2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die...

9
____________________________________________________________________________________________________ Materialphysik I 19.10.12 1. Begriffsbestimmungen Die Materialphysik beschäftigt sich mit jeder Art von Materie, die Menschen einsetzen, um daraus etwas Komplexes herzustellen. Der Begriff "Material" ist also praktisch gleichzusetzen mit dem Begriff "Werkstoff". Letzterer betont technologische Aspekte, während der Term "Material" oft im naturwissenschaftlichen Kontext eingesetzt wird. So führt die "Materialwissenschaft" Er- kenntnisse der naturwissenschaftlichen Disziplinen Chemie, Physik und Biologie synergetisch zu- sammen. Als eigene Disziplin etabliert sich an vielen Hochschulen zurzeit das Fach "Materialwis- senschaft und Werkstofftechnik", das ein eigenständiges Existenzrecht im Kanon der Natur- und Ingenieurswissenschaften erreichen will und sowohl naturwissenschaftliche Grundlagenforschung als auch Produktionstechnologie umfasst. Wesentliche Zielsetzung der "Materialphysik" ist die Aufdeckung des Zusammenhangs zwi- schen makroskopischen Eigenschaften der Materialien und ihrem inneren strukturellen Aufbau. Da- bei spielen in der Regel strukturelle Baueinheiten auf sehr verschiedenen Größenskalen eine Rolle und treten miteinander in Wechselwirkung. Ein Material ist folglich ein komplexes System, dessen fundamentales Verständnis auch heute noch eine Herausforderung darstellt. Historisch haben sich die Materialwissenschaften aus einer mittelalterlichen Phase der Al- chemie, bei der es zunächst darum ging verschiedene Metalle darzustellen, entwickelt. Versuche, edles Gold aus minderwertigen Elementen herzustellen, sind vielfach überliefert. Noch heute zeu- gen die Elementnamen Kobalt und Nickel von dieser mystischen Zeit des Bergbaus und der Metal- lurgie. Im 18. und 19. Jahrhundert, als man erkannte, dass sich Legierungen gezielt aus Elementen herstellen lassen, entwickelte sich die Metallkunde als eine Spezialdisziplin der Chemie. Zu dieser Zeit schienen die Eigenschaften eines Materials ausschließlich durch seine chemische Zusammen- setzung definiert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann immer deutlicher, dass die chemische Zu- sammensetzung die Eigenschaften eines Materials bei weitem noch nicht festlegt. Bei gleicher Ein- waage an Komponenten existiert durchaus eine große Variabilität der Eigenschaften, die von der spezifischen Anordnung der Komponenten, der Struktur oder auch der so genannten „Mikrostruk- tur“ (mehr davon später) des Materials herrührt. Etwa 1930 begann die Blütezeit der "Physikali- schen Metallkunde" ("Physical Metallurgy"), welche die Prinzipien, nach denen sich die Mikro- strukturen ausbilden, und ihre Auswirkung auf die Anwendungseigenschaften der Materialien zu erkennen suchte. In dieser Zeit wechselten viele Lehrstühle der Metallkunde von der Chemie in die physikalischen Fachbereiche der Universitäten. Als letzten wesentlichen Entwicklungsschritt der Materialphysik muss man aus heutiger Sicht die Übertragung und Erweiterung der zuerst an Metallen erkannten Zusammenhänge auf an- dere Materialklassen bis hin zu Polymeren und Weicher Materie nennen, welche etwa ab 1970 ein- setzte. Diese Entwicklung wurde maßgeblich von dem französischen Physiker de Gennes (Nobel- preis 1991) beeinflusst, der als einer der ersten die grundlegenden physikalischen Prinzipien der Polymerphysik erarbeitete und sich mit Flüssigkristallen befasste. Heute gehören zum Gegenstand der Materialphysik viele verschiedene Materialklassen. Aufgrund der geschilderten Entwicklung ist leicht nachvollziehbar, dass die Materialphysik als ein interdisziplinäres Gebiet gilt, welches Kenntnisse sowohl aus der Physik als auch aus der Chemie und den Ingenieurswissenschaften er- fordert (Abb. 1.1). Prof. Dr. Guido Schmitz

Transcript of 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die...

Page 1: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

____________________________________________________________________________________________________

Materialphysik I 19.10.12 1. Begriffsbestimmungen

Die Materialphysik beschäftigt sich mit jeder Art von Materie, die Menschen einsetzen, um daraus etwas Komplexes herzustellen. Der Begriff "Material" ist also praktisch gleichzusetzen mit dem Begriff "Werkstoff". Letzterer betont technologische Aspekte, während der Term "Material" oft im naturwissenschaftlichen Kontext eingesetzt wird. So führt die "Materialwissenschaft" Er-kenntnisse der naturwissenschaftlichen Disziplinen Chemie, Physik und Biologie synergetisch zu-sammen. Als eigene Disziplin etabliert sich an vielen Hochschulen zurzeit das Fach "Materialwis-senschaft und Werkstofftechnik", das ein eigenständiges Existenzrecht im Kanon der Natur- und Ingenieurswissenschaften erreichen will und sowohl naturwissenschaftliche Grundlagenforschung als auch Produktionstechnologie umfasst.

Wesentliche Zielsetzung der "Materialphysik" ist die Aufdeckung des Zusammenhangs zwi-schen makroskopischen Eigenschaften der Materialien und ihrem inneren strukturellen Aufbau. Da-bei spielen in der Regel strukturelle Baueinheiten auf sehr verschiedenen Größenskalen eine Rolle und treten miteinander in Wechselwirkung. Ein Material ist folglich ein komplexes System, dessen fundamentales Verständnis auch heute noch eine Herausforderung darstellt.

Historisch haben sich die Materialwissenschaften aus einer mittelalterlichen Phase der Al-chemie, bei der es zunächst darum ging verschiedene Metalle darzustellen, entwickelt. Versuche, edles Gold aus minderwertigen Elementen herzustellen, sind vielfach überliefert. Noch heute zeu-gen die Elementnamen Kobalt und Nickel von dieser mystischen Zeit des Bergbaus und der Metal-lurgie. Im 18. und 19. Jahrhundert, als man erkannte, dass sich Legierungen gezielt aus Elementen herstellen lassen, entwickelte sich die Metallkunde als eine Spezialdisziplin der Chemie. Zu dieser Zeit schienen die Eigenschaften eines Materials ausschließlich durch seine chemische Zusammen-setzung definiert.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann immer deutlicher, dass die chemische Zu-sammensetzung die Eigenschaften eines Materials bei weitem noch nicht festlegt. Bei gleicher Ein-waage an Komponenten existiert durchaus eine große Variabilität der Eigenschaften, die von der spezifischen Anordnung der Komponenten, der Struktur oder auch der so genannten „Mikrostruk-tur“ (mehr davon später) des Materials herrührt. Etwa 1930 begann die Blütezeit der "Physikali-schen Metallkunde" ("Physical Metallurgy"), welche die Prinzipien, nach denen sich die Mikro-strukturen ausbilden, und ihre Auswirkung auf die Anwendungseigenschaften der Materialien zu erkennen suchte. In dieser Zeit wechselten viele Lehrstühle der Metallkunde von der Chemie in die physikalischen Fachbereiche der Universitäten.

Als letzten wesentlichen Entwicklungsschritt der Materialphysik muss man aus heutiger Sicht die Übertragung und Erweiterung der zuerst an Metallen erkannten Zusammenhänge auf an-dere Materialklassen bis hin zu Polymeren und Weicher Materie nennen, welche etwa ab 1970 ein-setzte. Diese Entwicklung wurde maßgeblich von dem französischen Physiker de Gennes (Nobel-preis 1991) beeinflusst, der als einer der ersten die grundlegenden physikalischen Prinzipien der Polymerphysik erarbeitete und sich mit Flüssigkristallen befasste. Heute gehören zum Gegenstand der Materialphysik viele verschiedene Materialklassen. Aufgrund der geschilderten Entwicklung ist leicht nachvollziehbar, dass die Materialphysik als ein interdisziplinäres Gebiet gilt, welches Kenntnisse sowohl aus der Physik als auch aus der Chemie und den Ingenieurswissenschaften er-fordert (Abb. 1.1).

Prof. Dr. Guido Schmitz

Page 2: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

2

Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften (siehe die Zusammenstellung in Abb. 2). Auch werden diese ver-schiedenen Materialklassen auf mikroskopischer Skala miteinander kombiniert. Man spricht dann von „Verbundmaterialien“, die eigenen Gesetzmäßigkeiten der Überlagerung der verschiedenen Ei-genschaften gehorchen. Eine weitere klassische Einteilung trennt die so genannten „Strukturwerk-stoffe“, also solche Materialien, die im wesentlichen eine mechanische Funktion erfüllen (Stahl, Kunststoffe, Beton, Porzellan …) von den Funktionswerkstoffen, die eine besondere elektronische, magnetische, optische oder auch aktuatorische Funktion erfüllen. Die Übergänge sind natürlich fließend (z. B. Kupferüberlandleitungen, Si als elektronischer Funktionswerkstoff aber gleichzeitig auch als Strukturwerkstoff in mikromechanischen Baueinheiten).

Schließlich sollte hier auch der Unterschied zwischen der Festkörperphysik und der Materi-alphysik herausgestellt werden. Die klassische Festkörperphysik beschäftigt sich in der Regel mit idealen (Gitter-)Strukturen während die Materialphysik die Realstruktur mit all ihren Defekten be-trachtet. Während die FK-Physik zum überwiegenden Teil das Verhalten der Elektronen auf dem als gegeben betrachteten kristallinen Hintergrund studiert, ist für die Materialphysik gerade der strukturelle atomare Aufbau und seine Veränderung der wesentliche Untersuchungsgegenstand.

2. Bindung und atomistischer Aufbau

Alle Wechselwirkungen zwischen Atomen beruhen letztlich auf der Coulombwechselwirkung zwi-schen den Valenzelektronen (äußere Elektronen der Hülle) und den verbleibenden positiv geladenen Atomrümpfen. Dennoch lassen sich verschiedene Bindungstypen unterscheiden. Ionische Bin-dungsanteile zwischen verschiedenen geladenen Atomrümpfen sind nur bei mehreren verschiede-nen Atomsorten möglich.

- Ionische Bindung

o ungerichtet

o langreichweitig

Die kovalente Bindung beruht auf einer Energieabsenkung durch Bildung von Elektronenpaaren zwischen benachbarten Atomen. Die lokale Elektronendichteverteilung folgt den in der Quanten-mechanik berechneten Orbitalen, d. h. die Bindungen sind relativ zu einander in Vorzugsrichtungen (z. B. trigonale oder tetraedrische (sp3-Hypbrid-) Anordnung angeordnet.

- Kovalente Bindung

Abb. 1.1 Abb. 1.2

Page 3: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

3

o gerichtet

o kurzreichweitig

Die metallische Bindung beruht auf einer vollständigen Delokalisation von Elektronen in der makroskopischen Probe, was zufolge der Unschärferelation zu einer Absenkung der totalen kineti-schen Energie führt. Die Valenzelektronen werden an einen „See“ abgegeben, bei dem letztlich nur die Volumendichte der Elektronen und damit der bevorzugte Abstand der Atome nicht aber ihre re-lative Ausrichtung im Gitter festgelegt ist.

- Metallische Bindung

o ungerichtet

Neben diesen drei sehr starken Bindungen mit einer Wechselwirkungsenergie von einigen eV pro Atom spielt die wesentlich schwächere van der Waals-Wechselwirkung eine erhebliche Rolle im Bereich der weichen (biologischen) Materie und bei der Kristallisation von polymeren Materialien. Die Bindung beruht auf der elektrostatischen Wechselwirkung zwischen fluktuierenden Dipolen.

- Van-der-Waals-Bindung

o ungerichtet

o kurzreichweitig 61/ r∼

In realen Gitterstrukturen werden oft mehrere verschiedene Bindungsprinzipien gemeinsam in un-terschiedlicher Gewichtung wirksam (siehe die Illustration in Abb. 2.1).

2.1 Bindung und Struktur

Der Bindungscharakter determiniert die atomare Struktur grundlegend. Bei einer ungerichteten me-tallischen Bindung und identisch großen Bauteilen stellt sich bevorzugt eine dichte Kugelpackung ein. Von dieser kennt die Natur zwei verschiedene, die kubisch flächenzentrierte (fcc) und die he-xagonal dicht gepackte (hcp) Struktur. Beide ergeben sich aus einer Stapelung von Ebenen, in de-nen selbst die Atome hexagonal „wabenförmig“ dicht gepackt sind. Relativ zu einander können die dicht gepackten Ebenen in drei verschiedenen Lagen positioniert werden. Bei einer Stapelfolge …ABCABCA… ergibt sich die fcc-Struktur, während die Stapelung …ABABAB… zu einem spe-ziellen hexagonalen Kristall führt, bei dem die Achse in der hexagonalen Basis (a) und die dazu senkrechte Achse (c) ein ideales Verhältnis von / 1.63c a = aufweisen. Diese beiden von außen be-trachtet sehr verschiedenen Gitter sind also in Wirklichkeit sehr eng miteinander verwandt. Die

Abb. 2.1 Abb. 2.2

Page 4: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

4

Transformation zwischen fcc- und hcp-Strukturen wird in der Natur häufig beobachtet. So wird in einem fcc-Kristall durch Fehlpositionierung einer Ebene (ein so genannter „Stapelfehler“) ein dün-ner Volumenbereich lokal in einen hcp-Kristall umgewandelt (siehe Abb. 2.2). Die überwiegende Zahl der bekannten Metalle kristallisiert entweder in der fcc- oder hcp-Struktur. Nur wenn beträcht-liche kovalente (=gerichtete) Bindungsanteile auftreten, beobachtet man auch die bcc-Struktur (prominentestes Beispiel: Fe bei Raumtemperatur).

Bei der ebenfalls ungerichteten, heteropolaren Ionenbindung spielt die relative Größe der beiden Ionen eine entscheidende Rolle. Je nach Größenverhältnissen werden unterschiedliche Strukturen bevorzugt eingestellt, um eine möglichst gute Passung bei gleichzeitig optimaler Kompensation von ungleichnamigen Ladungen zu erreichen. Einen Überblick dazu enthält Abb. 2.3.

Die bevorzugte räumliche Ausrichtung kovalenter Bindungen bedingt sehr offene Kristallstrukturen mit geringer Kugelfüllung. Kovalente Bindungen spielen auch bei der Verknüpfung von monome-ren Baueinheiten zu einer Polymerkette eine entscheidende Rolle. Bei einer Einfachbindung (ein Elektronenpaar) ist nach dem zuvor gesagten die Richtung der Bindung festgelegt, aber es verbleibt ein Rotationsfreiheitsgrad, der es erlaubt, die Monomere relativ zu einander zu verdrehen. Daraus ergibt sich über die ganze Polymerkette gesehen eine große Flexibilität. Doppelbindungen hingegen verhindern diese Rotation, so dass Polymerketten mit einem großen Anteil von Doppelbindungen wesentlich steifer werden und die Zahl möglicher Konformationen stark eingeschränkt wird.

Abb. 2.3

Page 5: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

5

2.2 Systematik der Gitterstrukturen

Die mathematische Systematisierung der verschiedenen Kristallstrukturen hinsichtlich ihrer Symmetrieelemente geht bereits auf Kepler zurück, der erste Betrachtungen zur Symmetrie von Schneekristallen anstellte. Wesentlich ist, dass sich Kristalle neben der Translationssymmetrie (pe-riodische Aneinanderreihung einer elementaren Baueinheit), auch durch Punktsymmetrien (Spie-gelebenen, Drehachsen, Inversion) auszeichnen. Historisch gesehen wurden letztere zuerst unter-sucht, da sie bereits durch makroskopische Beobachtung entdeckt werden können. Die Translationssymmterie und die diskrete atomare Struktur konnten hingegen erst durch die spätere Röntgendiffraktometrie (Max von Laue, 1906) untersucht werden.

Die insgesamt 32 verschiedenen Punktsymmetriegruppen lassen sich auf sieben unterschied-lichen Basissystemen, den „Kristallsystemen“ darstellen. Kombiniert man Punkt- und Translations-symmetrien, so erhält man theoretisch insgesamt 230 mögliche Gitterstrukturen, die aber in der Na-tur nicht notwendig alle realisiert werden. Um diese Strukturen zu klassifizieren bedient man sich 14 generischer Gittertypen, den „Bravaisgittern“, die sich jeweils durch eine maximale Zahl von Punktsymmetrieelementen auszeichnen (siehe Abb. 2.4). Die weiteren Kristallstrukuren erhält man dann durch Positionierung einer im allgemeinen mehratomigen Basis an die von dem Bravaisgitter vorgegebenen Plätze. Da die Basen eine im Vergleich zum Bravaisgitter verringerte Zahl von Symmetrieelementen aufweisen können, ist die Punktsymmetrie der auf diese Weise erzeugten rea-len Gitter im allgemeinen geringer als die des Ausgangs-Bravaisgitters.

Reine Metalle und viele ungeordnete Legierungen findet man bevorzugt (=fast ausschließ-lich) in den drei Bravaisgittern ‚kubisch flächenzentriert’, ‚kubisch raumzentriert’ (bcc) und ‚hexa-gonal dicht gepackt’ mit einatomiger Basis. Obwohl Metalle eine dichte Packung bevorzugen, gibt es dennoch zwischen den Atomen, die das Bravaisgitter realisieren, freies Volumen. Die Lücken-plätze im „Zwischengitter“ können z.B. durch kleinere Fremdatome gefüllt werden. Je nach Anord-nung der Nachbaratome werden die Lücken als Oktaeder- oder Tetraederlücke bezeichnet, siehe die Illustrationen in Abb. 2.5. Die Größe der Lücke kann durch den maximalen Radius einer Kugel, die in die Lücke eingepasst werden kann, relativ zum Atomradius charakterisiert werden. Tabelle 2.1 gibt einen Überblick über wichtige Größenparameter der drei häufigsten Metallgitter.

bcc fcc hcp

Zahl der NN 8 12 12

Atome pro konv. EZ 2 4 2

Volumenfüllung 68% 74% 74%

Anzahl Oktaederlücken 6 4 4

Größe der O.-Lücke r/R 0,16 0,41 0,41

Anzahl Tetraederlücken 12 8 8

Größe der T.-Lücke r/R 0,29 0,22 0,22

Tabelle 2.1

Mit zunehmend kovalentem Charakter erzwingt die starre Ausrichtung der Bindungen offenere Git-terstrukturen mit weit geringerer Volumenfüllung. Ein prominentes Beispiel ist die Diamant-Struktur in der wichtige Halbleitermaterialien (Si,Ge) kristallisieren. Auch bei den halbleitenden Verbindungen (sogenannte III-V Halbleiter, z.B. GaAs oder II-IV Halbleiter, z.B. ZnSn) verteilen sich die beiden Atome auf die Plätze dieses Grundgitters. Bei geordneter Verteilung der beiden Atomsorten spricht man von der Zinkblendestruktur (siehe Abb. 2.6). Diese Struktur wird durch die

Page 6: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

6

auf die Ecken eines Tetraeders gerichteten Bindungen erzwungen. Die Volumenfüllung durch sich berührende Kugeln beträgt in dieser Anordnung nur noch 34%.

Kristalle mit ionischen Bindungsanteil setzen notwendig mindestens zwei verschiedene Atomsorten voraus, die sich in ihrer Größe unterscheiden können. In diesem Fall kontrolliert das relative Grö-ßenverhältnis die möglichen Gitterstrukturen. Sind beide Atomsorten annähernd gleich groß, so wird die Cäsium-Chlorid-Struktur (kristallografisch eine einfach-kubische Struktur mit zweiatomi-

Abb. 2.4: Bravaisgitter

Page 7: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

7

ger Basis) beobachtet, siehe Abb. 2.7. Andere wichtige Strukturen von Ionengittern sind die NaCl Struktur (kristallographisch ein fcc Gitter) oder die Perowskitstruktur beobachtet. Letztere ist das Basisgitter für viele Funktionsmaterialien (Hochtemperatursupraleiter, Ferroelektrika, Interkalationskompounds = Speicherwerkstoffe für Batterien) .

Der überwiegende Teil der natürlichen festen Materialien zeigt eine periodische kristalline Anord-nung der Atome. In selteneren Fällen lässt sich keine weitreichende periodische Anordnung der

Abb. 2.5

Page 8: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

8

Atom feststellen, man spricht dann von einer amorphen Struktur. Das heißt jedoch nicht, dass solche Materialien gänzlich ungeordnet wären. In der Regel werden auf kurze Abstände gesehen doch bevorzugte Anordnungen der Atome identi-fiziert. In größerem Abstand geht dann jedoch die Korrelation zwischen den Atompositionen verlo-ren, so dass sich auf makroskopischer Skala sol-che Materialien als isotropes homogenes Medium darstellen.

Der Gleichgewichtszustand einer Substanz bei hinreichend tiefer Temperatur ist praktisch immer die kristalline Anordnung der Bausteine. Amorphe Stoffe stellen deshalb so etwas wie eingefrorene Flüssigkeiten dar, welche sich in einem Nicht-gleichgewichtszustand (metastabil?) befinden. Wird eine amorphe Struktur wirklich durch Ab-kühlen aus der Schmelze gewonnen, so spricht man von einem Glas. Alternative kann man amorphe Substanzen auch durch Co-Kondensation ver-schiedener Elemente auf gekühlten Substraten oder durch sehr starke plastische Verformung erzeu-gen. In wieweit Gläser sich von allgemeinen amorphen Substanzen unterscheiden ist umstritten. Von grundsätzlicherer Art ist jedoch die Einteilung der amorphen Strukturen in statistische Kugel-füllungen (amorphe Metalle = z.B. Magnetwerkstoffe), Netzwerkgläser (z.B. Fensterglas, Ionenlei-ter) und statistische Knäule (z.B. Polymere, Thermoplaste), siehe Abb. 2.8.

Die grundsätzliche Tendenz zur Kristallisation wird besonders in teilkristallinen polymeren Werk-stoffen deutlich. Bei diesen gelingt es den Polymerketten sich in begrenzten Volumenbereichen un-ter passender Faltung periodisch anzuordnen, während sich die Ketten an anderen Stellen nicht schnell genug entwirren konnten und als ungeordnetes Knäul zurückbleiben. Die Bindung zwischen den Polymerketten in den kristallinen Bereichen erfolgt in der Regel durch schwache Van-der-Waals oder durch Wasserstoffbrückenbindung. Durch ein Design des Polymers, bei dem sich die Kette aus verschiedenen Monomeren in definierter Reihenfolge zusammensetzt (Blockkopolymere), kann die Faltung und Anordnung der kristallinen Bereiche gezielt beeinflusst werden.

Die belebte Natur hat dieses Prinzip zur Perfektion entwickelt. Proteine stellen Polymere aus zwan-zig unterschiedlichen Monomeren, den Aminiosäuren, dar. Durch die unterschiedliche Größe der Aminosäuren und ihre seitlichen Bindungsmöglichkeiten wird die Faltung des Polymers durch die Reihenfolge der Monomere diktiert. In-vivo ist das Protein dann eine genau definiert dreidimensio-nale gefaltete Struktur, deren geometrische Passung für die biologische Funktion entscheidend ist. Bei gefalteten Proteinen definiert man gewöhnlich die folgende Hierachie der Strukturelemente

Primär Struktur Abfolge der Aminosäuren entlang der Kette

Sekundäre Struktur Faltung zu den beiden originären Formen

a-Helix (linienartig) und b-Faltblatt (flächenartig)

Tertiäre Struktur Anordnung von Helices und Blättern zu komplizierten 3D-Strukturen

Abb. 2.6 Zinkblendestruktur

Page 9: 2012-10-19-Skript Materialphysik I - Universität Münster · 2 Heute beschäftigt sich die Materialphysik mit verschiedensten Materialklassen mit sehr un-terschiedlichen Eigenschaften

9

Die Vorhersage der 3D-Struktur aus der Abfolge der Aminosäuren, d.h. das physikalische Ver-ständnis der Faltung, ist ein offenes Forschungsgebiet, welches durch die stürmische Entwicklung der Computertechnik und der numerische Modelle für atomare Bindungskräfte zurzeit große Fort-schritte erzielt.

Abb. 2.7 Abb. 2.8