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ALEX ZANARDI/ GIANLUCA GASPARINI Nicht zu bremsen

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ALEX ZANARDI/ GIANLUCA GASPARINI

Nicht zu bremsen

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Buch

Er spielte in der Königsklasse des Motorsports. Der Italiener AlessandroZanardi ist ein Kämpfer und er hat ihn geschafft, den langen Aufstieg,Schritt für Schritt von der Go-Kart-Bahn bis zum professionellen Renn-sport, schließlich bis zur Formel 1. Am 15. September 2001 verändert sichbei einem Rennen auf dem Lausitzring das Leben des Tourenwagen-Pi-loten jedoch dramatisch. Ein Horrorcrash. Sein Leben können die Ärztenach 15 Operationen retten, doch seine Karriere als Rennfahrer scheintbeendet, denn Zanardi verliert beide Beine. Doch als alle die Kapitula-tion erwarten, feiert Alessandro Zanardi den größten seiner Siege. MitDisziplin, Motivation und eisernem Willen bereitet er sein Comebackvor, ohne dabei seinen Humor zu verlieren. Er lernt, mit beweglichenBein-Prothesen zu gehen, sein Tourenwagen erhält eine spezielle In-nenausstattung – mit Gashebel am Lenkrad – und Zanardi wagt sichzweieinhalb Jahre nach dem Unfall wieder auf seine Schicksals-Renn-strecke. Alessandro Zanardi ist wahrhaftig »nicht zu bremsen«. Bei derTourenwagen-Europameisterschaft 2003 erreichte er einen sensatio-nellen siebten Platz. In seiner Autobiografie gibt Zanardi in eindrucks-voller Weise den Blick frei hinter die Kulissen des internationalen Renn-sports. Aber auch auf ein intensives Leben voller Leidenschaft, das Mutmacht. Denn Zanardi gelingt es immer wieder, selbst den härtestenPrüfungen des Schicksals versöhnlich mit einem Augenzwinkern zu be-

gegnen.

Autoren

Alessandro Zanardi wurde 1966 in Bologna geboren. Er begann im Jahr1980 Kart-Rennen zu fahren und debütierte elf Jahre später mit einemJordan in der Formel 1. Anfang 1996 ging er in die USA, um mit demTeam Ganassi in der F-Cart-Serie zu fahren. 1997 und 1998 gewann erzwei Titel in Folge und kehrte mit Williams zu den Grand Prix zurück.Am 15. September 2001 kam es auf dem Lausitzring zu einem folgen-schweren Zusammenprall, Zanardi verlor beide Beine. Im März 2003kehrte er mit Bein-Prothesen und umgebautem Wagen zurück in dieFomel 1, zurück auf den Lausitzring. Er ist verheiratet und Vater eines

Sohnes.Gianluca Gasparini wurde 1964 in Piacenza geboren und lebt in Mai-land. Er arbeitet als Journalist für »La Gazetta dello Sport« und schreibtvor allem über den Motorsport. Er ist verheiratet und hat ebenfalls

einen kleinen Sohn.

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Alex ZanardiGianluca Gasparini

Nichtzu bremsen

Aus dem Italienischen von Wolfgang Sichert

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Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »… peró, Zanardi da Castel maggiore!«

bei Baldini Castoldi Dalai Editore s.p.a., Milano

Ein besonderer Dank des Verlages gilt Simona Lari,Heike Bartsch, Ingo Rohrbach und dem Unfallkrankenhaus Berlin

(weitere Informationen unter www.ukb.de).Ein besonderer Dank des Übersetzers

gilt Lucia Lambertini-Thome, Jenny und Mara Callovi,Aki Scherlé, Sascha Maynert, Gertrud Sichert, Dr. Per Krüger,

Dr. Peter Guggenberger und Klaus-Jürgen Grundner.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher

aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

1. AuflageTaschenbuchausgabe März 2006

Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Baldini Castoldi Dalai Editore s.p.a., Milano

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe byBombus-Verlag, München 2004

Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Ullstein (00426505)

Lektorat: Sonja Hinte, BremenKF · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 10: 3-442-15367-0ISBN 13: 978-3-442-15367-1

www.goldmann-verlag.de

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VORWORT

In den Monaten, als dieses Buch geschrieben wurde, habe ichüber zahlreiche Titel nachgedacht. Aus dem einen oder anderenGrund aber wurden sie immer wieder abgelehnt. Zuerst von mei-ner Frau. Und wenn sie die Auslese innerhalb der Familie über-standen hatten, machte Gianluca kurzen Prozess. Wir hattenbegonnen mit »Meine Geschichte«. Zu rhetorisch. Dann, und eherim Spaß, hatte ich vorgeschlagen: »Der Tag, an dem ich lernte, mitabgetrennten Beinen zu laufen«. Zu lang. Ein Freund, der den Wit-zigen spielte, empfahl mir: »Ein Mann, zerschnitten von den Ren-nen«. Zu grausam. Nicht einmal einen Tag und eine Nacht über-standen hat: »Ich habe den Fuß noch immer auf dem Gas«. Dasversteht man nicht so gut, haben sie gesagt. Die Angelegenheitwar im Begriff, kompliziert zu werden. Ich wollte nichts über-mäßig Ernstes oder Gekünsteltes. Ich wollte einen Titel, der sichnach mir anhörte und der meine Eigenart respektierte. EinenMonat vor dem Druck hatte ich die Idee: »… però, Zanardi da CastelMaggiore!« – »… na sieh mal einer an, Zanardi aus Castel Maggio-re!« Ich war auch hier nicht zu bremsen, und es wurde daraus: »…da laus mich doch der Affe:Zanardi aus Castel Maggiore!« Aber siehaben gesagt, Affen und Läuse hätten im Titel eines solchenBuches nichts zu suchen. Keine Frage.

»… na sieh mal einer an, Zanardi aus Castel Maggiore!« ist dersymbolische Satz so vieler Momente meiner Karriere und meinesLebens. Es ist der Satz, den ich innerlich ausrief, als ich mich nacheinem Sieg in einem sehr schwierigen Rennen der amerikani-schen Formel 3000 auf dem Podium wiederfand. Oder auch kurz

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nach einem unmöglichen Überholmanöver, wie diesem berühm-ten von Laguna Seca. Auch der Titel der deutschen Übersetzungverdeutlicht meine Lebenseinstellung. Ich war und bin immerdann »nicht zu bremsen«, wenn es gilt, Ziele zu erreichen, die demPapier nach unmöglich schienen.Trotz meines leicht exhibitionis-tischen und fast schon angeberischen Wesens habe ich immer dietypische Unsicherheit dessen mit mir herumgetragen, der ausbescheidenen Verhältnissen stammt, aus einem kleinen und be-schaulichen Dorf, eben aus Castel Maggiore. Mir schienen diegesteckten Ziele unerreichbar und die Rivalen, die es herauszufor-dern galt,unschlagbar.Das war mein Glück.Aus der Furcht heraus,nicht der Beste zu sein, habe ich mir immer einen großen Respektvor allen bewahrt, mich mehr als nötig vorbereitet und hierdurchjene Geisteskraft kultiviert, die mich – nach meinem Aufenthalt inBerlin – das schwerste all meiner Rennen hat gewinnen lassen.

Ich hätte niemals gedacht, dass ich ein Buch über mein Lebenschreiben würde. Sechs Monate nach dem Unfall kam Gianluca zumir, um ein Interview mit mir für »Sport Week« zu machen, dieWochenbeilage der »Gazzetta dello Sport«. Ich las es,und es gefielmir. Wir telefonierten immer häufiger miteinander, sprachenimmer mehr auch über unseren Alltag und unsere Vorlieben undstießen dabei auf sehr schöne Übereinstimmungen. In einemunserer Gespräche legte Gianluca mir nahe, allen von dem zuerzählen, was ich erlebt hatte, vor allem aber von meinem Lebens-mut. »An dem Tag, an dem ich mich dazu entschließen werde,möchte ich, dass du mir hilfst«, habe ich zu ihm gesagt. »Ganzgleich, mit wem du das Buch schreibst«, antwortete er mir, »aberes zu schreiben, ist fast schon deine Pflicht. Es gibt eine MengeLeute in Schwierigkeiten, die ein bisschen mehr Kraft bekommenkönnten, wenn sie erfahren, was du jetzt alles so machst.« Ich binfroh, dass ich auf ihn gehört habe. Dann habe ich angefangen zuerzählen. Wir schrieben, und meistens musste er mich bremsen,da wir sonst mit Anekdoten und Witzen bald auf tausend Seitengekommen wären. Schließlich stand genau die Geschichte auf

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dem Papier, die ich erzählen wollte. Zu viele Biographien sind kaltund scheinen nur wegen eines Vertrages geschrieben worden zusein. In den Seiten dieses Buches aber steckt meine Seele, in ihnenbin ich. Und das ist es, was zählt.

ZUR TASCHENBUCHAUSGABEim Frühjahr 2006

Am Abend des 28. August 2005 habe ich mir nach dem Rennen inOschersleben alle Berichte im Fernsehen angesehen, die übermeinen Sieg berichteten: Ich war sehr müde, aber auch unglaub-lich glücklich. Dieser Erfolg ging mir sehr nahe. Er ist das großar-tige Resultat von Willen und Vertrauen in die eigene Leistung.Zugleich war es eine schöne Genugtuung für meine Familie undalle meine Freunde, die immer zu mir gehalten haben.

Dieser Sieg ist lange vorbereitet worden. Es begann bereits andem Tag, als ich das Berliner Krankenhaus verlassen konnte. Vondiesem Moment an schaute ich nur nach vorne. Statt dem hinter-herzutrauern, was hinter mir lag, wollte ich mich an demerfreuen, was ich noch vor mir hatte. Ich bin mir sicher, dass dasLeben noch viele schöne Momente – und möglicherweise auchweitere Siege – für mich bereithält.

Alex Zanardi

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KAPITEL1Es war die Woche des 11. September 2001, die Woche des An-schlags auf das World Trade Center in New York. Aufgewühlt vonder Angst, die jeden von uns getroffen hatte, hatte ich plötzlicheine Ahnung: Wenn du glaubst, das Unglück kennengelernt zuhaben, geschieht etwas noch viel Schlimmeres und zwingt dich,deine Ansichten zu überprüfen. Ich fragte mich ständig: »Waskonnte es noch Schlimmeres geben?« Die gesamte F-Cart-Seriestand unter Schock. Seitdem wir in Deutschland unseren Fuß aufden Lausitzring gesetzt hatten, auf dem das erste der beidenEuropameisterschaftsrennen ausgetragen werden sollte, hattenwir ständig diskutiert: Sollen wir aufgeben? Müssen wir nichttrotz allem fahren?

An jenem Dienstag hatte ich, als ich mit Daniela nach Hausekam, meine Mutter vor dem Fernseher angetroffen, vor den Bil-dern dessen, was gerade in New York geschah. Eine halbe Stundelang hatte ich mit offenem Mund dagestanden, wie gelähmt vomAnblick jenes Flugzeugs, das in den zweiten Turm hineinraste.Dann hatte ich meinen Sohn Niccolò genommen;ich hatte ihn mirauf die Schultern gesetzt und war zu Fuß zum Supermarkt gegan-gen. Um diesem Schrecken zu entkommen. Um die Tragödie nichtsehen zu müssen. Ich hatte den Blick meines Sohnes gesucht,mich nach der Unschuld in seinen Augen gesehnt. Aus demInstinkt heraus, dem auszuweichen, was du nicht ertragen kannstoder nicht ertragen willst. Aus dem Instinkt des Überlebens.

Am Tag danach war ich nach Berlin abgereist und von dort ausweiter nach Osten zu jenem Oval gefahren,auf dem wir am Sams-

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tag mit unserem Rennen zu Gast sein sollten. Der Himmel wartrist und grau. Der Himmel blieb grau, und die Diskussionen nah-men kein Ende. Stunde um Stunde. Wir haben lange darübergesprochen: Ist es richtig, ein solches Spektakel nach allem, waspassiert war, trotzdem stattfinden zu lassen? In den USA warenalle sportlichen Ereignisse abgesagt worden, als Ausdruck desäußersten Respekts vor denen, die ihr Leben bei dieser Tragödieverloren hatten. War es richtig, nun auf der anderen Seite desOzeans einen solchen Wettstreit auszutragen? Ja, haben wirschließlich entschieden,es ist die beste Art zu reagieren,wenn wirden Wettbewerb austragen. Um ein Zeichen der Hoffnung zu set-zen. Um sich nicht geschlagen zu geben. Jeder Wagen sollte aufder Motorhaube oder an den Flanken die Stars and Stripes tragen,und vor dem Rennen hatten wir eine Schweigeminute zumGedenken an die Opfer vorgesehen.

Während wir noch eine Lösung suchten, hatten wir am Don-nerstag mit dem ersten Training auf der Piste begonnen. Es liefausgezeichnet: Ich und mein Mannschaftskollege, der BrasilianerTony Kanaan, waren die Schnellsten gewesen. Ein guter Beginn.Am Freitag aber, als die Trainingsläufe die Startreihenfolge fest-legen sollten, begann es zu regnen. Und auf einem Oval, auf demman im Schnitt mit 350 und mit Spitzen von 400 Stunden-kilometern unterwegs ist, fährt man nicht, wenn es regnet. KeineQualifikation, keine erste Reihe, wie es im Bereich unserer Mög-lichkeiten gelegen hätte. Das Reglement sieht in einem solchenFalle vor, dass die Aufstellung nach der aktuellen Klassifikation inder Meisterschaft vorgenommen wird: Ich erhielt die Startnum-mer 23.

Es war ein hartes Jahr gewesen. Nach einer nicht besondersglücklichen Formel-1-Saison mit dem Team Williams hatte ich einwenig pausiert. Dann war ich den Verlockungen von Morris Nunnerlegen. »Mo«, wie er in seinen Kreisen genannt wird, stand mirals Ingenieur zur Seite,als ich meine beiden Titel gewann und zumIdol der amerikanischen Anhänger wurde. Er hatte nun ein eige-

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nes Team zusammengestellt und mich davon überzeugt zurück-zukehren. Um aufrichtig zu sein:Mehr als er hatte mich meine Lei-denschaft überzeugt. Dieselbe Leidenschaft, die mich erfüllt, seit-dem ich mich zum ersten Mal in ein Kart gesetzt habe. Aber esfunktionierte nicht. Die Mannschaft war sehr jung und musstedie Zusammenarbeit erst noch lernen. Und Morris war müde. Erwar schon fast 64 Jahre alt und setzte sich nicht mehr mit seinerganzen Kraft für die Sache ein wie früher einmal.Wir hatten nichtviel zustande gebracht, auch wenn wir in den letzten Rennen einwenig gewachsen waren: Der Lausitzring mit diesem für alleneuen Oval konnte die Wende bringen. Die ersten Trainingsläufehatten das gezeigt.

Das einzige Problem war, wirklich zu fahren. Schon allein des-halb, weil es am Samstag noch immer regnete. Wenn die Pistenicht rechtzeitig abtrocknete, würde alles auf den folgenden Tagverschoben. Der Himmel aber, noch immer schrecklich grau, hörteganz plötzlich damit auf, sein Wasser herunterzuschicken. Undman entschied,dass angefangen werden konnte. Es gab nicht ein-mal mehr die Zeit, sich vor der angekündigten Schweigeminuteauf die Strecke zu konzentrieren. Ich weiß nicht, ob Sie eine Vor-stellung davon haben, was die totale Stille auf einer Automobil-rennstrecke bedeutet, an einem Ort, der üblicherweise geprägt istvon betäubendem Lärm. Diese Stille war beeindruckend. Dannbegann das Rennen, und schließlich schien es mein Rennen zusein. Nach und nach hatte ich vom Start weg das Feld eingeholt.Ich spürte, wie der Wagen immer schneller und immer stabilerwurde. Ich empfand dieses feine Vergnügen, das aus der Gewiss-heit kommt, alles unter Kontrolle zu haben und ohne die leisesteUnsicherheit Herr der Situation zu sein. Dasselbe Vergnügen, dasmich bei so vielen Erfolgen in dieser Art von Rennen begleitethatte.

Dreizehn Runden vor dem Ziel lag ich in Führung. Es fehlte eineletzte Tankfüllung, die der Rennverlauf bei mir wie bei jedemanderen notwendig gemacht hatte. Noch ein »splash & go«, wie

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es im Jargon heißt,noch ein Spritzer Benzin zum Schluss und dannlos! Noch während ich schnellstens wieder losfuhr und die Jungsvom Team mich mit ihren Blicken und mit ihren Zurufen ansporn-ten, war ich sicher, auch das letzte Hindernis hinter mir gelassenzu haben. Ich nahm die Ausfahrt zur Boxengasse, die parallel zurStrecke verläuft, und dachte: »Gleich hast du’s!« Aus irgendeinemGrund drehte sich nach der Hälfte dieses Asphaltstreifens derWagen. Ich fuhr quer über ein Stück Grün, geriet auf die Piste undversuchte, den Monoposto wieder unter Kontrolle zu bekommen,der sich gegen die Fahrtrichtung gestellt hatte, während das Feldmit 340 Stundenkilometern näher kam. Dann wurde es plötzlichdunkel.

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KAPITEL2Von klein auf mochte ich die Dunkelheit, während die anderenAngst vor ihr hatten. Es war eine Form von Übermut, um die Kom-plexe zu bekämpfen, wie Kinder sie so haben. Ich war ein wenigdick,und das machte mich unsicher.Beim Ballspielen zum Beispielwar ich immer der Letzte, der gewählt wurde. Ich hatte nicht dasgeringste Talent und entschied,dass nicht ich es war,der dem Fuß-ball nicht gefiel,sondern das Fußballspiel mir nicht.Daher war mirjede Situation recht, um auf Rache zu sinnen und Mut zu zeigen,eine Eigenschaft, an der es mir nie gemangelt hat. Ich verkündetealso in aller Offenheit,ein großer Liebhaber der Dunkelheit zu seinund nicht die geringste Angst zu kennen. »Mit meinen hellenAugen sehe ich ausgezeichnet«, erzählte ich, »wie eine Katze!« Somanche Beule am Kopf musste ich hinnehmen, um meine Affi-nität zu den Katzenartigen unter Beweis zu stellen. Stets war ichvon einer großen Entschlossenheit, und ich habe sie mir auch alsErwachsener noch bewahrt.

Ich wurde in Bologna geboren. Die Geschichte meiner Elternunterscheidet sich kaum von so vielen anderen Anfang der Sech-zigerjahre: wenig Geld, der Wunsch nach Arbeit, einem fried-lichen, freundlichen und einladenden Haus, um die Kinder darinaufwachsen zu lassen, und in meiner Familie waren das ich undmeine Schwester Cristina. Als ich noch keine vier Jahre alt war,ließen wir uns in Castel Maggiore nieder, einem Dorf sehr naheder Stadt, in dem es sich gut leben ließ und noch immer gut lebenlässt. An das Bologna meiner ersten vier Lebensjahre erinnere ichmich wenig. Einige Episoden aber sind doch als sehr scharfe Foto-

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grafien in meinem Gedächtnis haften geblieben. Wir wohnten ineiner sehr schönen Gegend, die sich Casaglia nennt, zu Füßen desHügels, genau über dem Viertel Saragozza, in einem Wohnhausim vierten Stock. Schon damals war ich ein waghalsiger Verrück-ter. Ich war auf Raketen fixiert, und jeder Gegenstand musste sichfür mich in einen Flugkörper verwandeln. Eines Tages kam eineSignora mit einer 300-Gramm-Dose Thunfisch in der Hand zu unsherauf. Sie klopfte an und sagte zu meiner Mutter: »Das mussIhnen gehören, es wäre mir beinahe an den Kopf geflogen.« Biszum Alter von dreieinhalb Jahren trank ich vor dem Schlafenge-hen immer ein wenig Zuckerwasser aus einem Milchfläschchen;meine Mutter aber versuchte schon seit einiger Zeit, es aus demVerkehr zu ziehen. Eines Tages warf ich, weil ich keine andereInterkontinentalrakete finden konnte, kurzerhand das Fläschchenaus dem Fenster. »Und was machst du nun?«, schimpfte meineMutter. »Jetzt trinke ich aus dem Glas«, sagte ich ganz artig.

Das Fernsehen war damals noch nicht so verbreitet. Die Leutefanden ihre Unterhaltung vor allem in der Bar. Unten im Haus gabes eine von denen, die sogar mit einer öffentlichen Waage ausge-stattet waren, mit einer von diesen großen, wie sie früher üblichwaren. Alle gingen dort hin. Auch ein schon etwas älterer Herr, einTrödler, der auch mit Schrott und Alteisen handelte und der allesmit Pferd und Wagen transportierte. Er war immer betrunken. DerBarbesitzer beschwerte sich ständig, weil er genau auf der Waageparkte, und so spielten mein Vater und seine Freunde ihm einesTages einen unglaublichen Streich. Papà war Bauklempner undhatte ein Schweißgerät in seinem Wagen. Er ging es holen, und sieschweißten damit die Hufeisen des Pferdes an die Plattform derWaage. Als der Alte herauskam, nachdem er sich wieder einmalwie ein Schwamm vollgetrunken hatte, stieg er auf den Wagenund begann an den Zügeln zu ziehen: »Hoooooooh!«, rief er. DasPferd rührte sich nicht von der Stelle, und er erklärte allen, dieinzwischen aus der Bar herausgekommen waren: »Starrsinnig istes!« Er stieg vom Wagen und zündete ein Stück Zeitung an, das er

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unter dem Bauch des armen Tieres entlangführte; es streckte sichund zog, aber es vermochte nicht, seine Hufe vom Boden zu lösen.

Eines anderen Abends kam ein Irgendwer in die Bar im Satteleines Demm, eines Mopeds, dessen Zylinder um 45 Grad nachvorn geneigt war. Während er sich ein Glas Roten genehmigte,schraubten die anderen, die gerade von der Jagd gekommenwaren, die Kerze ab und füllten Schießpulver aus einer Kartuschein den Motor. Er kam schön beschwipst aus der Bar und sprang inden Sattel, wobei er ausrief: »Jungs, wir sehn uns!« Kaum aberhatte er den Motor angelassen, gab es einen mordsmäßigenKnall, und Kopf und Zylinder flogen durch die Luft. Mit ungläubi-gem Staunen sagte er: »Dio bon, l’ha fat un ritòrn ad fiamma!« –»Großer Gott, jetzt ist die alte Liebe doch noch mal aufgeflammt!«Und die anderen bogen sich vor Lachen.

Mein Vater hieß Dino. Er war bei allen sehr beliebt. Und er lebtnicht mehr. Meine Mutter heißt Anna, und sie machte Hemden,wenn sie sich nicht um den Haushalt kümmerte oder sich mit unsbeschäftigte. Der Beruf der Schneiderin, den sie von ihrer Mutteroder von ihrer Tante gelernt hatte, erlaubte ihr zu arbeiten, ohnedass sie das Haus verlassen musste. Die Leute kamen zu uns. Sienahm Maß bei ihnen,und dann begann sie mit der Arbeit. Ich erin-nere mich, dass sie uns zu Bett brachte, und dann ging’s los: Ichschlief ein mit dem Geräusch dieser Maschine, die nähte undnähte. Und doch begann ihr Tag immer schon am frühesten Mor-gen. Besonders am Dienstag, wenn sie die Knopflöcher säumteund die Knöpfe an die am Vortag zugeschnittenen und zusam-mengehefteten Stoffteile nähte. Dies waren Arbeiten, die mit dergrößten Sorgfalt von Hand ausgeführt werden mussten und dieso aufwendig waren, dass sie sich gezwungen sah, schon um vierUhr morgens aufzustehen. Sie arbeitete mit Nadel und Fadenbeim Schein einer kleinen Lampe. Oft wachte ich auf, blinzelte indas Licht aus ihrem Zimmer und ging zu ihr hinüber mit meinerBettdecke. Màmma »erfand« ein Bettchen für mich, indem siezwei Stühle zusammenrückte, sie mummelte mich ein, sang mir

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mit leiser Stimme etwas vor, und ich schlief mit dem Kopf aufihren Beinen wieder ein, während sie weiterarbeitete.

Papà stand ihr sicherlich in nichts nach. Oft kroch ich aus denFedern,um zur Schule zu gehen,und er war schon fort;oft ging icham Abend zu Bett, und er war noch nicht heimgekehrt. Er warimmer zum Scherzen aufgelegt, und weil Màmma recht leicht-gläubig war, taten wir uns zusammen,um sie auf den Arm zu neh-men; um aber aufrichtig zu sein: Sie verstand schon Spaß. Eswaren alberne Geschichten von der Art: Das Telefon macht»Kuckuck«. Sie hatte mit einer Freundin gesprochen, die sich einesroten Apparates rühmte anstelle des beigefarbenen, wie alle eshatten. Und mein Vater verkündete: »Denk dir nur, meine Familiehat eins genommen, das ›Kuckuck‹ macht, wenn es klingelt.«Meine Mutter sprach sofort mit jemandem darüber und am fol-genden Abend sagte sie so etwas wie: »Diese dumme Sabrina willnicht glauben, dass es ein Telefon gibt, das ›Kuckuck‹ macht.« Wirkonnten uns vor Lachen nicht mehr halten. Meine Eltern mochtensich sehr. Sie hatten geheiratet, bevor mein Vater zum Militärgegangen war. Früher wurde auch geheiratet, um aus dem Hauszu kommen; sie aber hatte wegen des Militärs vorläufig nur vonihrem Haus in das Haus der Familie meines Vaters gewechselt.

Ich kam nach Castel Maggiore, als ich schon fast vier Jahre altwar. In den Kindergarten ging ich nur für einen Monat. MeineSchwester Cristina ging nicht gern dorthin, sie weinte immer; undum keines ihrer Kinder ungerecht zu behandeln, meldete unsereMutter uns beide wieder ab. Zu meinem großen Verdruss, denndas Essen dort schmeckte ausgezeichnet. Wie übrigens auch zuHause. Die Schwestern aber schienen das Einvernehmen mit denKindern an der Menge der Nahrung zu messen,die sie zu sich nah-men: Ich genoss die Mahlzeiten und schenkte den Schwestern imGegenzug eine tiefe Befriedigung. Ich war ein sehr wagemutigesKind, dabei jedoch gutmütig und auch sehr eigenständig. Ichspielte viel allein und scheute mich nicht, immer neue Dinge aus-zuprobieren.

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Einige Tage nachdem wir umgezogen waren lud mich einMädchen, das in unserem Mietshaus wohnte, zu einem Fest insHaus ihrer Großmutter ein. Es lag an einer stark befahrenen Land-straße, etliche Häuserblocks entfernt von uns. Am nächsten Tagfuhr ich in der Annahme, dass das Mädchen noch immer dort sei,mit meinem Dreirad los, um sie wiederzusehen. Auf einmal aberbog ich nach links ab,anstatt nach rechts,und so fanden sie mich inFuno wieder, dem Nachbarort, der einen Kilometer entfernt war.Bis dorthin hatte ich mich länger als eine Stunde mit meinem Drei-rad abgestrampelt. Ich weinte vor Verzweiflung, aber ich schafftees, denen, die mich fanden, zu erklären, wo ich wohnte. Sie brach-ten mich nach Hause, wo meine Mutter Hemden nähte. Sie wardavon überzeugt gewesen,dass ich bei meinem Vater sei,währender das Gras mähte. Mein erstes großes Abenteuer. Und sie hattenes noch nicht einmal bemerkt.

Dann kam der »Hof«, und dies ist eine Erfahrung, die ich mei-nem Sohn leider nicht mehr vermitteln kann. In den großen Städ-ten traut sich niemand mehr, die Kinder allein zu lassen, nicht ein-mal im Sommer. Vor einigen Jahren aber war es noch normal,ganze Horden von Kindern frei umherstreifen zu sehen. Nach derSchule wurde gegessen und dann nichts wie raus! Spielen bedeu-tete, mit den anderen zusammenzusein, kleine Hütten zu bauen,in den Bäumen herumzuklettern, über Zäune zu steigen – undjeden Tag dachten wir uns etwas Neues aus.Es war eine Welt ohneBeschränkungen, wenn auch in Wahrheit begrenzt auf meinenächste Umgebung. Am Ende der Straße standen meine Herku-les-Säulen, hier war der Abgrund, über den hinaus sich niemandvorwagte. Mit den Bewohnern dieser Welt war ich dick befreun-det:Eng verbunden war ich mit Alberto,obwohl wir uns oft wegender wunderschönen Roberta geprügelt haben; dann Lorenzo, denich stets mit dem Tarzanschrei zu begrüßen pflegte;und Gianluca,den ich sehr um seine zwei Waschmittelkartons voller Legosteinebeneidete. Ich war oft bei ihm zu Hause, um mit ihm zusammendie kompliziertesten Flugzeuge zu bauen. Ich hatte wenig Spielsa-

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chen und ich behandelte sie auch nicht allzu gut. Einmal schenktemir mein Großvater ein Motorrad mit Friktionsantrieb, und meinerster Gedanke war, mich mit Schraubenziehern zu bewaffnenund es komplett auseinander zu nehmen, um zu sehen, wie esfunktionierte. Er wurde ziemlich wütend, der arme Großvater.

Die Haupttreffpunkte im Dorf waren die Schule, der Hof desHauses und das Kino. Der Film am Sonntagnachmittag war einRitual, und wenn sie dann auch noch einen mit Bud Spencer oderTerence Hill vorführten, wurde es ein unglaubliches Fest. Im Kino»Rivoli«, das später abgerissen wurde, hatte ich meinen Lieblings-platz in der ersten Reihe; es war der Platz, der gleich neben demMittelgang lag. Mir gefiel die Vorstellung, vor allen zu sitzen undniemanden neben mir zu haben. Wer weiß, vielleicht träumte ichschon damals von der Pole Position. Aber es war wunderbar. Ein-mal zeigten sie »Taxi Driver« mit Robert de Niro, freigegeben ab 14Jahren. Ich durfte also nicht hinein,und es begann ein Nachmittagder tödlichen Langeweile. Mein Vater war mit Freunden zumFischen gefahren, meine Mutter arbeitete. Im Hof war niemand.Die Fenster des Hauses gegenüber waren geschlossen. Alle Kinderder Gegend waren mit ihren Eltern unterwegs, bei den Großelternoder an einem anderen, in meinen Augen sicher schönen Ort. Ichstreifte durch die Gegend und wusste nicht,was ich tun sollte. Miteinem Mal fand ich mich in dem kleinen Garten hinter unseremHause wieder, in der einen Hand einen Stein, in der anderen einenStock. Dort saß ich und blickte mich um: Absolute Verlassenheit.Die Stille und das Gefühl der Leere waren so stark, dass ich be-schloss, ich müsse in Zukunft reisen. Ich war acht Jahre alt, viel-leicht ein wenig jünger, aber genau in diesem Moment beschlossich, dass, wenn ich irgendeiner Arbeit würde nachgehen müssenoder irgendeine Leidenschaft pflegen, es die des Weltreisendenwäre.

Meine Schwester Cristina war zwei Jahre und ein paar Monateälter als ich. Im Vergleich zu mir war sie viel reifer und noch dazuihrem Alter voraus und mit zehn Jahren schon eine Frau. Verant-

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wortungsbewusst und organisiert wie sie war, schaffte sie esimmer, Zeit für alles zu finden. Sie war sehr gut in der Schule, aberauch im Sport, wo sie in die Schwimmauswahl für die Olympi-schen Spiele berufen wurde. Sie war, alles in allem, einfach einNaturtalent, und die ständige Konfrontation mit ihr verschafftemir einiges Unbehagen. Sie gab keinen Anlass zu wirklichem Lei-den, denn ich war ein gutmütiger Kerl, den wenig beeindruckte.Aber meine Eltern setzten mich unter Druck, und die ganzeGeschichte störte mich doch ein wenig. Ich hatte eine sehr glück-liche Kindheit, aber dieses ständige Vergleichen mit meinerSchwester war unangenehm,zumal ich das genaue Gegenteil vonihr verkörperte: Ich war eine Art zärtlicher Lausbub, der es ver-stand, sich durch das Erschleichen von Gunst auch eine langeReihe von Streichen verzeihen zu lassen. Trotzdem kam immerwieder auch der Moment, in dem sie mir die Rechnung präsentier-ten: Ich erlaubte mir einfach zu viel. Und dafür bezog ich auchschon mal eine Tracht Prügel. Sie war ernster, bedächtiger, ausge-glichener, und sie erfreute sich eines bemerkenswerten Charis-mas. Sie war diejenige, an die sich die Freundinnen wandten,wenn sie ein Problem hatten. Sie zeigte niemals eine Unsicherheitund hatte einen großen Einfluß auf alle. Ich beneidete sie darum.Auch ich wollte bei Freunden angesehen sein wie sie. Auch ichhatte meinen Freundeskreis und auf meine Weise war auch ichsympathisch; dem Vergleich mit ihr aber hielt ich nicht stand:Immer war sie es, die besser dabei wegkam, und so empfand ichdie Konfrontation mit ihr als objektiv gnadenlos.

Mehr noch: Nur weil sie älter war, entfaltete sie Aktivitäten, zudenen dann auch ich angeleitet wurde. Sie konnte sehr gutschwimmen; und deshalb musste auch ich schwimmen, aber esbedeutete mir nichts. Also stürzte ich mich in die Tiefen desSchwimmbades von Castel Maggiore: ein Meter und zehn. Ichtauchte unter, bis ich mit meinem Bauch den Boden berührte. Sound nicht anders legte ich an die zehn Meter zurück, während dieLehrer mir die Meinung geigten. Auch wenn das Schwimmen mir

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im Alter von fünf Jahren eine meiner ersten großen charakter-lichen Befriedigungen verschaffte. Eines Abends bei Tisch, heim-gekehrt von der ersten Schwimmstunde, schaltete ich mich in dieDiskussion der »Großen« ein, indem ich erzählte: »Ich kann auchschwimmen!« »Was verstehst denn Du davon! Du hattest heutedeine erste Lektion …«, gab mein Vater zurück. »Ja ja«, sagte ich,»ich kann schon ohne Weste schwimmen! Ich schwöre es dir, ichbin ohne geschwommen.« Gegen Ende des Unterrichts hatte derLehrer mich eine Schwimmweste anlegen lassen, in der kaumnoch Luft gewesen war, und ich war auch so über Wasser geblie-ben. Kaum wieder zu Hause, gab ich meinen unglaublichen Erfolggleich zum Besten.Womöglich,weil ich immer ein kolossaler Exhi-bitionist gewesen bin; vor allem aber, weil ich solcher Revanchenim familiären Kreise dringend bedurfte.

Jedenfalls beendete mein Vater das Gespräch mit einem »Alsogut,morgen Abend komme ich und schaue es mir an.« Und er kamwirklich. Zu Beginn der Unterrichtsstunde stellte ich mich beiRoberta vor, dem Mädchen, das uns betreute, um ihr zu sagen,dass ich die Schwimmweste nicht wolle; schließlich musste ichPapà ja etwas zeigen. »Aber du brauchst sie«, rief sie. »Nein«, gabich zurück, gestern hast du zu mir gesagt, dass sie leer war unddass es auch ohne geht. Also gehe ich ohne.« Ich sprang hinein,hielt mich drei, vier Meter über Wasser, dann begann ich zu sinkenund strampelte wie ein Besessener. Ich kam wieder hoch, prustetewie ein verstopfter Schornstein und ging erneut unter.Aber als ichdann wieder hochkam, hatte ich kein Problem mehr mit demSchwimmen. Seit diesem Tag habe ich keine Schwimmwestemehr gebraucht. Um meinem Vater etwas zu beweisen und weilich es mir zugetraut hatte, hatte ich eine kleine Heldentat voll-bracht. Er lachte wie verrückt. Aber ich kann mir seine Zufrieden-heit vorstellen, vor allem heute, da ich selber Vater bin. Und wennich meinen Sohn bestimmte Dinge vollbringen sehe, dann rührtes mich tief.

Allmählich begann ich, mir über meine Bestimmung klarzu-

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werden.Wenn ein Funke in mir war, gelang mir fast alles; aber derFunke konnte auch erlöschen. Schon am folgenden Abend, als ichmich durch meinen Vater nicht mehr herausgefordert sah, bedeu-tete mir das Schwimmen nichts mehr. Monate später sagten siezu mir,dass ich zwei Bahnen im Freistil schwimmen solle,zwei aufdem Rücken, zwei Delphin und zwei Brust. Ich machte es, aber miteinem ganz eigenen Stil: ein Arm Brust, einer Freistil, einen Satznach da und einen nach dort. »Was machst du denn da?!«, riefendie Bademeister. »Eine gemischte Bahn«, gab ich zurück, brachtesie zum Lachen und zog mich aus der Affäre. Sport sagte mirdamals nicht so zu. Nur in der Schule brachte ich ein bisschen wasdarin zustande. Einmal nahm ich an einem Wettbewerb teil, demklassischen »Campestre«-Geländelauf. An einem gewissen Punktder Strecke baute ich eine sagenhafte Abkürzung ein und warplötzlich unter den ersten fünfzig der insgesamt drei- oder vier-hundert Läufer. Kaum zu Hause angekommen, gab ich es natür-lich gleich zum Besten,ohne mir über die Folgen im Klaren zu sein:Der Wunsch meiner Eltern, mich zur Ausübung irgendeiner sport-lichen Aktivität zu bewegen, war so stark, dass mein Vater mirunverzüglich ein Paar ultraleichte Laufschuhe kaufen ging. Undda es damals ein solches Angebot wie heute noch nicht gab,bedeutete dies für sie ein großes Opfer. Leider schlug jeder ihrerVersuche fehl, zumindest bis ich zum Kart kam.

Der einzige Sport, den ich mir im Fernsehen ansah, waren dieGrand Prix der Formel 1. Mein Vater hatte eine große Leidenschaftfür sie, und wenn die Rennen übertragen wurden, schaute ich siemir mit ihm zusammen an. Sie gefielen mir so sehr, dass ich miraus Rohren und anderen Materialien, die ich aus seiner Garagemitgehen ließ, sowie vier Rädern, die ich aus der Abfalltonne ent-wendete, ein kleines Kart zu bauen versuchte, ohne jedoch meinZiel zu erreichen: Es kam ein Gebilde von fast quadratischer Formdabei heraus, in dessen Seiten ich mit der Bohrmaschine Löcherbohrte, um die Räder dort anzubringen. Ich war ausgesprochenerfinderisch. Schon Jahre zuvor hatte ich aus zwei verlängerten

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Rollschuhen, einem bisschen Sperrholz und ein paar Nägeln eineKarre gebaut, die ich dann von Mita, unserem Deutschen Schäfer-hund, ziehen ließ. Und zwar mit Hilfe einer Angelrute, an derenSchnur ich ein Beefsteak gehängt hatte,das vor der Nase des Hun-des pendelte. Er folgte dem Stück Fleisch und ich kam gratis inFahrt. Die Karre war allerdings am Halsband befestigt, so dass dasarme Tier sehr bald schon schlappmachte: bewegt von Mitleidgab ich Mita das Beefsteak, und das Experiment endete, nochbevor es richtig begonnen hatte.

Jeden Tag aber erfand ich etwas Neues. In der Schule zum Bei-spiel baute ich ganz raffinierte Sachen. Aus Modelliermassemachten meine Kumpels höchstens einen Hampelmann oder einHaus. Ich hingegen zauberte in der zweiten Grundschulklasse diePiste von Indianapolis daraus hervor, mit Boxengasse und dendazugehörigen Türmchen. Ich habe sie sogar bemalt und meineMutter hat sie noch heute. Mir war immer ein großes handwerk-liches Geschick zu Eigen, das in einer bestimmten Zeit auf demGebiet der Fahrräder zu einer besonderen Blüte kam. Ich ging zumSchrotthändler und kaufte mir von meinem gesparten Geld di-verse Klappfahrräder vom Typ »Graziella«, die ich ganz allein wie-der in Ordnung brachte: Ich sägte den Gepäckträger ab, zerlegtedie Rahmen, lackierte die Teile neu und so weiter. Das Beste pas-sierte, als sie anfingen, die Langsättel für Mofas zu verkaufen,besonders für den »Ciao«. Meine Schwester besaß einen solchenSattel. Sie ließ ihre Freundinnen darauf mitfahren und handeltesich Bußgelder dafür ein. Mein Vater wurde wütend und sorgtedafür, dass sie den Sattel wieder abbaute. Ich hatte schon seitlängerem Appetit darauf, profitierte davon und befestigte ihn mitzwei aus der Garage besorgten Halbzollrohren an den Naben mei-nes feuerroten Fahrrads. Mit dem langen Sattel und TGM-Aufkle-bern an den Seiten fuhr ich zur Schule und wurde von meinenFreunden sehr beneidet. Aber in Wahrheit war es eine »Graziella«.Diesen meinen technologischen Abenteuern wohnte stets einhohes Maß auch an Erfolglosigkeit inne, aber da ich auf eine

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