20150718-spiegel

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  • Kaum ein Unternehmen reagiert begeistert, wenn der SPIEGEL fr Gesprcheanfragt. Aber dass sie wie bei Edeka mit den Worten Sie kommen ja durchdie Kanalisation zum Gesprch begrt werden, haben die Redakteure SusanneAmann und Alexander Khn noch nicht erlebt. Die Bemerkung der Edeka-Leutezielte auf den Umfang der Recherche: Um den Edeka-Aufsichtsratschef AdolfScheck angemessen beschreiben zu knnen, redete Khn in dessen HeimatstadtAchern mit mglichst vielen Leuten, vom Oberbrgermeister bis zu alten Schul -freunden. Amann traf sich mit ehemaligen Managern, mit Wettbewerbern und Herstellern, die erstaunlich offen ber ihre Probleme mit Deutschlands grtem Lebensmittelhndler sprachen. Eine Transparenz, die man bei Edeka nichtschtzt offenbar aus Sorge, das geschickt aufgebaute Bild des netten Kaufmannsvon nebenan knnte Risse bekommen. Seite 62

    Dass ihr kleines Kind fr im-mer tot sein sollte, wolltenNareerat und Sahatorn Nao -varatpong aus Thailand nichtakzeptieren. Also beauftragtensie eine Stiftung in den USA,den Leichnam ihrer Tochter einzufrieren, damit rzte dasver storbene Mdchen irgend-wann, wenn die Medizin dazuin der Lage sein wrde, zu neu-em Leben erwecken. SPIEGEL-Mitarbeiter Claas Relotius be-suchte die Eltern in ihrer Woh-

    nung in Bangkok und begegnete zwei trauernden Menschen, die sich in ihrem Glauben an den Fortschritt der Wissenschaft auch ein wenig Hoffnung erkauft hatten. Um ihr Kind in ferner Zukunft wiederzusehen, so erzhlten die beiden, wollten sie eines Tages auch ihren eigenen Krper fr die Nachweltkonservieren lassen. Seite 54

    Der Weg zu Julian Assange ist nicht schwer zu finden. Als SPIEGEL-RedakteurMichael Sontheimer den Londoner Taxifahrer fragte, ob er wisse, wo dieecuadorianische Botschaft sei, antwortete der: Klar, da, wo dieser Idiot sichverschanzt hat. Der Australier Assange, Chef der Enthllungsplattform Wiki-Leaks, sitzt seit mittlerweile drei Jahren in der Botschaft Ecuadors in Londonfest. Staatsanwlte aus Schweden werfen ihm Vergewaltigung und sexuelle Be-lstigung vor. US-Behrden ermitteln wegen Spionage und Geheimnisverrat.Assange, der mit zwei kleinen Zimmern auskommen muss, war am Tag des Besuchs gut gelaunt: Ich bin zufrieden mit dem, was wir tun, sagte er. Keinerunserer Mitarbeiter ist im Gefngnis. Wir haben es noch drauf. Am Ende des

    Gesprchs wartete er mit einerberraschung auf: Er lud dieAbgeordneten des NSA-Unter-suchungsausschusses des Bun-destags nach London ein. Erknne ihnen wertvolle Infor -mationen ber die amerikani-sche Liste mit Telefonnummerndeutscher Politiker in Berlin geben, die von WikiLeaks ver-ffentlicht wurde. Seite 42

    3DER SPIEGEL 30 / 2015

    Betr.: Edeka, Kryonik, Julian Assange

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Hausmitteilung

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Sontheimer, Assange in London

    Ehepaar Naovaratpong mit Relotius in Bangkok

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    Der letzte Kaiser Million Dollar Baby

    Das Piano Pulp Fiction Die Reifeprfung

    Die Reise der Pinguine There Will Be Blood

    Tiger & Dragon Der Beginn einer Legende

    Zimmer mit Aussicht

  • 4 Titelbild: Illustration DER SPIEGEL, Foto Umklapper: Werner Schuering

    Der WiderspenstigeEuropa Der Konflikt um den griechischenSchuldenberg erreicht das Zentrum derKoalition. Kanzlerin Merkel und Finanz -minister Schuble streiten, ob das Krisen-land zur Not aus dem Euro fliegen soll.Deutschland ist mit seiner Rolle als Vor-macht in Europa berfordert. Seiten 24, 30

    Die DrckebergerVerbraucher In der Werbung versprechenAssekuranzen Sicherheit in jeder Lebenslage. Aber wenn Versicherte wirklich ihre Hilfe brauchen, wird hufig verzgert, verschleppt, verweigert. Mitwelchen Methoden die Konzerne versu-chen, sich ums Zahlen zu drcken. Seite 10

    Kein kleiner KrmerKonzerne Edeka gibt den netten Hndlervon nebenan. Dabei setzt Deutschlandsgrter Lebensmittelverkufer Mitarbeiterwie Lieferanten unter Druck. Mit allerMacht will die Fhrungsspitze jetzt diebernahme von Kaisers Tengelmann erzwingen. Seite 62

    Historischer DealNahost Jubelnde Menschenmassen in Teheran, Erleichterung im Westen, Entsetzen in Israel: DasAtomabkommen zwischen den Uno-Vetomchten,Deutschland und Iran hat kontroverse Reaktionenausgelst und den Nahen Osten durcheinander -gewirbelt. Friedensnobelpreistrger ElBaradei zeigt sich im Interview optimistisch. Seiten 84, 85

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  • In diesem Heft

    5DER SPIEGEL 30 / 2015

    Titel

    Verbraucher Wenn Versicherte in Not geraten, tun Konzerne mitunter alles, um nicht zahlen zu mssen 10

    Deutschland

    Leitartikel Der Atomdeal mit Iran kann nur ein Anfang sein 6Regierungsmitglieder nutzen Wegwerf-Handys auf Auslandsreisen / Kosovo will sicheres Herkunftsland werden / Ost-West-Vorurteile immer noch stark verbreitet / Kolumne: Im Zweifel links 18Europa Die Regierung hadert mit ihrer Rolle als Euro-Vormacht 24SPIEGEL-Gesprch mit Finanzminister Wolfgang Schuble ber die Griechenlandrettung und seine Differenzenmit der Kanzlerin 30Karrieren Finanzminister Markus Sder will Ministerprsident in Bayern werden so frh wie mglich 34Parteien Ministerprsident Horst Seehofer berlegt, wem er Bayern und die CSU bergeben kann 36CDU Zum Tod von Philipp Mifelder 38AfD Wie sich die Fraktion im Thringer Landtag zerlegt 39Kirche War es rechtswidrig, den frheren Limburger Bischof Tebartz-van Elst von einem Strafverfahren zu verschonen? 40Faktencheck Kmpfen wirklich 700 Menschen aus Deutschland fr den IS? 41WikiLeaks SPIEGEL-Gesprch mit Julian Assange ber Sphangriffe auf die Bundes -regierung und seine juristischen Probleme mitSchweden, Grobritannien und den USA 42Strafjustiz Der Prozess gegen Oskar Grning offenbart das Scheitern der Frankfurter Justiz 48Essay Ein Appell an die Menschen im sch -sischen Freital, die Flchtlinge ablehnen 50Koalition SPD will Betreuungsgeld ersatzlosstreichen 51

    Gesellschaft

    Sechserpack: Super Mario muss Trauer tra-gen / Tipps von Kleinpartei zu Kleinpartei 52Eine Meldung und ihre Geschichte Abenteuer-urlaub am ungarischen Arsch der Welt 53Hoffnung Ein thailndisches Elternpaar setztauf die Wiedergeburt seiner toten Tochter 54Homestory Mit Drohnen spielt man nicht 59

    Wirtschaft

    Bundesbank mahnt hhere Lhne an / Linde-Chef Bchele ber die Chancen des Iran-Deals / Regierung plant scharfe Auflagen fr Panzergeschft 60Konzerne Bei Deutschlands grtem Lebensmittelhndler Edeka klaffen Image und Wirklichkeit weit auseinander 62Verkehr Bahn-Chef Rdiger Grube plant den Umbau des Konzerns, steht sich aber selbst im Weg 70Finanzen Europa will Griechenlands Banken mit 25 Milliarden Euro retten niemand wei, ob das gengt 73

    Ausland

    Warum Deutschland den Rechtsstaatsdialogmit China aussetzen sollte / Japans Streit ber die Finanzierung des Olympiastadions 74

    Griechenland Alexis Tsipras versprach, das Spardiktat zu beenden, jetzt muss er ein hartes Sparprogramm durchsetzen was will dieser Mann? 76Der Potami-Grnder Stavros Theodorakis will Tsipras untersttzen, obwohl dieser Fehler gemacht hat 80Ein Viertel der Syriza-Abgeordneten hat gegen den Premier gestimmt zerfllt die Partei? 82Ukraine Ein Jahr nach dem Abschuss eines malaysischen Verkehrsflugzeugs deutet vieles auf eine russische Verantwortung hin 83Iran Der lange Weg zur historischen Wiener Einigung ber das Atomprogramm 84Atomstreit Der ehemalige Nuklear- kontrolleur Mohamed ElBaradei hofft auf ein Ende des Misstrauens 85China Jhrlich reisen mehr als 100 MillionenChinesen in die Welt und bringen Selfies,Handtaschen und neue Vorstellungen mit 88Global Village Wie ein Brasilianer per Gentestseine afrikanischen Wurzeln entdeckt 92

    Sport

    Warum die Klubs der englischen Premier League die Transferpreise in absurde Hhen treiben / Domestik ein Knochenjobim Profiradsport 93

    Fuball Beim Machtkampf um die Nachfolgedes Fifa-Prsidenten Joseph Blatter knnte DFB-Chef Wolfgang Niersbach einer der Gewinner sein 94

    Wissenschaft

    Forensische Psychiatrien sind besser als ihrRuf / Eine Ausstellung feiert die Rolle von Frauen in der Computergeschichte 98

    Tiere Die Rckkehr der Weien Haie 100Medizin Neue Medikamente helfen bei schweren Formen von Asthma 103Bautechnik Wie die dstere Nazi-BettenburgProra auf Rgen zu einem luxurisen Ferienpark aufgehbscht wird 104Raumfahrt Vorbeiflug am Pluto der Nasa-Forscher Orkan Umurhan erklrt die Fotos vom Rand des Sonnensystems 107

    Kultur

    Lndliche Romantik in Am grnen Rand der Welt / Staatsministerin Grtters ber dieAuseinandersetzung um ihr Kulturschutz -gesetz / Kolumne: Besser wei ich es nicht 108

    Literatur Harper Lees Gehe hin, stelle einenWchter ist das Buchereignis des Monats 110Islamkritik Brief an die Heuchler das Testament des getteten Charlie Hebdo-Chefs Charb 114Zeitgeschichte Wie Deutschland sich nach dem Krieg von den Widerstandskmpfern abwandte 116Buchkritik Ulrich Peltzers WirtschaftsromanDas bessere Leben 123

    Bestseller 113

    Impressum, Leserservice 124

    Nachrufe 125

    Personalien 126

    Briefe 128

    Hohlspiegel/Rckspiegel 130

    Julian Assange

    Er harrt immer noch in derLondoner Botschaft vonEcuador aus und enthlltSphangriffe auf die Bundes-regierung. Wir ertrinken im Material, sagt der Chefvon WikiLeaks im SPIEGEL-Gesprch. Seite 42

    Weier Hai

    Der gefhrlichste Raubfischder Meere galt bislang als ge-fhrdete Tierart. Jetzt aberwird der Jger wieder hufi-ger an manchen Ksten ge-sichtet. Muss mit mehr Atta-cken auf Badegste gerechnetwerden? Seite 100

    Harper Lee

    Die US-Schriftstellerin, 89,verffentlichte 1960 ihrenweltberhmten Roman Werdie Nachtigall strt. Er hatsich 40 Millionen Mal ver-kauft. Nun ist ein zweiter Roman von ihr erschienen.Warum erst jetzt? Seite 110Wegweiser fr Informanten: www.spiegel.de/investigativ

  • Die auenpolitische Doktrin Barack Obamas lsst sich leicht zusammenfassen: Fhre nicht Krieg, wenndu reden kannst. Also zog Obama seine Soldatenaus Afghanistan und aus dem Irak ab, er mischte sich nicht militr isch in den syrischen Brgerkrieg ein und schick-te keine Bodentruppen in den Kampf gegen den Islami-schen Staat. Und wenn doch Krieg gefhrt werden muss te,dann am liebsten von Kampfjets und Drohnen aus. Paral leldazu versuchte Obama, einige der groen Konflikte beizulegen. Er bahnte eine Ausshnung mit Kuba an, erreiste nach Burma, und er versuchte, Palstinenser und Is raelis auszushnen. Vor allem aber wollte er den wohlteuflischsten Brandherd austreten: den Bau einer iranischenAtombombe.

    Nach sieben Jahren ist Oba-ma nun gelungen, was sein Vor-gnger begonnen hatte: InWien einigten sich die fnf stn-digen Mitglieder des Uno-Si-cherheitsrats und Deutschlandmit Iran auf ein 15-jhriges Mo-ratorium fr die Urananreiche-rung im Gegenzug werden dieSanktionen schrittweise auf -gehoben. Knftig sollen Inspek-toren alle Reaktoren und For-schungssttten der Iraner kon-trollieren drfen, die Gefahr einer iranischen Atombombeist vorerst gebannt.

    Das wird die groe histori-sche Hinterlassenschaft vonObamas Amtszeit sein. Der US-Prsident hat einen der zentra-len Konflikte dieser Zeit mitfriedlichen Mitteln entschrft.Natrlich ist der Iran-Deal einschlechter Deal, wie jeder Kom-promiss. Er lsst die Zentrifugen, Forschungslabors und Reaktoren intakt, in denen das Regime bislang Uran angerei-chert hat. Der Deal stabilisiert mit groer Wahrscheinlichkeitdas Regime in Teheran, weil die Wirtschaft aufblhen wird,sobald die Sanktionen wegfallen. Gut denkbar, dass die Iranerin rund einem Jahrzehnt, wenn die ersten der ausgehandeltenBeschrnkungen auslaufen, einen erneuten Anlauf zur Bombeunternehmen werden.

    Dennoch ist der Iran-Deal auch ein guter Deal. Htten dieIraner konkrete Schritte gemacht, eine Atombombe zu bauen,htte Israel wohl nicht zugesehen. Ein Wettrsten in der Region wre vermutlich die Folge gewesen. Diese nuklearenAmbitionen zumindest vorbergehend eingedmmt zu habenist das Verdienst Obamas. Alle bisher eingesetzten Werkzeuge,von Sanktionen bis Sabotage, stehen auch weiterhin auf Abrufbereit, fr den Fall, dass sich das Regime nicht an das Abkommen hlt.

    Die eigentliche Bedeutung dieses Deals liegt allerdings jen-seits der atomaren Fragen. Sie betrifft den ganzen NahenOsten, jenen Teil der Welt zwischen Tel Aviv und Teheran,der von Kriegen und Dauerkrisen heimgesucht wird und woIran der vielleicht wichtigste Akteur ist, mal offen, mal klamm-heimlich. Im Irak fhren die von Iran untersttzten schiitischenMilizen den Kampf gegen den Islamischen Staat an. In Syrienist Teheran der treueste Partner des Assad-Regimes. Iran un-tersttzt im Libanon und im Gazastreifen die Milizen von His-bollah und Hamas, die eine Bedrohung fr Israel sind. Und imJemen haben die von Iran gefrderten Huthis die Macht ber-nommen. Keiner dieser Konflikte lsst sich ohne Iran lsen.

    Fr eine Einigung war es notwendig, sich ausschlielichauf das Nuklearprogramm zu konzentrieren und alle anderen

    Themen auszuklammern absofort allerdings muss es um Te-herans Einfluss im Nahen Ostengehen. Denn die Rckkehr indie Staatengemeinschaft schafftdie Grundlage fr diplomatischeInitiativen, die nicht mehr durchden Atomstreit blockiert wer-den. Das ist keine Gewhr, wohlaber Voraussetzung fr eineNeuordnung des Nahen Ostens.

    Fr die USA und mehr nochfr die Europer, die Teherannicht in inniger ideologischerFeindschaft verbunden sind, istdieses Abkommen daher eineVerpflichtung. Nach dem gro-en Deal mssen nun viele klei-ne, aber ebenso wichtige Ab-sprachen folgen. Mit Iran mussdringend ber Syrien und einegemeinsame Strategie gegenden Islamischen Staat geredetwerden. Sprechen muss man

    auch mit den Saudis, die eine iranische Vormachtstellung inder Region frchten und selber eine solche anstreben. Mitden gyptern, die misstrauisch nach Teheran schauen. Undschlielich mit Israel, wo die ngste gro sind, dass diesesAbkommen den Intimfeind Iran langfristig strkt.

    Es knnte sinnvoll sein, aus der Runde der fnf Sicher-heitsratsmchte plus Deutschland ein dauerhaftes Format frdie Region zu machen. Denn Diplomatie im Nahen Osten istwie Chirurgie: Auf einen komplizierten Eingriff folgt einelange Phase der Rehabilitation. War Obama der Chirurg vonWien, mssen in den kommenden Jahren Angela Merkel undFrank-Walter Steinmeier die Physiotherapeuten sein. Dennwer glaubt, sich nun zurckziehen zu knnen, weil das Ringenum das Atomprogramm gelst scheint, der irrt nicht nur, son-dern riskiert auch den Erfolg des Deals. Die eigentliche Auf-gabe, den Nahen Osten aus einer Phase von Terror und Kriegherauszufhren, steht noch bevor. Holger Stark

    6 DER SPIEGEL 30 / 2015

    Ein Anfang, kein EndeDem Atomabkommen mit Iran sollte eine diplomatische Offensive in der Region folgen.

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    US-Unterhndler John Kerry in Wien

    Leitartikel

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

  • CHRONOMAT 44

    WELCOME TO MY WORLD

    In der Hauptrolle: John Travolta, Filmlegende, Pilot und Aeronautik-

    Freak. Im Rampenlicht: die mythische North American X-15, ehemalige

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  • 10 DER SPIEGEL 30 / 2015

    Brandgeschdigter Vaupel

    Verunsichert Verbraucher Wer eine Versicherung abschliet,vertraut auf Hilfe in der Not. Doch im Ernstfall tundie Konzerne mitunter alles, um nicht zahlen zu mssen. Die Kunden knnen sich kaum wehren.

  • Titel

    Vor der Schrankwand: Ordner vollerUnterlagen. In den Schubladen:mehr Unterlagen. Unterm Dach:noch mehr Unterlagen. Sogar im Schuppenauf dem Hof lagern Kisten mit Papieren.

    Jens Urbans Haus im brandenburgischenZossen ist das Archiv einer 15 Jahre langenLeidensgeschichte. Sein Leben wird domi-niert von rzten und Anwlten, Gutach-tern und Richtern. Von Schreiben mit Ak-tenzeichen im Briefkopf und offiziellenStempeln am Schluss. Von einem schierunendlichen Kampf mit den Versicherun-gen. Die wollten mich mrbemachen,sagt der 48-Jhrige.

    Dabei hatte der frhere Baumarktlager-leiter nur das Pech, an einem Freitag im Januar 2000 zur falschen Zeit auf der Auto-bahn 113 unterwegs gewesen zu sein. AmKreuz Berlin-Schnefeld rauschte ein be-trunkener Lkw-Fahrer in seinen Mercedes190 und quetschte ihn gegen die Leitplanke.Urban brach sich mehrere Knochen, die linke Schulter und der rechte Ellenbogenwaren hinber; am schlimmsten aber: SeinSchliemuskel funktionierte nicht mehr. Ur-ban ist seitdem inkontinent. Eine normaleLebensfhrung ist in fast keinem Lebens-bereich mehr mglich, befand spter eineGerichtsgutachterin, eine soziale Isolationwie bei einem Ausstzigen ist die Folge.

    Eineinhalb Jahrzehnte lang streitet sichJens Urban mit Versicherungskonzernenherum, allen voran die Allianz. Es gehtum mehrere Hunderttausend Euro. Urbanwurde mit 33 Jahren vom Familienernh-rer zum Pflegefall. Er wird wohl nie mehrarbeiten knnen.

    Gut zwei Jahre nach dem Unfall hatteer sich auf einen Vergleich mit dem Haft-pflichtversicherer des Lkw-Fahrers ein -gelassen, der den Unfall verursacht hatte.Urban bekam rund 300 000 Euro. Dasklingt nach viel Geld, doch offenbar warer damals schlecht beraten. Sein heutiger Anwalt Joachim Laux sagt: Mindestens900000 Euro wren angemessen gewesen.

    Urban hatte auch selbst eine Unfall -versicherung abgeschlossen, genau genom-men waren es sogar mehrere Policen, beider Continentale (Motto: Mehr als eineVersicherung) und bei der Allianz (Motto:Top-Unfallschutz fr Sie und Ihre Fami-lie). Sie sollten ihn fr den Fall einer In-validitt absichern.

    Doch die Versicherungen versuchten,ihn mit geringen Betrgen abzuspeisen.Sie bezweifelten, dass allein der Autounfalldie Inkontinenz verursacht habe: FrhereLeiden und Operationen sollten verant-wortlich sein, in diesem Fall htten die Assekuranzen nur vergleichsweise mickri-ge Summen zahlen mssen.

    Seit 2004 prozessiert Urban. Wie vieleUntersuchungen von Sachverstndigen erber sich hat ergehen lassen mssen, weier nicht mehr. Er war bei Chirurgen, Or-

    thopden, Neurologen und Psychosoma-tikern. Nach sieben Jahren verstndigte ersich mit der Continentale auf einen Ver-gleich, der Streit mit der Allianz hingegenging weiter. Im Dezember 2014 entschieddas Berliner Landgericht: Die Inkontinenzsei unfallbedingt und beeintrchtigeUrbans Leben derart schwer, dass die Versicherung ihm auch deswegen weitere178000 Euro zahlen msse.

    Damit htte Urbans Kampf zu Ende seinknnen. Htte. Doch die Allianz blieb stur.Sie ging in Berufung. Und Urbans Berg anUnterlagen wuchs weiter Aktenzeichenendlos? Erst als sich im Juni andeutete,dass die Berufung zurckgewiesen wird,erklrte sich die Allianz bereit, die An-gelegenheit kurzfristig zu einem einver-nehmlichen Abschluss zu bringen. Jetztsieht alles nach einer Einigung aus. Kurz-fristig. Nach 15 Jahren.

    Die Versicherungsbranche stellt sich alsvertrauenerweckend dar und wirbt mitSlogans wie Ein starker Partner an IhrerSeite oder Sicherheit in jeder Lebens -lage. Die Assekuranzen prsentieren sichals Retter in der Not, bei Brand und Un-wetter, Einbruch und Diebstahl, Krankheitund Invaliditt.

    Diese Botschaft ist zumindest bei AngelaMerkel angekommen. Im November vori-gen Jahres sagte die Kanzlerin auf der Jah-restagung der Deutschen Versicherungswirt-schaft: Sie bernehmen Verantwortung frdas Gemeinwohl. Und dafr wird Ihnenauch viel Vertrauen entgegengebracht.

    Aber wenn Versicherte wirklich in Notsind, wird die Hilfe verzgert, verschleppt,verweigert. Sobald es um grere Scha-denssummen geht, zeigen sich die Unter-nehmen hart. Und an die Stelle von Ver-trauen treten Ernchterung und Emp-rung. Kunden, die nicht abgespeist werdenwollen, mssen besonnen und gewieftsein und einen Anwalt haben, der sichin der Versicherungsmaterie auskennt.

    Verbraucherverbnde und Opfervereinebeklagen seit Langem, dass Konzerne ihreMacht ausnutzen, um Versicherte hinzu-halten und Zahlungen durch immer wei-tere Prozesse hinauszuzgern. Doch ihreKritik blieb bisher ohne groe Resonanz.

    Der Deutsche Anwaltverein hat vor einigen Monaten rund 1250 Rechtsanwltevom Meinungsforschungsinstitut Forsazum Verhalten von Versicherungen befra-gen lassen. 70 Prozent gaben an, dass sichdie Schadensregulierung in den vergange-nen fnf Jahren verschlechtert habe. Sieklagten ber lngere Bearbeitungszeitenund Verzgerungstaktiken, immer wiederwiesen Versicherungen ungerechtfertigtLeistungen zurck, teilweise ignoriertensie sogar bewusst die geltende Recht-sprechung, so die Antworten an Forsa.

    In den Versicherungskonzernen wrdenBetriebswirte knallhart kalkulieren, was

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    Quelle: Ombudsmann, GDV, BaFin

    *Zum Jahresende 2014 gingen zahlreiche unzulssige Beschwerden ein, die nicht gegen Versicherungen, sondern gegen Banken gerichtet waren.

    Milliarden Euro wurden 2014 an Schaden-und Unfallversicherungsbeitrgen gezahlt

    Allianz

    Axa

    AllianzGlobal AG

    Milliarden Euro zahlten die privaten Ver-sicherer in dieser Sparte an Leistungen aus

    Millionen Schaden- und Unfallversiche-rungsvertrge liefen 2014

    Die grten Schaden- und Unfall-versicherer in Deutschlandnach verdienten Bruttobeitrgen, in MillionenEuro, 2013

    VersicherungsbeschwerdenEingaben an Ombudsmann

    2010 2011 2012 2013 2014

    19 897*

    18357einge-gangen

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  • Titel

    gnstiger sei, sagt Jrg Elsner, Vorsitzenderder Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht imDeutschen Anwaltverein, sofort zu regu-lieren oder abzuwarten, wer denn wirklicheine Klage erhebt.

    So nett die Auendienstmitarbeiter beimVertragsabschluss sein knnen, so khl rea-gieren die Konzerne, wenn ein Schadeneintritt. Schtzen knnen sich Kunden vorder Zhleibigkeit kaum, es sei denn, sieschlieen gleich eine Rechtsschutzversiche-rung mit ab. Ansonsten kann ihnen beimKampf gegen das Gebaren der Assekuran-zen schnell das Geld ausgehen.

    Dabei vertrauen die Deutschen ihrenVersicherungen: In mehr als 427 MillionenVertrgen haben sich Privatpersonen undUnternehmen gegen Risiken versichert.192 Milliarden Euro werden den Versiche-rungen jhrlich berwiesen. Die Kundenwollen sich finanziell absichern, etwa ge-gen einen Schicksalsschlag, wie er der Fa-milie Bernert in Bayern widerfahren ist.

    Seit mehr als 30 Jahren liegt die 63-jh-rige Claudia Bernert aus Immenstadt imAllgu mit der Allianz-Versicherung berKreuz (SPIEGEL 12/2013). Am 14. Oktober1984 kam ihr Sohn Daniel krperlich undgeistig schwerbehindert zur Welt, weil einArzt, die Hebamme und eine Kranken-schwester nicht richtig reagiert hatten eindeutige Behandlungsfehler, stellten Gut-achter fest.

    Acht Jahre lang wurde die Familie Ber-nert hingehalten. Dann musste sie vier Pro-zesse fhren, bis die Allianz, der Versiche-rer des Arztes und der Hebamme, nachmehr als zwei Jahrzehnten 1,8 MillionenEuro als Vergleich anbot. Die Familie lehn-te ab es war nur ein Teil dessen, was dieBehinderung Daniels bis dahin gekostethatte und bis zu seinem Lebensende vo-raussichtlich noch kosten wird. Die Allianzbetonte, ihr sei stets daran gelegen, nachSach- und Rechtslage so zeitnah wie mg-lich zu regulieren. Das hinderte sie nichtdaran, eine Berufung zu veranlassen, wannimmer der Behinderte und seine Muttervor Gericht gewannen.

    Nachdem der Fall Bernert vor drei Jah-ren ffentlich geworden war, handelte dasBundesjustizministerium, damals noch ge-leitet von Sabine Leutheusser-Schnarren-berger (FDP). Ministerialrat Volker Sch-fisch schrieb den Justizverwaltungen inden Lndern, es gingen immer wiederBeschwerden ein, laut denen Versiche-rer mit erheblicher Verzgerung zahlten,ihre wirtschaftlich strkere Position aus-nutzten, um die Versicherten in zermr-benden Rechtsstreitigkeiten zur Aufgabeihres Anspruchs zu bewegen. Das Minis-terium wollte wissen, ob Gesetzesnde-rungen erforderlich seien, und wies aufmehrere Urteile hin, in denen Gerichtedas Verhalten von Versicherungen kriti-siert hatten.

    Das Oberlandesgericht Mnchen etwahatte einer 45-jhrigen Frau, die sich nacheinem schweren Verkehrsunfall nur nochim Rollstuhl oder an Krcken fortbewegenkonnte, ein Schmerzensgeld in Hhe von100000 Euro zuerkannt. Es sei zu berck-sichtigen, so die Richter, dass sich die Ver-sicherung vorwerfen lassen muss, dieSchadensregulierung nur zgerlich betrie-ben zu haben.

    Das Oberlandesgericht Nrnberg hatteeinem Rollerfahrer, der nachts gegen einenunbeleuchteten Anhnger geknallt war,35000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen.Trotz schwerster innerer Verletzungen hat-te die Kfz-Versicherung zunchst nur 2000Euro gezahlt. Dieses Regulierungsverhal-ten, so das Gericht, msse als ein gegenTreu und Glauben verstoender Zermr-bungsversuch verstanden werden.

    Einige Bundeslnder berichteten nachBerlin, dass die Versicherungen in be-stimmten Bereichen oft kompromissloskmpfen wrden, etwa in der Feuerver-

    sicherung, der Berufsunfhigkeitsversiche-rung, auch in Arzthaftungssachen und beiUnfall- oder Invalidittsversicherungen also immer dort, wo es um richtig viel Geldgeht. Aber der Tenor der 16 Antwortschrei-ben lautete, eine generelle Verweigerungs-haltung sei nicht erkennbar.

    Das Bundesjustizministerium blieb nochkurz am Thema dran. Im September 2013lud Ministerialrat Schfisch Verbraucher-organisationen und Versicherungen zu ei-ner Anhrung nach Berlin. Man redete,tauschte Papiere aus und dann ver-schwand alles wieder unter Aktendeckeln.

    Mit einer 36-seitigen Stellungnahme be-snftigte der Gesamtverband der Deut-schen Versicherungswirtschaft (GDV) diePolitik. Die Schadensregulierung, so derLobbyverband, erfolge reibungslos: Nur 0,6 Prozent aller Schden in der

    Schaden- und Unfallversicherung lande-ten vor Gericht, rund 30 Prozent dieserFlle endeten mit einem einvernehm -lichen Vergleich;

    die berprfung berhhter Forderungenerfolge im Interesse aller Versicherten;

    die allermeisten Flle der 23 MillionenSchadensereignisse pro Jahr wrden bin-nen kurzer Frist abgeschlossen;

    bei dieser hohen Zahl zu bearbeitenderFlle knnen Fehler nicht immer zu hun-dert Prozent ausgeschlossen werden.Das Fazit: Die Versicherer betrieben

    eine hochprofessionelle Schaden- undLeistungsfallbearbeitung, gesetzlichenderungen sind nicht erforderlich.

    Und so geschah es. Die Initiative desJustizministeriums schlief ein, bis heute.

    Die Versicherungen begrnden ihr rigi-des Vorgehen damit, die ehrlichen Kundenschtzen zu mssen. Der GDV-Haupt -geschftsfhrer Jrg Freiherr Frank vonFrstenwerth sagt, die Versicherungen sei-en gegenber der ganz groen Mehrzahlehrlicher Kunden in der Pflicht, Betrug zubekmpfen. Allein in der Schaden- undUnfallversicherung sei angeblich einervon zehn Schadensfllen frei erfunden.Dadurch entstehe jhrlich ein Schaden vonvier Milliarden Euro.

    Vor vier Jahren beauftragte der GDVein Meinungsforschungsinstitut, um demvermeintlichen Massenphnomen auf denGrund zu gehen. Heraus kam: 40 Prozentaller Deutschen glaubten, Haftpflicht- undHausratversicherungen verhltnismigleicht betrgen zu knnen. Ein Unrechts-bewusstsein sei laut GDV hufig nichtvorhanden.

    Versicherungskritiker Wolfgang Schne-mann sieht die Sache genau umgekehrt.Er ist berzeugt, dass nicht Betrugsversu-che der Kunden, sondern Zermrbungs-taktiken der Versicherungen System ha-ben. Der 68-Jhrige ist emeritierter Pro-fessor fr Privatrecht an der TechnischenUniversitt Dortmund. Bereits Mitte der

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    Unfallopfer Urban

    Urbans Auto nach dem Unfall

    Mehr als eineVersicherung

  • Neunzigerjahre warnte er vor einemgrundlegenden Problem der Branche: DerVersicherungsnehmer zahle Prmien in einen Topf, um sein Leben abzusichern.Dafr erwarte er Geld aus diesem Topf,falls er einen Unfall hat, krank wird odersein Haus Feuer fngt. Den Versicherungs-unternehmen gebe er einen Obolus, umseine Absicherung zu organisieren.

    Die Realitt sehe anders aus, sagt Sch-nemann: Die Versicherer wrden die Pr-mien insgesamt vereinnahmen, statt diePrmie deutlich in zwei Tpfe aufzuteilen:in den Beitrag fr die eigentliche Risiko-absicherung einerseits und das Entgelt frdie Organisationsdienstleistung anderer-seits. Deshalb sei jeder Schadensfall frdie Konzerne ein Kostenfaktor, der ihreBilanz drcke.

    Schnemann sa fnf Jahre lang im Bei-rat der Bundesanstalt fr Finanzdienstleis-tungen (BaFin), einem Kontrollgremiumfr Banken und Versicherungen. Mit seinerGrundsatzkritik konnte er sich dort nichtdurchsetzen. Der Skandal seien nicht dieschlimmen Einzelschicksale, sondern die-jenigen, die dahinterstecken und diesesSystem tragen, sagt er.

    Beim Ombudsmann fr Versicherungenhat die Zahl der Beschwerden zuletzt Jahrfr Jahr zugenommen: 2014 beklagten sich19897 Versicherte bei der Stelle, so vielewie noch nie. Bei der BaFin gingen im sel-ben Jahr noch einmal rund 9000 Beschwer-den ein. Das sind zusammen immerhinrund 30000 Eingnge bei Beschwerdestel-len, von denen die meisten Versichertenvermutlich gar nicht wissen, dass es sie gibt.

    Rund ein Drittel der Klagen weist derOmbudsmann als unbegrndet zurck zudem sieht er keine Anhaltspunkte freine Verzgerungsstrategie. Der Ombuds-mann derzeit der ehemalige Prsidentdes Bundesgerichtshofs Gnter Hirsch wird von der Versicherungswirtschaft be-zahlt. Und in Fllen, in denen es um mehrals 100000 Euro Streitwert geht, ist er nichtmehr zustndig.

    Wie nah sich Justiz und Versicherungs-wirtschaft sein knnen, hat der TierpflegerThomas Vaupel erfahren. Als er vor sechsJahren sein Elternhaus in Bnde bei Bie-lefeld bernahm und versicherte, hatte erein gutes Gefhl. Der Versicherungsvertre-ter war ein Kumpel. Die GV Oldenburg(Motto: Wir regeln das) ist kein anony-

    mer Internetkonzern, sondern eine regio-nal verwurzelte Assekuranz.

    Bald danach zog Vaupel um und bot dasHaus zum Verkauf an. Als er etwas repa-rieren wollte, entdeckte er, dass es im In-nern gebrannt hatte. Die Flammen warenvon selbst erloschen, offenbar weil das Feuer zu wenig Nahrung gefunden hatte.Vaupel meldete den Brand seiner Versi-cherung. Die Staatsanwaltschaft schickteeinen Brandermittler.

    Jemand, dem Haus und Hof abbrennt,bentigt in der Regel schnelle Hilfe, aberdie Versicherungen nehmen sich oft Zeit.Hufig ermittelt die Polizei zunchst dieBrandursache. Solange diese nicht geklrtist, besteht ein Auszahlungshindernis.Manchmal helfen Brandexperten der Ver-sicherungen nach, heit es in der Branche,und geben Ermittlern Tipps, etwa auf an-geblich nicht gelschte Kerzen. Die Ermitt-lungen knnen dann Monate dauern.

    In Bnde rckte die Polizei an. Weil dieBeamten keine Einbruchspuren entdeck-ten, geriet Vaupel in Verdacht, das Hausangezndet zu haben. Auch hier hatte die Versicherungsbranche mglicherweiseEinfluss bei der Ermittlung der Brand -

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    Unternehmerin Walther

    Wir sorgen fr Ihr Glck im Unglck

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    ursache. Die Staatsanwaltschaft beauftrag-te das Institut fr Schadenverhtung undSchadenforschung (IFS) mit einem Gutach-ten. Die Einrichtung wird getragen von et-lichen Assekuranzen. Der IFS-Gutachterfand keine Spuren von Brandbeschleuni-gern im Haus, konnte auch keine Ursachenennen. Dennoch hielt er Brandstiftungfr die wahrscheinlichste Erklrung.

    Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermitt-lungsverfahren gegen Vaupel schnell ein:kein Tatverdacht. Fr die GV Oldenburgkam hingegen nur ein Tter infrage: ihrKunde. Nur er habe ein Motiv die Ver -sicherungssumme. Vaupel habe das Hausverkaufen wollen und keinen Kufer ge-funden. Deshalb msse er es angezndethaben. Die Versicherung weigerte sich zuzahlen. Schlielich schaltete Vaupel einenAnwalt ein, der die Versicherung verklagte.Ein von ihm beauftragter Gutachter bezif-ferte den Schaden auf fast 70000 Euro.

    Knapp drei Jahre nach dem Brand rietdas Landgericht Osnabrck den Parteienin diesem Februar zu einem Vergleich. Vau-pels Anwalt Christian Dke htte gern einUrteil erstritten. Die Chancen standengut, aber dann wre die Versicherung mitSicherheit in Berufung gegangen, und aufeine Entscheidung htten wir drei weitereJahre warten mssen, sagt er. Vaupel woll-te einen Schlussstrich und bekam rund25000 Euro.

    Das ist einer dieser einvernehmlichenVergleiche, von denen der Versicherungs-verband GDV in seiner Stellungnahme andas Justizministerium sprach. Auseinan-dersetzungen mit Versicherungen sind fastimmer ein Gefecht David gegen Goliath,bei denen die Versicherungen ihre wirt-schaftliche Macht ausnutzen, sagt der Cel-ler Anwalt Hermann Schnemann.

    Die BaFin beaufsichtigt in Deutschlandmehr als 560 Versicherungsunternehmen.Ihr Verhalten unterscheidet sich, mancheKonzerne knnen durchaus kulant sein etwa bei zerbrochenen Scheiben, kaputtenHandys, zerbeulten Kotflgeln.

    Wenn es aber um groe Summen geht,reagiert kaum ein Versicherer grozgig.Kunden geraten dann schnell in eine Not-lage. Wenn es etwa gebrannt hat, laufenin der Regel die Kredite fr die zerstrteImmobilie weiter, es muss ein Ausweich-quartier gemietet und eine neue Ausstat-tung finanziert werden, sagt Schnemann.Da wird durchaus darauf spekuliert, dasseine Firma in Insolvenz geht oder ein be-tagter Kunde verstirbt.

    Selbst gut laufende Firmen knnen inExistenznot geraten, wenn die Versiche-rung zickt wie im Fall der SchreinereiWalther Expointerieur aus der Nhe vonDresden, die auf Mbel fr Museen undAusstellungen spezialisiert ist. Chefin Fanni Walther hat auch drei Jahre nach einem Brand den Groteil der erwarteten

    Versicherungsleistung noch nicht erhalten.Die Firma kmpft tglich ums berleben,weil uns einfach das Geld fehlt, sagt sie.

    Dabei hatte das Unternehmen eigensbei der Sparkassen-Versicherung Sachsen(Motto: Pech gehabt? Wir sorgen fr IhrGlck im Unglck) eine Betriebsunter-brechungsversicherung abgeschlossen. Einsolcher Vertrag verspricht in Notlagen zuhelfen: Nach einem Feuer soll der Produk-tionsausfall schnell ersetzt werden, um daswirtschaftliche berleben zu sichern.

    Vielen Versicherten fehlen die Zeit, dieKraft, die Energie und das Geld, um vorGericht zu kmpfen, gerade nach einemSchicksalsschlag. Nur wenige bumen sichso auf wie ein 77-jhriger Mann ausGroen hain in Sachsen. Er hatte ein Hausgekauft, in dem er eine Sauna mit kleinerGaststtte betrieb. Im April 2009 branntedas Gebude nieder. Fr die R+V-Versiche-rung war schnell klar: Ihr eigener Kundewar der Brandstifter. Ein Gutachter gabder Versicherung recht.

    Der mutmaliche Tter zog vor Gericht.Erst das Oberlandesgericht Dresden rckteim Mai 2014 die Sache zurecht. Das Gut-achten sei kein Beweis eines Sachverstn-digen, sondern der Vortrag einer Partei.Der vermeintliche Gutachter sei dem Ge-richt bekannt als jemand, der hufigGutachten fr die Versicherungswirtschafterstellt. In diesem Fall habe er die Spuren,die gegen die Version der Versicherungsprachen, einfach auer Acht gelassen.Nach fnf Jahren des Streitens erhielt derHauseigentmer 371251 Euro. Fr weitereaufgelaufene Kosten soll er noch mehr erhalten, ein Gutachter geht von insgesamtrund 900000 Euro aus.

    Der Kleinunternehmer hatte Glck, dassdas Oberlandesgericht den Fehler korri-gierte. Die meisten Versicherungsnehmerknnen es sich aber nicht leisten, teureProzesse zu fhren. Und wenn sie es dochwagen, treffen sie oft auf Anwlte und Gut-achter von Versicherungen, gegen die siekaum etwas ausrichten knnen.

    Dem Feueropfer Vaupel etwa stand alsRechtsvertreter der GV Oldenburg Dirk-Carsten Gnther gegenber. Der Professorder Fachhochschule Kln ist ein wichtigerMann fr die Versicherungsbranche und eineifriger Verfasser von Fachliteratur. Gn-ther arbeitet als Partner in der Kanzlei BachLangheid Dallmayr (BLD), deren Mandan-ten berwiegend Versicherungen sind.Nach eigenen Angaben lassen sich nahezualle deutschen Versicherungsunternehmenvon der Klner Kanzlei vertreten. Die 1911gegrndete Soziett mit Bros in Mnchen,Frankfurt, Berlin und Karlsruhe beschftigtmehr als 120 Rechtsanwlte und wirbt mitihrer erheblichen Rolle, die sie bei derMeinungsbildung spiele.

    BLD unterhlt ein eigenes Betrugsauf-klrungszentrum, an dessen Spitze Gn-

    ther steht. Ziel der Einrichtung: Versiche-rungskunden kriminelles Verhalten nach-zuweisen. In manchen Bereichen sei jedezweite Schadensmeldung Betrug, behaup-ten die Anwlte von BLD.

    Die Juristen der Kanzlei publizieren inwichtigen Fachzeitschriften und schreibeneinflussreiche Kommentare zu Gesetzenund Urteilen mitunter zusammen mitRichtern. So stammt ein Standardwerkzum Versicherungsvertragsgesetz von ei-nem geschftsfhrenden BLD-Partner, ei-nem Oberlandesgerichtsprsidenten undeinem frheren Richter am Bundesgerichts-hof. Insgesamt gab es seit 2008 allein imwichtigsten Branchenblatt, der ZeitschriftVersicherungsrecht, rund 70 Aufstzeund Anmerkungen aus der BLD-Kanzlei.

    Das ist nicht die einzige Verquickungzwischen Justiz und Versicherungen. Nahezu im Wochentakt sitzen in Hotel -tagungsrumen Heerscharen von Sach -

    bearbeitern und Rechtsanwlten in Fort-bildungen und Praktikerseminaren. Auchhier treten als Referenten hochrangigeRichter auf und prsentieren Trends derRechtsprechung. In den Pausen, so berich-ten Insider, erhofften sich Sachbearbeiterder Versicherungen Tipps zu ihren eigenenFllen und bekmen sie teils auch.

    Im kommenden November soll es in ei-nem Klner Hotel wieder um die NeuesteRechtsprechung zur Allgemeinen Unfall-versicherung gehen. Referenten: Pro fessorRoland Rixecker, Prsident des Saarln -dischen Oberlandesgerichts, und Dr. Her-bert Tschersich, vorsitzender Richter a.D.am Landgericht Dortmund. Die Moderato-

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    IELilies Haus, umgestrzter Baum

    Damit Sie immer Freude

    an Ihrem Eigenheim haben

  • ren solcher Veranstaltungen kommen oftvon der Kanzlei BLD. Veranstalter ist etwadas VersicherungsForum der DeutschenVersicherungsakademie, eine Organisationder Versicherungswirtschaft.

    Die Konzerne sorgen sich auch um denNachwuchs. An einigen deutschen Hoch-schulen gibt es Institute fr Versicherungs-recht. Die Einrichtungen werden regelm-ig von der Branche gefrdert.

    Versicherungen wie die ARAG, die Ergooder die Provinzial Rheinland haben sichbereit erklrt, das Dsseldorfer Institut derHeinrich-Heine-Universitt mitzufinan -zieren. Der Frderverein des Instituts frVersicherungsrecht der Universitt Kln

    rhmt sich, dass in ihm rund 160 Mitgliedersitzen, darunter praktisch alle deutschenVersicherungsunternehmen. Die For-schungsstelle fr Versicherungswesen derWestflischen Wilhelms-Universitt Mns-ter wird unter anderem getragen von rundzwei Dutzend Assekuranzen. Auch dieKanzlei BLD ist dort vertreten.

    Da sich Assekuranzangestellte, Anwlteund Richter oft auf die versicherungs-freundlichen Ausbilder, Kommentare undStandardwerke beziehen, ist es fastzwangslufig so, dass in Streitfragen dieVersicherungen und ihre Anwlte gute Kar-ten haben. Die Richter richteten sich etwabei Vergleichsvorschlgen nach dem Stan-

    dardwerk Ersatzansprche bei Personen-schaden, berichten Opferanwlte. Die da-mit errechneten Summen, sogenannte Bar-oder Kapitalabfindungen, seien selten imSinne der Geschdigten. Verfasser desWerks ist Gerhard Kppersbusch. 35 Jahrelang war der Jurist bei der Allianz in Mn-chen ttig. Nun leitet er das Personenscha-denzentrum der BLD-Kanzlei.

    Wohin das fhrt, beschreibt der Saar-brcker Anwalt Pierre Zimmermann amFall einer Frau, die durch einen Behand-lungsfehler querschnittgelhmt ist. Die Ver-sicherung des Krankenhauses bot als ein-malige Kapitalabfindung 206400 Euroan. Das Gericht schlug auf Grundlage derKppersbusch-Tabelle 700000 Euro vor. Indiesem Betrag, so Zimmermann, fehlte un-ter anderem der Inflationsausgleich. Er er-rechnete eine Forderung von 1,4 MillionenEuro. Am Ende einigte man sich auf einemonatliche Zahlung von 3491 Euro wasZimmermanns Forderung nahekommt,wenn man sie auf das zu erwartende Le-bensalter der Frau umrechnet.

    Die meisten Anwlte sind dagegen leich-te Gegner fr die spezialisierten Advoka-ten der Assekuranzen. Normale Versicher-te knnen die Details erst recht nicht ver-stehen. Ihnen will Stefanie Jeske helfen.Die Dsseldorferin ist Vorsitzende des2009 gegrndeten Vereins Subvenio. Sieversteht sich als Lobbyistin fr Unfallopfer,sie hilft beim Umgang mit Behrden undVersicherungen. Und sie kennt spezialisier-te Fachanwlte, die notfalls mit den Be-troffenen vor Gericht ziehen.

    Jeske hat selbst fast zehn Jahre lang mitder DBV gestritten, die inzwischen zumAxa-Konzern gehrt (Motto: Damit Sieberuhigt in die Zukunft blicken knnen).Im Dezember 2004 ging sie mit ihren bei-den Maltesern Stan und Olli Gassi, als einNachbarshund sie umstie. Sie verletztesich am linken Knie, der Meniskus war ge-rissen, der Schienbeinkopf gebrochen. Erst2013 einigte sich Jeske endgltig auf einenVergleich mit der Versicherung.

    Mit Subvenio versucht sie nun, die Poli-tik zu nderungen zu drngen, damit esanderen besser ergeht. Vor einigen Mona-ten schickte sie ihre Reformideen, wieSchden schneller reguliert werden knn-ten, an das Bundesjustizministerium. DerMinisterialbeamte aus dem zustndigenReferat III A 6 dankte fr ihre Vorschlgeund schrieb ihr in uerst freundlichemTon, dass er sie fr nicht umsetzbar halte.

    Versicherer knnen sehr kreativ sein,wenn es um die Auslegung des Kleinge-druckten in den Vertrgen geht. Und umdie Begrndungen, warum sie im Streitfallkeine Verantwortung tragen.

    Am 28. Februar 2010 fegte das OrkantiefXynthia mit bis zu 180 Stundenkilome-tern ber Deutschland, es tobte auch durchdas Wohngebiet von Margit und Jrg Hen-

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    Hauseigentmer Lilie

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    ning Lilie in Dortmund-Lttringhausen. Esschttelte die Bume hinter dem Haus der Familie durch so heftig, dass einervon ihnen schwer beschdigt wurde: eine20 Meter hohe Buche, hundert Jahre alt.Tapfer hielt sie sich noch sechs Tage auf-recht.

    Dann krachte sie auf die Doppelhaus-hlfte. Das Dach war ldiert, der Schorn-stein, der Balkon, die Fassade, Schden infnfstelliger Hhe. Ein Mitarbeiter derR+V (Motto: Damit Sie immer Freude anIhrem Eigenheim haben), der die Sacheam Tag danach aufnahm, lie die Lilies indem Glauben, bald sei alles abgewickelt.Bis heute streiten sich das Ehepaar unddie R+V vor Gericht. Obwohl die Leis-tung bereits seit Jahren erbracht sein mss-te, lsst der Versicherer seinen Kunden imRegen stehen, sagt der Anwalt der Fami-lie, Frank Vormbaum.

    Die Direktion der Versicherung ent-schied: Wir zahlen nicht. Die R+V begrn-det dies mit einer originellen Interpreta -tion der Vertragsbedingungen. Abgedecktseien nur Schden durch unmittelbareEinwirkung des Sturmes oder solche, diedadurch entstehen, dass der Sturm Bu-me oder andere Gegenstnde auf versi-cherte Sachen wirft. Ein Umkippen nachsechs Tagen gehre nicht dazu. Im brigensei gar nicht bewiesen, dass der Baumwirklich als Folge des Sturms gefallen sei.

    Das Landgericht Dortmund beauftragteeine Diplomholzwirtin als Sachverstndi-ge. Sie kam in einem zwlfseitigen Gut-achten zu dem Fazit, die fragliche Rot -buche Fagus sylvatica sei durch die Ein-wirkung des Sturmtiefs Xynthia auf dasHaus gestrzt: Nicht selten kippen Bu-me erst zeitverzgert um.

    Unterlaufen bereifrigen Versicherungs-angestellten einfach nur Fehler, die sichnicht vermeiden lassen, wo Menschen ar-beiten, wie der GDV meint?

    Beatrix Hller ist anderer Ansicht. Siehat jahrelang als Sachbearbeiterin fr einegroe Versicherung im Rhein-Main-Gebietgearbeitet, Spezialgebiet Berufsunfhig-keits- und Unfallversicherung. Sie lernteTricks, um Ansprche abzuwehren oderso lange wie mglich hinauszuzgern. Esgab eine Art Sportsgeist, sagt sie. Werschafft es, die meisten Flle abzulehnen?

    Am leichtesten machten es einem dieVersicherten, die Fristen versumten Pech gehabt! Bei anderen half die Zermr-bungstaktik: Man schickt komplizierte,schier endlose Fragekataloge, fordert stn-dig weitere Unterlagen nach oder schicktsie von Gutachter zu Gutachter. Viele wer-fen irgendwann die Flinte ins Korn oderlassen sich auf einen Vergleich ein, der unter dem liegt, was ihnen zusteht.

    Dann bekam Hller diesen Fall auf denSchreibtisch, es ging um einen HIV-infizier-ten Mann. Es waren die spten Neunziger-

    jahre, die Behandlung von Aids war nochwenig fortgeschritten. Der Mann, so sah esHller, hatte einen eindeutigen Anspruchauf eine Berufsunfhigkeitsrente. Doch ihrVorgesetzter habe von ihr verlangt, sie solleerst mal einen weiteren Bericht des Haus-arztes anfordern. Bevor die Rente bewilligtwar, starb der Mann, er hinterlie eine Frauund ein kleines Kind. Dafr schme ichmich bis heute, sagt Hller.

    Vor etwas mehr als zehn Jahren hat Bea-trix Hller die Seiten gewechselt. Sie er-ffnete eine Rechtsanwaltskanzlei in Bonnund nahm sich vor, nur Versicherte gegenVersicherungen zu vertreten, mehr als2500 Mandanten hatte sie seitdem.

    Einen Fall, den Hller fr bezeichnendhlt, hat sie vor wenigen Monaten vor demFrankfurter Landgericht gewonnen nachjahrelangem Herumstreiten mit der Versi-cherung, der Alten Leipziger (Motto: IhreArbeitskraft ist Ihr Kapital). Ihr Mandant,ein Selbststndiger aus Sddeutschland,war an einer schweren Depression er-krankt. Als er eine Berufsunfhigkeitsrentebeantragte, schickte die Versicherung ihnzu einem Gutachter, der den Mann als Si-mulanten abstempelte: Er scheine gewillt,die Krankenrolle einzunehmen.

    Fnf Jahre dauerte es, bis offiziell fest-stand, dass Hllers Mandant kein Simulantist. Ein vom Gericht bestellter Sachverstn-diger attestierte dem Versicherungsgutach-ten gravierende Mngel. Die Krankheit seinicht eingebildet, der Mann sei schwer depressiv und voll berufsunfhig. So sahes Ende 2014 auch das Gericht.

    Der Gutachter, der in dem Fall eine un-rhmliche Rolle spielte, ist der PsychiaterAndreas Stevens vom Medizinischen Be-gutachtungsinstitut in Tbingen, der im-mer wieder im Auftrag von Versicherun-gen ttig wird. Stevens hat den Ruf, einenbesonders kritischen Blick auf die Versi-cherten zu werfen; durch Psychotests ver-sucht er herauszufinden, wer simuliertoder bertreibt. Jngst berichtete Stevensauf einem Seminar im Klner Hotel Co -logne vor Versicherungsmitarbeitern undAnwlten, dass 40 bis 70 Prozent der Antrge auf Berufsunfhigkeit auf vor-getuschten Beschwerden beruhten, sostand es in den Tagungsunterlagen. KeinWunder, dass in Betroffenenforen im In-ternet Angst davor herrscht, zu Stevensgeschickt zu werden.

    Einige Sachverstndige erstellten imJahr bis zu 1800 Gutachten, kritisiert derBund der Versicherten (BdV): Die Qua -litt solcher Gutachten ist stark in Zweifelzu ziehen und geht in der Regel zulas -ten der Geschdigten. Der BdV fordertdeshalb einen Pool mit unabhngigen Gutachtern.

    Versicherungskritiker dringen zudemauf schrfere Gesetze, um Verzgerungenfr die Versicherungen unattraktiver zumachen, etwa eine Beweislastumkehr nachAblauf einer bestimmten Frist. Dann wrebei schleppender Regulierung nicht mehrder Versicherte in der Pflicht nachzuwei-sen, dass ihm eine Leistung zusteht. Auchhhere Schmerzensgelder, wenn Verfahrenverschleppt werden, knnten Versicherun-gen animieren, schneller zu handeln. Dasknnen Gerichte bereits anordnen, abersie nehmen es kaum in Anspruch.

    Das Bundesjustizministerium seit dieser Legislatur unter der Fhrung vonHeiko Maas (SPD) auch zustndig fr denVerbraucherschutz sieht jedoch keinenGrund fr Gesetzesnderungen. Bei Un-fallversicherungen etwa knne es um sehrkomplexe Sachverhalte gehen, schreibtdas Ministerium, da knne sich die Kl-rung schon mal hinziehen.

    Der lapidare Tipp aus Berlin: Es kannsich empfehlen, im Streitfall einen Rechts-anwalt zu konsultieren.

    Michael Frhlingsdorf, Udo Ludwig,

    Wolf Wiedmann-Schmidt

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  • Flchtlinge

    Kosovo untersttztUnionIm Streit um die Verschr-fung des Asylrechts erhlt dieUnion Untersttzung ausdem Kosovo. Wir wollen un-serer Meinung Ausdruck ver-leihen, dass wir fr eine mg-liche Einstufung des Kosovoals sicherer Herkunftsstaat imSinne des deutschen Rechtssind, heit es in einemSchreiben des kosovarischenPremierministers Isa Mustafaan den CDU-Europaabgeord-neten David McAllister.McAllister, im EU-Parlament

    zustndig fr die Erweite-rungsverhandlungen mit Ser-bien, hatte die Regierungs-chefs des Kosovo, Albaniensund Montenegros angeschrie-ben, um zu erfahren, wie siedie deutsche Debatte bereine Verschrfung des Asyl-rechts bewerten. Die Union

    will die drei Lnder des West-balkans zu sicheren Her-kunftsstaaten erklren, wiees im vergangenen Jahr beiSerbien, Bosnien-Herzegowi-na und Mazedonien gesche-hen ist. Mehr als ein Drittelder Asylbewerber stammtaus diesen sechs Lndern, je-

    doch liegt ihre Anerken-nungsquote bei unter einemProzent. Asylbewerber, dieaus einem sicheren Her-kunftsstaat stammen, knnenschneller abgelehnt werden.Vor allem die Grnen wehrensich gegen eine Ausweitungder Zahl sicherer Herkunfts-lnder. Kosovos Premier Mustafa hat dafr kein Ver-stndnis. Im Kosovo gibt es weder politische Verfol-gung noch unmenschlicheoder erniedrigende Strafenoder Behandlungen,schreibt er. Die Antwortenvon Albanien und Montene-gro stehen noch aus. mp

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    Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskrzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel

    Spionage

    Minister reisen mit Wegwerf-HandysAus Angst vor Aussphung werden die Telefone nach der Rckkehr zerstrt.

    Weil sie frchten, ausgespht zu werden, fliegen Mitgliederder Bundesregierung und hohe Beamte neuerdings hufigermit Einweg-Handys ins Ausland darunter in die USA. DieMobiltelefone werden nach Rckkehr der Regierungsdelega-tionen zerstrt. Das Bundesamt fr Sicherheit in der Informa-tionstechnik (BSI) hatte Bundesminister, Staatssekretre undandere hochrangige Regierungsbeamte schon vor rund zehnJahren in einem Merkblatt davor gewarnt, ihre eigenen Mobil -telefone mit auf Reisen zu nehmen. Da diese vor vertrauli-chen Gesprchen oft abgegeben werden mssten, bestehe dieGefahr einer physischen Manipulation, etwa durch das heim -liche Aufspielen einer Spionagesoftware. Es sei ratsam, so dasBSI, ein unbenutztes Handy mitzunehmen und darauf die n-

    tigsten Daten zu bertragen. Die Mahnung war offenbar viel-fach in den Wind geschlagen worden. Die jngsten Enthllun-gen im NSA-Skandal fhrten nun zu einem Umdenken. Esgibt deutliche Signale, dass man sensibler geworden ist, heites in Sicherheitskreisen. Zuletzt soll die Nachfrage nach Weg-werf-Handys nicht nur vor Reisen nach China und Russlandgestiegen sein, sondern auch bei Ausflgen zu befreundetenNationen wie Grobritannien und den USA. Nicht jedes Re-gierungsmitglied scheint von der Vorsichtsmanahme ber-zeugt zu sein: Die Minister Frank-Walter Steinmeier und Sig-mar Gabriel flogen mit dem jeweils eigenen Handy nach Kubaund China. In ihrem Umfeld hie es, die Minister achteten darauf, dass ihr Handy nicht in fremde Hnde gerate. js, kn

    Auenminister Steinmeier in Wien

    Flchtlinge im Mnchner Olympiastadion

  • SPD

    Wir agieren wie in TranceDer Berliner SPD-Fraktionsvor -

    sitzende Raed Saleh, 38,

    ber die Fhrungsdebatte in

    seiner Partei

    SPIEGEL: Herr Saleh, die Grie-chenlanddebatte hat auch dieSPD verunsichert. Was istfalsch gelaufen?Saleh: Die SPD-Spitze htteGriechenland gegenbermehr Verstndnis aufbringenmssen. Privatisierungswahndarf keine sozialdemokra -tische Lsung bei einer Wirtschaftskrise sein. WillyBrandt htte sicher andereAntworten gefunden als Sigmar Gabriel. Die Partei istextrem verunsichert.SPIEGEL: Was hat Sie gestrt?Saleh: Man kann einen Wh-rungsraum nicht infrage stellen, denn dann zerbrichter sptestens im nchsten Krisenfall. Das sehen dieKonservativen anders, aberes darf nicht unser Ziel sein,die Union mit neoliberalenVorschlgen rechts zu ber-holen. Die SPD htte als Mitt-ler auftreten sollen.SPIEGEL: Die SPD ist nicht erstseit der vergangenen Woche

    in der Krise. Liegt das Pro-blem tiefer?Saleh: Der SPD ist der Kom-pass verloren gegangen. Wir drfen nicht permanentunseren Kurs wechseln. Dasnimmt uns keiner ab. Die Basis sehnt sich nach Hal-tung. Seit 152 Jahren ist dieSPD dazu da, Alternativenaufzuzeigen. Aber mittler -weile fehlt es uns an Glaub-wrdigkeit.SPIEGEL: Erfolgreiche SPD- Politiker haben stets die Mit-te vertreten.Saleh: Der Kanzlerin nach -zueifern bringt nichts. Mitteheit nicht, den politischenGegner zu kopieren. Die SPDhat den Aufprall noch nichterlebt. Wir agieren wie inTrance. Uns allen muss klar

    werden, wie ernst die Lageist. Es geht um die ber -lebensfhigkeit der Partei.SPIEGEL: Muss die SPD wiederlinker werden?Saleh: Nein, aber offener undkreativer. In Spanien habendie etablierten Sozialdemo-kraten die Entwicklungen lange ignoriert pltzlichentstand mit Podemos eineneue Partei, die groen Er-folg hatte. Die SPD muss auf-passen, dass in Deutschlandso etwas nicht passiert.SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?Saleh: Wir mssen uns frneue Konzepte und Kpfeffnen. Gesine Schwan wreso ein Kopf. Sie hat in derGriechenlandfrage klare Posi-tionen vertreten, auch gegenden Mainstream.SPIEGEL: Sollte sich die Parteiauch in Fragen wie der Kanz-lerkandidatur ffnen?Saleh: Bei der Kanzlerkandi-datur hat Sigmar Gabriel alsParteivorsitzender den erstenZugriff. Aber er muss begin-nen, sich von Merkel abzu -setzen, und ein eigenes Profilentwickeln. Wenn ich mir ei-nen Kandidaten backen knn-te, wre das eine Person wieGesine Schwan. Sie verkr-pert Haltung und Glaubwr-digkeit. gor

    Rstung

    Guter Kunde Saudi-ArabienDeutschland hat in den ers-ten fnf Monaten des Jahres2015 in groem Umfang Rs-tungsexporte nach Saudi-Ara-bien genehmigt. Dies gehtaus einer Antwort des Wirt-schaftsministeriums an dieLinksfraktion im Bundestaghervor. Demnach wurden bisEnde Mai Genehmigungenim Wert von 145 MillionenEuro erteilt; fr das gesamteJahr 2014 hatte der Wert 209Millionen Euro betragen. Beiden neuen Fllen handelt essich hauptschlich um Gter,die nur vom Militr verwen-det werden, wie Boden -prfgerte zur Wartung vonKampfflugzeugen, nicht umWaffen. Der Wert der Auf-tragsgenehmigung fr Kriegs-waffen oder Teile von ihnenbetrug rund 620000 Euro.Vor dem Hintergrund desKriegseinsatzes im Jemen,sagt der Linken-AbgeordneteJan van Aken, darf es garkeine Rstungsexporte nachSaudi-Arabien geben. gor

    19DER SPIEGEL 30 / 2015

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    Deutschland investigativ

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    Infrastruktur

    Kein Recht aufschnelles Internet Die Bundesregierung hlteine gesetzliche Verpflich-tung zum Ausbau des schnel-len Internets fr nicht um-setzbar. Einem solchen vonder CDU betriebenen Vor-haben stnden europarecht-liche Vorgaben fr den Uni-versaldienst und die Techno-logieneutralitt entgegen,schreibt die ParlamentarischeStaatssekretrin im Bundes-ministerium fr Verkehr unddigitale Infrastruktur, Doro-thee Br (CSU), in ihrer Ant-wort auf eine Anfrage desGrnen-Bundestagsabgeord-neten Harald Ebner. DieCDU-Kommission Arbeitder Zukunft, die von BrsFraktionskollegen ThomasStrobl geleitet wird, ver-spricht hingegen, einenRechtsanspruch auf einenschnellen Internetzugangeinzufhren. fri

  • 20 DER SPIEGEL 30 / 2015

    Deutschland investigativ

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    rztelobby

    Grhe fordert Gehalt zurckDie Kassenrztliche Bundes-vereinigung (KBV) steht voreinem neuen Skandal: Siehat ihrem ExvorsitzendenAndreas Khler ber Monatezu hohe Gehalts- und Pen -sionszahlungen zugestanden.Zu diesem Schluss kommteine Sonderprfung durchdas Bundesgesundheitsminis-terium. Die Beamten vonRessortchef Hermann Grheverlangen von den Kassen-rzten, Khlers Ruhegehaltneu zu berechnen und allerechtswidrigen Zahlungenvon ihm zurckzu fordern insgesamt knapp 220000Euro. Khler war bis EndeFebruar 2014 Chef der KBV.Nach deren Angaben lag

    sein Jahressalr ab Juni 2012bei rund 331000 Euro. Er-laubt waren gem einer Ab-sprache mit dem Ministeriumnur 320000 Euro. Die Beam-ten kritisieren zudem, dassKhlers Bezge nach seinemRcktritt zunchst weiterge-zahlt wurden. Das Vorstands-mitglied der KBV, ReginaFeldmann, hatte das Minis -terium gebeten, den Fall zuprfen. Sie hatte darauf hingewiesen, dass KhlersBezge von der damaligenKBV-Personalchefin ausge-zahlt wurden Khlers Ehe-frau. Die KBV hat ihre Mi -tarbeiter jetzt informiert,dass sie das Arbeitsverhlt-nis mit ihr gelst habe. Zuden internen Untersuchun-gen will sie sich nicht uern.Khler sagt, er kenne dieVorwrfe nicht. cos

    Soziologie

    Arrogante Wessis,verwhnte OssisAuch 25 Jahre nach der Wie-dervereinigung haben Brgerin Ost und West Vorurteileber die jeweils anderen. EinDrittel aller Ostdeutschenhlt seine Landsleute imWesten fr arrogant, weitverbreitet ist auch die Vor-stellung, Wessis seien besser-wisserisch und egoistisch.Umgekehrt lebt im Westenteilweise das Bild vom an-spruchsvollen, unzufriede-nen Ossi weiter, der alles haben will. Das ist das Ergeb-nis einer Umfrage des GfKVereins, die im Rahmen ei-

    ner Untersuchung des Berlin-Instituts am Mittwoch vor -gestellt wird. Auffallend ist,dass sich Ostdeutsche selbstsehr positiv sehen, als be-scheiden, fleiig und streb-sam. Die Eigenwahrneh-mung der Wessis ist nega -tiver. Die Umfragewerte sind ber die Jahre ziemlichkonstant geblieben. Aller-dings schwinden die Kli-scheebilder vom Besser -wessi und Jammerossidort, wo sich die Menschentatschlich kennenlernen, so der Direktor des Berlin-Instituts, Reiner Klingholz:Die Einheit in den Kpfenbraucht mehr als eine Generation. gt

    17 Stunden dauerte am vergangenenSonntag der Kampf des Alexis Tsipras. Ein Kampf von epischerDauer. Und von epischer Grewaren auch die Einstze, um die es in jener langen Nacht von

    Brssel ging: Das Schicksal einesganzen Volkes, eines ganzen Konti-

    nents stand auf dem Spiel. Die Siegerund der Besiegte stehen fest. Aber wer gewonnen undwer verloren hat, ist offen.

    Dieses moderne Epos geht so: Vom Rand des euro -pischen Imperiums, wo die waldigen Hgel ins Meerfallen, wird ein junger Mann ins Zentrum geschickt. Die Not in seinem Volk ist gro. Im Herzen der Machtnimmt er den Kampf gegen seine Feinde auf. Und was fr ein Kampf! Er unterliegt. Aber ein Held ist ergleichwohl. Denn es heit ja bei Shakespeare: Dochweicht selbst Herkules der bermacht.

    Die Voyeure von Springers Welt ergingen sich nach-her im journalistischen Sadismus: Merkel, Hollandeund EU-Ratsprsident Tusk knpften sich Griechenpre-mier Tsipras zweimal vor: im Beichtstuhlverfahren.Das muss man sich wohl als eine Art diplomatisches Waterboarding vorstellen, zweimal fr insgesamt mehrals sechs Stunden, jauchzte die Welt. Als dann derMorgen graute, akzeptierte Tsipras die Forderungen seiner Gegner. Er hatte keine andere Wahl, sagte einDiplomat.

    Am Ende sah es so aus, als htten alle sozialistischenHoffnungen der ganzen Welt auf den Schultern diesesMannes geruht. Als knne Griechenland, der kleineStaat am Rande des Kontinents, bitterarm, in seinenSchulden ertrinkend, in einem wundersamen Kampfdoch noch den globalen Kapitalismus besiegen. Womit?Mit der Kraft von Jugend und Hoffnung.

    Versetzen wir uns also in die Rolle dieses Alexis Tsi-pras. Er trifft in Brssel die Herren und die Herrin des Kontinents. Wie greise Drachen mssen sie ihm vor-gekommen sein. Und wie grausame Gtter. Grausamsind sie, weil ihre Forderungen gar keinen Sinn ergeben.Griechenland hat schon jetzt mehr Schulden, als es sichleisten kann. Nun werden noch neue dazukommen. DerInternationale Whrungsfonds nennt die griechischenSchulden in hchstem Mae unhaltbar. Jeder klardenkende Mensch sieht: Es wird keine Rckzahlung geben. Ein Schuldenschnitt ist zwar ntig aber erkommt nicht infrage, sagt Angela Merkel.

    Ihr Sieg mag sich eines Tages als Pyrrhussieg er -weisen. Die Griechenlandpolitik der sogenannten Insti-tutionen ist zwar gescheitert aber sie wird fortgesetzt.Die Regeln mssen eingehalten werden. Was sie be -wirken, ist Nebensache. Dass sie gelten, alles. Merkelund Schuble handeln mit kleistschem Furor: Fiat iusti-tia et pereat mundus es geschehe Recht, auch wenndie Welt darber zugrunde geht. Ganz gleich, wie es um seine Zukunft bestellt ist: Darin liegt das tragischeund das heroische Moment im Kampf des Alexis Tsipras er muss sich der berlegenen Macht der Unvernunftgeschlagen geben.

    An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein und Jan Fleischhauer im Wechsel.

    Jakob Augstein Im Zweifel links

    Alexis, der Held

    DDR-Brger nach der Grenzffnung 1989

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  • 22 DER SPIEGEL 30 / 2015

    Deutschland investigativ

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    Am vergangenen Mittwoch ereignete sich im Rahmen desGut leben in Deutschland benannten Brgerdialogs mit derBundeskanzlerin eine Szene, die augenblicklich alle sozialenNetzwerke beschftigte und die in keinem Jahresrckblickfehlen wird. Die Kanzlerin trat in einen Dialog mit der zwlf-jhrigen Palstinenserin Reem, die seit vier Jahren mit ihrerFamilie in Deutschland lebt und in Rostock zur Schule geht.Reems Leben in Deutschland ist nicht gut: Ihre Familie lebtmit der Furcht vor Abschiebung, und ihr Vater darf nicht arbeiten. Reem mchte in Deutschland studieren, aber ihreChancen dafr stehen nicht gut. Der Liba-non gilt als sicher, diese Herkunft begrndetkeinen Flchtlingsstatus. Als die Kanzlerinversucht, vom Einzelfall zur allgemeinen Re-gel berzuleiten, nach der nun mal nicht allekommen knnen, die das mchten, fngt dasMdchen an zu weinen. Merkel tritt zu ihrund will ihr, etwas unbeholfen und bemht,nicht bergriffig zu werden, ber den Kopfstreicheln. Sie sagt: Das hast du doch primagemacht. Der Moderator schenkt der Kanz-lerin nichts und belehrt sie sofort, um primagehe es nicht, sondern das Leben des Md-chens sei eben belastet. Die Kanzlerin be-lehrt nun den Belehrenden, das sei ihr wohlbewusst, und streichelt die Schulter des Mdchens, es ist ein Bad aus warmen Gesten und khlen Gedanken. Merkeltrstet nicht, bedauert nur die Lnge des Asylverfahrens.Der Zuschauer folgert: Wenn man diese Familie frher ab -geschoben htte, wren gar keine Hoffnungen gekeimt, dienun enttuscht werden.

    Die Szene hinterlsst ein unangenehmes Gefhl. Viele ha-ben Merkel ihre Klte vorgeworfen. Wenn es nur das wre:Die Bundeskanzlerin ist stets bemht, die Wnsche der Br-ger zu erfllen, und wrde, wenn die Demoskopen das emp-fehlen, ihr Image im Hinblick auf mehr Empathie optimieren.Aber dass es nicht so ist, fhrt uns zu dem grundlegenderenProblem, denn in Wahrheit verhlt sich Merkel auftragsge-m. Gut, so auf offener Bhne macht es sich natrlich garnicht gut. Da soll die mchtigste Frau Europas, mit einemweinenden Kind konfrontiert, bella figura machen. Man will

    sich ja nicht schmen mssen. Die Erwartung wre also ge-wesen, dass die Kanzlerin wie eine Monarchin agiert und dasMdchen erlst, sie und ihre Familie in einen sicheren Statusberfhrt, so wie Knige Gnade walten lassen konnten. Inunserem Land ist ihr das aber nicht mglich. Soll sie, wieBerlusconi, dem Kind und den Zuschauern etwas vormachenund Deutschland besser machen, als es ist? Die Sache nachder Veranstaltung diskret begraben? Bei der Wahrheit wollteMerkel bleiben, und damit hat sie den Fernsehmoment rui-niert. Sie agierte khl und, ganz bewusst, uncool.

    Sie wei nur zu gut, fr wen sie Politikmacht. Das ist die Generation der Babyboo-mer, der es um Ruhe und Besitzstnde geht,die dem Wunsch nachhngen, das ganzeLand und vor allem ihre eigene Lebensleis-tung zum Weltkulturerbe zu erklren. Ausdieser Altersgruppe kommen die Aktiven inden Parteien und die entscheidenden Wh-ler. Es kommt bei denen nicht so gut an,wenn die Kanzlerin in so einem Moment dasSignal zur groen Migration gibt. Das warMerkels Abwgung. Sie wei, gut leben inDeutschland bedeutet fr viele Deutsche:Besser leben ohne euch, die ihr von woan-ders kommt.

    Um bei den jungen Leuten in der Aula gut anzukommen,htte sie die Perspektive erweitern, die Arme ausbreiten knnen. Warum hat sie Reem und ihre Familie nicht nachBerlin eingeladen oder sie aufgefordert, ihr zu schreiben?Warum hat sie nicht den Petitionsausschuss erwhnt? Sie htte darber hinaus beschwren knnen, was der Libanonwar und auch wieder werden kann. Sie htte auch schlichtfeststellen knnen, dass Deutschland altert und sich glck-lich schtzen darf, wenn solche Mdchen wie Reem hier -bleiben mchten. Diese Wege, den Kindern Hoffnung zumachen, denn es gibt guten Grund zur Hoffnung trotz allem,beschritt sie nicht. Sie sprach einzig und allein von der Ver-krzung der Verfahren. Das ist manchmal auch hart, Poli-tik, sagte die Kanzlerin, und genau das wollen ihre Anhn-ger hren. Sie wollen es aber nicht unbedingt sehen.

    Nils Minkmar

    Merkel mit Schlerin Reem

    Einwurf

    Merkel streichelt MdchenBeschleunigte Verfahren trsten Whler, keine Kinder.

    Sozialpolitik

    Teures Wohngeld

    Die Erhhung des Wohn-gelds wird die Sozialbudgetsmit mehr als 770 MillionenEuro belasten. Zu diesem Er-gebnis kommt das Nrnber-ger Institut fr Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB).Anfang Juli hatte der Bun-destag beschlossen, ab 2016das Wohngeld um durch-schnittlich 39 Prozent anzu-heben. Profitieren sollen da-von rund 866000 Haushalte.Die IAB-Forscher haben bei

    ihren Berechnungen berck-sichtigt, dass die hherenWohngeldbetrge die Ein-kommen steigern. Dadurchwerden rund 16000 Haushal-te nicht mehr auf Hartz IVangewiesen sein; der Bundwird 3 Millionen Euro Ar-beitslosengeld II und 78 Mil-lionen Euro bei den Kostenzur Unterkunft sparen. Weilzugleich aber die Einkom-mensgrenze angehoben wird,bis zu der man Wohngeld er-halten kann, wird die Zahlder Empfngerhaushalte umrund 440000 steigen. mad

    Unglcke

    Erdrutsch-UrsacheungeklrtSechs Jahre nach dem schwe-ren Bergrutsch im sachsen-anhaltischen Nachterstedtmit drei Toten ist die Unfall-ursache nicht eindeutig geklrt. Der ffentlichkeit waren 2013 zwei Gutachtenprsentiert worden, in denenein gespannter Liegendwas-serdruck an dem Tagebau-restloch als Unfallursache an-gegeben wurde. Unverffent-licht blieb eine sptere Stel-

    lungnahme des Landesamtsfr Geologie und BergwesenSachsen-Anhalt, das beideGutachten kritisch auswerte-te. Fazit: Eine jeden Zweifelausrumende Ursachener-mittlung war nicht mglich.Man habe die Schlsse derGutachter nicht wider-spruchsfrei nachvollziehenknnen. Das MagdeburgerWirtschaftsministerium er-klrt, das interne Papier seifr den fachlichen Austauschder Bergbehrde mit demBergbausanierer LMBV be-stimmt gewesen. stw

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  • 24 DER SPIEGEL 30 / 2015

    Kanzlerin Merkel auf dem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe zur Griechenlandkrise in Brssel

    Das DiktatEuropa Wolfgang Schuble und Angela Merkel ringen ganz offen um den Kurs inder Europolitik zum Schaden Deutschlands. Um den Finanzminister zu besnftigen,verstrt die Kanzlerin die europischen Partner mit einer kleinlichen Politik.

    Deutschland

  • Es gibt Tage, an denen die Mitarbeitervon Wolfgang Schuble am liebstenwoanders wren. In Timbuktu viel-leicht. Oder auf der Akropolis. Auf jedenFall weg. Ganz weit weg. Am vergangenenDonnerstag rollt der Bundesfinanzministerin den Aufzug im Berliner Reichstags -gebude. Er ist gereizt, er muss gleich inden Europa-Ausschuss, wo er jenen Ret-tungsplan fr Griechenland verteidigensoll, den er fr falsch hlt. Grottenfalsch,wie er sagen wrde.

    Schuble lehnt sich in seinem Rollstuhlzur Seite und fhrt sich mit der Handdurchs Gesicht. Was ist mit dem Terminum 17.30 Uhr?, will er wissen. Steht imPlan, sagt sein Mitarbeiter, der sich sofortwnscht, woanders zu sein. Im Plan?Wenn Schuble zornig ist, wird er nichtlaut, er zieht dann die Vokale lang wieein Gummiband. Plaaaaan sagt er undherrscht seinen Untergebenen an: RufenSie im Vorzimmer der Kanzlerin an undfragen Sie, wo das ist.

    Dann atmet er ein, zeigt sein Kmpfer-lcheln und macht eine Drehung mit demRollstuhl. Er muss jetzt in die Schlacht zie-hen, wie er sie in seinem langen Politiker-leben noch nie geschlagen hat: gegen diegriechische Regierung, gegen amerikani-sche konomen und groe Teile der f-fentlichen Meinung in Europa und einwenig auch gegen die Kanzlerin.

    Ginge es nach Schuble, htte Deutsch-land den Griechen schon lngst den Wegaus dem Euro gewiesen. Sein Drama istnur, dass die Kanzlerin nicht so will wieer. Merkel verweigert sich seinem Drngen,weil sie nicht als Regierungschefin in dieGeschichte eingehen will, die verantwort-lich ist fr das Auseinanderfallen Europas.

    Jeden anderen Minister htte Merkelwahrscheinlich vor die Tr gesetzt, wenner sich derart beharrlich ihrer Linie ver-weigert htte. Aber bei Schuble geht dasnicht. Denn gerade seine harte Linie machtihn bei den Deutschen so beliebt.

    Auerdem geniet Schuble eine ArtSonderstellung in Merkels Kabinett: Er ge-hrt seit 1972 dem Bundestag an, er dienteHelmut Kohl als Innenminister und Frak-tionschef, er handelte im Sommer 1990den Einigungsvertrag aus, und wurde kur-ze Zeit spter von einem psychisch Kran-ken zum Krppel geschossen. Schuble istnicht einfach ein Politiker, er ist ein Stckdeutsche Geschichte und deshalb unan-tastbar. Er besitzt sogar die Chuzpe, Mer-kel mit Rcktritt zu drohen, sollte sie ihnzwingen, gegen seine berzeugung zuhandeln: Wenn das jemand versuchenwrde, knnte ich zum Bundesprsidentengehen und um meine Entlassung bitten,sagt er im SPIEGEL-Gesprch (Seite 30).

    Aber die Freiheit des Methusalem wirdnun zum Problem fr Merkel. Der Euro-gipfel am vergangenen Wochenende wre

    25DER SPIEGEL 30 / 2015

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  • Deutschland

    auch deshalb um ein Haar gescheitert, weilSchuble so harte Forderungen aufgestellthatte. Der Finanzminister, der so viel frdie europische Einigung getan hat, dererst vor drei Jahren den Aachener Karls-preis fr seine Verdienste um die Integra-tion des Kontinents gewonnen hat, gilt nungerade im Sden als Inbegriff des hss -lichen Deutschen. Auch das ist das Dramades Wolfgang Schuble.

    In den vergangenen Jahrzehnten war esimmer die deutsche Aufgabe, in Europazu vermitteln; nur wenn Deutschland dieeigenen Interessen erst einmal zurckhielt,gelang es, einen Ausgleich zu finden indiesem schwierigen Geflecht Europa, wosich der katholische Sden und der protestantische Norden treffen, die regel-fixierten Deutschen und die anarchischenGriechen. Niemand hat diese Regel mehrverinnerlicht als Schuble. So schien eszumindest. Nun prsentiert sich die deut-sche Europapolitik als eine merkwrdigeMischung aus Unentschlossenheit und Bru-talitt. Und fr den brutalen Part istSchuble zustndig.

    Nun war es zwar zweifellos richtig, Grie-chenland zu strengen Reformen zu zwin-gen. Nur so war es mglich, Lnder wiedie Slowakei und Lettland berhaupt nochdazu zu bewegen, neues Geld lockerzu -machen. Doch der Brsseler Marathongip-fel vom vergangenen Wochenende brachtenicht einfach nur ein neues Hilfspaket frGriechenland hervor. Auf ihm prsentiertesich ein neues Deutschland, und dieses hatein eher unschnes Gesicht.

    Schuble brachte die Idee ins Spiel, Grie-chenland aus dem Euro zu befrdern. Eswar ein Tabubruch. Ausgerechnet die Bun-desrepublik, deren Aufstieg so eng ver-knpft ist mit der Solidaritt und dem Ver-zeihenknnen der Nachbarn, weist einemLand der Eurozone die Tr.

    Der Gipfel ist deshalb nicht nur eine Z-sur in der deutschen Europapolitik. Er be-schreibt auch die Tragdie von Merkel undSchuble, die aneinandergekettet sind,aber zunehmend gegeneinanderarbeiten.

    Das Unglck nimmt am Donnerstag ver-gangener Woche seinen Lauf. Im Kanzler-amt trifft sich eine Runde aus Spitzenleu-ten der Koalition, Merkel ist da, Schuble,SPD-Chef Sigmar Gabriel und Auen -minister Frank-Walter Steinmeier. Es gehtdarum, ein Zerwrfnis mit Frankreich zuverhindern, die Runde bert aber auchber die Frage, wie man mit Griechenlandverfahren will, wenn es sich den Reform-auflagen der Glubiger verweigert.

    Schuble schlgt fr diesen Fall einenzeitlich befristeten Grexit vor. Merkel unddie SPD-Leute stimmen zu, aber fr sie istes nicht mehr als ein Gedankenspiel, dennGriechenland, so ist ihre berzeugung,werde niemals freiwillig einem Grexit zu-stimmen.

    26 DER SPIEGEL 30 / 2015

    Kontrahenten Merkel, Schuble

    Mischung aus Unentschlossenheit und Brutalitt

  • Am darauffolgenden Freitagabend ver-schickt Schubles Staatssekretr ThomasSteffen ein Papier mit dem Titel Com-ments on the latest Greek proposals anmehrere Kollegen, unter anderem nachDen Haag zu Euro-Gruppen-Chef JeroenDijsselbloem. Unter Punkt 2 heit es, fallsAthen den Forderungen der Glubigernicht nachkomme, lege man dem Landeine Auszeit von der Eurozone von min-destens fnf Jahren nahe.

    Schuble und seine Leute verstehen ihren Vorschlag als Angebot, einen Grexitkooperativ zu lsen, so sagen sie es zu-mindest offiziell. Doch Schuble signali-siert den Griechen auch, dass er in derRunde der Finanzminister eine Mehrheitfr den Grexit organisieren knnte auchgegen den Willen Athens.

    Als Schuble am Samstagmorgen inBrssel landet, muss er zur Kenntnis nehmen, dass seine Vorschlge nicht in dasArbeitspapier der Minister bernommenworden sind. Es ist nicht ganz klar, werdahintersteckt, Italien zum Beispiel oderFrankreich, beides Lnder, die sich striktgegen einen Rauswurf Griechenlands ver-wahren. Schuble ist auer sich.

    Bei einem Treffen der EuropischenVolkspartei spricht sich Schuble erst ein-mal mit seinen konservativen Minister -kollegen ab. Die meisten favorisieren wieSchuble einen Grexit. Die Mnner he-cken einen Plan aus, wie man Griechen-land zum Austritt ntigen knnte. Die Mi-nister verabreden, die Bedingungen fr eindrittes Hilfspaket so hart zu formulieren,dass die griechische Regierung es niemalsakzeptieren kann. Als Mittel, Griechen-land aus dem Euro zu drngen, hatte sichSchuble einen sogenannten Treuhand-fonds ausgedacht, in dem alle griechischenPrivatisierungserlse flieen sollen. Dasist fr den griechischen Premier Alexis Tsi-pras schon Zumutung genug. Aber diekonservativen Ressortchefs wollen darberhinaus verlangen, dass der Fonds auchnoch am Bankenplatz Luxemburg ange-siedelt werden soll. Fr Tsipras eine For-derung, die er unmglich schlucken kann.

    Als Schuble spter in die Euro-Grup-pen-Sitzung kommt, kann er zumindesteinen Etappensieg verbuchen. Es gelingt,sowohl die Grexit-Idee als auch das Fonds-modell in das Abschlusspapier zu bugsie-ren, beide Vorschlge stehen allerdings ineckigen Klammern. Das heit: Die Finanz-minister waren sich darber nicht einig.Aber immerhin: Die Staats- und Regie-rungschefs bekommen eine Vorlage aufden Tisch, in der offiziell von einer Euro-zone ohne Griechenland die Rede ist.

    Als Schubles Vorschlag eines Grexitsauf Zeit ffentlich wird, gibt es emprteReaktionen. In Richtung Deutschlandsage ich: Genug ist genug, sagt ItaliensRegierungschef Matteo Renzi. Luxemburgs

    Auenminister Jean Asselborn und dersterreichische Kanzler Werner Faymannklagen, Schuble wolle ganz offensichtlicheinen Partner demtigen.

    Nun dmmert Merkel und ihren Leuten,wie viel Sprengstoff in Schubles Ideesteckt. Sie steht pltzlich in ganz Europaals eine Kanzlerin da, die Griechenlandaus dem Euro werfen will.

    Als der Gipfel am Sonntag gegen 16.15Uhr beginnt, ist die Stimmung gedrckt.Ratsprsident Donald Tusk erffnet dieSitzung mit der Frage, ob man sich einigsei, einen Grexit verhindern zu wollen.Reihum bejahen das die Chefs, auch Merkel.

    Allerdings soll das Papier der Finanz-minister die Arbeitsgrundlage fr die Ver-handlungen bleiben. Merkel lehnt den Vor-schlag von Tusk ab, ein krzeres Papierzu formulieren. Die Kanzlerin will Grie-chenland halten und gleichzeitig den Wn-schen Schubles entsprechen. Es ist einfast unmglicher Spagat. Merkels Unent-schlossenheit belastet von Anfang an denGipfel. Tusk merkt schnell, dass es keinenSinn ergibt, in der groen Runde zu de-battieren.

    Er beruft eine Viererrunde ein, die indieser Nacht dreimal verhandeln wird:Tusk, Tsipras, Merkel und FrankreichsStaatsprsident Franois Hollande. Manzieht sich in den Salon du Prsident imachten Stock des Ratsgebudes zurck.Tsipras bittet darum, dass er seinen Fi-nanzminister Euklidis Tsakalotos dazu -holen darf. Merkel sagt, dann msse auchSchuble kommen. Fr einen Moment ver-schlgt es Tusk und Tsipras die Sprache.Erst dann merken sie, dass die Kanzlerineinen Scherz gemacht hat.

    Tsakalotos darf herein, Schuble bleibtdrauen. 17 Stunden dauern die Verhand-lungen, bis 9 Uhr am Montagmorgen. Ge-gen 4.15 Uhr, die Staats- und Regierungs-chefs sind gerade wieder in groer Rundezusammengekommen, sieht es zum erstenMal nach einer Einigung aus. Optimismusmacht sich breit. Doch dann sagt Tsipras,er msse ein paar Telefonate mit Athenfhren: mit dem griechischen Staatsprsi-denten und einigen Parteichefs. Als er zu-rckkommt, sagt er, dass er alle Punktezhneknirschend annnehmen knne, nichtaber Schubles Privatisierungsfonds. Dersei absolut inakzeptabel.

    Tusk unterbricht zum dritten Mal underhht den Druck. Schlielich erklrt Mer-kel sich einverstanden, dass Griechenlandeinen Teil der Erlse fr Investitionen ver-wenden darf. Doch wegen der Hhe diesesAnteils kommt es zum Streit. Tsipras for-dert 50 Prozent, Merkel will nur 10 Pro-zent. Es ist jetzt wie auf einem Basar. Hol-lande, Tusk und der niederlndische Pre-mier Mark Rutte schlagen 25 Prozent vor,also 12,5 Milliarden. Tsipras und Merkel

    lehnen ab. Merkel sagt, man solle sich ver-tagen und am Mittwoch einen neuen Euro -gipfel einberufen. Es ist der Moment, andem die Gefahr eines Grexit noch einmalganz nah kommt. Schuble wre am Zielgewesen.

    Doch Tusk lehnt eine Vertagung kate-gorisch ab. Er sagt, wenn man jetzt ohneEinigung auseinandergehe, dann werde erdas Scheitern der Verhandlungen verkn-den. Alle htten doch bereits einem 86-Milliarden-Euro-Hilfspaket zugestimmt.Da knne es doch nicht wegen ein paarMilliarden mehr oder weniger zur Kata-strophe komme. Gegen sechs Uhr morgensruft Euro-Gruppen-Chef Dijsselbloem beiSPD-Chef Gabriel an. Er bittet um Hilfe.Gabriel telefoniert mit Merkel und Hol-lande. Dijsselbloem wird spter vor derSPD-Bundestagsfraktion sagen: Auf ein-mal ging, was vorher unmglich schien.Schlielich stimmen Merkel und Tsipraszu. Der Gipfel ist gerettet.

    Die Griechenlandkrise ist damit aller-dings noch nicht abgewendet. Mit dem Pa-pier von Brssel wird Athen faktisch zueinem Mndel der Eurozone, die Regie-rung muss die Renten krzen und die Steu-ern anheben. Von nationaler Souvernittkann das Land allenfalls trumen. Als Merkel auf der Pressekonferenz nach den17-stndigen Verhandlungen gefragt wird,wo eigentlich Tsipras Handschrift erkenn-bar sei, sagt sie: Die gibt es, und zwar inForm des hohen Finanzmittelbedarfs.

    Vor allem aber wird Schuble weiter da-rauf drngen, dass Griechenland den Euroverlsst. Ein klares Bekenntnis zu Athenjedenfalls ist von ihm nicht zu vernehmen.Schuble ist es, der die konkreten Bedin-gungen fr das nchste Hilfspaket aushan-deln muss, und nach Lage der Dinge wirder jede Gelegenheit nutzen, Tsipras dasLeben schwer zu machen.

    Aus Schubles Sicht ist sein Drngenauf einen Grexit nicht europafeindlich,sondern ein Dienst an der Gemeinschaft.Er glaubt, das Griechenland nicht die Vo-raussetzungen mitbringt, um ein verant-wortungsvolles Mitglied der Eurozone zusein; ein Land, das nicht mal ber einefunktionierende Steuerverwaltung verfgt,dann aber einen Finanzminister wie YanisVaroufakis berief, der es sich zur Aufgabemachte, ganz Europa mit seinem volks-wirtschaftlichen Vortrgen zu belehren.

    Natrlich wei Schuble, dass er anMerkel nicht vorbeikommt; wenn sie sichsperrt, wird es keinen Grexit geben. An-dererseits hat er die Stimmung in der Union auf seiner Seite, und er verfgt, wasdie Europapolitik angeht, ber mehrGlaubwrdigkeit als Merkel, die nie denVerdacht loswurde, ihr fehle die rechte Lei-denschaft.

    Das macht es fr die Kanzlerin jetzt soschwierig. Ihr fehlen die Mittel, Schuble

    27DER SPIEGEL 30 / 2015

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  • zu disziplinieren. Sie merkt ja, wie vielrger der Finanzminister in ganz Europaauf sich zieht. Frankreichs Prsident Hol-lande beklagte sich krzlich in kleinerRunde, dass sich Merkel beim Thema Grie-chenland niemals festlege. Und sie habesich auch nie von Schuble und dessenGrexit-Plnen distanziert. Nicht einmal inVieraugengesprchen.

    Die Eurokrise treibt einen Keil zwischenBerlin und Paris. Hollande versucht mit al-len Mitteln, einen Grexit zu verhindern notfalls auch, indem er hinter dem Rckender Deutschen arbeiten lsst. Eigentlichwaren Hollande und Merkel nach dem grie-chischen Referendum vor zwei Wochenbereingekommen, dass Athen eigene Re-formvorschlge machen msse.

    Entsprechend berrascht waren MerkelsLeute, als sie erfuhren, dass Hollande demgriechischen Premier Berater an die Seitegestellt hatte, um ein Reformpapier zu ver-fassen. Der Plan, franzsische Beamtenach Athen zu schicken, war schon vorsechs Wochen entstanden. Am 2. Juni hat-ten sich die sozialdemokratischen Regie-rungschefs von Frankreich, Schweden,sterreich sowie Gabriel und EU-Parla-mentsprsident Martin Schulz in Evry beiParis getroffen, um ber eine Lsung frGriechenland zu beraten.

    Der franzsische Premier Manuel Vallsschlug vor, franzsische Finanzbeamtenach Athen zu schicken, um der dortigenRegierung beim Erarbeiten eines Hilfs -antrags zur Seite zu stehen. Faymann, Ga-briel und Schulz stimmten zu.

    Nun, nach dem Gipfel, sieht sich Merkelin einer Rolle, die sie eigentlich nie habenwollte. Sie ist die Frau, die Europa ihrenWillen aufgezwungen hat. Der franz -sische Prsident hat sich sehr fr eine Lsung eingesetzt, sagt der sterrei-chische Bundeskanzler Faymann. ber

    * Vor der deutschen Botschaft am Belgrave Square.

    Merkel verliert er solch lobende Wortenicht.

    Deutschlands Verhltnis zur Macht warseit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im-mer prekr. Das hing mit seiner Mittellagezusammen, mit seiner Abscheu vor demEinsatz militrischer Macht, aber vor al-lem mit der NS-Vergangenheit. Jedes Auf-trumpfen, jedes scharfe Wort stand sofortim Verdacht, in Deutschland kmen wie-der alte Gromachtsgelste auf.

    Die Antwort der deutschen Politik aufdieses Problem war der Einsatz von softpower. Deutschland fhrte den Kontinentnicht durch Befehl, sondern durch ber-zeugung und Kooperation. Alle Kanzlersetzten, wenn es in europapolitischen Fra-gen wichtig wurde, auf die Zusammen -arbeit mit Frankreich, diese Achse verhin-derte auch die Spaltung zwischen dem nor-dischen, protestantischen Europa und demkatholischen Sden.

    Hier droht nun die Bruchlinie. Im Frh-jahr 2013 schrieb der italienische PhilosophGiorgio Agamben einen Aufsatz fr dieZeitung La Repubblica, in dem er daslateinische Imperium als Herz Europasbeschwor, das sich der Dominanz Deutsch-lands widersetzt. Damals wirkte das wiedie Idee eines berdrehten Essayisten, abernun wird immer klarer, dass sich der Sdendes Kontinents der Germanisierung immermehr widersetzt.

    Merkels Leute spren diese Stimmung.Vor ein paar Monaten sinnierte NikolausMeyer-Landrut in kleiner Runde ber dievernderte Rolle Deutschlands in der Eu-ropischen Union. Meyer-Landrut war vierJahre lang Merkels europapolitischer Be-rater. Er wird jetzt deutscher Botschafterin Paris.

    Meyer-Landrut wei, dass er einen Rufals zher Verhandler hat. Aber erst mitBeginn der Eurokrise huften sich die Kla-gen im Ausland ber ihn. Der Kanzler -berater prsentiere seine Forderungen in

    rdem Ton, hie es. Er hre nicht zu undnehme keine Rcksicht auf Empfindlich-keiten. Er glaube nicht, dass er sich vern-dert habe, sagte Meyer-