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ALTERSVORSORGE Warum die Betriebsrente jetzt reformiert werden sollte HEBAMMEN Wie Geburtshelferinnen finanziell entlastet werden können HENRIK MÜLLER Niedrigzinsen als Dauerphänomen Kolumne NR. 97 JULI 2015 PREIS 4 EURO Nie stand Verbraucherschutz höher im Kurs. Die Finanzkrise wirkt nach. Das Web sorgt für Transparenz, überflutet Kunden aber auch mit Daten. Wie Versicherer die Herausforderung annehmen DER SUPER-KUNDE DAS MAGAZIN DER DEUTSCHEN VERSICHERER

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ALTERSVORSORGEWarum die

Betriebsrente jetzt reformiert werden sollte

HEBAMMENWie Geburtshelferinnen

finanziell entlastet werden können

HENRIK MÜLLER

Niedrigzinsen als

Dauerphänomen

Kolumne

N R . 9 7 J U L I 2 0 1 5 P R E I S 4 E U R O

Nie stand Verbraucherschutz höher im Kurs. Die Finanzkrise wirkt nach. Das Web sorgt für Transparenz, überflutet Kunden aber auch mit Daten. Wie Versicherer die Herausforderung annehmen

DER SUPER-KUNDE

D A S M A G A Z I N D E R D E U T S C H E N V E R S I C H E R E R

Page 2: 2015-02 Nr. 97 - GDVNR. 97 JULI 2015 PREIS 4 EURO Nie stand Verbraucherschutz höher im Kurs. Die Finanzkrise wirkt nach. Das Web sorgt für Transparenz, überflutet Kunden aber auch

Ludwig Erhard ist nicht nur Wirtschafts-minister und Bundeskanzler, sondern auch fleißiger Autor gewesen. Im Gedächtnis geblieben ist mir eine Pas-sage über den Wettbewerb. „Dieses ‚Kunststück‘ ist überhaupt nur dadurch zu vollbringen, dass jeder Unternehmer um seiner Existenzerhaltung willen gar keinen anderen Ehrgeiz und Willen haben kann, als die Gunst des Verbrau-chers nicht einzubüßen und immer Bes-seres an ihn heranzutragen“, schreibt Erhard in „Wohlstand für alle“.

Leider nimmt das Buhlen um die Gunst des Verbrauchers mitunter auch skurrile Züge an – wenn ihm statt Bes-serem nur geschickt verpacktes Schlech-teres angeboten wird. Natürlich gab und gibt es dafür auch in der Finanz-branche manches Beispiel.

Die große Krise im Jahr 2008 hatte indes auch Gutes: dem Verbraucher-schutz ist mittlerweile eine ganz neue Rolle zugefallen. Vor wenigen Wochen sind die Finanzmarktwächter an den Start gegangen. Verständlichkeit und Transparenz unserer Produkte stehen im Fokus der für unsere Branche zustän-digen Verbraucherzentrale Hamburg. Die Verbraucherzentralen sind nah am Kunden, so wie wir auch. Ihre Hinweise nehmen wir gerne auf, schließlich haben wir uns auch selbst viel vorgenommen:

In der Ära der digitalen Vergleichbar-keit von Versicherungsprodukten zählt

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Ihr

ALEXANDER ERDLANDPRÄSIDENT DES GDV

deren Verständlichkeit zu den Erfolgs-kriterien. Die digitale Gesellschaft versi-chern wir, indem wir als Treuhänder mit den anfallenden Daten sorgsam umge-hen. Eine hohe Beratungsqualität und ein fairer Vertrieb sind entscheidend für die Zukunft unserer Branche.

Wer also auf ein Positionen-Magazin wartet, das über den Verbraucherschutz neuer Prägung den Stab bricht, den muss ich enttäuschen. Sicher, wir wer-den nicht immer einer Meinung sein, vielleicht auch streiten, etwa über Methoden, Bewertungen oder ob das auf Beschwerden beruhende Bild wirk-lich ausgewogen ist. Im Ergebnis wer-den wir aber von unseren Kunden daran gemessen, ob wir ihre Wünsche erken-nen und ernst nehmen. Deshalb ist der neue Verbraucherschutz eine Chance. Wir wollen den Dialog suchen, um am Ende „die Gunst des Verbrauchers nicht einzubüßen“ – im besten Sinne Erhards.

Kritik üben möchte ich nur an einer Stelle: Mir hat das Wort Verbraucher noch nie gefallen. Ich rede lieber von unseren Kunden.

KONTAKT

Teilen Sie Ihre Position mit mir. [email protected]

WIR WOLLEN

DEN DIALOG

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E D I T O R I A L

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HENNING SCHERF, BREMENS FRÜHERER BÜRGERMEISTER, HEUTE BUCHAUTOR ZUM THEMA „ERFÜLLTES ALTER“ SEITE 28

N AC H R I C H T E N

04 Immer später in Rente: Wer in Europa am längsten arbeitet

05 Schiffbrüchig: Die deutschen Seenotretter feiern Geburtstag. Was der GDV damit zu tun hat

T I T E L

06 Verbraucherschutz: Der Kunde ist stärker als je zuvor. Die Regierung räumt ihm neue Rechte ein, das Internet sorgt für mehr Markttransparenz. Wie die Versicherungswirtschaft die Herausforderung annimmt

12 Das Beratungsgespräch: Was ist der passende Tarif für mich? So werden Kunden informiert

14 Interview: Klaus Müller, Vor- stand des Verbraucherzentrale Bundesverbands, über den Stellenwert von Verbraucher- rechten sowie den mitunter schwierigen Dialog mit der Versicherungswirtschaft

P O L I T I K & G E S E L L S C H A F T

17 Verortet: Wo werden die meisten Fahrräder gestohlen?

18 Betriebliche Altersversorgung: Betriebsrenten sollen den Lebens- abend verschönern. Doch nur wenige Arbeitnehmer nutzen sie. Die Bundesregierung will das ändern. Was die Versicherungs- wirtschaft dazu vorschlägt

21 Eine Frage der Verantwortung: Vorstandsvorsitzender Stefan Wolf erklärt, warum es beim Autozulieferer Elring Klinger Betriebsrenten gibt

DIGITAL & RESPONSIVE

Die „Positionen“ im Netz: www.gdv.de/positionen

„EIGENTLICH MÜSSTEN WIR ÜBER DIE RENTE MIT 70 REDEN, NICHT FÜR ALLE UND NICHT ALS PFLICHT, ABER ALS OPTION.“

23 Pro & Contra: Brauchen wir eine obligatorische betriebliche Altersversorgung?

M Ä R K T E & B R A N C H E N

24 Hebammen: Warum es auf Sylt keine freiberufliche Geburts- helferin mehr gibt. Und was getan werden muss, um Heb- ammen finanziell zu entlasten

28 „Wer jammert, verliert“: Wie bleiben alte Menschen mitten im Geschehen? Ein Gespräch mit Henning Scherf

30 Innovationen versichern: Wie Mobile Payment das Handy in eine Geldbörse verwandelt

33 Um den Globus: Preiswert und verständlich muss eine Versicherung sein, fordern die Mexikaner. Das kriegen sie jetzt

35 Zahlen, bitte: Frauen vernach- lässigen ihre Altersvorsorge

36 Hole in One – die schönste Versicherungssache der Welt

KO L U M N E

34 Warum die Niedrigzinsen uns noch lange begleiten werden. Von Henrik Müller

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DEUTSCHE GEHEN SPÄTER IN RENTE

WER GEHT WANN IN DEN RUHESTAND?

... UND FÜR WIE LANGE?

Mehr als zwei Jahre später als noch 2009 sind die deutschen Frauen und Männer im Schnitt im vergangenen Jahr in Rente ge-gangen, besagt der aktuelle EU-Alterungs-bericht. Gründe dafür waren die Renten-reformen sowie die gute Wirtschaftslage in Deutschland: Wer früher in „Frührente“ geschickt wurde, wird gebraucht – und arbeitet weiter. THOMAS WENDEL

Solvency II soll das Finanzsystem sicherer machen. Dabei sorgt es für eine Flut von neuen Regularien, die von der Versicherungsbranche beachtet werden müssen. Tendenz: weiter steigend.

Die fünf Länder Europas, in denen am längsten gearbeitet wird

Die fünf Länder Europas, in denen am längsten Rente bezogen wird

UND ALLES IST WICHTIG

Quelle: GDV; *Europäische Versicherungsaufsicht

Quelle: EU-Kommission: Alterungsbericht 2015

Durchschnittliches Alter, in dem die Berufskarriere beendet wird (2014)

Durchschnittliche Rentenbezugszeit 2014 in Jahren

Männer:

1. Schweden............................................ 65,8

2. Norwegen* ........................................... 65,6

3. Dänemark ............................................. 65,6

4. Niederlande ......................................... 65,5

5. Deutschland ........................................ 65,1

EU-Durchschnitt...................................... 63,6

Männer:

1. Luxemburg .......................................... 22,6

2. Frankreich ............................................ 22,1

3. Malta ..................................................... 20,7

4. Österreich ............................................. 20,3

5. Spanien ................................................. 20,2

Deutschland ............................................. 18,1

EU ................................................................ 18,1

Frauen:

1. Irland ..................................................... 64,8

2. Norwegen* ........................................... 64,7

3. Schweden ............................................ 64,5

4. Griechenland ....................................... 64,5

5. Deutschland ........................................ 64,2

EU-Durchschnitt...................................... 62,6

* Nicht-EU-Mitglied

Frauen:

1. Frankreich ........................................... 26,5

2. Luxemburg ........................................... 25,6

3. Slowenien ............................................ 25,3

4. Malta ..................................................... 24,9

5. Österreich ............................................. 24,7

Deutschland ............................................. 21,9

EU ................................................................ 22,6

Die Asfinag betreibt das Autobahnnetz Österreichs seit 1997 – ein Vorbild?So ein Modell kann auch in Deutsch-land funktionieren. Eine Infrastruktur-gesellschaft wäre eine gute Chance, den Autobahnbau bundesländerübergrei-fend zu planen. Ein weiterer Vorteil ist die Zweckbindung der Mittel.

Reichen die Einnahmen denn aus?Tatsächlich machen Mauterlöse mehr als 90 Prozent unserer Einnahmen aus. Da das Verkehrsaufkommen nicht stark schwankt, sind unsere Einnahmen rela-tiv stabil. Damit decken wir unsere Aus-gaben für Bau, Sanierung, Betrieb und Schuldendienst. Wir nehmen selbstver-ständlich auch Kredite auf. Aber wir kommen ohne Zuschüsse des Bunds aus.

Die Asfinag gehört dem Staat. Wäre es sinnvoll, solch eine Gesellschaft für pri-vate Anteilseigner zu öffnen?Bei uns gibt es nur zwei Stellschrauben. Auf der Ausgabenseite stehen die Kos-ten für Bauvorhaben, die wir eng mit

In Österreich betreibt die mautfinanzierte Asfinag die Fernstraßen. Was können sich die Deutschen davon abgucken? Wir fragen Vorstand Klaus Schierhackl.

„FESTER ZINS UND KEIN RISIKO“

dem Verkehrsminister abstimmen. Über die Höhe der Maut beeinflusst die Poli-tik auch die Einnahmen. Dieser staat-liche Einfluss würde Privatinvestoren eher abschrecken. Unsere Investoren sind dagegen mit unseren Anleihen ganz zufrieden. Sie bekommen einen festen Zins und tragen faktisch kein Risiko.

Wer kauft die Anleihen?Überwiegend institutionelle Investoren; darunter sind viele Versicherer, auch aus Deutschland. KARSTEN RÖBISCH

Klaus Schierhackl, Vorstand der österreich-ischen Fernstraßengesellschaft Asfinag

Datum Regelung Seiten

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2/2015 Delegierte Verordnung, 2.110 EIOPA* -Äquivalenz- bewertungen, VAG, EIOPA-Leitlinien (Set 1), BaFin-Verlautbarungen

12/2014 EIOPA Technische 1.865 Durchführungs- standards (Set 2), Entwurf EIOPA- Leitlinien (Set 2)

6/2014 Quick-Fix 802 Omnibus-II-Richtlinie, EIOPA Technische Durchführungs- standards (Set 1), Vorbereitungsphase (EIOPA-TS, nationale Spezifika, BaFin- Verlautbarungen)

9/2013 EIOPA-Leitlinien 1.784 (Vorbereitungsphase)

11/2009 Solvency-II-Richtlinie 155

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Egal wie stürmisch das Wetter und wie rau das Meer: Die Seenotkreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) stehen rund um die Uhr an 54 Stationen von Borkum bis Ueckermünde zum Einsatz bereit. Sie retten Menschen in Seenot, und das seit genau 150 Jahren. Begonnen hat die DGzRS mit Ruderbooten, heute fahren 1 000 zumeist ehrenamtliche Retter mit 60 modernen Kreuzern. Bilanz seit 1865: 82 000 Schiffbrüchige verdanken den Seenotrettern ihr Leben. Finanziert wird die DGzRS durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Auch die Versicherer leisten einen Beitrag: Der GDV unterstützt die Retter mit einer prämienfreien Unfall-versicherung. HENNING ENGELAGE

Seenotrettungskreuzer „Hermann Helms“ im

April bei einer Kontrollfahrt in seinem

Revier vor Cuxhaven.

Seit 150 Jahren sorgen die Seenotretter für Sicherheit – unterstützt auch vom GDV.

EINSATZ BEI STÜRMISCHER SEE

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Sie sind mächtiger denn je. Die Regierung stärkt ihre Rechte, das Internet beschert ihnen nie dagewesene Markttransparenz. Von den Chancen und Grenzen des neuen Verbraucherschutzes für die Versicherungswirtschaft

VERBRAUCHER AN DIE

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V wie Verbraucher: Mit immer mehr Rechten ausgestattet brauchen sie keine Auseinan-

dersetzung zu fürchten. In Deutschland stellt ihnen die Regierung „Marktwächter“ an die

Seite, welche die Finanzbranche und die Digitalwirtschaft beobachten.

V wie VerVerbrabrauchuchher:e MiMittaussgesgestattattett brb aucccchenhenhenhen sis

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P rognosen sind keine Ergebnisse. Diese Tatsache nehmen die Kun-den von Lebensversicherern eher

ungnädig auf. Sobald die Leistungen deutlich hinter den Erwartungen zurückbleiben, trudeln die Beschwerden bei Ombudsleuten und Aufsichtsbehör-den ein. Doch wer ist für die enttäusch-ten Erwartungen verantwortlich? Die Versicherer, die allzu optimistische Annahmen über die Rendite getroffen und Nebenbedingungen im Klein-gedruckten versteckt haben? Gesetzge-ber und Aufsichtsgremien, die der Asse-kuranz ziemlich genau vorschreiben, wie sie zu handeln und aufzuklären hat? Oder am Ende gar die Kunden selbst, die nicht genau hinschauen und Modell-rechnungen für bare Münze halten?

Dabei sind die Verbraucher gefordert wie nie zuvor, Entscheidungen mit maß-geblichen finanziellen Auswirkungen für ihr Leben zu treffen. So verlangt der Staat ihnen immer mehr Eigenvorsorge ab, sei es zum Schutz vor Berufsunfähig-keit, ihrer Gesundheit oder ihrer Rente. Zugleich erschweren die Finanzkrise und die jetzige Niedrigzinsphase jede finanzielle Absicherung massiv.

Bankenpleiten, die Debatten um die Abschlusskosten und Provisionen bei Versicherern und schräge Geschäfte auf dem grauen Kapitalmarkt haben Ver-trauen in die Seriosität und Solidität vie-ler Anbieter untergraben. Und schließ-lich hat die Digitalisierung das Informa-tionsangebot zwar immens vergrößert. In der Praxis zeigt sich aber: Mehr ist nicht immer besser – so mancher Ver-braucher fühlt sich angesichts der Fülle an verfügbarem Material überfordert statt gut informiert.

Information OverloadÖkonomen sprechen von Informations-asymmetrien und vom „Information Overload“. Viele nehmen den Staat als Regelsetzer für den Markt in die Pflicht. Und die Politik reagiert. Ein gewisses Maß an Regulierung scheint notwendig, wenn Menschen einen Mindestschutz

gegen die Unwägbarkeiten des Lebens erhalten sollen. Der Trend hin zu mehr Verbraucherrechten, besserer Aufklä-rung und schärferen Gesetzen ist welt-weit zu beobachten, auch in Deutsch-land: „Wo Verbraucher sich nicht selbst schützen können oder überfordert sind, muss der Staat Schutz und Vorsorge bie-ten“, heißt es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Das gelte „insbeson-dere für Bereiche wie den Finanzmarkt und die Digitale Welt“.

Deshalb wird der Verbraucherschutz massiv aufgewertet. Er ist nicht nur vom Landwirtschafts- ins Justizministerium gewandert, sondern erhält einen umfas-senderen Auftrag: Unter Führung von Justizminister Heiko Maas (SPD) und Staatssekretär Gerd Billen, der zuvor dem Bundesverband der Verbraucher-zentralen vorstand, entsteht gerade ein völlig neues Verbraucherschutzregime.

„Versicherer bewegen sich schneller“Für die im GDV organisierte deutsche Versicherungsbranche muss das einer-seits wie eine Offensive klingen. Ande-rerseits ist Jörg von Fürstenwerth, Vor-sitzender der GDV-Hauptgeschäftsfüh-rung, überzeugt davon, dass die Neu-ordnung für seine Branche durchaus viele gute Seiten hat: „Erstens muss man selbstkritisch anerkennen, dass die Ver-sicherer sich deutlich schneller bewegen, seit öffentlicher Druck und Kontrolle zunehmen. Zweitens können klare Leit-linien und Vorgaben auch gut für unser Geschäft sein.“ Wenn etwa der Staat, statt bloß allgemein an die Altersvor-sorge zu appellieren, den Abschluss bestimmter Versicherungen honoriere, nütze das allen. „Der wendige und erfahrene Verbraucher macht ohnehin sein Ding“, sagt Fürstenwerth. „Um die anderen sollten wir uns alle miteinander bemühen.“

Die Regierung tut das mit neuen Pos-ten und Positionen: So gibt es einen Sachverständigenrat für Verbraucher-fragen, besetzt mit neun Experten, die ähnlich wie die Wirtschaftsweisen regel-

AM WICHTIGSTEN IST UND BLEIBT: DER PREIS Wonach Verbraucher ihre Versicherung auswählen:

Quelle: Kubus Bericht Versicherungen 2013/ MSR Consulting

55 % Günstiger Preis

34 %Informationen auf Vergleichsportal

32 %Gute Erfahrung mit Versicherer

27 % Empfehlungen Freunde, Bekannte

26 % Gute Testurteile

51 % Guter Service durch Versicherer

51 % Gute Beratung durch Betreuer

43 % Vertrauen zum Betreuer

41 % Leicht verständliches Angebot

39 % Guter Schadenservice

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mäßig Gutachten zur Lage der Verbrau-cher vorlegen werden. Ebenfalls zum Jahresanfang haben die Verbraucher-zentralen neue Aufgaben als „Finanz-marktwächter“ und „Marktwächter Digitale Welt“ übernommen. Sie sam-meln systematisch Daten über Probleme aus Verbrauchersicht, die bei ihnen in der Beratung auftauchen, und übermit-teln sie an Aufsichts- und Regulierungs-behörden wie die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). „Marktwächter unterscheiden: Handelt es sich um ein individuelles Problem beim Verbraucher oder beim Anbieter? Oder um ein strukturelles Problem, bei dem Alarm geschlagen werden muss? Werden Gesetze verletzt, schalten wir die Aufsicht ein“, sagt Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bun-desverbands (siehe Interview auf S. 14).

Die BaFin, die bereits 2013 einen eigenen Verbraucherbeirat an die Seite gestellt bekam, soll sich um „kollekti-ven Verbraucherschutz“ kümmern – im engen Zusammenspiel mit anderen Auf-

mentation und zum Datenschutz ver-schärft. Andererseits ist die Branche selbst aktiv geworden, weil ihr klar geworden ist, dass das Kundenver-trauen in die Vermittler von Finanzpro-dukten gelitten hat. „Unsere Branche steht bei Vertriebsthemen nach wie vor unter großem öffentlichen Druck“, sagt Fürstenwerth, habe aber „sichtbar“ an Verbesserungen gearbeitet.

Fast vollzählig haben die Versicherer einen freiwilligen Verhaltenskodex für den Vertrieb unterzeichnet. Der gibt strikte Beratungsgrundsätze vor, von der Forderung nach verständlichen Pro-dukten, der Verpflichtung zur Bera-tungsdokumentation und Regeln zur Umdeckung und Abwerbung bis hin zur Pflicht, sich regelmäßig weiterzubilden.

Vor allem müssen sich die Versiche-rer, die das Regelwerk akzeptiert haben, alle zwei Jahre von einem Wirtschafts-prüfer kontrollieren lassen, ob Vorga-ben eingehalten und Verstöße geahndet werden. Die Ergebnisse dieser turnus-mäßigen Evaluierungen – rund 150 sind bereits fällig geworden – werden allge-mein zugänglich veröffentlicht. „Dass sich das eigene Vorgehen so direkt mit dem der Konkurrenz vergleichen lässt, führt in vielen Unternehmen zu einem Nach- und Umdenken“, beobachtet Gerhard Müller, Vorstandsvorsitzender der Sparkassen-Versicherung Sachsen und Vorsitzender des Vertriebsausschus-ses im GDV.

Ein Erfolgsrezept des Kodex: Die Vertriebler werden nicht allein gelassen. „Die Regeln wurden als Hilfestellung formuliert“, sagt Müller. „Deshalb sind sie im Markt inzwischen auch weitge-hend akzeptiert.“

Karsten Eichmann, Vorstandsvorsit-zender der Gothaer Versicherung, hält solche Regeln auch deshalb für vernünf-tig, weil sie einen zentralen Gedanken vieler Anbieter wiederbelebten. Versi-cherungen enthielten nämlich einen äußerst kundenfreundlichen Kern, sagt Eichmann: den der gegenseitigen Absi-cherung. „Unser Daseinszweck ist letzt-

sichtsbehörden wie Kartellamt oder dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.

Im Grundsatzreferat des Kanzler-amts befasst sich eine dreiköpfige Pro-jektgruppe mit der Frage, wie der Staat seine Verbraucher zu klügerem Verhal-ten animieren kann. Verbraucherschüt-zer Müller sieht darin ein „Räderwerk, das ineinander greift“. Ganz offenkun-dig will der Staat das Zusammenspiel zwischen Anbietern und Kunden verän-dern – gerade im Finanzmarkt.

Kodex für den Vertrieb

Die Branche sei selbstkritisch genug, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen, findet GDV-Hauptgeschäftsführer von Fürstenwerth, und habe ihr Auftreten und Verhalten gegenüber Verbrauchern und deren Vertretern stark verändert. Beispielsweise im Vertrieb: Einerseits hat der Staat hier mit Gesetzen wie der neuen Vermittlerrichtlinie und dem Lebensversicherungsreformgesetz die Vorschriften zur Ausbildung, zur Doku-

40%sagen: Der Schutz der Verbraucher

war noch nie so gut wie heute.Quelle: Statista 2015

DER DEUTSCHEN

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lich, nachhaltig und verlässlich für unsere Kunden da zu sein“, sagt Eich-mann. „Dieser Gedanke liegt momen-tan im Trend, ist aber eigentlich ein uraltes Geschäftsmodell.“ Auf die heu-tige Zeit übertragen heißt das für Eich-mann: Er will Produkte ohne Deckungs-lücken verkaufen, die für Verbraucher verständlich sind.

Auf diesem Weg kommt die Branche aus eigener Initiative voran: Das sprich-wörtliche Versicherungs-Chinesisch gibt es bei Neuverträgen kaum mehr. Der GDV hat vor fünf Jahren angefangen, Musterbedingungen für Verträge zu ent-schlacken und – wissenschaftlich unter-stützt – sprachlich zu überarbeiten. Mehrere Versicherer haben ihre Schrift-stücke ausgedünnt und so übersetzt, dass auch juristische Laien verstehen, was gemeint ist. Bei Ergo, einem der Vorreiter, schrumpften dadurch die All-gemeinen Versicherungsbedingungen für Hausrat-Policen von 40 auf 12 Sei-

Mehr noch: Königs propagiert Kunden-interessen im gesamten Haus. Einmal pro Monat trifft er sich mit dem Vor-stand, gibt Ideen weiter und stößt Neu-erungen an. „Am Anfang haben viele im Haus mich als Störfaktor gesehen“, sagt Königs. „Inzwischen empfinden es alle als Bereicherung.“ Neben Königs wirkt ein 25-köpfiger Kundenbeirat und es gibt einen Kundenbericht – als Arbeits-nachweis in Sachen Verbraucherschutz, mit Daten zur Kundenzufriedenheit, zur Beratung, zum Beschwerdemanagement und zu Schlichtungsfällen.

Die Allianz lässt ihr „Ergebnis für den Kunden“ jährlich von einem Wirt-schaftsprüfer testieren und bemisst einen Teil der Vorstandsvergütung da-nach, ob Kunden zufriedener sind oder ob andere Fortschritte erzielt werden.

Im Streitfall: der OmbudsmannKunden, die Probleme nicht mit dem Versicherer direkt lösen können oder wollen, können sich zudem bei der BaFin beschweren – oder beim Ombuds-mann. Kommt es bei einigen der weit über 400 Millionen Versicherungsver-trägen zu Problemen und Streitigkeiten, versucht der seit 2001, schnell eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden. Oft gelingt das. 2014 hatte jede dritte Beschwerde bei Lebensversi-cherungen und fast jede zweite Beschwerde in den anderen Sparten Erfolg. Um etwa 13 000 zulässige Fälle kümmert sich die von den Versicherern gegründete Schlichtungsstelle – formal ein eingetragener Verein – jedes Jahr. Auch Justizminister Heiko Maas sieht im „Versicherungs-Ombudsmann ein Vorbild für effektiven Verbraucher-schutz“, von dem sich andere Branchen gern etwas abgucken dürften.

Es liegt nicht nur im Verbraucher-, sondern durchaus im Eigeninteresse der Assekuranz, dass Kunden die Produkte und Leistungen der unterschiedlichen Anbieter vergleichen können. Damit entsteht nicht nur ein Preis-, sondern auch ein Qualitätswettbewerb. Häufig

„WIR HABEN AUS FEHLERN GELERNT

UND GEHEN AUF DIE VERBRAUCHER

HEUTE GANZ ANDERS ZU.“

JÖRG VON FÜRSTENWERTHVORSITZENDER DER HAUPT-

GESCHÄFTSFÜHRUNG DES GDV

ten. Und Gastronomen müssen sich vor Abschluss einer Haftpflichtversicherung nicht mehr durch 40 Seiten Juristen-sprech kämpfen, sondern haben nur noch 8 Seiten – was in einer guten hal-ben Stunde zu schaffen ist.

Bei Ergo kümmert sich seit fünf Jah-ren Kundensprecher Ralf Königs mit eigenem Stab um die Übersetzungen.

STAPELWEISE UNTERLAGEN

Quelle: eigene Zusammenstellung

Was? Wann? Vorgeschrieben?

Broschüren, Themenhefte, Basisinformationen

vor Beratung Nein

Nein

Nein

Ja *

Ja *

Ja *

Ja

Ja

Ja

Ja

bei Beratung

nach Beratung

nach Beratung

nach Beratung

vor Abschluss

vor Abschluss

vor Abschluss

vor Abschluss

nach Abschluss

* Je nach Vertragsart

Produktsteckbrief bei Beratung

Kundenstatus/Beratungsergebnis

Versicherungsvorschlag /Angebot

Beratungsprotokoll

Antragskopie

Versicherungsbedingungen

Produktinformationsblatt

Versicherungsinformation

Versicherungspolice

Welche Papiere bekommen Versicherungskunden wann ausgehändigt?

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wird eine eigentlich bestens passende Police nicht abgeschlossen, nur weil ein Konkurrent eine ähnliche billiger anbie-tet, sagt Gothaer-Vorstandschef Eich-mann: „Mit zunehmender Transparenz in den Onlinemedien ist der Preis für Kunden doch oft die entscheidende Größe.“

Nicht immer seriöse Vergleichspor-tale und ähnliche Angebote erschweren den Anbietern das Geschäft und sind nur bedingt im Sinn der Verbraucher. Der Wildwuchs bei Vergleichsportalen sei enorm, kritisiert Hubertus Primus von der Stiftung Warentest, dem re-nommiertesten Anbieter von Versiche-rungsvergleichen: „Ich empfehle, genau zu beobachten, wer wann wen emp-fiehlt.“ Der Ansatz der Stiftung Waren-test, die Daten ihrer Tests stets vorab noch einmal den Überprüften vorzule-gen und selbst keine Versicherungsver-träge zu vermitteln, habe sich bewährt, sagt Primus: „Unser Ziel besteht darin, dem Verbraucher die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu orientieren.“

WEM EUROPAS VERBRAUCHER VERTRAUEN

ist allein durch die Fülle weit entfernt von Einfachheit und Transparenz“, sagt Fürstenwerth. Das erkennen auch Ver-braucherschützer in der Regierung all-mählich – und steuern um, von immer mehr Zwängen hin zum eher sanften Lenken. Staatlicher Verbraucherschutz könnte, wenn sich diese Fraktion durch-setzt, künftig häufiger im Mantel netter Aufforderungen und stetiger Anregun-gen daherkommen, um die Bürger anzustupsen und ihre Aufmerksamkeit zu erhöhen.

Am Ende jedoch müssen die Verbrau-cher ihren Schutz wohl auch in die eigene Hand nehmen. Wie das gelingen kann, beschreibt der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer, der im neuen Sachver-ständigenrat der Regierung für Verbrau-cherfragen sitzt: „Ein bisschen mehr Courage, ein bisschen mehr Verantwor-tung und ein bisschen mehr Nachden-ken.“ Dieser Dreiklang könnte nach der Welle an neuen Verbraucherrechten den Weg weisen zu mehr Verbraucher-kompetenz. OLAF WITTROCK

Ergebnisse einer repräsentative Umfrage in allen Staaten der Europäischen Union, plus Norwegen und Island.

Womöglich leisten Organisationen wie die Stiftung Warentest mit ihrem Aufklärungsanspruch einen effektiveren Verbraucherschutz als mancher Regu-lierer, denn die Vielzahl an Gesetzen, die die Branche zu befolgen hat, erhöht nicht nur die Bürokratie und damit die Kosten für die Kunden signifikant. Mit immer neuen Verordnungen konterka-riert der Gesetzgeber auch seine eigenen Ziele: dass Verbraucher sich wirklich selbst eine Meinung bilden können.

Sanftes Lenken statt ZwingenKlassische Lebensversicherungen etwa sind inzwischen derart eng reguliert, dass sie für Kunden immer undurch-sichtiger und unüberschaubarer wer-den, sagt GDV-Hauptgeschäftsführer von Fürstenwerth – da arbeiten dann die Versicherer, die sich um Verständ-lichkeit bemühen, gegen die Juristen im eigenen Haus, die immer neue gesetzli-che Bestimmungen in die Verträge bug-sieren müssen. „Bei allem grundsätzli-chen Verständnis für Regulierung: Das

1. Wie sehr vertrauen Sie darauf, dass Anbieter folgender Waren und Dienstleistungen die Vorschriften und Regeln des Verbraucherschutzes beachten? (Durchschnitt aller Antworten, 0 = kein Vertrauen, 10 = volles Vertrauen)

2. Wie gut lassen sich die folgenden Produkte und Dienstleistungen vergleichen?(Durchschnitt aller Antworten, 0 = gar nicht, 10 = sehr leicht)

Quelle: EU Market Monitoring Survey 2013

Bücher, Zeitschriften, Nachrichten

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4. Wenn ja: Haben Sie sich beschwert?

Beim Verkäufer/Vermittler/Hersteller

Bei Freunden/Familie

Bei einer dritten Partei

3. Hatten Sie schon einmal ein Problem mit den folgenden Produkten und Diensleistungen oder ihren Verkäufern?

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INFORMIERT ENTSCHEIDENDie meisten Versicherungsverträge werden nach einem Beratungsgespräch abgeschlossen.

Die Vermittler vergleichen nicht nur eine Vielzahl von Produkten. Sie dokumentieren auch das Gespräch, händigen Informationsmaterial aus und wahren die Rechte der Kunden.

Quellen:

Q1: BaFin, Jahresbericht 2014Q2: Zulässige Beschwerden beim Ombudsmann für Versicherungen,

JahresberichteQ3: GDV-VertriebswegeumfrageQ4: GDV-JahrbücherQ5: DIHK Service GmbH, März 2015

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„DIESE ZINSEN SIND PURER STRESS“

Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands, im Gespräch über den steigenden politischen und gesellschaftlichen Stellenwert des Verbraucherschutzes, Sinn und Unsinn der neuen

Marktwächter sowie darüber, was Versicherer und Verbraucherschützer eint und entzweit.

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D iplomatie heißt für Deutschlands obersten Verbraucherschützer Klaus Müller: kein Porzellan zer-

schlagen – aber es darf ruhig ordentlich scheppern. Entsprechend offen ging er auf die „Positionen“-Fragen ein.

Herr Müller, wenn Sie das Verhältnis der Versicherungsbranche zu den Ver-braucherverbänden bewerten müssten auf einer Skala von 0 bis zum Spitzen-wert 10 , wo würden wir da landen?Da nehmen Sie eine gute 6 ein. Draht und Dialog sind gut und eng, aber natürlich gibt es eine ganze Reihe von Herausforderungen.

Eine 6? Mäßig schmeichelhaft ...Sie wissen ja nicht, wo andere sind! Es gibt eine Reihe Themen, über die wir uns unterhalten müssen – von der Pro-vision über die Beratungsqualität bis zum Sinn von Lebensversicherungen in einem Niedrigzinsumfeld. Diese Zinsen sind für die Versicherer purer Stress. Aber wenn Renditen sinken, sollte auch der Kostenblock sinken – mindestens der, der gestaltbar ist.

Okay, reden wir über Provisionen. Damit reden wir darüber, wie das Pro-dukt an den Verbraucher gebracht wird. Der provisionsgestützte Vertrieb ist und bleibt ein großer Konflikt. Und die Frage von Unter- bis Überversicherung bei sinkenden Zinsen – und damit Ren-diten –, die bleibt kontrovers und ist nicht leicht zu lösen.

Die Alternativen zur Provisionsbera-tung, das zeigen Erfahrungen aus dem Ausland, sind wenig überzeugend ...Es ist zu früh, die Ergebnisse aus Groß-britannien und aus den Niederlanden abschließend zu bewerten.Wir sehen, dass sich das Marktgeschehen erheblich verändert. Die Zahl der Beratenden und der Produkte sinkt. Das kann kaum ver-wundern, wenn man von der Annahme ausgeht, dass nicht jedes Produkt bedarfsgerecht war und nicht jeder

KLAUS MÜLLER, VORSTAND DES VERBRAUCHER-

ZENTRALE BUNDESVERBANDS

Klaus Müller leitet den Bundesverband der Verbraucherzentralen seit Mai 2014. Der VZBV vereint 16 Verbraucherzentra-len der Länder und 25 verbraucherpoli-tisch orientierte Verbände. Zuvor leitete der 44-Jährige die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Bevor er oberster Verbraucherschützer wurde, war Müller politisch aktiv: 1998 zog er für die Grü-nen in den Bundestag ein, zwei Jahre später wurde der gebürtige Wuppertaler Umweltminister in Schleswig-Holstein.

Das Internet verändert das Leben der Verbraucher. Wie gehen Sie damit um?Wenn eine Reise, eine Banküberweisung oder ein Versicherungsabschluss nur einen Klick entfernt ist, hat das große Vorteile. Doch es verändern sich auch die Angebote. Was – Stichwort: Generali – im Gesundheitsbereich angeboten werden soll, hat mit klassischen Versi-cherungen wenig zu tun. Wenn ich per Wearables Gesundheitsdaten an meinen Versicherer weiterleite und das Konse-quenzen hat für Prämien oder Rücker-stattungen – das ist etwas völlig Neues.

Sie sind dagegen, dass Menschen sich passgenauer und günstiger versichern? Für den Einzelnen mag das absolut rich-tig sein. Wenn ich jung und gesund bin, wird daraus ein nicht zu schlagendes Produkt. Sobald ich älter und krank werde, kann ein individualisiertes Ange-bot plötzlich ganz anders aussehen.

Versicherungskollektive funktionieren schon bei einer erheblich kleineren Anzahl von versicherten Personen als sie heute üblich sind. Wo verlaufen für Sie die Grenzen? Es kann nicht sein, dass ich ständig überwacht werde oder mich überwa-chen lasse, um überhaupt erschwinglich versichert zu werden. Und dass das Risiko von Krankheitskosten komplett auf mich verlagert wird, weil meine Ver-sicherung so individualisiert ist. Beides

Berater sinnvoll agiert hat. Wir sehen umgekehrt eine steigende Qualität der Beratungen – ein tolles Zeichen. Der Provisionsvertrieb ist und bleibt für uns ein Problem, auch wenn wir wissen: Honorarberatung allein ist nicht auto-matisch der Weg zur Besserung. Wir müssen auch da über Qualität reden.

Moment mal: Die Honorarberatung ist also doch nicht das Allheilmittel? Es verändert sich gerade einiges. Vieles verlagert sich ins Internet, es bilden sich Hybridmodelle. Das kennen wir etwa aus der Reisebranche: Auch dort hat sich der Markt signifikant verändert – ohne dass es eine Beratungslücke gibt.

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wollen wir verhindern. Auch Bonuspro-gramme werden zum Problem, wenn ich wegen einer bestimmten Disposition ein schlechteres Angebot kriege – egal wie gesund ich lebe und wie viel Sport ich treibe. Wenn Versicherungen so weit ausdifferenziert werden, dass es keine kollektive Absicherung mehr ist, dann reden wir von etwas ganz Neuem.

Viele Verbraucher haben damit offen-bar weniger Probleme als Sie und sind längst bereit, ihre Daten – etwa zu Gesundheit und Fitness oder über ihr Fahrverhalten im Auto – preiszugeben.Das glaube ich nicht. Die Menschen fangen gerade erst an, darüber nachzu-denken. Öffentliche Diskussionen bre-chen erst beim ersten Skandal aus. Das ist zwar schade, weil wir uns einen prä-ventiven Verbraucherschutz wünschen, leider macht häufig erst Schaden klug.

Mit den Marktwächtern haben die Ver-braucherzentralen jetzt, unterstützt von der Bundesregierung, eine Plattform installiert, welche die Rechte und den Schutz des Kunden im Fokus hat. Damit können Sie sich allerdings nur für Regeln stark machen, die in Deutschland greifen. Passt das noch zu einem vereinigten Europa? Im Gesundheitsmarkt spielt europäi-sches Recht noch eine geringe Rolle. Wenn wir uns in den Finanzmarkt bewegen, gelten andere Spielregeln.

Was können also Finanzmarktwächter im europäischen Umfeld ausrichten? Die Marktwächter können sehr früh bestimmte Entwicklungen an die Poli-tik, an die Öffentlichkeit, an Aufsichts-behörden, an die Wissenschaft und an die Verbraucher herantragen mit der Botschaft: Hört mal, bisher haben nur zehn, 100 oder 1000 Leute ein Problem, aber das kann schon bald viel mehr Menschen treffen.

Marktwächter als Frühwarnsystem? Als Sensor. Die Marktwächter unter-scheiden: Handelt es sich um ein indivi-duelles Problem beim Verbraucher oder beim Anbieter? Oder um ein strukturel-les Problem, bei dem Alarm geschlagen werden muss? Werden Gesetze verletzt, schalten wir die Aufsicht ein.

Wie wollen Sie verhindern, dass die Marktwächter skandalisieren, um in die Medien zu kommen?

Wir haben uns einen Ruf erarbeitet, den wir schützen und wahren wollen: Der VZBV ist ein sehr seriöser, aber natürlich zugleich auch parteiischer und entschiedener Akteur auf Seiten der Verbraucher.

Zu den Marktwächtern gesellt sich jetzt noch ein Sachverständigenrat ... Was es bisher nicht gab, war eine gezielte Auswertung der Verbraucher-beschwerden. Diese Lücke schließt der Marktwächter. Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen hingegen ist beim Ministerium angesiedelt und berät die Politik wissenschaftlich, wie es wei-ter gehen soll mit den großen Leitlinien beim Verbraucherschutz. Er kann auf die Auswertungen der Marktwächter bei seiner Arbeit zurückgreifen. Ist das nicht arg viel des Guten? Schließlich hat jetzt auch die BaFin den Auftrag erhalten, sich des Verbraucher-schutzes anzunehmen. Die BaFin erhält jetzt das Mandat, für das die Verbraucherschützer seit Jahren getrommelt haben, nämlich bei ihrem Tun als Aufsichtsbehörde für Finanzen auch die Belange des Verbraucher-schutzes im Blick zu haben. Ich sehe hier ein Räderwerk, das ineinander greift. Wo sehen Sie Kooperationsmöglichkei-ten zwischen Verbraucherschutz und Versicherungswirtschaft? Wir kriegen derzeit viele Anfragen von Unternehmen und Verbänden, die sagen: Womöglich helfen uns die Markt-wächter, selbst besser zu werden. Inso-fern hilft eine verbraucherorientierte Marktbeobachtung auch Anbietern wie Versicherungen, ihre Produkte noch besser zu gestalten. Und darüber hinaus? Wir sind in einem ständigen guten Dia-log mit dem GDV. Dabei gibt es immer wieder Anliegen, die uns verbinden – oder auch trennen. INTERVIEW:

THOMAS WENDEL, MICHAEL PRELLBERG

„DER MARKT-WÄCHTER HILFT ANBIETERN WIE

VERSICHERUNGEN, IHRE PRODUKTE

NOCH BESSER ZU GESTALTEN.“

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Fahrraddiebstähle je 100.000 Einwohner(Stand 30. Juni 2014)

Anstieg der Fahrrad-Diebstählegegenüber dem Vorjahr in %

5

Thüringen

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5Sachsen-Anhalt

6Sachsen

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Saarland

14

Rheinland-Pfalz

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Niedersachsen

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Hessen

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16

Berlin

5

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Baden-Württemberg

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Deutschland

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1092

723

894

239

255

WER SEIN RAD LIEBT, DER ... KAUFT EIN GUTES SCHLOSSDie meisten Fahrräder werden gestohlen, wenn sie unterwegs abgestellt sind.

Wo das Fahrrad das Auto als sinnvollstes Fortbewegungsmittel ablöst, dort gibt

es die meisten Räder – und gleichzeitig die meisten gestohlenen. Das belegt diese Karte, deren Daten „Positionen“ auf Zahlenbasis der Kriminalämter und Statistikämter der Bundesländer errechnet hat: In Bremen, Berlin und Hamburg wird, umgerech-net auf die Einwohnerzahl, am meis-ten geklaut. Fahrradbesitzer machen es Dieben oft zu einfach, kritisiert die Polizei, und kaufen häufig zu billige Schlösser. Das ist Sparsam-keit am falschen Platz, denn neun von zehn der gestohlenen Fahr-räder werden nie wiedergefun-den. Die meisten Räder werden auf offener Straße entwendet und nur selten aus Keller oder Wohnung (beides deckt die Hausratversicherung ab). Wer sein Rad auch unterwegs versi-chert sehen will, unterschreibt eine Zusatzklausel. Spezielle Fahrradversicherungen lohnen sich vor allem für besonders wertvolle Räder.

Übrigens: Bremen, Berlin und Hamburg sind zwar die Länder, keineswegs aber die Städte mit den meisten gestohlenen Rädern. In die-sem Ranking führt Magdeburg vor Cottbus und Münster.

Quelle: Landeskriminalämter, Bevölkerungsstatistiken der Länder, eigene Berechnungen/POSITIONEN

DIE DEUTSCHLANDKARTE SETZT VIERTELJÄHRLICH

WICHTIGE ZAHLEN AUS DER VERSICHERUNGSLANDSCHAFT

PRÄGNANT INS BILD.

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B eim Autozulieferer Elring Klinger können Beschäftigte ihre spätere Rente schon heute aufbessern.

Die schwäbische Firma finanziert ihnen eine Betriebsrente, außerdem erhalten die Mitarbeiter einen Zuschuss, wenn sie Beiträge ins Versorgungswerk der Metallbranche einzahlen. Elring Klinger rät Mitarbeitern, auch den zweiten Weg zu nutzen und so die Altersvorsorge mit privaten Mitteln aufzubessern.

Elring Klinger kann sich bei der Altersvorsorge großzügig zeigen. Der

Viele Unternehmen kümmerten sich schon um ihre Mitarbeiter, als es eine staatliche Vorsorge noch gar nicht gab. Rentenlücke und Fachkräftemangel machen die Hilfe vom Chef heute erst

recht attraktiv – wenn sich der bürokratische Aufwand in Grenzen hält.

EINFACH MAL DIE BETRIEBSRENTE REFORMIEREN

Betriebsrenten waren freiwillig: Hamburger Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik Kyriazi geben in den 1930ern Tabakblätter in den Häcksler.

Normalfall ist das nicht, vor allem nicht bei kleineren Firmen.

Der Weltmarktführer für Zylinder-kopfdichtungen gehört zu den großen Mittelständlern. Die 7 000 Beschäftig-ten sorgen jährlich für 1,3 Milliarden Euro Umsatz, die Umsatzrendite liegt seit Jahren mindestens bei acht Prozent. Von den Unternehmen mit höchstens neun Mitarbeitern bieten hingegen laut Bundesarbeitsministerium 70 Prozent keine zusätzliche Altersversorgung an, bei Firmen mit zehn bis 49 Beschäftig-

ten halten sich 60 Prozent zurück. Dabei ist klar, dass viele Arbeitnehmer allein mit der staatlichen Rente im Alter kaum über die Runden kommen werden. Nach Modellrechnungen der Bundes-regierung wird die durchschnittliche Rente bis 2028 auf 44,4 Prozent des Nettoeinkommens fallen. Derzeit liegt das Verhältnis noch bei 48 Prozent.

Durch den Arbeitgeber unterstützte Betriebsrenten können helfen, diese Ver-sorgungslücke zu schließen. Bislang ist dieses Angebot freiwillig. Das könnte

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Betriebsrenten könnten Pflicht werden: Im Alten Land bei Hamburg sortieren Mitarbeiterinnen von Elbe Obst faule Äpfel aus.

sich jetzt ändern. Bundesarbeitsministe-rin Andrea Nahles (SPD) will die Tarif-partner in die Pflicht nehmen: Sie sollen in ihren Branchen eigene überbetriebli-che Pensionskassen oder -fonds grün-den. Tarifgebundene Unternehmen wür-den dann entweder eigene Beiträge oder einen Teil des Einkommens der Beschäf-tigten direkt an diese Kasse abführen, dann vielleicht ohne die Möglichkeit, einen anderen Versorgungsträger auszu-wählen. Im Ruhestand sollen diese Leis-tungen die staatliche Rente ergänzen.

Über die Details wird noch gestritten, aus vielerlei Gründen. Der Entwurf ver-fehlt nach Meinung des Gesamtver-bands der Deutschen Versicherungs-wirtschaft (GDV) die Zielgruppe, denn gerade kleine und mittlere Firmen sind selten tarifgebunden. Um sie zu errei-chen, müssten Tarifverträge für allge-meinverbindlich erklärt werden. Doch Zwang sei der falsche Weg, sagt Frank-Henning Florian, Vorsitzender des Vor-stands der R+V Lebensversicherung und zugleich Vorsitzender des Sozialpo-

litischen Ausschusses beim GDV. „Mit einer Pflicht zur betrieblichen Altersver-sorgung würde der Staat seinen Bürgern das Misstrauen aussprechen“, erklärt Florian (siehe auch Pro & Contra auf Seite 23). Es würde damit unterstellt, die Bürger seien nicht in der Lage, „ver-nünftige Entscheidungen für die eigene Vorsorge im Alter treffen zu können“.

In der Versicherungsbranche wird zudem befürchtet, dass der Nahles-Plan für mehr statt weniger Komplexität und

Bürokratie sorgt. Wenn Arbeitnehmer häufiger ihren Job wechseln wollten, werde so mancher „seine Vorsorge vom Arbeitsverhältnis trennen wollen“, sagt Florian, „bei einem Obligatorium wird ihm das verweigert“.

Schon heute sei schließlich die Kom-plexität der betrieblichen Altersversor-gung eines der Haupthindernisse für deren Ausbau, warnen Experten. Hinzu kommt: Durch die Vorgaben würde die Angebotsvielfalt eingeschränkt. Im Ergebnis könnten auch die Unterneh-men nicht mehr eine für sie passgenaue Lösung auswählen.

Die Tariflösung dürfte für Betriebe selten finanziell vorteilhafter sein, denn die Kassen oder Fonds müssten neu gegründet werden. Die damit verbunde-nen hohen Kosten würden die Renditen auf lange Zeit belasten. Dabei gibt es mit der Direktversicherung einen für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer guten Weg zur zusätzlichen Vorsorge – mit dem Unterschied, dass sich das Unter-nehmen dafür einen Vertrag bei einem

„WER EIN OBLIGATORIUM

WILL, MUSS ERKLÄREN,

WELCHE VORTEILE ES BRINGEN SOLL.“

FRANK-HENNING FLORIANVORSITZENDER DES SOZIAL-

POLITISCHEN AUSSCHUSSES BEIM GDV

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Versicherer aussuchen darf. Was die Anrechnung der Beiträge auf Steuern und Sozialbeiträge angeht, würde die neue Regelung nichts ändern.

Was der Nahles-Vorschlag allerdings ändern würde: Firmen müssten anders als bisher nicht mehr für die Betriebs-rente ihrer Belegschaft haften. Gänzlich offen ist dabei allerdings noch, wie dann eine Absicherung der Leistungen erfol-gen soll. Zudem würden damit für alte und neue Verträge zwei grundsätzlich verschiedene Regelwerke gelten, was für noch mehr Komplexität sorgt. Dabei sei angestrebt, die betriebliche Altersver-sorgung „für Arbeitgeber und -nehmer attraktiver zu machen“, sagt Florian. „Wer ein Obligatorium will, muss erklä-ren, welche Vorteile es bringen soll. Die Nachteile sind jedenfalls groß.“

Viele Mittelständler haben Angst vor dem Verwaltungsaufwand, sagt Profes-sor Frank Wallau von der Fachhoch-schule Paderborn, der Erfolgsfaktoren für die betriebliche Altersversorgung im Mittelstand untersucht hat. Von den identifizierten 40 Hemmnissen haben viele mit Bürokratie zu tun. Wallaus Fazit: „Wir müssen nicht nur an einer Stellschraube drehen, sondern an sehr vielen – und das gleichzeitig.“ Die Poli-tik, fordert Wallau, müsse „den Mut haben, etwas auszuprobieren“.

Betriebsrente als Bonus

So wie die Unternehmen, die bereits im 19. Jahrhundert Versorgungswerke ein-richteten, um ihre Beschäftigten gegen Krankheit und Armut im Alter zu schüt-zen. Bei Konzernen wie Krupp, Siemens oder BASF gab es diese Kassen zum Teil schon vor Einführung der gesetzlichen Rente. Und die betriebliche Absicherung der Bergleute, die Knappschaft, reicht noch weiter zurück. Nie allerdings hätte diese Hilfe ausgereicht, um den Lebens-standard zu sichern. Ihre Aufgabe war es immer, Leistungen aus anderen Quel-len aufzustocken. Und sie galt stets nur für die Beschäftigten der Unternehmen, die diese Leistung freiwillig anboten.

Erst durch die Riester-Reform erhiel-ten Betriebsrenten eine weitergehende Funktion. Gemeinsam mit der privaten Vorsorge sollen sie die abgesenkten staatlichen Renten ausgleichen. Seit 2002 haben Beschäftigte sogar das Recht auf den Aufbau einer Betriebs-rente – vorausgesetzt, sie finanzieren sie selbst. Der Betrieb führt einen Teil des Einkommens ab. Mitarbeiter brauchen darauf weder Steuern noch Sozialabga-ben entrichten. Die fallen erst an, wenn sie als Rentner eine günstigere Progres-sionsstufe nutzen können.

Das Procedere allerdings ist umständ-lich. Unternehmen müssen entscheiden, ob sie die Beiträge zur Betriebsrente

allein tragen, den Beschäftigten einen Zuschuss gewähren oder einen Teil des Lohns als Beitrag an einen Versorgungs-träger überweisen. Das alles wiederum ist zudem über fünf Durchführungs-wege (siehe links) möglich. Der klassi-sche Weg ist die Pensionszusage des Arbeitgebers. Bei einer Direktversiche-rung schließen Arbeitgeber eine Lebens-versicherung für ihre Beschäftigten ab und zahlen Beiträge ein. Ähnlich funkti-onieren Pensionsfonds, Pensions- und Unterstützungskassen.

Welche Möglichkeit die beste ist, hängt vom Einzelfall ab. „Den Königs-weg gibt es nicht“, sagt Mark Walddör-fer von der Pensionsberatung Longial. Derzeit seien viele Unternehmen dabei, ihr Versorgungssystem neu zu ordnen. Oft wollen sie dabei Risiken aus ihren Büchern verbannen.

Ein Risiko sind die niedrigen Zinsen. Wenn Firmen für den Ruhestand ihrer Mitarbeiter sparen, muss das investierte Kapital Rendite abwerfen. Ist das nicht der Fall, muss das Unternehmen mehr Geld aus dem laufenden Geschäft zuschießen. Das kann teuer werden.

Ein weiteres Problem sind betriebli-che Rückstellungen zur Absicherung der Betriebsrenten. Wer nach Handelsge-setzbuch bilanziert, muss den Durch-schnittszinssatz der vergangenen Jahre ansetzen. Wenn die Zinsen sinken, wer-den die Rückstellungen höher. Das nagt am Gewinn. Noch ein Grund, warum viele Unternehmen ihr betriebliches Rentensystem gerade abschaffen. Und vor allem kleinere Firmen gar nicht daran denken, eines aufzubauen.

Bloß keine RückstellungenElring Klinger hat diesen Schritt schon vor zehn Jahren vollzogen. Bis dahin hatte der Autozulieferer großzügige Pensionszusagen gemacht. Das Risiko wurde dem neuen Firmenchef Stefan Wolf jedoch zu groß: „Als ich hier 2005 mein Vorstandsamt antrat, habe ich die-ses Versorgungssystem geschlossen“, sagt er (siehe Interview rechts).

DIE FÜNF WEGE

UNTERWEGS ZUR BETRIEBSRENTE

1 Die Direktversicherung: Der Arbeit-geber schließt eine Lebensversi-cherung bei einem externen Unter-nehmen für seine Beschäftigten ab und zahlt Beiträge ein.

2 Die Pensionskasse: Diese Kassen sind selbstständige Versorgungs-einrichtungen, die vom Arbeitgeber finanziert werden.

3 Die Unterstützungskasse: Sie un-terliegen nicht der Versicherungs-aufsicht und können ihr Vermögen frei investieren – was oft ein höhe-res Risiko beinhaltet.

4 Der Pensionsfonds: Diese Anlage-gesellschaften investieren ihr Ver-mögen am Kapitalmarkt – ebenso wie bei Unterstützungskassen mit höherem Risiko.

5 Die Pensionszusage: Das Unter-nehmen verpflichtet sich, bei Ren-teneintritt die vereinbarte Leistung auszuzahlen. Dafür muss der Ar-beitgeber Rückstellungen bilden.

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Bauch einziehen: Vorstandschef Stefan Wolf im Elring Klinger-Werk in Dettingen.

Stefan Wolf ist Vorstandschef von Elring Klinger, Weltmarktführer für Zylinder-kopfdichtungen. Das Unternehmen hat mehr als 7000 Beschäftigte und sitzt im schwäbischen Dettingen an der Erms.

Betriebliche Altersversorgung stockt nicht nur die Rente auf, sie zieht auch Fachkräfte an. Bietet Elring Klinger des-halb eine Betriebsrente an?Es ist eine interessante Nebenleistung für die Mitarbeiter. Vor allem kleinere Unter-nehmen, die es sich leisten können, soll-ten ihren Beschäftigten neben der gesetz-lichen Rente zwei weitere Säulen bieten, nämlich die vom Arbeitgeber finanzierte Altersversorgung und darüber hinaus die durch den Arbeitnehmer bezahlte Säule. Diese zweite Säule ist derzeit noch sehr unterentwiickelt.

Wie kann die arbeitnehmerfinanzierte Säule aussehen?Wir versuchen das in unserer Branche über die MetallRente, ein von Arbeitge-bern und IG Metall gemeinsam getrage-nes Versorgungswerk. Die Beschäftigten können einen Teil ihres Einkommens steuerfrei einbringen. Im Ruhestand, wenn sie weniger verdienen, lassen sie sich eine Rente auszahlen, für die dann meistens weniger Steuern anfällt.

Kommt das an?Wir bei Elring Klinger haben unsere Mit-arbeiter dazu umfassend beraten. Die Resonanz war enttäuschend. Nicht mal 20 Prozent der Mitarbeiter haben einen solchen Vertrag abgeschlossen. Vor allem jüngere Beschäftigte, bei denen die lange Laufzeit noch was bringen würde, sagen mir: Wenn ich 100 Euro im Monat spare, dann macht das im Jahr 1 200 Euro. Davon kann ich eine Woche mit meiner Freundin nach Mallorca fliegen. Die Wahrnehmung, dass Leistungen aus den staatlichen Ren-tensystemen wegen der demografischen Entwicklung schrumpfen werden und dass man sich privat absichern muss, die fehlt.

Neben der MetallRente können Be-schäftigte in eine vom Arbeitgeber be-zuschusste Altersversorgung einzah-

len. Doch die Renditemöglichkeiten sind armselig. Wie gehen Sie damit um?Die geringe Rendite ist ein enormes Prob-lem. Bei Unternehmen, deren Altersvor-sorgesystem über betriebliche Rückstel-lungen abgesichert wird, kommt hinzu, dass viele nach den Vorschriften des Han-delsgesetzbuches bilanzieren und den Durchschnittszinssatz der vergangenen Jahre zugrunde legen müssen. Da die Zin-sen sinken, werden die Rückstellungen von Jahr zu Jahr höher, das geht zu Lasten des Gewinns. Und eine Besserung ist nicht in Sicht.

Was können die Unternehmen tun?Wir bei Elring Klinger haben das System 2005 umgestellt. Es ist zwar nach wie vor ein arbeitgeberfinanziertes Modell, läuft aber über einen Versicherer, an den wir die Beiträge überweisen. Damit müssen wir keine Rückstellungen mehr bilden.

Das Arbeitsministerium will die betrieb-liche Altersversorgung neu regeln ... Grundsätzlich ist das nicht schlecht. Es sieht vor, dass die Tarifvertragsparteien ein Versorgungswerk schaffen und jeder tarifgebundene Mitarbeiter automatisch in diesem System versichert wird. Bislang haben wir die Erfahrung gemacht, dass Vorschläge aus dem Arbeitsministerium den Betrieben eher schaden. Insofern bin ich im Moment misstrauisch, ob noch et-was nachkommt.

Was könnte das sein?Neue finanzielle Verpflichtungen. Das würde zu Lasten meist schon geschwäch-ter Unternehmen gehen, die ihr Versor-gungssystem erst vor Kurzem schließen mussten. Das halte ich für nicht ziel- führend. INTERVIEW: HEIMO FISCHER

„ES FEHLT DIE WAHRNEHMUNG,

DASS MAN SICH PRIVAT ABSICHERN

MUSS.“STEFAN WOLF

VORSTANDSVORSITZENDER DER ELRING KLINGER AG

Der Autozulieferer Elring Klinger bietet eine betriebliche Altersversorgung an. Oft vergeblich.

„LIEBER NACH MALLORCA“

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Heute gibt es bei Elring Klinger eine arbeitgeberfinanzierte Betriebsrente. Das Unternehmen überweist jedes Jahr einen gehaltsabhängigen Beitrag an ihren Versicherer. „Für Tarifangestellte kommen so ungefähr 600 bis 800 Euro pro Jahr zusammen“, sagt der Leiter des Personalcontrollings Stefan Pietruschka. Vorteil: Das Unternehmen muss dafür keine Rückstellungen mehr bilden.

Wer darüber hinaus selbst vorsorgen will, hat die Möglichkeit, einen Vertrag bei der von Arbeitgebern und IG Metall gemeinsam getragenen MetallRente abzuschließen. Auf den gewählten Bei-trag zahlt Elring Klinger unter gewissen Bedingungen 15 Prozent Zuschuss.

Im Südwesten sind solche Zuschüsse, Betriebs- und Zusatzrenten ein wichti-

Ein Ziel dabei war, die Anziehungs-kraft des Spezialisten für Küchenspülen und -armaturen zu erhöhen. Es kamen aber noch weitere Motive hinzu. „Vor Einführung der betrieblichen Altersver-sorgung hatte nur knapp ein Drittel unserer Mitarbeiter selbst vorgesorgt“, sagt Personaldirektor Ulrich Harm. Zu wenig, fand er. Als Arbeitgeber sehe sich die Firma in der Verantwortung, die Belegschaft bei diesem wichtigen Thema zu unterstützen.

Blanco bietet den Mitarbeitern im badischen Oberderdingen einen Spar-plan mit frei wählbaren Monatsbeiträ-gen an, in den sie auch vermögenswirk-same Leistungen einbringen können. Die Verzinsung beträgt 3,8 Prozent pro Jahr. Das Geld kann mit 63 Jahren abgerufen werden, ist über den Pensi-onssicherungsverein geschützt und auf Hinterbliebene übertragbar. „Die fest-geschriebene Kapitalzahlung ist für Unternehmen und Mitarbeiter eine exakt planbare Größe“, sagt Harm. Sie biete maximale Sicherheit.

Bei Blanco beteiligen sich mehr als 70 Prozent der Beschäftigten an dem Sparplan. „Dieses System hat den Vor-teil, dass es jeder versteht“, sagt Sven Palec. Es sei einfach, transparent und planbar. Der Mitarbeiter der Personal-abteilung hat den Vertrag als einer der ersten unterschrieben.

Was Palec macht, können sich viele Beschäftigte in Kleinbetrieben kaum leisten. „Geld, das ich sparen will, muss ich erstmal haben“, sagt der Longial-Pensionsberater Walddörfer. Das gelte auch für den Fall, dass sich das Arbeits-ministerium mit seiner Idee einer neuen Tarifrente durchsetzt.

Dieses Argument ist mittlerweile in Berlin angekommen. Ministerin Nahles denkt inzwischen laut über Alternativen zu ihrem Betriebsrentenvorschlag nach. So hat sie kürzlich eine stärkere staatli-che Förderung der Betriebsrente in Aus-sicht gestellt – sofern der Finanzminister zustimmt. HEIMO FISCHER

MITARBEIT: DENNIS SCHMIDT-BORDEMANNBlanco-Personaldirektor Ulrich Harm hilft den 1300 Mitarbeitern beim Vorsorgen

„WIR NEHMEN UNS IN DIE

PFLICHT, UNSERE MITARBEITER ZU UNTERSTÜTZEN.“

ULRICH HARMPERSONALDIREKTOR BEIM

SPÜLENHERSTELLER BLANCO

ges Instrument im Rennen um das beste Personal. Firmen wollen Mitarbeiter langfristig an sich binden. Deshalb bie-tet auch das Familienunternehmen Blanco seinen 1 300 Beschäftigten eine betriebliche Altersversorgung an.

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Pro & Contra Wer den Arbeitsvertrag unterschreibt, macht damit zwangsweise bei der betrieblichen Altersvorsorge mit. Ist dieser Automatismus sinnvoll oder nicht?

Darüber wird nicht nur im Bundesarbeitsministerium diskutiert.

BRAUCHEN WIR EINE OBLIGATORISCHE BETRIEBLICHE ALTERSVORSORGE?

GERT WAGNER, VORSTANDSMITGLIED DES DEUTSCHEN INSTITUTS FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG

FRANK HENNING FLORIAN, VORSITZENDER DES VORSTANDS DER R+V LEBENSVERSICHERUNG

Mit den von Walter Riester und Bert Rürup angestoßenen Reformen der Rentenversicherung wurde die freiwillige Altersvorsorge in eine neue Rolle gedrängt: Sie bessert nicht mehr eine auskömmliche gesetzliche Rente auf. Vielmehr ist die private und betriebliche Vorsorge zum unmittelbaren Bestandteil der Alterssicherung geworden, denn das gesetz-liche Rentenniveau wird gezielt abgesenkt.

Konsequent wäre die verpflichtende private Vorsorge ge-wesen. So aber muss man heute feststellen, dass die private Riester-Rente – trotz staatlicher Förderung – weit von einer hundertprozentigen Abdeckung entfernt ist. Genau dies unterstellt jedoch die gesetzliche Rentenberechnungsformel.

Die Situation wird sich kaum ändern. Keiner der Akteure in der Sozialpolitik tritt derzeit für die Einführung einer obligatorischen Riester-Rente ein. Ebenso wenig ist zu erwarten, dass die Rentenformel erneut geändert und so das Niveau der gesetzlichen Rente erhöht wird. Damit bleibt nur die betriebliche Altersversorgung (bAV) als breit wir-kendes Instrument zur Verbesserung der Einkünfte im Alter.

Man darf sich nichts vormachen: So wichtig und richtig es wäre, eine obligatorische betriebliche Altersvorsorge ein-zuführen, so unwahrscheinlich ist es, dass es dazu kommt. Realistisch betrachtet bleiben zwei Möglichkeiten: Die Fest-schreibung betrieblicher Vorsorge in möglichst allen Tarif-verträgen sowie eine – etwa von der gesetzlichen Rentenver-sicherung organisierte – Standard-Zusatzvorsorge. In ihr sollten alle Arbeitnehmer versichert sein, die keiner tarif-lichen bAV angehören. Und die Beschäftigten könnten die Möglichkeit erhalten, die Zusatzvorsorge abzuwählen.

Auch andere Modelle der betrieblichen Altersvorsorge könnten und sollten in Betracht gezogen werden, wenn sie in der Breite wirken. Auf jeden Fall ist eine konkrete Dis-kussion überfällig.

Misstrauen und Zwang sind schlechte Ratgeber. Mit einer Pflicht zur betrieblichen Altersversorgung würde der Staat seinen Bürgern das Misstrauen aussprechen, nicht in der Lage zu sein, vernünftige Entscheidungen für die eigene Vorsorge im Alter treffen zu können. Zugleich würde er vorschreiben, welche Vorsorgeform sie zu nutzen haben. Wer ein Obligatorium will, muss erklären, welche Vorteile dies bringen soll. Die Nachteile sind jedenfalls groß. Zwang bekämpft das „Nicht-Wollen“. Liegt das Problem aber im „Nicht-Können“, also in zu geringer Vorsorgefähigkeit, ist Zwang sinnlos und vernichtet sogar Existenzen.

In vielen Unternehmen besteht eine gelebte Sozialpart-nerschaft. Wenn aber das Verhältnis zum Betrieb nicht stimmt oder Jobwechsel häufiger anstehen, wird so man-cher Arbeitnehmer seine Vorsorge vom Arbeitsverhältnis trennen wollen. Bei einem Obligatorium wird ihm das ver-wehrt. Um das Ausweichen zu verhindern, müsste in den Unternehmen eine Überwachungs- und Sanktionsarchitek-tur errichtet werden. Dies belastet das Arbeitsklima.

Darüber hinaus würde sich der Charakter der bAV ändern: Vom geschätzten „add on“ zum lästigen Zwang. Fachkräfte ließen sich dadurch nicht mehr binden. Vielen bereits bestehenden Tarifverträgen würde der Boden entzo-gen. Würden die Arbeitgeber in der Fläche zu zusätzlichen Beiträgen gezwungen, steigen die Arbeitskosten und damit die Anreize zur Rationalisierung. Im Zusammenspiel mit dem Mindestlohn, der schon für sich genommen Druck erzeugt, könnte dies Arbeitsplätze kosten.

Zielführender als jede Form von Obligatorium ist es, die bAV für Arbeitgeber und Arbeitnehmer attraktiver zu machen. Dazu gehören der Abbau von Komplexität und mehr Anreize im Bereich Steuern und Sozialabgaben. Hier muss die Politik ansetzen.

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Damit freiberufliche Hebammen weiterhin Geburtshilfe leisten können, müssen sie finanziell entlastet werden. Der Unterschied zwischen einfacher und grober

Fahrlässigkeit spielt bei der Lösung des Problems eine entscheidende Rolle.

GEBOREN IM EXIL

A ls vor vier Jahren Janne geboren wurde, ihre große Tochter, war alles so einfach. Mitten in der

Nacht gingen die Wehen los. Miriam Müller schnappte sich die gepackte Tasche, setzte sich auf den Beifahrersitz und ließ sich von ihrem Freund in die Klinik im nahen Westerland fahren, wo die Hebamme schon wartete. Es dauerte nur wenige Stunden, dann war Janne da. „Es war genau so, wie man sich eine Geburt wünscht“, sagt die Sylterin.

Heute sitzt die 25-Jährige auf ihrem Sofa in Tinnum und blickt verliebt auf den Säugling neben sich. Vor elf Tagen erst ist Miriam Müller zum zweiten Mal Mutter geworden. Mats ist kerngesund, und die Entbindung war unkompliziert. Und doch war dieses Mal alles anders.

Wenn Miriam Müller über Mats‘ Geburt spricht, erzählt sie nicht von der Vorfreude auf das Baby. Sie spricht von Kosten, einem durchorganisierten Betreuungsplan für Janne und davon, wie das Warten auf die Wehen an ihren Nerven gezehrt hat. Dieses Mal musste sie zur Geburt ins Exil, nach Husum,

Ausgerechnet Sylt. Die Nordseeinsel mit den weitläufigen Dünen, restaurier-ten Reetdachhäusern und Strandbars, an denen die Touristen zum Mittagessen Scampis bestellen. Wer hier flaniert, glaubt nicht, in der Einöde gelandet zu sein. Doch ausgerechnet die noble Feri-eninsel ist zum Beispiel für ein medizini-sches Notstandsgebiet geworden, wie es auch andernorts droht. In Deutschland gibt es immer weniger Hebammen, die Schwangere im Kreißsaal, im Geburts-haus oder bei der Hausgeburt begleiten. Von den bundesweit rund 16 000 freibe-ruflichen Hebammen bieten nur noch rund 3 000 auch Geburtshilfe an.

Diese Entwicklung wird jetzt sogar im Kino nachgezeichnet: In „Einsame Geburt – Hebammen in Not“, der im Mai Premiere feierte, beschreibt die Regisseurin Nadine Peschel das Ringen um die Zukunft der freien Hebammen (siehe Interview auf Seite 27).

Diese Zukunft wird vor allem durch finanzielle Bedingungen entschieden. Die an Geburtshelferinnen gezahlten Honorare sind niedrig und seit Jahr-

Sand, Dünen und Strandhafer gibt es auf Sylt – aber keine Geburtshelferinnen.

lange vor dem errechneten Termin, damit die Wehen auf keinen Fall auf der Insel losgehen. Hier hätte sie Mats nicht bekommen können. Seit 2014 gibt es auf Sylt keine Geburtshilfe mehr.

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Zu Hause auf der Insel Sylt: Miriam Müller, Mats und

Hebamme Anke Bertram. Die kommt nur zur Nachsorge –

Geburtshelferin ist sie nicht.

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zehnten kaum gestiegen. Gleichzeitig benötigen Hebammen eine Haftpflicht-versicherung, um sich gegen Fehler abzusichern. Die jährliche Prämie des Gruppenvertrages, den der Deutsche Hebammenverband mit einem Konsor-tium von Versicherern abgeschlossen hat, stieg in den vergangenen elf Jahren von 1352 auf 6274 Euro.

Verantwortlich für diesen Anstieg ist ein eigentlich erfreulicher Umstand: Dank des medizinischen Fortschritts haben Babys, die durch einen Fehler bei der Geburt Schäden davontragen, heute eine sehr viel höhere Überlebenschance und Lebenserwartung. Die Medizin ermöglicht es, schwer behinderte Kinder langfristig gut zu pflegen. Diese Versor-gung aber kostet Geld – seit 2003 sind

Der kleine Mats kam in Husum zur Welt, denn auf Sylt gibt es keine

Geburtsklinik mehr.

wenn es glücklicherweise nur selten zu folgenreichen Geburtsschäden kommt und Hebammen auch nicht häufiger Fehler machen als früher: Die Geburts-helferinnen werden für Versicherungen zum Hochrisikogeschäft.

Weil sie die damit verbundenen Prä-mien nicht mehr zahlen können oder wollen, steigen immer mehr Hebammen aus der Geburtshilfe aus. „Wir machen uns große Sorgen, dass weiteren Kolle-ginnen die Belastungen zu groß wer-den“, sagt Martina Klenk, Präsidentin des Deutschen Hebammenverbands.

So wie auf Sylt, wo die drei Hebam-men vor Ort nur noch Vorsorge und Wochenbettbetreuung anbieten. Seit der Klinikkonzern Asklepios 2014 aus Kos-tengründen die Geburtsabteilung seiner

die Kosten für Geburtsschäden um fast 80 Prozent gestiegen. Unterläuft einer Hebamme bei der Geburt ein schwerer Fehler, ist sie Forderungen von durch-schnittlich 2,6 Millionen Euro ausge-setzt – für akute Behandlungen, lang-fristige Pflege, Schmerzensgeld, behin-dertengerechte Umbauten der Familien-wohnung und Erwerbsausfall des Kin-des, wenn es wegen seiner Behinderun-gen später keinen Beruf ausüben kann.

Die Haftpflicht springt ein

Diese Kosten trägt die Haftpflichtversi-cherung. Sie zahlt nicht nur die Kosten, die auf die Familien der Kinder zukom-men, sondern übernimmt auch Rech-nungen der Kranken- und Pflegekassen für die medizinische Versorgung. Auch

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Inselklinik geschlossen hat, bleibt den hochschwangeren Frauen nur noch eine Lösung: Runter von der Insel – zwei Wochen vor dem errechneten Termin. Sonst müssen sie, wenn die Wehen ein-setzen, im Hubschrauber ausgeflogen werden. „Für diese Frauen ist das eine ungeheure Belastung“, sagt Anke Bert-ram, seit 15 Jahren Hebamme auf Sylt.

Diese Entwicklung ist nicht im Sinne der Versicherer. „Hebammen leisten in der Geburtshilfe unschätzbare Dienste für die werdenden Mütter und die Neu-geborenen“, sagt Jörg von Fürsten-werth, Vorsitzender der GDV-Hauptge-schäftsführung. „Wir halten diesen Bei-trag der Hebammen für gesellschaftlich unverzichtbar und setzen uns daher für Lösungen ein, die den Versicherungs-schutz langfristig bezahlbar machen.“

Mit der Politik werden Lösungen gesucht. Der Wille jedenfalls ist da: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) nennt es „ein Herzensan-liegen“, den Anstieg dieser Haftpflicht-prämien dauerhaft zu bremsen. Nur noch bis Juni 2016 läuft der bisherige Konsortialvertrag der Hebammen-Haft-pflichtversicherung.

Mehr Geld für Hebammen

Der GDV setzt sich dafür ein, die Vergü-tung für Hebammen anzuheben, so dass sie angemessen entlohnt werden. Auch das Ziel der Regierung, die Qualität in der Geburtshilfe weiter zu erhöhen sowie die Gesamtkosten für die Haft-pflichtversicherer zu senken, wird vom GDV unterstützt.

Der Bundestag hat im Juni bereits ein „Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“ beschlossen, das tatsächlich einen Regress ausschließt – allerdings nur ein-geschränkt: Nur in Fällen, in denen eine Hebamme den Geburtsschaden durch einfache Fahrlässigkeit verursacht hat, greift diese Ausschlussregelung. Bei grober Fahrlässigkeit dürfen sich die Kranken- und Pflegekassen weiterhin an die Haftpflichtversicherung wenden.

DREI FRAGEN

NADINE PESCHEL, REGISSEURIN

„ALARMSIGNAL“Dokumentarfilmerin Nadine Peschel über ihren Film„Einsame Geburt – Hebammen in Not“ und den Streit um die Zukunft eines Berufsstands

Frau Peschel, Sie haben in Ihren Kino-film nicht nur viel Zeit, sondern auch eigenes Geld investiert. Warum? Als 2014 die Hebammen mit Protesten auf ihre Existenzbedrohung aufmerk-sam machten, wollte ich wissen, wie es so weit kommen konnte. Ich bin vor drei Jahren Mutter eines Sohnes geworden, mit Hebammen an meiner Seite. Das Thema ist mir persönlich nah, und ich habe angefangen, zu recherchieren.

Und? Wer ist verantwortlich dafür?Es gibt nicht den einen Schuldigen. Da-für ist das Problem zu komplex. Seit mehr als zehn Jahren weiß die Politik da-rum. Die freiberuflichen Hebammen werden nicht vernünftig bezahlt und können ihre Beiträge zur Haftpflichtver-sicherung nicht aufbringen. Die steigen-den Prämien sind nur das Alarmsignal. Zudem wird Geburt fast nur noch als Ri-siko bewertet und nicht mehr als etwas Natürliches, Normales.

Was muss geschehen, damit sich die Situation bessert?Die Politik ist verpflichtet, zu handeln. Ich habe von Politikern, Kassen, Hebam-men, Versicherungswirtschaft, Ärzten gehört, dass alle bereit sind, sich zu be-wegen. Es fehlt einzig die Handlung – noch. INTERVIEW: KATHRIN JAROSCH

Die Schwierigkeit dabei: Wo ver-läuft die Grenze zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit? Dies müsste in aufwendigen Gerichtsprozessen geklärt werden. Es sei „sehr zweifelhaft“, warnt Jörg von Fürstenwerth, ob sich der ein-geschränkte Regressausschluss positiv auf die Versicherungsbeiträge auswir-ken werde.

Mehr Sicherheit bei der GeburtDeshalb arbeitet der GDV nicht nur an politischen Lösungen. Parallel engagiert er sich, Geburten noch sicherer zu machen und schwere Geburtsschäden zu vermeiden. So haben die Versicherer das „Aktionsbündnis Patientensicher-heit“ bei der Entwicklung des soge-nannten Simparteam-Trainings finanzi-ell unterstützt.

Im Rahmen dieses Trainings bereiten sich Kreißsaal-Teams auf Notfälle wäh-rend einer Geburt vor. Mithilfe eines Geburtssimulators werden Hebammen, Gynäkologen, Anästhesisten und Pflege-kräfte darin geschult, im Ernstfall alle Handgriffe aufeinander abzustimmen. Außerdem setzt sich der GDV dafür ein, ein bundesweites Register aller Behand-lungsfehler zu führen, um gezielt Fehler-quellen zu identifizieren und künftig auszuschalten.

Miriam Müller jedenfalls ist froh, dass sie die Geburt von Mats überstan-den hat und endlich wieder zu Hause in Tinnum ist. Die Zeit in Husum war für sie nur schwer auszuhalten: Sie saß in einer Ferienwohnung fest und konnte nichts tun als warten. Ihre Großeltern mussten für zwei Wochen aus Berlin nach Sylt kommen, um sich um Janne zu kümmern. Immerhin konnte ihr Part-ner Urlaub nehmen und mit nach Husum kommen, so dass sie nicht allein im Exil ausharren musste.

Die Sylterin kennt allerdings auch Familien, wo das alles nicht zu organi-sieren wäre. „Eine Freundin hat mir gesagt: ‚Solange es auf Sylt keine Geburtshilfe gibt, bekomme ich garan-tiert kein zweites Kind‘“. ELKE SPANNER

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Henning Scherf bietet Tee und Gebäck an, er selbst trinkt nur heißes Wasser – „die Angewohn-

heit habe ich aus China mitgebracht“. Wir reden über das Leben im Alter: was wichtig bleibt und was wichtig wird. Der frühere Bremer Bürgermeister muss es wissen, er lebt in einer Alten-WG. Das klingt kommunardiger als es ist: Jeder der WG-Bewohner hat seine eigene Wohnung, mit Treppenhaus und Klingelschild. Eher eine Hausgemein-schaft also. Einsamkeit, diese Geißel des Alters, kommt hier nicht auf. Dagegen ist Henning Scherf sowieso gefeit: Wie wir beim Spaziergang durch „sein“ Bre-men lernen, ist der 77-Jährige ein passi-onierter Auf-Menschen-Zugeher.

Alt werden ist nichts für Feiglinge, Herr Scherf. Aber woher den Mut nehmen?Dafür gibt’s kein Patentrezept. Bei mir sind es drei Kraftquellen, aus denen ich schöpfe: meine Frau, mit der ich seit 55 Jahren verheiratet bin; meine Kinder, zu denen ich einen engen Draht pflege – und dieses Haus, in dem wir seit 28 Jah-ren leben. Das ist ebenfalls eine Familie, und ein großes Glück. Wir haben hier über Jahre zwei Sterben begleitet und auch das gemeistert. Das hat uns noch enger zusammengeschweißt. Und wir selbst werden ja auch nicht jünger, haben erste leichte Schlaganfälle, müs-sen uns mit Krebs beschäftigen, haben Schwierigkeiten mit dem Hören ...

Das klingt gut, braucht aber Mut.Naja, wenn man einfach nur dasitzt und jammert, wird da nichts draus. Wer jam-mert, der sitzt in der Falle. Also bitte mit

LEBENSERWARTUNG

Nicht einmal jeder fünfte Deutsche glaubt, seinen 90. Geburtstag feiern zu können – obwohl, statistisch gesehen, mindestens die Hälfte der heute leben-den Bundesbürger dieses Alter erreichen dürfte. Dass sich vor allem junge Men-schen verschätzen, hat drei Gründe.

Der erste Grund sind die offiziellen Statistiken, die heute für Männer eine Lebenserwartung von knapp 79 und für Frauen von fast 83 Jahren ausweisen. Das ist der Ist-Zustand und genau des-halb keine Prognose für die Zukunft. „Tatsächlich steigt die Lebenserwartung jeder Generation um sechs bis neun Jah-re“, sagt Peter Schwark, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des GDV.

Zudem – zweiter Grund – erreicht die Hälfte aller Menschen ein Alter, das über dem Durchschnitt liegt. „Und Menschen, die normal gesund sind, haben in der Regel eine höhere persönliche Lebens- erwartung“, erklärt Schwark.

Drittens steigt, so irritierend das klingt, die Lebenserwartung mit zuneh-mendem Alter. Denn Ältere sind seltener Risiken ausgesetzt, die Jüngere ver-gleichsweise oft um ihr Leben bringen – wie Motorrad- oder Autounfälle. Eine heute 65-jährige Frau hat deshalb bei-spielsweise eine drei Jahre längere Le-benserwartung als der Durchschnitt.

Drei Gründe, eine Folge: Wir werden älter, als wir denken.

DENNIS SCHMIDT-BORDEMANN

WARUM WIR ÄLTER WERDEN, ALS WIR DENKENMit jeder Generation steigt die Lebenserwartung. Das hat Folgen.

dem Jammern aufhören und sich umgu-cken. Wer nicht alleine wohnen möchte, muss Leute im Freundes- oder Bekann-tenkreis ansprechen. Es gibt so viele, die nicht allein wohnen wollen. Ganz viele wünschen sich das, aber nur wenige kriegen das hin. Der erste Schritt besteht darin, auf die anderen zuzugehen und mit ihnen zu reden.

Sind die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt: nicht mehr allein, dafür harmonisch und konfliktfrei? Überwinden kann solche Idealvorstel-lungen nur, wer es ausprobiert. Sonst löst eine Enttäuschung die nächste ab. Ich muss gucken, was es gibt und was möglich ist – das muss ich versuchen zu erreichen. Es kommt niemand um die Ecke und sagt: „Hier habe ich genau das Richtige für Dich.“

Weil ich es mir mit meiner mageren Rente eh nicht leisten könnte. Unsinn. Wer finanziell fürs Alter vorge-sorgt hat, tut sich leichter, klar. Für alle anderen heißt es: kreativ sein.

Und flexibel sein für das Unperfekte?Ja. Das ist keine Geld-, sondern eine Mentalitätsfrage – es geht um das Herz. Wir haben es heute mit Alten zu tun, die sind unternehmenslustig, die sind neu-gierig, die wollen nicht nur sonntags zum Gottesdienst gehen. Die wollen mittendrin leben.

Werden aber mit 63 in Rente geschickt. Genau das Gegenteil brauchen wir. Wir brauchen gewerkschaftlich und unter-nehmerisch geschützte Formen von

Wie bleiben alte Menschen mitten im Geschehen, wie erhalten sie ihre Neugier und ihre Freude am Leben? Henning Scherf hat ganze Bücher („Altersreise“) geschrieben über die Kunst, sinnvoll

älter zu werden. Und worüber Bremens früherer Bürgermeister schreibt, das lebt er selbst vor.

„WER JAMMERT, VERLIERT“

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Beschäftigung über die traditionelle Altersbegrenzung hinweg.

Wie weit sind wir davon noch entfernt?Es bewegt sich viel, weil wir zu wenig Fachkräfte haben. Daher gibt es immer mehr Unternehmer, die attraktive Ange-bote für Ältere machen – etwa die halbe Stundenzahl. Das wird immer stärker nachgefragt. Deshalb hat sich auch das faktische Rentenalter in den letzten zehn Jahren ständig erhöht: Wenn das Angebot stimmt, ist die Nachfrage da.

haben richtig gut gebunkert, sind also das Gegenteil von pleite. Wenn wir aber perspektivisch die nächsten 30 Jahre betrachten, müssen wir über das Ein-trittsalter nachdenken. Die Rente mit 67 ist ein erster Schritt. Eigentlich müssen wir über die 70 reden – nicht für alle, und nicht als Pflicht. Aber als Option.

Wenn ich mich mit 70 Jahren noch fit fühle, kann ich doch in Rente gehen und das Leben genießen!Wer das Leben genießen will, indem er sich in den Lehnstuhl setzt und guckt, was im Fernsehen läuft ...

... der stirbt als erster?Ja, der stirbt als erster. Wer noch etwas unternimmt, was ausprobiert und neu-gierig bleibt, sich bewegt und sich auch körperlich nicht gehen lässt, der gestal-tet sein Altersleben klug. Und lebt dann auch länger.

Und Alten-WGs helfen dabei besser als die Pflegeversicherung, die oft nur „satt und sauber“ abdeckt? Die Pflegeversicherung ist im Grunde richtig. Wir haben anfangs zu viel Kom-merz zugelassen, Kurkliniken wurden umfunktioniert zu Altenpflegeeinrich-tungen. Die älter werdenden Menschen wollen in ihrem Zuhause bleiben – und dabei soll die Pflegeversicherung helfen, indem sie die Angehörigen entlastet. Die müssen wir unterstützen, und nicht die Geschäftemacher. Deshalb wird derzeit umgesteuert, von den stationären Ein-richtungen hin zur Ambulanz. So entwi-ckelt sich ein Netzwerk zwischen Ange-hörigenhilfe, Nachbarschaftshilfe und dann auch ambulanten Professionellen. Das ist die Zukunft, da setze ich drauf.

Was auch den Pflegenotstand lindert?Im besten Fall wird Pflege gar nicht nötig. Deshalb bin ich dafür, dass man die alten Leute mobilisiert und nicht abwartet, bis sie irgendwann bettlägerig werden. Die Pflegevermeidung ist ganz wichtig. INTERVIEW: MICHAEL PRELLBERG

Bis die Gewerkschaft sagt: „Jetzt wirst du 65, jetzt musst du raus.“ Die Gewerkschaften fangen an umzu-denken. Und ich weiß von einer ganzen Reihe von Betriebsräten, die das regeln, über Betriebsvereinbarungen.

Rettet es das Rentenversicherungs- system, wenn alle bis weit jenseits des 70. Geburtstags arbeiten?Das deutsche Rentenversicherungssys-tem ist eines der solidesten der ganzen Welt, mit Rücklagen wie noch nie. Die

Bremens früherer Bürgermeister Henning Scherf, 77, zeigt neue Wege, um „anders alt“ zu werden.

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TEIL 1:

3-D-Druck

TEIL 2:

Gebäude-inte-grierte Solar-

energie

TEIL 4:

autonomes Fahren

TEIL 5:Mobile

Payment

SERIE: „INNOVATIONEN VERSICHERN“ Die Branche ist dabei, wenn Fortschritt gestaltet wird

TEIL 3:

unbemannte Flugobjekte

EINFACH RANHALTEN

Das Smartphone macht sich immer unersetzlicher, organisiert und kommuniziert für uns. Jetzt wird es auch noch zum Portemonnaie – mit allen Vorteilen und allen Gefahren.

Es piept einmal– und damit ist bezahlt: Werbe-aktion für Apple Pay in New York City.

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Den Kunden von morgen gibt es schon heute: Er kauft im Netz bei Amazon, Ebay oder Zalando,

und wenn er offline, also bei Kaiser’s, noch eine Tube Zahnpasta holen will, hält er den Verkehr an der Kasse nicht durch Wühlen im Portemonnaie oder durch das Einstecken seiner Geldkarte auf. Er bezahlt mit seinem Smartphone.

Ein Funksignal an der Kasse sendet ein Signal an einen Chip im Handy, ein Klick zur Bestätigung, und das Konto wird belastet. Vorausgesetzt natürlich, der Kunde steht bei Kaiser’s an einem Terminal, das für das mobile Bezahlen ausgestattet ist. Derzeit kommuniziert deutschlandweit erst ein Bruchteil der 800 000 möglichen Kassen mit Handys. Edeka, Thalia, Hussel oder Christ expe-rimentieren damit. Bei Aral kann der Kunde per Piep an ausgesuchten Tank-stellen seinen Sprit zapfen, bei Douglas das neue Armani-Parfum erwerben. Aber schon 2018 soll jeder, der will und kann, überall die digitale Brieftasche zücken können. Dann sollen alle Kassen und Terminals NFC-tauglich sein.

Der Gewinner: NFCMobile Zahlverfahren werden schon lange diskutiert und ausprobiert. Einige arbeiten mit QR-Codes, andere mit Plastikaufsätzen, die dem Handy aufge-pfropft werden und durch die man den Magnetstreifen der Geldkarte zieht. Den Durchbruch aber erreichte erst die Near Field Communication (NFC).

Apple etwa arbeitet mit NFC, doch bei Apple Pay bezahlen können nur iPhone-6- oder Apple-Watch-Besitzer. Alle anderen brauchen also einen ande-ren Zugang. Daher arbeitet Samsung an Samsung Pay und Google an einer Bezahldienst-Lösung für Android. Der erwartbare Name: Android Pay.

Sobald das digitale Portemonnaie sich flächendeckend durchsetzt, macht es Kredit-, EC-Karten und Banknoten so überflüssig wie handgeschriebene Briefe und Telefonzellen. In Europa gehen Niederländer, Briten und Polen

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voran. Dänen und Schweden wollen das Bargeld bald abschaffen.

So weit ist Deutschland noch nicht. Eine Emnid-Studie besagt, dass drei von vier Deutschen nicht per Handy zahlen würden, weil ihnen die Technik weder sicher noch ausgefeilt scheint. Es geht um das eigene Geld, da kann man nicht genug aufpassen. Entsprechend real ist die Sorge, jemand könnte sich beim Mobile Payment einklinken. Auch hier werden Verbindungen aufgebaut, von der Kasse zum Handy, vom Handy zur Bank. Auch hier könnten private Daten, Vorlieben und Gewohnheiten abgefischt werden. „Deutschland ist, was die Pri-vatsphäre angeht, zurückhaltender als andere Länder“, sagt Steffen von Blum-röder, Experte für elektronische Bezahl-systeme beim IT-Verband Bitkom.

Doch er gibt Entwarnung, was die NFC-Technik und besonders Apple Pay angeht. Die Technik sei so sicher wie simpel. Zum Autorisieren des Bezahl-vorgangs sind weder PIN noch Code nötig, sondern lediglich der biometri-sche Fingerabdruck. „Seinen Daumen hat man ja immer dabei“, sagt Blumrö-der. Hacker haben schlechte Karten. Sie müssten direkt neben der Kasse stehen, um während der Übertragung an die sensiblen Daten zu gelangen.

kommt: Was an der Supermarktkasse funktioniert, muss nicht zwangsläufig ein Modell für den Versicherungsver-trieb sein.“

In Afrika ist man bereits weiter. Seit acht Jahren gibt es dort Systeme, um per SMS bargeldlos zu zahlen und Geld zu überweisen. Das Guthaben wird rein elektronisch geführt und ersetzt Bank-konto und Kreditkarte. Der Ansatz hat sich von Kenia aus über den Kontinent verbreitet und ist mittlerweile auch in Indien und sogar Rumänien verfügbar.

Die Mobilfunkanbieter nutzen das als „Bank“ erworbene Vertrauen, um Kunden auch Versicherungen zu vermit-teln – alles läuft über das Handy. Das verschaffe ihnen eine „starke Verhand-lungsposition“ gegenüber Versicherern als Kooperationspartnern, sagt Frank O’Neill, Leiter der Region Naher Osten und Afrika von Swiss Re. Und es rufe vielleicht auch andere Anbieter auf den Plan: „Es würde mich sehr wundern, wenn Google oder Apple nicht in sieben Jahren selbst als Versicherer auftreten“, so O’Neill zum Magazin „Africa Report“.

Wer verdient an Mobile Payment?Bei diesem Geschäft wollen alle verdie-nen. Deshalb rüsten Banken ihre Karten mit Funkchips auf und bieten Visa und Mastercard Dienste mit NFC-Technik an. Ungeklärt ist, wer welche Daten übermittelt und wer welche Kosten trägt.

Das könnte den Marktstürmer Apple ausbremsen: In den USA verlangt er 0,15 Prozent des Umsatzes pro Zahl-vorgang. Sollten die gleichen Bedingun-gen in Deutschland festgezurrt werden, müssten die Banken die Hälfte ihres Gewinnes abgeben: Sie selbst kassieren nämlich 0,3 Prozent pro Kreditkarten-einsatz. „Die NFC-Technik wird die Banken nicht abschaffen, weil die ja nicht nur vom Zahlungsverkehr leben“, sagt Bitkom-Experte von Blumröder. „Aber es kann sein, dass man in diesem Segment den Kunden an Mobilfunk-konzerne und Internetriesen verlieren wird.“ JUDKA STRITTMATTER

„MOBILE PAYMENT IST SICHER –

SEINEN DAUMEN HAT MAN JA

IMMER DABEI.“STEFFEN VON BLUMRÖDER

BITKOM-EXPERTE FÜR ELEKTRONISCHE BEZAHLSYSTEME

DAS PORTEMONNAIE STECKT IM HANDYDie Mobilfunkgiganten Apple, Google und Samsung wollen Mobile Payment weltweit etablieren. Die Technologie jedenfalls steht bereits.

Besitzer von iPhone 6 und der Apple Watch können über die Passbook-App

bargeldlos zahlen: einfach das Gerat an das (Apple-fähige) Lesegerät halten.

Wann Apple Pay in Deutschland eingeführt

wird, ist noch offen.

Anders als Google und Apple setzt Samsung nicht komplett auf NFC-Daten-

übertragung. Samsung Pay funktioniert auch mit den

klassischen Magnetstreifen-lesegeräten. Vorteil für

Händler: Sie müssen ihre Kassen nicht aufrüsten.

Aus Google Wallet wird Android Pay: Zum Zahlen

einfach per Fingerabdruck-sensor oder Code das

Display entsperren. Ebenso wie bei den Konkurrenten funktioniert Android Pay

über eine bei der Bank hinterlegte Kreditkarte.

SAMSUNG PAY, SAMSUNG

APPLE PAY, APPLE

ANDROID PAY, GOOGLE

Versichern gegen Daten- und damit verbundenen Geldverlust kann man sich noch nicht: Die Technik ist neu, der Markt dafür muss sich noch entwickeln. Den Versicherern fehlen bisher die Kal-kulationsgrundlagen für Cyber-Policen, die Mobile Payment abdecken. Das dürfte sich ändern, versprechen virtuelle Geldbörsen doch ein Milliardengeschäft.

Auch die Versicherer merken, dass sich das Bezahlverhalten verändert. Angesichts der „Vielzahl von Anbietern elektronischer und mobiler Bezahlver-fahren“ lasse sich derzeit aber noch nicht abschätzen, „welches Verfahren sich langfristig am Markt etabliert“, sagt Mareike Lohmann, GDV-Referen-tin in der Abteilung Betriebswirtschaft und Informationstechnologie. „Hinzu F

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Page 33: 2015-02 Nr. 97 - GDVNR. 97 JULI 2015 PREIS 4 EURO Nie stand Verbraucherschutz höher im Kurs. Die Finanzkrise wirkt nach. Das Web sorgt für Transparenz, überflutet Kunden aber auch

Preiswert, verständlich und leicht abzuschließen müsse eine Versicherung sein, fordern die Mexikaner. Darauf haben Anbieter reagiert und können tatsächlich mehr Lebens- und Krankenversicherungen

abschließen. Doch sobald der Staat sie zur Unterschrift drängen will, stellen sich die Mexikaner stur.

UM DEN GLOBUS: MEXIKO

LEBENSVERSICHERUNGObwohl die mexikanische Wirtschaft schwächelt, steigt die Summe eingezahlter Versiche-rungsbeiträge – 2013 inflationsbereinigt um 6,5 Prozent. Das ist bestenfalls ein Anfang, vor allem für Lebensversicherer. Die haben eigentlich überzeugende Argumente, denn laut einer Swiss-Re-Studie fühlen sich drei von vier Mexikanern verletzlich gegenüber den Risiken, die der plötzliche Tod eines Familienmitglieds oder eine lang anhaltende Krankheit mit sich bringen. Trotzdem besitzen nur 7,8 Millionen der 122 Millionen Mexikaner eine persön-liche Lebensversicherung. Das hat kulturelle Gründe: Mexikaner ziehen es vor, Ersparnisse auf ein Bankkonto zu legen statt es für eine Versicherung zu nutzen. Trotzdem wäre die Mehrheit der Bevölkerung bereit, Geld in eine Lebensversicherung zu investieren, besagt eine AMIS-Umfrage. Sie müsse nur preiswert, verständlich und leicht abzuschließen sein. Diese Botschaft ist bei den Versicherungen angekommen: Genau das bieten sie jetzt an.

AUSBILDUNGSVERSICHERUNGSchule ist teuer, Universität noch teurer. Versicherungen, die im Falle von Tod oder Invalidität des Vaters die Ausbildungskosten samt Schulgeld tragen, sind nach Lebens- und Kranken- die beliebtesten Versicherungen – wenn man sich die Beiträge leisten kann. Laut einer HSBC-Umfrage verfügen 92 Prozent der Väter über kein Sparguthaben. Vier von fünf Schulabgängern sagen, sie können sich finanziell kein Studium leisten. Das Studieren an einer privaten Hochschule kostet umgerechnet zwischen 24 000 und 39 000 Euro. Um diese Summe aufzubringen, beginnen viele Familien bereits mit der Geburt des Kindes zu sparen.

KFZ-HAFTPFLICHTVERSICHERUNG480 000 Verkehrsunfälle mit 17 000 Toten werden jährlich in Mexiko gezählt, doch drei von vier Autos sind nicht versichert. Solange keine Haft-pflichtversicherung für Kraftfahrzeuge vorgeschrieben ist, verzichten die meisten Mexikaner darauf. „Todo saldrá bien“ – wird schon gut gehen. Dafür will jetzt der Staat sorgen: Seit dem 23. September 2014 muss für jedes Fahrzeug eine Versicherung zum Schutz von Unfallopfern abgeschlos-sen werden. Das kostet im Jahr umgerechnet zwischen 11 und 15 Euro. Wer ohne erwischt wird, muss mindestens 80 Euro zahlen. Trotzdem verbucht der Verband mexikanischer Versicherungsträger (AMIS) eine recht mäßig steigende Zahl an Policen: Die Strafen werden so gut wie nie verhängt.

KRANKENVERSICHERUNGPrivate Krankenversicherungen sind teuer, aber Alternativen wie die Volksversicherung „seguro popular“ sind nicht billig: Mexikaner haben bisher rund 45 Prozent der Arzt-, Krankenhaus- und Medikamenten- kosten aus eigener Tasche bestritten. Aufgrund der Mängel der öffentli-che Gesundheitsversorgung – privates und öffentliches System existieren parallel – wechseln immer mehr Mexikaner zu privaten Anbietern. Ihr Anteil liegt erst bei 7,5 Prozent, doch laut AMIS-Präsident Fernando Solís verbuchten die Privaten 2013 bei den Beiträgen ein Plus von 90 Prozent. IL

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Das postkapitalistische Paradies scheint Realität geworden zu sein: Der Zins ist praktisch abge-

schafft. Wer Schulden machen will, wird umworben wie selten zuvor. Wer aber Geld zu verleihen hat, bekommt dafür fast nichts. Und es ist der Staat, in Gestalt der Notenbanker, der diese zin-senlose Gesellschaft herstellt. Die Gegenwart, sie kommt der Utopie von der Abschaffung des Zinswirtschaft ver-blüffend nahe.

„Money for nothing“ – was einst die Dire Straits verhießen, scheint inzwi-schen Realität zu sein. Aber wie lange kann das noch so weitergehen?

Diese Frage hat die Finanzmärkte fest im Griff. Wann immer Befürchtun-gen wach werden, die Ära des ultrabilli-gen Geldes könnte bald zu Ende gehen, reagieren die Börsen mit heftigen Aus-schlägen. Einerseits. Andererseits seh-nen gerade langfristig kalkulierende Kapitalsammelstellen, wie es Versiche-rungen sind, eine Normalisierung des Zinsniveaus herbei. Schließlich ist die Existenz von sicheren, zinstragenden Schuldtiteln zentral für die dauerhafte Tragfähigkeit ihres Geschäftsmodells.

Für Entwarnung besteht kein Anlass. Ich halte es für das wahrscheinlichste Szenario, dass die Zinsen noch viele Jahre extrem niedrig bleiben werden. Warum? Weil die Schuldenstände immer noch extrem hoch sind. Nicht nur die Staaten, auch Unternehmen und Privat-bürger stecken tief in den roten Zahlen:

wieder abgesaugt hat. Die amerikani-sche Fed und die Bank von England kaufen zwar derzeit keine zusätzlichen Wertpapiere mehr auf. Dafür sind nun die EZB, die Bank von Japan und andere am Markt aktiv. Amerikaner und Briten erwecken gelegentlich den Eindruck, die Wiedereinführung eines positiven Leitzinses stehe angesichts guter Konjunkturdaten bevor. Aber bis-lang kam immer irgendetwas dazwi-schen. Mehr als die jüngste Mini-Zins-wende ist kaum zu erwarten.

Selbst wenn die USA, wie erwartet, im September einen ersten Zinsschritt wagen sollten, dürfte kein rapider Anstieg folgen. Solange die EZB und die Bank von Japan im Gelddruckmodus sind, kann sich die Fed kaum kraftvoll in die entgegengesetzte Richtung bewe-gen: Eine Aufwertung des Dollar würde Amerikas außenwirtschaftliche Position zu empfindlich schwächen.

Dieses Money-for-(almost)-nothing-Szenario dürfte bleiben, solange die Schulden nicht auf erträgliche Niveaus gesunken sind. Das kann dauern – wenn es im bisherigen Tempo weitergeht, leicht bis ins nächste Jahrzehnt.

Irland und Japan schieben Verbindlich-keiten von insgesamt 400 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor sich her. Portugal kommt auf 330 Prozent, Spa-nien auf 300 Prozent. Auch Frankreich, Großbritannien und die USA weisen hohe Werte auf: mehr als 250 Prozent.

Rasche Besserung ist nicht in Sicht. Bei schwachem Wachstum und geringer Inflation geht es mit dem Schuldenab-bau quälend langsam voran. Die Schul-den selbst bremsen die Wirtschaft und den Preisanstieg; umso stärker, je höher die Zinsen sind, weil umso mehr Mittel in den Schuldendienst fließen.

Genau aus diesem Grund haben die Notenbanken in großem Stil in die Finanzmärkte eingegriffen und Wertpa-piere für viele Billionen Dollar, Euro, Pfund oder Yen aufgekauft. So radikal kann Geldpolitik sein: Nicht nur die kurzfristigen Zinsen wurden abge-schafft, sondern auch hochverschuldete Staaten, Unternehmen und Privatbürger vor dem Bankrott bewahrt. Eben dieses Kalkül steckt hinter den sogenannten Quantative-Easing-Programmen, also dem massenhaften Ankauf von Anlei-hen. So klar sagen es die Notenbanker zwar nicht. Lieber reden sie von „gestör-ten Transmissionsmechanismen“ oder von „deflationären Tendenzen“. Aber beide Probleme gäbe es ohne die hohe Verschuldung gar nicht.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass bislang keine der großen Noten-banken ihre massiven Geldinfusionen

Der promovierte Volkswirt Henrik Müller lehrt Wirtschaftsjournalismus an der Technischen Uni-versität Dortmund. Müller schreibt regelmäßig Essays und Kolumnen für Spiegel Online sowie das Manager Magazin und gehört zu den einfluss-reichsten Kommentatoren wirtschaftspolitischer Themen in Deutschland. Zuvor war er Stellvertre-tender Chefredakteur des Manager Magazins.

MONEY FOR NOTHINGVON HENRIK MÜLLER

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Viele Frauen arbeiten und müssen sich trotzdem stärker denn je um ihre Altersvorsorge kümmern.

WEIBLICH UND BERUFSTÄTIG – ABER ZU WENIG RENTE?

Herausgeber: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., V.i.S.d.P.: Christoph Hardt Konzeption und Realisierung: Axel Springer SE Corporate Solutions Projektmanagement: Christopher Brott Druck und Vertrieb: Möller Druck Redaktion: Thomas Wendel (GDV), Michael Prellberg (Axel Springer) Art-Direktion: Diddo Ramm Autoren: Heimo Fischer, Elke Spanner, Judka Strittmatter, Olaf Wittrock Fotoredaktion: Katharina Werin, Olaf Rößler Layout: Anne-Marie Kierstein Litho: pixactly, Hamburg Redaktionsanschrift: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Kommunikation, Wilhelmstraße 43/43 G, 10117 Berlin, Telefon: 030/20 20–59 14, Fax: 030/20 20–69 02. Fragen zum Abo: [email protected]

IMPRESSUM

Quelle: Eurostat, 2015

Durchschnittliches monatliches Altersgeld für Neurentner 2014, Quelle: Deutsche Rentenversicherung, 2015

19961992

50

55

60 57,8 %

73,1 %

2000 2008 20122004

In Deutschland arbeiten mehr und mehr Frauen, allerdings ...

... immer häufiger in Teilzeit-Jobs.

30,9 %(1992)

47,0 %(2014)

Quelle: Teilzeitbeschäftigungsquote der Frauen in Deutschland, Quelle: Eurostat, 2015

Anteil der erwerbstätigen Frauen in Deutschland (20 bis 64 Jahre) in Prozent

Rund 50 % der Frauen geben familiäre Verpflichtungen wie die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen als Hauptgrund für Teilzeit an.

Quelle: Destatis; Mikrozensus, 2014

Das könnte am klassischen Rollenbild liegen.

Mütter stellen den Beruf oft ganz

zurück.

Etwa 40 %der Mütter sind nicht erwerbstätig.

Quelle: Destatis, 2015

Frauen beziehen weniger Rente als

Männer.

533 €

975 €

26 %der Frauen bisher nicht privat für das Alter vorgesorgt.

Trotzdem haben

Quelle: Repräsentative YouGov-Umfrage, Juni 2015

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Z A H L E N , B I T T E

Page 36: 2015-02 Nr. 97 - GDVNR. 97 JULI 2015 PREIS 4 EURO Nie stand Verbraucherschutz höher im Kurs. Die Finanzkrise wirkt nach. Das Web sorgt für Transparenz, überflutet Kunden aber auch

 E in Hole in One, das Einlochen mit dem ersten Schlag, bleibt für die

meisten Golfer lebenslang ein Traum. Amateure müssen für ein solches Ass im Schnitt rund 2.500 Turniere spielen, Profis gelingt der perfekte Schlag etwas öfter. Wer es schafft, erlebt einen unver-gesslichen Moment – für Richard Nixon war sein Ass aus dem Jahr 1961 im Rückblick sogar „besser als die Wahl zum amerikanischen Präsidenten“. Die erfolgte sieben Jahre später.

Außer diesem Glücksgefühl und einem Platz auf der Ehrentafel des Golf-clubs ist ein Hole in One mit einer Pflicht verbunden: Die ungeschriebenen Regeln des Golfsports verlangen, alle Mitspieler des Turniers auf einen Drink einzuladen. Das kann sich als kostspielig erweisen, zumal Golfspieler nicht als anspruchslose Klientel gelten. Ungetrübt bleibt die Freude übers Ass daher nur mit einer Hole-in-One-Versicherung. Sie zahlt im Fall der Fälle bis zu 1 000 Euro für Getränke. CHRISTIAN SIEMENS

1 000 € VERSICHERUNGSSUMME

„BESSER ALS DIE WAHL

ZUM PRÄSIDENTEN“

D I E S C H Ö N S T E V E R S I C H E R U N G S S A C H E D E R W E L T