlmann, MichaelUtschQuellentexte zur neuen ReligiositätEZW-Texte 215, Berlin 2011, 272 Seiten

Mit dem EZW-Text 215 stellt die EZW in45 Artikeln Materialien für die Bildungsarbeitzur Verfügung. Der Schwerpunkt liegt auf derDokumentation von Quellentexten. KompakteEinführungen sind mit der Präsentation charak-teristischer Dokumente verbunden, denen dasSelbstverständnis einer Gruppe oder Strömungzu entnehmen ist. Das Themenspektrum um-fasst Christliche Sondergemeinschaften (Teil I),Neue christliche Religiosität, die in charismati-schen, pentekostalen und biblizistischen Be-wegungen begegnet (II.), Östliche Religiositätim Westen (III.), religiös-säkulare Mischphäno-mene, die im Umfeld von Esoterischer Religio-sität (IV.) und Psychoszene (V.) anzutreffensind, sowie Säkulare Religiosität, die sich in re-ligionsartigen Erscheinungen zeigt, z. B. imKontext von Sport, Gesundheit oder Werbung(VI.).

Alle EZW-Texte sind per Abonnement oder im Einzelbezug erhältlich. Wenden Sie sich bei Interesse bitte schrift-lich (EZW, Auguststr. 80, 10117 Berlin), per Fax (030/28395-212) oder per Mail ([email protected]) an uns. Wei-tere Informationen finden Sie unter www.ezw-berlin.de.

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Friedmann Eißler, Ulrike LiebauE-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Heraus-geber wieder.

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Bezugspreis: jährlich € 36,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 3,00 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbestellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

75. Jahrgang 1/12

ISSN

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1-24

02 H

542

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Gewalt gegen Fremde – ein Angriff auf Gottes Ebenbild

Der Maya-Kalender und das Jahr 2012

Netzwerk christliche Spiritualität

Freiburger Papst-RedeZur Frage der Entweltlichung der Kirche

Serienkiller SuperstarDer Kult um psychisch kranke Straftäter

Stichwort: Konfessionslosigkeit

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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