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Steig ein, rein! lieS LESEPROBEN FRüHJAHR/ SOMMER 2014

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014

leseproben

frühjahr/sommer2014

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Seien Sie gewarnt ...

. . . DEATH hat Suchtpotential! Die neue Kultdroge verschafft einem die beste Zeit

seines Lebens. Den absoluten Kick. Es gibt keine Grenzen, alles ist mÇglich – fÅr

eine Woche. Denn Death ist tÇdlich. Burgess’ vielschichtiger, dystopischer Thriller

wird Sie von der ersten Seite an in seinen Bann ziehen. Er erspart seinen Lesern

nichts – und schreibt dennoch Åber das, was das Leben lebenswert macht.

Genauso sÅchtig machend, aber viel mehr schrullig-charmant, witzig und so origi-

nell wie ein kochsendungssÅchtiger Sofadrache ist DebÅtautorin Veronica Cossan-

telis WILDER WURM ENTLAUFEN. Einfach das beste und wirksamste Mittel ge-

gen Langeweile und schlechte Laune – sogar fÅr Erwachsene.

Unser GIFTSCHMECKER hat genau die richtige Dosis, um Sie in eine abenteuerli-

che Welt voller Schießpulver, Giftmischer und wilder Verfolgungsjagden zu stÅr-

zen. Mit Spannung und einem Schuss Romantik mixt Fletcher Moss seinen ersten

Roman zu einem außergewÇhnlich atmosphirischen und geheimnisvollen Gebriu.

Ebenso atmosphirisch, aber nicht weniger gespenstisch geht es in WETTLAUF IN

DER NACHT zu. Ein packender, actionreicher Zeitreise-Roman, der Sie noch in Ih-

ren Triumen begleiten wird. Reisen Sie lieber in ferne Linder? Dann begleiten Sie

Sienna und Langlang IM ZEICHEN DER FEUERSCHLANGE auf der Suche nach

ihren unsichtbaren Begleitern ins exotische China. Oder erleben Sie mit DUNKEL-

ROTE ERDE an der Seite von Sophie und einem Bonobo-Baby eine gefahrvolle

Odyssee durch den Kongo. Ein zutiefst bewegender und verstÇrend schÇner Ro-

man Åber Gefahr, Verantwortung und Mut.

Have a look, pick your book!

Ihr Chicken House-Team

Vorwort

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Alle Titel sind auch als E-Book erhiltlich.

Unsere digitalen Leseproben finden Sie unter www.chickenhouse.de/leseproben_handel

Die Texte sind den FrÅhjahrs/Sommer-Neuerscheinungen von Chicken House entnommen.

Dabei handelt es sich zum Teil um unlektorierte und gekÅrzte Textproben.

Alle BÅcher entstammen dem Publikationszeitraum Mirz 2014 bis August 2014.

Die Formate beziehen sich auf die Außenmaße des Buches.

Preise und Seitenzahlen sind vorliufige Angaben.

Chicken House-BÅcher im Carlsen Verlag

p CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2013

Umschlag und Deckblitter von bell ltage, Hamburg

Redaktion: Laura Thielmann

Herstellung: Britta Enders

Druck und Bindung: Griebsch & Rochol Druck, Hamm

Printed in Germany

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Kinderbuch

Veronica Cossanteli Wilder Wurm entlaufen S. 7

Barbara Laban Im Zeichen der Feuerschlange S. 24

Jugendbuch

Lucy Christopher Kiss me, kill me S. 33

Fletcher Moss Der Giftschmecker S. 45

Eliot Schrefer Dunkelrote Erde S. 60

Thomas Taylor Wettlauf in der Nacht S. 73

Melvin Burgess Death S. 84

Inhalt

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Eine tierisch gefGhrliche Farm

Ein Job muss her, und zwar schnell! George braucht ein

neues Rad und er wird sich auf gar keinen Fall auf das

peinlich pinke Gefihrt seiner großen Schwester setzen.

Seine Freunde wÅrden sich ja totlachen. Hunde ausfÅh-

ren ist irgendwie auch nicht das Richtige. George will

was Aufregendes, Abenteuerliches, und mit einem fetten

Mops durch die Gegend zu spazieren ist nicht das, was

ihm vorschwebt. Da klingt der Aushilfsjob auf der

Wormestall Farm eindeutig spannender. Dort gibt es ein

Schwein mit zwei KÇpfen, einen Baby-Kraken und jede

Menge andere Wesen, von denen niemand wissen darf.

Denn sie sind gefihrlich. Deshalb ist es auch eher un-

gÅnstig, dass Mortifer, der Riesenwurm, entlaufen ist . . .

»Eine wahnsinnig fantasievolle Geschichte mit großarti-

gen Charakteren.«

The Bookseller

Die Autorin

Veronica Cossanteli wuchs in Hampshire und Hong Kong

mit den verschiedensten Tieren auf – ein imaginirer Di-

nosaurier durfte sogar in ihrem Bett schlafen. Sie arbei-

tet als Lehrerin an einer Grundschule in Southampton,

wo sie mit drei Katzen, zwei Schlangen, einem Meer-

schweinchen und zahlreichen Eidechsen lebt.

Kinderbuch ab 9 Jahren

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Kapitel 1

Der ganze Stress fing mit 3.72 £ an.

Nur konnte ich natÅrlich nicht wissen, dass es 3.72 £ waren, bis

ich das Hkufchen MÅnzen, das auf dem nassen Straßenpflaster ver-

streut lag, aufgehoben und gezkhlt hatte.

George Drake, das ist dein GlÅckstag!, sagte ich mir. Drei Treffer beim

Bumper Bowling mit Josh und Matt und jetzt auch noch Gratisgeld!

Ich ließ die MÅnzen aus meiner Hand in meine Hosentasche rie-

seln und stieg auf mein Fahrrad.

Was macht man mit 3.72 Pfund? SÅßigkeiten kaufen natÅrlich,

wenn man George Drake heißt.

Das Schild Åber dem SÅßkramladen verkÅndete großspurig: Filling

and Dentcher’s Corner Emporium – was ungefkhr »Plomben- und Ge-

bisschen-SÅßwareneck« heißt. Dort gibt es einfach alles. Und weil

die Fillings so altmodische hohe Bonbonglkser voller SÅßkram ha-

ben, den sie in kleinen PapiertÅtchen abwiegen, heißt der Laden

Åberall nur »SÅßkramladen«. Ich war gerade auf einer Kkse- und

Zwiebelchips-Mission fÅr Frankie, als ich den Aushang im Fenster

entdeckte. Die Karte war mit großen, schnÇrkeligen grÅnen Buch-

staben beschriftet und steckte zwischen einer Verkaufsanzeige fÅr

einen gebrauchten Toaster (Funktioniert fast/Preis Verhandlungssache)

und einem verwackelten Foto von einer dicken Tigerkatze mit wei-

ßen Pfoten (Hat jemand meinen Snuffy gesehen? 100 £ Belohnung).

Veronica Cossanteli, Wilder Wurm entlaufen

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Der Text ging so:

DRINGEND HILFE GESUCHT

NATURLIEBE UND INTERESSE AN WILDTIEREN VORAUSSET-

ZUNG

MUSS DER/DIE RICHTIGE FeR DEN JOB SEIN

ANTWORTEN BITTE AN MRS LIND, WORMESTALL FARM

KEINE SQUAMOPHOBEN

Ich studierte den Zettel so lange, bis ich ihn Wort fÅr Wort auswen-

dig konnte.

An der Kasse musste ich anstehen, um meine Chips zu bezahlen.

Vor mir war Crazy Daisy dran, die wieder mal Lotterielose kaufte.

Daisy hat funkelnde Knopfaugen und Haare wie Reisnudeln unter

ihrer wollenen OhrenklappenmÅtze, die sie immer aufhat, sommers

wie winters. Sie lebt mit ihrem kleinen Hund Doom – was »Welt-

untergang« heißt – auf einer Parkbank und brÅllt allen Leuten zu,

dass die Welt bald untergeht. Manchmal wirft ihr jemand ein biss-

chen Kleingeld zu, das sie sofort fÅrs Lottospielen ausgibt. Keine Ah-

nung, warum. Ich meine, was nÅtzt ihr eine Million im Lotto, wenn

die Welt doch sowieso bald untergeht?

Daisy kaufte jedenfalls drei Lose und ein Eiersandwich und zkhlte

das Geld hin, Penny fÅr Penny und Zwei-Pence-StÅck fÅr Zwei-Pen-

ce-StÅck. Das konnte noch dauern. Und weil ich nichts Besseres zu

tun hatte, las ich die Titelseite des Squermington Echo.

In Squermington passiert fast nie was. fffentliche Toilette wegen Re-

novierung geschlossen. Na und? Garten-Wettbewerb »BlÅhendes Para-

dies«. Gkhn. Skrupellose Tierdiebe am Werk? Polizei warnt Tierbesitzer

vor mysteriÇsen Tierdieben. Nur schade, dass die Tierdiebe nicht

Franks WÅstenrennmaus Drakula klauten, dieses bissige kleine Fell-

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knkuel – je eher, desto besser, wenn es nach mir ging. RIESEN-

REPTIL GESICHTET! Kehrt der legendare Wyrm von Squermington zu-

rÅck? Mehr darÅber auf Seite 3 . . .

Das klang schon besser und ich schlug Seite 3 auf.

Miss Holly Sparrow und ihre Freundin Miss Ruby Jenkins hatten kÅrz-

lich eine seltsame Begegnung. Sie waren auf dem Heimweg vom Kino, und

als sie an der Gemeindebibliothek von Squermington vorbeikamen, sahen

sie gerade noch die Schwanzspitze einer riesigen schlangenahnlichen Krea-

tur im Dunkeln verschwinden.

»Wir haben nur den Schwanz gesehen«, berichtet Holly. »Aber der war

riesig! Echt Wahnsinn. Ruby hat sich vor Angst fast in die Hose gepinkelt.

Dann ist das Ding hinter dem Fish & Chips Shop verschwunden und wir

sind weggerannt.«

Seltsamerweise wurde kein Tier dieser GrÇße vom Zoo oder den Çrtli-

chen Tierhandlungen oder dem Wildtierpark als vermisst gemeldet.

KÇnnte diese mysteriÇse Kreatur vielleicht etwas mit dem legendaren

Wyrm von Squermington zu tun haben, einem fleischfressenden, blutrÅns-

tigen Ungeheuer, das die einheimische BevÇlkerung vor Åber tausend Jah-

ren in Angst und Schrecken versetzte?

»Kaufst du jetzt die Zeitung oder nicht?« Mrs Filling funkelte

mich bÇse an. Ich legte die Zeitung ins Regal zurÅck und bezahlte

Frankies Zwiebelchips. Draußen vor dem Laden warf ich einen letz-

ten Blick auf die Karte mit dem Jobangebot und runzelte die Stirn.

Komisch, die Schrift war doch vorher grÅn gewesen, das hktte ich

schwÇren kÇnnen. Und ich weiß nicht, ob es am Licht lag oder ob

ich langsam verrÅckt wurde, aber jetzt war die schnÇrkelige Hand-

schrift plÇtzlich knalllila.

»Und es wird Feuer und Schwefel regnen, und FrÇsche und KrÇten

werden vom Himmel fallen, und wir sind alle dem Untergang ge-

weiht!«, krkchzte eine heisere Stimme hinter mir. Gleichzeitig stieg

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mir ein durchdringender Eiergeruch in die Nase. Daisy fÅtterte ih-

ren Weltuntergangshund mit kleinen BrÇckchen von ihrem Eier-

sandwich. »Na, was guckste so? Wirst schon sehen. Das ist das

Ende.«

Aber Daisy irrte sich. Es fing gerade erst an.

»Was sind eigentlich Squamophoben?«, fragte ich beim Abend-

essen, das wieder mal aus Resten bestand – Brokkoli und gebackene

Bohnen. Seit Dad uns verlassen hat, ist Mum zum Pflanzenfresser

mutiert. Sie ermordet unschuldiges GemÅse und wir mÅssen es es-

sen.

Niemand konnte mir sagen, was Squamophoben sind.

»Und wisst ihr zufkllig, wo dieser Bauernhof ist – die Wormestall

Farm?«

»Mitten in der Pampa«, sagte Mum. »Auf der anderen Seite des

Wyvern-Chase-Walds. Warum?«

Ich erzkhlte ihr von der Karte im Schaufenster des SÅßkram-

ladens. Hilfe gesucht. Muss der/die Richtige fÅr den Job sein.

»Da gehst du mir aber nicht alleine hin«, sagte Mum. »Nicht

durch diesen gruseligen Wald. Nimm eine von deinen Schwestern

mit.«

»Party«, mÅmmelte Harry mit vollem Mund.

»Hausaufgaben«, sagte Frank. »Und außerdem arbeitest du am

Wochenende fÅr mich, falls du das vergessen hast, okay?« Sie pikste

mich brutal mit ihrer Gabel. »Sir Crispin muss Gassi gefÅhrt wer-

den, und ich muss noch mein Geschichtsreferat bis Montag fertig

machen.«

»Oh, nein, nicht Sir Crispin!«, protestierte ich und schnitt eine

Grimasse. »Das kannst du vergessen.« Sir Crispin ist der Mops von

Mrs Peagrim, die weiter unten an der Straße wohnt. Mrs Peagrim

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hat Drahtborsten auf dem Kopf und ein grimmiges Vierecksgesicht

und riecht nach alten Hustenbonbons. Ihr Hund ist so fett, dass er

aus allen Nkhten platzt, und er schnarcht die ganze Zeit, selbst wenn

er wach ist. Seine Augen quellen hervor wie Froschaugen, und wenn

ich mir einen Hund aussuchen dÅrfte, wÅrde ich garantiert nicht Sir

Crispin nehmen.

Kapitel 2

Mum hatte mir verboten, allein zur Wormestall Farm zu gehen,

und deshalb nahm ich Sir Crispin mit.

Bis wir den Briefkasten an der Ecke erreicht hatten, hing ihm

schon die Zunge aus dem Maul vor ErschÇpfung. Bestimmt wkre er

am liebsten sofort umgekehrt und nach Hause zu Mami zurÅck-

gewatschelt. Der restliche Weg war mehr ein Tauziehen als ein Gas-

sigehen. Und als wir den Wyvern-Chase-Wald erreichten, hatte ich

lkngst aufgegeben und trug ihn auf dem Arm.

Vor dem Tor, das in den Wald fÅhrte, hielt ich an.

Sir Crispin winselte und zappelte in meinem Arm.

»Ja, du hast Recht«, sagte ich zu ihm. »Wir kÇnnen hier nicht den

ganzen Tag blÇd rumstehen. Wir mÅssen endlich zu dieser Worme-

stall Farm kommen. Bevor noch jemand anderer dort auftaucht und

mir den Job wegschnappt. Es gibt nkmlich nur einen Richtigen da-

fÅr, und der bin ich.«

Warum ich mir da so sicher war? Keine Ahnung. Ich wusste es

einfach.

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Entschlossen klemmte ich mir Sir Crispin unter den Arm und

stieß das Gatter auf. Wir traten aus dem Schatten der Bkume in eine

enge Gasse hinaus. Die Ortschaft war hier zu Ende. Keine Hkuser

und Autos mehr, nur hohe, blumenÅberskte BÇschungen. Ein klei-

nes StÅck weiter unten in der Gasse zweigte ein Pfad rechts ab. Sir

Crispin hob sein Bein an einem verfallenen Pfahl. Am oberen Ende

war ein Holzschild festgenagelt, in wacklig gemalten Großbuchsta-

ben, die jetzt vor gelber Hundepisse trieften, stand darauf:

Wormestall FarmPrivatgrundstuckBetreten verboten

Auf der anderen Seite des Pfads ragte ein zweites Schild auf:

Achtung vor dem . . .

Vor dem was? Ich werde es wohl nie erfahren, denn das Schild war

abgebrochen.

Vor uns, dort, wo der Pfad endete, ragte ein altes steinernes Bau-

ernhaus auf. ZÇgernd ging ich darauf zu. Von vorne wirkte das

Haus tot und verlassen, mit seinen blinden Fenstern und den klei-

nen Pilzen, die aus der TÅrschwelle sprossen. Ich klopfte, bekam

aber keine Antwort. Die TÅr sah aus, als wkre sie seit Jahren nicht

mehr geÇffnet worden. Ich hktte jetzt umkehren und nach Hause

zurÅckgehen kÇnnen, klar. Aber Sir Crispin und ich hatten einen

weiten Weg hinter uns. Der Aushang im SÅßkramladen hatte mich

hierhergefÅhrt, und da war ich. So leicht gab ich nicht auf.

Ich fÅhrte Sir Crispin zur RÅckseite des Bauernhauses, in einen

gepflasterten Stallhof, und hier wirkte alles gleich viel frÇhlicher.

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In den rsten eines knorrigen alten Baums gurrten weiße Tauben,

und Åberall quollen bunte Blumen aus den HkngekÇrben und Blu-

menkksten an den Fenstern. Die Veranda beherbergte jede Menge

Gummistiefel und eine ganze Reihe von FeuerlÇschern. Irgendwo

im Stallblock lief ein Fernseher: »Kochend heiß servieren, mit Senf

garniert . . .« Da schaute offenbar jemand eine Kochshow an.

Die TÅrklingel war ein altmodisches Messingteil mit einem Klop-

fer. Ich holte tief Luft, rÅckte mein Gesicht zurecht, um als der Rich-

tige fÅr diesen Job durchzugehen, und klingelte.

Zack-rums!, flog die TÅr auf.

»Kann jetzt nicht reden. Die Entpetrifizierungssalbe kommt gera-

de zum Sieden«, stieß die alte Frau hervor, die in der TÅr stand und

mich Åber ihre Goldrandbrille hinweg musterte. Sie trug Gummi-

stiefel und lange PerlenschnÅre um den Hals und einen Hut mit ei-

ner riesigen Krempe, die mit halb gegessenen FrÅchten dekoriert

war. Die Frau war klein, nicht viel grÇßer als ich. Und aus dem Flur

hinter ihr quoll ein dicker hellgrÅner Nebel.

»Hallo, ich komme wegen der . . .« Ich hustete. Der Nebel drang

mir in die Nase und meine Augen trknten.

»Bisschen krkftig, was? Ich weiß auch nicht, ob das wirklich so

riechen soll«, seufzte die alte Frau. »Aber ich habe das Rezept genau

befolgt. Was meinst du denn, Junge?«

Um die Wahrheit zu sagen: Es stank wie die Pest. Schlimmer als

das Katzenklo von nebenan, aber ich wollte nicht unhÇflich sein,

also sagte ich nichts dazu, sondern hielt mich an den Text, den ich

mir vorher zurechtgelegt hatte.

»Ha! Da bist du ja!«, rief die alte Frau, als etwas Haariges, Grau-

braunes an unseren KnÇcheln vorbeistrich und aus dem Haus

schoss. »Fang mir das hier wieder ein«, sagte sie zu mir, »und du

hast den Job!«

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»Wie soll ich . . .?«, fing ich an, aber die alte Frau drehte sich ein-

fach um, verschwand im Flur drinnen und knallte die TÅr hinter

sich zu.

Sir Crispin bellte und knurrte.

»Psst! Das hilft uns jetzt auch nicht weiter!«, wies ich ihn zurecht.

Dann schlang ich seine Leine um einen der FeuerlÇscher, damit er

mir nicht in die Quere kommen konnte. »Ich muss nachdenken.«

Das haarige kleine Monster war ungefkhr so groß wie ein Meer-

schweinchen, nur lknger und dÅnner, mit einer spitzeren Nase und

einem Schwanz. Es hatte sich in den Spalt zwischen der Hauswand

und einem blumenbepflanzten Steintrog gequetscht. Langsam ging

ich auf meine Hknde und Knie hinunter. Der Spalt war so eng, dass

ich kaum die Hand reinquetschen konnte.

Ich versuchte es trotzdem, riss sie aber sofort wieder heraus. Ich

hatte mir den KnÇchel an dem rauen Stein aufgeschÅrft, okay, aber

das meiste Blut – und es war verdammt viel Blut! – kam aus meinem

Finger. Das haarige Monster hatte scharfe Zkhne.

Frustriert saugte ich an meinem Finger und Åberlegte, was ich

jetzt tun sollte. Am besten schlich ich mich von der anderen Seite

an. Die kleine Bestie hatte sich so weit nach hinten verkrochen –

nur weg von meiner Hand –, dass ihre Schwanzspitze am anderen

Ende des Trogs hervorlugte. Ich packte sie und zog daran.

Ich zerrte wie verrÅckt.

Und plÇtzlich erstarrte der Schwanz in meinen Hknden. Das Haar-

monster reckte mir sein Hinterteil entgegen und Pffffftttt!

Der Gestank war grauenhaft – schlimmer als alles, was ich je er-

lebt hatte. Millionenmal schlimmer als Kotze, Hundekacke, Achsel-

schweiß, alte Socken, der grÅne Nebel der alten Frau und Mums

Essen zusammengenommen. Und ich war total vollgeschmiert mit

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dem Zeug – es klebte mir in den Augen, im Haar, ja es tropfte mir

sogar von der Nasenspitze.

»Das gilt nicht«, sagte ich zu dem Haarmonster, als ich endlich zu

prusten und zu wÅrgen aufgehÇrt hatte. »Das war gemogelt!«

In respektvollem Abstand von dem explodierfkhigen Hinterteil

setzte ich mich auf die Pflastersteine, um nachzudenken. Wenn ich

es nicht schaffte, dieses heimtÅckische, blutrÅnstige Stinkmonster

herauszuzerren, musste ich es eben herauslocken. Aber wie?

Wie brachte man mich dazu, etwas zu machen, das ich nicht woll-

te? Mit Essen natÅrlich.

Ich hatte meine Lieblingsjeans an, die mit dem Riss und dem Blut-

fleck, der nicht mehr rausging. Ich lief schon tagelang damit herum.

Das war gut, denn als ich in den Taschen wÅhlte, ganz tief unten,

wo es klebrig wurde, fand ich ein paar Schokorosinen, die irgendwie

Åberlebt hatten.

Ich legte eine Spur damit – keine sehr lange, weil ich nicht viele

Schokorosinen hatte. In sorgfkltig berechneten Abstknden ordnete

ich sie an und wartete. Als Erstes tauchte eine SchnÅffelnase auf,

dann kamen die Schnurrhaare, dann die Knopfaugen, die zuckenden

Ohren und schließlich der ganze Rest. Das Haarmonster war aus sei-

ner Deckung gekommen. Jetzt musste ich es nur noch einfangen.

Vor der HintertÅr draußen stand ein leerer Eimer. Und wkhrend

das Haarmonster die letzten Schokorosinen aufknurpste, stÅlpte

ich den Eimer drÅber. Jetzt saß es in der Falle.

Aber das gefiel ihm gar nicht. Wie wild knallte es darin herum, bis

der Eimer Åber das Pflaster hÅpfte. Dagegen half nur eins.

Ich setzte mich auf den Eimer.

Jetzt waren wir beide gefangen.

Die Sonne brannte herunter und heizte die Pflastersteine auf. Ich

schwitzte und hatte Durst. Um mich abzulenken, startete ich eine

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Runde Millionenspiel. Die Regeln sind einfach – man muss nur zkh-

len, sonst nichts. Ich spielte es immer, wenn ich mich langweilte

oder irgendwo festsaß, wo ich nicht sein wollte – in der Morgenver-

sammlung zum Beispiel oder beim Zahnarzt oder an der Bushalte-

stelle. Der Trick dabei ist, dass man nie auf eine Million kommt,

weil vorher garantiert was Unlangweiliges passiert. Mein Rekord

steht bei 2653, und das war auf der Hochzeit von meiner Tante Fi.

Ich wkre noch weiter gekommen, wenn ich mich nicht verzkhlt hkt-

te, als das kleinste Brautmkdchen in die Hose pinkelte. Wie gesagt,

irgendwas passiert immer. Diesmal schaffte ich es bis 1417, dann

ging die TÅr auf und die alte Frau kam heraus.

Ich zeigte auf den Eimer unter mir. »Ich hab es«, verkÅndete ich.

Die alte Frau lkchelte erfreut. Ein paar Kirschkerne und ein Apfel-

butzen purzelten von ihrem Hut herunter, als sie sich bÅckte, um

etwas auf dem Pflaster anzustarren. »Blut«, sagte sie, »ist das deins?«

»Mein Finger . . .« Ich inspizierte die ZahnabdrÅcke des Haarmons-

ters. »Es blutet immer noch . . .«

»Ach, das bisschen Blut schadet doch nichts«, wehrte die alte Frau

frÇhlich ab, »es beweist nur, dass du am Leben bist. Wenn du mal

nicht mehr blutest, dann solltest du dir Sorgen machen. Trotzdem,

es ist besser, wenn du nicht nach frischem Blut riechst. Nicht hier

jedenfalls. Komm mit ins Haus, ich hole dir ein Pflaster.«

Als ich aufstand, fing der Eimer wild zu rattern an. Die alte Frau

kippte ihn mit ihrer Stiefelspitze um. Das Haarmonster saß aufrecht

da und keckerte wÅtend, dann schoss es pfeilgerade auf ihren Hut

hinauf und machte sich Åber die Kirschen her.

»Dummer kleiner Mingus«, murmelte die alte Frau zkrtlich. »Das

macht er sonst nie, einfach weglaufen! Ich glaube, es lag an dem

grÅnen Nebel in der KÅche.«

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Ich blickte mich verstohlen auf dem Stallhof um. In haiverseuch-

ten Gewkssern ist es riskant, nach Blut zu riechen, okay. Aber auf

einem Bauernhof? Lauerte hier irgendwo ein mutiertes Ninjaschaf,

das in der Luft nach meinem Blut schnÅffelte und sich zum Angriff

bereitmachte? Ich sprang auf, als mir etwas Åber die Wange kratzte.

Das Haarmonster spuckte mich mit Kirschkernen voll.

»Was fÅr ein Tier ist dieser Mingus eigentlich?«, erkundigte ich

mich vorsichtig.

»Urzeitskuger. Triassisch vermutlich. Er ist nicht an Fremde ge-

wÇhnt«, fÅgte sie hinzu, als ich mich unter dem nkchsten Kirsch-

kern wegduckte.

»Und was soll ich mit Sir Crispin machen?«, fragte ich. Der Mops

lag ausgestreckt da, mit vorquellenden Augen, und keuchte laut.

»Ich glaube, er braucht einen Schluck Wasser.«

»Dein Hund kann auch mit reinkommen. Auf der Wormestall

Farm sind alle GeschÇpfe willkommen. Außer Menschen.« Die alte

Frau warf mir einen scharfen Blick Åber ihre Brille zu. »Es sei denn,

sie kommen aus den richtigen GrÅnden hierher.«

Mir wurde ein bisschen mulmig. Ich war hier, um Geld fÅr ein

neues Fahrrad zu verdienen. Ob das auch zu den richtigen GrÅnden

zkhlte?

Der Gestank im Haus war jetzt nicht mehr so schlimm, der wÅrgen-

de grÅne Nebel hatte sich gelichtet. Sir Crispins Zehenkrallen kla-

ckerten Åber die Steinfliesen, als wir den Flur durchquerten. Die

KÅche war der reinste Dschungel, mit den Pflanzen, die sich Åberall

hochrankten. Die Außenwand war mit einer Katzenklappe ver-

sehen, und vor dem altmodischen Herd lag ein Hundebett mit lauter

komischen Buckeln unter einer zerknÅllten Karodecke. Sir Crispin

schlabberte gierig das Wasser aus einem Trinknapf, auf dem DOG

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stand – also Hund –, nur war das G durchgestrichen und durch die

Buchstaben DO ersetzt.

Die alte Frau bot mir einen Platz an dem großen Holztisch an.

Dann schenkte sie mir ein Glas mit etwas Kaltem, Limonadigem

ein und nahm einen Kasten mit der Aufschrift Erste Hilfe vom

Schrank herunter.

»Wir brauchen hier eine Menge Pflaster«, sagte sie zu mir. »Und

Verbknde. Und dann noch das hier . . .« Sie zeigte auf eine Art Base-

ballschlkger, der an der Wand lehnte. »Notfall-Holzbein«, erklkrte

sie. »Aber das hat niemand mehr gebraucht, seit meine Großtante

Hepzibah 1911 einen Dracunculus Dentatus im GebÅsch entdeckt

hat.«

Ich starrte das Holzbein an und stellte mir vor, wie ein Dracuncu-

lus Dentatus aussehen musste. Fragen wollte ich lieber nicht, damit

sie mich nicht fÅr dumm hielt. Frankie sagt immer, dass ich dumm

bin, wenn ich etwas nicht weiß.

»So, und du suchst also einen Job«, sagte Mrs Lind und betupfte

meinen Finger mit etwas Brennendem. Der Urzeitskuger hatte sich

zum Schlafen auf ihrem Hut eingeringelt, die Pfoten Åber seiner

Nase gekreuzt. »Aber was fÅhrt dich ausgerechnet hierher nach

Wormestall?«

»Na, die Anzeige im Schaufenster vom SÅßkramladen.«

»Ah, dann hast du es also gesehen.« Sie schraubte den Deckel wie-

der auf das Flkschchen mit dem brennenden Zeug. »Und in welcher

Farbe war es geschrieben?«

»GrÅn. Nein, nicht grÅn.« Ich runzelte die Stirn. »Lila. Ich bin mir

nicht sicher . . .«

»Aber du konntest es lesen? Ohne Probleme?«

Kinderbuch ab 9 Jahren

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Ich nickte. Worauf wollte sie hinaus? War das ein Test, ob meine

Augen noch gut genug waren, oder wollte sie nur wissen, ob ich

lesen konnte?

»Ich hab mir den Text genau gemerkt«, sagte ich zu ihr. »HILFE

GESUCHT. Naturliebe und Interesse an Wildtieren vorausgesetzt.

Antworten bitte an Mrs Lind, Wormestall Farm. Keine Squamo . . .

Squamo . . . Squamophoben. Sind Sie Mrs Lind?«

»Ja, die bin ich. Und weißt du, was Squamophoben sind?«

»Nein«, gab ich zu.

»Menschen, die sich vor Schuppen fÅrchten. Du hast doch kein

Problem mit Schuppen, oder?«

Fischschuppen? Haarschuppen? Schuppen von den Augen? Ich

versuchte ein schlaues Gesicht zu machen, als wÅsste ich, wovon

sie redete.

»Schuppen sind okay«, sagte ich vorsichtig. »Und ich interessiere

mich sehr fÅr Wildtiere.«

»Was fÅr Wildtiere?« Mrs Lind wickelte ein Pflaster um meinen

Finger. »Die kuschelige, flauschige Sorte? Oder – die anderen.«

»Die anderen«, sagte ich entschieden.

Mrs Lind klappte den Verbandskasten zu, lehnte sich zurÅck und

fummelte an ihren langen PerlenschnÅren herum. Ich schaute ge-

nauer hin – und sog die Luft ein.

»Oh«, sagte ich. »Das sieht ja aus wie . . .«

»Zkhne«, bestktigte Mrs Lind frÇhlich. »Keine Menschenzkhne na-

tÅrlich. Sag mal, hast du auch einen Namen?«

»George.«

Mrs Lind runzelte die Stirn. »Hoffentlich nicht nach diesem grkss-

lichen Heiligen?«

Veronica Cossanteli, Wilder Wurm entlaufen

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»Wieso? Der Heilige Georg war doch okay.« Ich fÅhlte mich ver-

pflichtet, ihn in Schutz zu nehmen. »Er hat ja schließlich den Dra-

chen getÇtet, oder?«

Der Heilige Georg war der Gute. Und der Drache der BÇse. Das

wusste doch jedes Kind.

Mrs Lind schnaubte. »Ich kann nichts Heiliges an einem Kerl fin-

den, der durch das Land reitet und gefkhrdete Arten tÇtet. Drachen

waren ja praktisch ausgestorben – schon damals, verstehst du?«

»Aber die sind doch gefkhrlich. Drachen fressen Menschen. Die

muss man tÇten.«

»So? Meinst du?« Mrs Lind warf mir wieder einen scharfen Blick

Åber ihre Brille zu. »Was hast du denn gestern zu Mittag gegessen,

George?«

»rhm . . . Shepherds Pie.« Verglichen mit Mums GemÅseauflkufen

war sogar das Schulessen ganz okay.

»Shepherds’ Pie wird aus Schafsfleisch gemacht. Du hast also ein

Schaf gegessen. Vermutlich weil du hungrig warst, oder?«

»Ja«, sagte ich kleinlaut. »Aber es war kein ganzes Schaf.«

Mrs Lind schnitt mir das Wort ab. »Der Drache wird auch hungrig

gewesen sein«, sagte sie. »Vielleicht war es eine Drachenmutter, die

gerade Junge hatte, hungrige Junge, die gefÅttert werden mussten.«

Ich Çffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann klappte ich

ihn wieder zu. Ich wusste langsam nicht mehr, was ich denken soll-

te. Der Heilige Georg und der Drache, das war doch eine Legende,

oder nicht?

»Also ehrlich gesagt«, brachte ich schließlich hervor, »bin ich

nach meinem Großvater benannt.«

Der grimmige Ausdruck in ihren Augen erlosch. »Na dann –

dagegen ist natÅrlich nichts zu sagen.« Sie kramte auf ihrem Hut

zwischen einem Apfelbutzen und einem halb gegessenen Trauben-

Kinderbuch ab 9 Jahren

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bÅschel herum, angelte ein Pkckchen Pfefferminz hervor und bot

mir eins an. »Nicht jeder hktte diese Anzeige lesen kÇnnen, weißt

du? Die Tinte, mit der sie geschrieben ist, war . . . khm . . . ungewÇhn-

lich. Das heißt, du bist die Person, die ich gesucht habe.« Lkchelnd

fÅgte sie hinzu: »Der Richtige fÅr den Job.«

Jippieee! Frankie wÅrde ganz schÇn dumm aus der Wksche schau-

en, wenn ich ihr das erzkhlte. Ich konnte es kaum noch erwarten.

»Und wann soll ich anfangen?«

»Zur richtigen Zeit«, sagte Mrs Lind. »Wann das ist, wirst du

selber wissen.«

Veronica Cossanteli

Wilder Wurm entlaufen

Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss

Coverillustration: Susanne GÇhlich

ca. 288 Seiten

Ab 9 Jahren

13,4 x 18,7 cm, gebunden

ISBN 978-3-551-52059-3

A 12,99 (D) / A 13,40 (A) / sFr 19,50

Erscheint im April 2014

Veronica Cossanteli, Wilder Wurm entlaufen

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Kinderbuch ab 11 Jahren

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Auch unsichtbare Freunde hinterlassen Spuren

Dass Sienna jetzt in Shanghai lebt, ist fÅr sie schon fast

normal. Mit Langlang hat sie einen echten Freund an ih-

rer Seite und auch der alte Zou ist wieder aufgetaucht.

Doch irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er wirkt seltsam

abwesend und vermisst außerdem seinen unsichtbaren

Begleiter – den Hasen Bai tuzi. FÅr Sienna und Langlang

steht fest, dass sie ihrem Freund helfen mÅssen. Außer-

dem ist Bai tuzi nicht das einzige unsichtbare Tier, das

auf merkwÅrdige Weise spurlos verschwunden ist. Doch

wer steckt dahinter? Und welche Verbindung gibt es

zwischen einem kostbaren Gemilde, geheimen Portalen

und dem Jahr der Feuerschlange?

»Laban gelingt es (. . .), den Leser in eine unbekannte

Welt zu entfÅhren.«

Kinderbuch-couch.de

Die Autorin

Barbara Laban, Jahrgang 1969, studierte Sinologie und

Japanologie in MÅnchen, London und Taipei. Anschlie-

ßend zog sie nach Amsterdam und arbeitete dort unter

anderem als Studienleiterin am Zentrum fÅr chinesische

Medizin. Nach einem lingeren Aufenthalt in China war

sie als nbersetzerin fÅr Fachliteratur der traditionellen

chinesischen Medizin titig. Ihr KinderbuchdebÅt »Im

Zeichen des Mondfests« wurde 2012 mit dem Goldenen

Pick ausgezeichnet. Seitdem schreibt sie auch Jugend-

bÅcher und Krimis fÅr Erwachsene. Barbara Laban lebt

mit ihrem Mann und ihren beiden TÇchtern in London.

Barbara Laban, Im Zeichen der Feuerschlange

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Drei

Die langen NeonrÇhren flackerten. Es roch feucht und nach MÅll.

Sienna sah dunkle Flecken auf dem Boden. Vermutlich hatte hier

jemand seinen Abfall zu lange stehen lassen. Als der Aufzug anhielt,

atmete sie erleichtert auf. Es war erst das dritte Mal, dass sie Lang-

langs Wohnung besuchte, und es fiel ihr immer noch schwer, ihr

Entsetzen Åber das alte Gebkude zu verbergen. Langlang beschwerte

sich nie. Im Gegenteil, er behauptete, sich hier wohl zu fÅhlen. Es

musste daran liegen, dass er und Gege frÅher in noch viel schlimme-

ren Behausungen gelebt hatten.

Sie liefen durch den langen dunklen Gang, an zehn oder zwÇlf TÅ-

ren links und rechts vorbei. Hinter einem der Eingknge stritten ein

Mann und eine Frau laut im hektischen Shanghaier Dialekt.

Schließlich standen sie vor der braunen HolztÅr mit der Nummer

513. Sienna klopfte dreimal an, aber es tat sich nichts. Sie versuchte

die TÅr zu Çffnen, doch sie war verschlossen. »Und jetzt?«, fragte sie

Langlang.

Langlang zuckte die Schultern, dann lkchelte er. »Ni kan – schau

mal«, sagte er.

Er zog den schlafenden Xiaolong aus der Tasche und kitzelte ihn

am Bauch. Der Drache grunzte und quiekte und rieb sich verschla-

fen die Augen. »Yao bu yao – willst du?«, fragte Langlang und hielt

Xiaolong vor das TÅrschloss.

Xiaolong war mit einem Mal hellwach. Er stieß einen krkftigen

Feuerstrahl aus, um danach mit einer seiner Pfoten in das SchlÅssel-

loch zu greifen. Es knarrte und klackte, dann sprang die TÅr auf.

Kinderbuch ab 11 Jahren

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Sienna war fassungslos. »Hast du ihm das beigebracht? Wie funk-

tioniert das Åberhaupt? Kann er das nur bei dieser TÅr?«

Langlang antwortete ihr nicht, aber er strich Xiaolong anerken-

nend Åber den Kopf. Er ging hinein und warf seine Schultasche auf

den Boden. Dann streifte er seine Straßenschuhe ab und schlÅpfte in

Gummischlappen, die neben der TÅr standen. Sienna folgte ihm.

Das Zimmer war winzig, aber blitzsauber. Wie fand Gege nur die

Zeit, hier aufzurkumen?

Gege und Langlang teilten ein Doppelbett und Langlang hatte ei-

nen kleinen Schreibtisch, auf dem alle seine Schulsachen lagen. Ihre

Kleidung bewahrten sie in einem Wandregal auf, das Papa fÅr die

beiden gekauft hatte. Links neben dem kleinen Fenster befanden

sich zwei Kochplatten und etwas Geschirr. Die einzige freie Ecke

im Zimmer, an die sich Sienna von ihrem letzten Besuch erinnerte,

wurde jetzt von einem geflickten schwarzen Ledersessel gefÅllt. Da-

vor stand ein kleiner Fernseher. »Hat Gege uns besorgt, aus dem Res-

taurant, in dem er arbeitet. Die brauchten den da nicht mehr«,

berichtete Langlang.

Sienna ging zum Sessel, der mit der RÅckenlehne zu ihnen stand

und bemerkte jetzt erst, dass Zou dort saß.

»Hier bist du! Warum machst du nicht die TÅr auf?«, rief sie Zou

zu, der mit offenen Augen den ausgeschalteten Fernseher anstarrte.

Er reagierte nicht. Langlang trat nkher an den Sessel heran und Xi-

aolong flatterte auf Zous Knie. Zou beachtete ihn nicht. Selbst als

Xiaolong eine große Menge schwarzen Rauch in seine Richtung

blies, verzog er keine Miene.

»Kannst du bitte mit uns reden?«, Sienna fasste Zou an die Schul-

ter.

Zou sah sie schließlich an. »Ich – es tut mir leid, ich war wohl in

Gedanken. Euer Klopfen habe ich nicht gehÇrt. Es ist ja auch sehr

Barbara Laban, Im Zeichen der Feuerschlange

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laut hier. Stkndig GebrÅll und Musik und dann der Lkrm von der

Straße . . .«

»Verstehe«, sagte Sienna. »Wir haben leider nicht viel Zeit. Milos

kommt bald hierher. Es ist sicher besser, wenn er dich nicht sieht.

Kannst du uns bitte erklkren, warum du hier in Shanghai bist?

Und, wie du uns gefunden hast?« Die Kinder setzten sich aufs Bett

und Zou drehte den Sessel in ihre Richtung. Er sah irgendwie klei-

ner aus als im letzten Jahr.

»Also, wo soll ich beginnen? Ihr erinnert euch an den Hasen, mei-

nen Hasen, kh Bai tuzi.«

Sienna und Langlang blickten sich an, bevor Sienna antwortete.

»NatÅrlich, du hast uns schon erzkhlt, dass er verschwunden ist.

Aber wie ist das passiert?«

Zou bewegte sich langsam vor und zurÅck auf seinem Sessel.

Dann schloss er kurz die Augen, als mÅsste er sich konzentrieren.

»Bai tuzi ist mein unsichtbarer Begleiter, mein Freund. Er hilft mir,

andere zu verstehen. Andere Menschen, andere Tiere . . . Er ist meine

Brille und mein HÇrgerkt und mein Lautsprecher. FrÅher ist er oft

verschwunden. Mal fÅr einen Tag, manchmal fÅr eine Woche. Er

hat RÅcksicht auf mich genommen. Er verschwand, wenn ich nicht

arbeiten musste. Wenn ich ihn nicht brauchte. NatÅrlich hat er mir

nicht immer Bescheid gegeben. Aber er hat mir Nachrichten hinter-

lassen. Erinnert ihr euch daran, dass Bai tuzi ein Kunstkenner ist?«

Sienna und Langlang nickten. Bai tuzi hatte im letzten Jahr mit

seinen Kenntnissen geholfen, eine Bande von Kunstfklschern auf-

fliegen zu lassen. Die Bande, die Mama und Gege gefangen gehalten

hatte.

»Also«, fuhr Zou fort. »Manchmal muss er einfach weg, in ein Mu-

seum, zu einer Ausstellung oder an geheime Orte, die nur er kennt.

Zu Sammlern, die verschwundene Bilder oder Statuen versteckt hal-

Kinderbuch ab 11 Jahren

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ten. Oder in entlegene Gegenden, in denen verschollene Kunstwerke

darauf warten, gefunden zu werden. Warum und wann er weg will,

verrkt er mir nie. Aber immer hinterlksst er eine Nachricht. Er

schreibt den Ort auf, zu dem er unterwegs ist. Und er schreibt auf,

wann er zurÅckkommt. Seht mal«, Zou zog einen Packen mit losen

Papierfetzen heraus und verstreute sie auf dem Boden. Darunter wa-

ren gelbe Notizzettel oder abgerissene StÅcke liniertes Papier, sogar

Ecken aus einem Katalog oder Telefonbuch. Sienna hob einen der

Zettel auf. In großen sorgfkltig geschriebenen Zeichen und silbern

glknzend stand darauf: »Nanjing, 15.5.«.

Sie nahm einen anderen Zettel in die Hand »Lhasa, 24.7. Was ist

denn das hier?« Sie hob ein großes StÅck Papier auf. »Pingdingshan,

04.10.« Dieselbe Schrift, aber an das Papier war ein Bahnticket gehef-

tet. Zou nahm das Papier aus Siennas Hand: »Manchmal wollte er,

dass ich mitkomme. Ich erinnere mich noch, dass ich euch auf die-

ser Zugreise getroffen habe.«

»Dann hat dich Bai tuzi damals auf unsere Spur gebracht?«, fragte

Sienna.

»Nun ja, vielleicht wollte er nur das Mondfest im Tempel in Ping-

dingshan verbringen«. Zou lkchelte. »Ihr seht also, er hat seine Rei-

sen immer angekÅndigt. Die Zettel hat er mir auf meinen

KÅchentisch gelegt.«

»Und diesmal«, fragte Langlang. »Kein Zettel?«

»Nicht auf dem KÅchentisch«, antwortete Zou. »Bai tuzi war

schon einen Tag verschwunden, und ich begann mir Sorgen zu ma-

chen. Dann habe ich die Wohnung aufgerkumt. Aus Langeweile

und um mich abzulenken. Das hier musste vom Tisch gefallen

sein.«

Zou reichte Sienna und Langlang eine zerknitterte rote Serviette.

Sie versuchten die krakeligen, silbernen Schriftzeichen zu entzif-

Barbara Laban, Im Zeichen der Feuerschlange

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fern. Ein FÅnfeck mit chinesischen Zeichen stand Åber dem Text.

»Was ist das?« fragte Sienna und zeigte darauf.

»Die fÅnf Elemente«, antwortete Langlang.

»Holz, Feuer, Erde, Metal und Wasser«, erinnerte sich Sienna.

Dann konzentrierte sie sich auf die Schrift unter dem Symbol. Es

dauerte etwas, bis Sienna und Langlang gleichzeitig erkannten, wo-

rum es sich handelte: Die Adresse der internationalen Schule in

Shanghai. Die Adresse ihrer Schule. Das Datum darauf lag bereits

drei Tage zurÅck.

Barbara Laban

Im Zeichen der Feuerschlange

Umschlag: Henry s Lodge, Vivien Heinz

240 Seiten

Ab 11 Jahren

15 x 21 cm, gebunden

ISBN 978-3-551-52060-9

A 12,99 (D) / A 13,40 (A) / sFr 19,50

Erscheint im Juni 2014

Kinderbuch ab 11 Jahren

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Kennst du deine dunklen Seiten?

Das kann nicht sein! Niemals hat Emilys Vater das Mid-

chen umgebracht, auch wenn alles gegen ihn spricht.

Emily weiß, dass er unschuldig ist, aber sie weiß nicht,

was wirklich im Wald passiert ist. Der Wald, in dem die

tote Ashlee gefunden worden ist. Der Wald, in dem es

dunkle Pfade und verbotene Spiele gibt. Der Wald, in

dem Damon sich plÇtzlich mit ihr treffen will, obwohl er

sie bisher keines Blickes gewÅrdigt hat. Emily muss vor-

sichtig sein, denn Damon war Ashlees Freund. Vielleicht

will er sich richen. Vielleicht ist da aber auch tatsichlich

etwas – zwischen ihm und ihr. Und vielleicht kann Emily

sogar herausfinden, was wirklich passiert ist.

Die Autorin

Lucy Christopher wurde 1981 in Wales geboren und

wuchs in Australien auf. Bis zum Hauptstudium lebte sie

in Melbourne. Nachdem sie sich als Schauspielerin, Kell-

nerin und WanderfÅhrerin versucht hatte, zog sie nach

England und machte ihren Magister in Kreativem Schrei-

ben. Heute unterrichtet sie an der Bath Spa University.

Ihr DebÅt «Ich wÅnschte, ich kÇnnte dich hassen« wurde

mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.

Jugendbuch ab 14 Jahren

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Vorher. Emily.

In Dads ausgestreckten Armen lag etwas. Ein Reh? Ein verletztes

Kitz? Jedenfalls etwas mit langen, baumelnden Beinen, das einem

Wilderer in die Falle gegangen sein musste. Ein Versehen. Das also

hatte Dad so lange im Wald gemacht, dieses Wesen befreit. Lang-

sam atmete ich aus, blinzelte in den Dunst, der wie ein Geist um

Dad waberte. Ich nahm die Hand vom Fenster, auf der Scheibe blieb

der Hauch einer Erinnerung an meine Haut zurÅck. Dann rannte

ich aus meinem Zimmer, lief die Treppen runter, durch den Flur, in

die KÅche. Ich riss die TÅr zum Garten auf und wartete auf ihn.

Dad hatte schon lange kein verletztes Tier mehr nach Hause ge-

bracht. Und ein Reh noch nie, auch wenn ich mich genau erinnerte,

ihm dabei geholfen zu haben, wie er eines aus einer Schlinge im

Wald befreit hatte. Flink und behutsam waren seine Hknde damals,

gingen vom Draht um das Bein der Ricke zu ihrem Hals, um ihren

Puls zu fÅhlen, und unentwegt hatte er sie gestreichelt. Das hier war

wieder so etwas. Ein Reh zu retten wÅrde Dad guttun, ihn auf ande-

re Gedanken bringen und aus dem Dunkel holen.

Ich hÇrte Dads Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, sah seine Bewe-

gungen. Ich bemÅhte mich, die Form des TierkÇrpers zu erkennen,

aber irgendwie stimmte sie einfach nicht. Die Beine waren nicht

lang genug, auch der Hals nicht. Ich machte einen Schritt auf die

beiden zu. Und auf einmal ergab sie Sinn, diese Form.

Was Dad da trug, war kein Reh. Es war ein Mkdchen.

Ihr Kopf hing nach hinten, ihre bloßen Arme leuchteten im

Mondlicht. Ihre Kleider waren nass. Das Gartentor knarrte, als sich

Dad mÅhsam hindurchmanÇvrierte. Wie lange trug er sie schon so?

Von woher? Ich wich zurÅck in die KÅche. Als Soldat hatte Dad Çf-

Lucy Christopher, Kiss me, kill me

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ter so etwas getan, hatte Leben gerettet. Vielleicht war er jetzt auch

wieder ein Held. Dann sah ich, dass die Haut des Mkdchens grau war

und um die Lippen herum blau, wie verschmierter Lippenstift. Die

langen Haare klebten ihr am Gesicht und waren dunkel vom Regen.

Sie trug ein kurzkrmliges grÅnes Hemd und einen Silberreif am

Handgelenk. Ich wollte ihr die nassen Haare aus dem Gesicht strei-

chen, streckte schon die Hand aus, hielt dann aber auf einmal inne.

Ich kannte dieses Mkdchen.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

Dad antwortete nicht. Sein Gesicht war rot und verschwitzt und

sein Atem ging pfeifend, als er sich an mir vorbeischob. Die Finger

des Mkdchens streiften mich am Arm. Sie waren kalt – tÇdlich kalt –

kalt wie Stein in einer HÇhle. Ganz sanft, als wÅrde er sie zu Bett

bringen, legte Dad das Mkdchen auf den KÅchentisch. Drehte ihren

Kopf und winkelte ihre Arme an, brachte ihren KÇrper in die stabile

Seitenlage. Genauso behutsam, wie er die gefangene Ricke angefasst

hatte, berÅhrte er ihren Hals. Doch dieses Reh bewegte sich nicht,

wehrte sich nicht gegen ihn, zappelte nicht mehr.

Das Mkdchen hieß Ashlee Parker.

»Sie hat Augen wie ein Model«, hatte Kirsty mal gesagt. »Sie ist

eine SchÇnheit. Kein Wunder, dass Damon Hilary sie so anhim-

melt.«

Damon Hilary. Ich zuckte zusammen bei dem Gedanken an ihn –

wie er auf das hier reagieren wÅrde.

Ich legte meine Fingerspitze auf Ashlees Wange. Ich wollte ihr

helfen sich zu befreien, aufzuspringen und zwischen den Bkumen

zu verschwinden. Ich konnte nur hoffen, dass das, was in meinem

Kopf gellte, nicht stimmte.

»Ist sie . . .« Ich zÇgerte. »Ist sie . . . okay?«

Dad sagte nichts. Ich weiß nicht, was er dachte, vielleicht hoffte

Jugendbuch ab 14 Jahren

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er, sie wÅrde aufwachen. Aber ich hatte die roten Punkte und Strei-

fen, die blauen Flecken gesehen, die sich wie Blumen um ihren Hals

zogen. Ich sah, dass sie nicht atmete, Åberhaupt nicht.

Was hatte sie im Wald gemacht?

Was war ihr zugestoßen, dass sie jetzt so hier lag?

Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen, wkhrend der Mond

und die Sterne scheinwerferhell durchs KÅchenfenster schienen. Es

fÅhlte sich ewig an. Irgendwann knarrte oben etwas: Mum war auf-

gestanden.

Vielleicht hatte sie auf Dad gewartet und nur so getan, als wÅrde

sie schlafen, genau wie ich, und hatte stattdessen auf das Sommerge-

witter gelauscht. Ich hÇrte das Tappen ihrer Hausschuhe im Flur,

dann ging die KÅchentÅr auf und gleich darauf schimpfte Mum

schon mit Dad. Dann sah sie Ashlee.

Sie keuchte, kurz und heftig, als hktte sie mit einem Atemzug al-

len Sauerstoff im Raum verbraucht. Sie schaute Dad an, dann wieder

Ashlee. Sie kam herÅber und tastete nach Ashlees Puls.

»Wer ist das?«, fragte sie leise. Als Dad keine Antwort gab, lief sie

mit großen Schritten durchs Zimmer und packte ihn an den Schul-

tern. »Was ist passiert?«

Sie ging zum Telefon auf dem Fensterbrett und musterte dabei

Dads verdrecktes Gesicht und seine nassen Kleider, dann schaute

sie wieder auf Ashlee. Das Pfeifen in Dads Brust wurde stkrker.

»War sie im Wald?« Mums Stimme war jetzt laut. »Mit dir?« Ihre

Finger zitterten, sie konnte das Telefon kaum bedienen. Irgendwann

kam sie durch. »Wir brauchen einen Rettungswagen . . . Polizei . . .«

Mum gab unsere Adresse durch, legte auf und ging wieder zu Dad,

bohrte ihre Fingernkgel in seine Schultern. Dad schnappte nach Luft

wie ein Fisch auf dem Trockenen, er bekam eine seiner Panik-

attacken. Ich hktte sein Asthmaspray holen oder einfach ruhig mit

Lucy Christopher, Kiss me, kill me

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ihm reden sollen – ihn daran erinnern, wo er war und wer wir wa-

ren –, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Mum schaute mich an: Zum ersten Mal in dieser Nacht schien

mich einer meiner Eltern Åberhaupt wahrzunehmen. »Sie ist tot,

Emily.«

Die Worte schÅttelten mich, ich tastete nach dem TÅrgriff hinter

mir, um mich festzuhalten. Ein plÇtzlicher Aufschrei von Dad ließ

mich zusammenfahren.

»Sie hat da nicht sein sollen!«

Der Satz, den er immer sagte, wenn er nach einem Flashback wie-

der zu sich kam. Genau der Satz. Er hatte einen Flashback gehabt, so

musste es sein. Mum hatte Recht. Der Donner hatte offenbar einen

Anfall ausgelÇst, alles war passiert, weil Dad im Gewitter draußen

gewesen war, wo er Gewitter doch nach MÇglichkeit meiden sollte.

Mum strich Ashlee die Haare aus dem Gesicht. »Hast du ihr was

getan, Jon?«, fragte sie leise.

Ich taumelte zu Mum hin, wollte ihre Worte aufhalten, dem hier

ein Ende machen. »Wie kÇnnte er?«

Mum streckte die Handflkchen vor, wartete auf eine Antwort von

Dad.

»Er ist bloß in . . .«, sagte ich. »Er ist . . .«

Dads Hknde zitterten. Die Panik hatte ihn jetzt voll im Griff, er

drehte durch, was ich schon oft erlebt hatte. Aber diesmal war es

schlimmer. Sein Blick war wilder, seine Augen glknzten stkrker, der

Albtraum schÅttelte ihn. Wusste er Åberhaupt, wo er war? Wer wir

waren?

Mum starrte Dad weiter an. »Wenn du irgendwas weißt, Jon –

egal was! – Jon, die holen dich von hier weg, die verhÇren dich, im-

mer wieder und wieder . . .«

Jugendbuch ab 14 Jahren

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Er schaute von Mum zu Ashlee und dann durchs Fenster hinaus

in den Wald, als hktte er dort etwas zurÅckgelassen. Er schien sich

erinnern zu wollen, versuchte irgendwas zurÅck in sein Bewusstsein

zu holen. Dann brach er zusammen, als hktte er keinen heilen Kno-

chen mehr im Leib. Er bebte am ganzen KÇrper und versuchte trotz-

dem, sich irgendwie an der Arbeitsplatte festzuhalten. Als ich zu

ihm ging, hielt er sich zitternd den Arm Åber den Kopf, als hktte er

Angst vor Schlkgen.

»Tut mir leid«, wimmerte er mit Trknen in den Augen. »Tut mir

leid, tut mir leid, tut mir leid . . .« Verzweifelt sah er Mum an. »Die

haben alle geschrien . . . der Soldat hat gesagt, ich war’s.« Er schÅttel-

te den Kopf und murmelte: »Ich, ich, ich . . .«

Sonntagmorgen. Damon.

Die Sonne schien mir heiß auf die Lider. Mit geschlossenen Augen

fasste ich mir an den Hals. Ein Hundehalsband, nur eines. Ihres? Mit

den Fingern fuhr ich Åber das abgewetzte Leder und die steifen

Steppnkhte, spÅrte die winzigen Risse am Rand, den kalten, kreis-

runden Anhknger. Dann betastete ich die eingravierten Buchstaben:

DH.

Wo war Ashlees Halsband?

Und wie spkt war es Åberhaupt?

Ich klopfte auf meiner Brust herum, suchte Matratze und Kissen

ab. Nichts. Aber ich hatte sie erwischt. Und wir hatten es miteinan-

der gemacht, zum ersten Mal, wie sie es mir versprochen hatte. Aber

warum war dann ihr Halsband nicht da? Und warum hatte sie nicht

Lucy Christopher, Kiss me, kill me

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meines? Ich versuchte, mein Hirn zum Nachdenken anzutreiben,

mich zu erinnern. Noch immer roch ich den sÅßen Rosenduft ihres

ParfÅms. Ich hatte Dreck an den Zkhnen und im Mund, schmeckte

Ashlees Fairy Dust. Ich brachte mich dazu, die Augen richtig auf-

zumachen, und ließ meinen Blick Åber das Bett wandern, auf der

Suche nach Ashlees schmalem, pinkfarbenen Halsband mit den

Glitzersteinen. Auf dem Boden lag es auch nicht, war mir nachts of-

fenbar nicht weggerutscht. GekrÅmmt wie eine Banane lag ich auf

der Bettdecke, immer noch in Dads altem Militkrhemd, immer noch

total dreckig. pberall Erde und Blktter und ich war nass . . . regel-

recht durchgeweicht. Schweiß? Nein, Regen. Letzte Nacht hatte es

ein Gewitter gegeben. Ich musste echt viel getankt haben, dass mir

das erst jetzt wieder einfiel. Ich hatte sogar noch die Stiefel an.

Aber das Halsband war nicht da . . . nirgends. Vielleicht war es mir

irgendwo im Wald runtergefallen? Ashlee wÅrde mich umbringen,

wenn ich es verloren hktte. Die andern auch. Wir mÅssten ihr vor

dem nkchsten Spiel ein neues besorgen.

Ich setzte mich auf und wÅnschte mir sofort, ich hktte es bleiben

lassen. Mein Halsband war zu eng. Ich wollte es loswerden und fum-

melte an der Schnalle, bekam sie mit meinen immer noch betrunke-

nen, ungeschickten Fingern aber nicht gleich auf. Mich am Hals

anzufassen machte die pbelkeit noch schlimmer. Ich pfefferte das

Hundehalsband aufs Kissen, dann riss ich mir das Hemd auch noch

runter. Ich legte mir die Hand auf die Stelle unten an meinem

Kreuzbein, wo mein Tattoo anfkngt, und versuchte tief durchzuat-

men. Alles an mir verbreitete einen furchtbaren Gestank, aber auf

dem Teppich waren weder Kotze noch Pisse. Ed, fiel mir ein, hatte

mal damit angegeben, er wkre nach dem Spiel so betrunken gewe-

sen, dass er einfach in die Ecke von seinem Zimmer gepisst hktte.

Dann hatte er eine Bemerkung Åber Macks Dad hinterhergescho-

Jugendbuch ab 14 Jahren

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ben. Hatte behauptet, er wkre genauso breit gewesen, wie der immer

ist. Da musste er sich schnell wegducken, sonst hktte ihn Macks

Faust erwischt.

Mir war klar, ich sollte den Jungs simsen und rausfinden, wer das

Spiel letzte Nacht gewonnen hatte.

Ich sollte Ashlee simsen.

Ich wÅhlte in meiner feuchten Armeehose, die mir an den Beinen

klebte, aber ohne Erfolg. Hatte ich das Handy etwa auch verloren?

Mein Kopf tat viel zu weh zum Nachdenken, anscheinend hatte ich

mir jede Menge Hirnzellen weggesoffen. Wir hatten es ordentlich

krachen lassen, schon auf dem Parkplatz, und im Wald war es dann

weitergegangen. Nachdem Ashlee mir dieses Fairy-Dust-Zeug auf-

gedrkngt hatte, war der Wald fÅr mich ziemlich durcheinandergera-

ten.

Ich betrachtete meine Stiefel, als kÇnnten sie mir eine Antwort

geben. Sie waren total verdreckt und in einem SchnÅrsenkel hing

noch ein Blatt. Die Dinger wirkten genauso ramponiert wie mein

Hirn. Ich konnte mich erinnern, wie ich mein Gesicht in etwas

Feuchtes gedrÅckt hatte, und an den Geruch von Erde . . . in meinen

Haaren waren immer noch Fetzen von Blkttern und RindenstÅck-

chen. Ich trat mir die Stiefel herunter, kickte sie unters Bett. Dann

schnappte ich mir die Decke und zog sie mir gegen die Sonne Åbers

Gesicht, igelte mich ein. Ich wollte schlafen. Ich wollte spÅren, wie

Ashlee mich anfasst, wollte, dass sie genau das tat, was sie letzte

Nacht getan haben musste, nur wÅrde ich mich diesmal daran erin-

nern. Ich wollte eine Tasse Tee.

Ich lag einfach da, doch blÇderweise kamen weder Ashlee noch

der Tee wie von Zauberhand hereingeschwebt und schlafen konnte

ich auch nicht. Gestern Nacht war es anders gewesen als sonst, nicht

nur, weil mir Ashlee Sex versprochen hatte. Erst mal diese Sache mit

Lucy Christopher, Kiss me, kill me

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dem Fairy Dust. Ashlee hatte sich eine wilde Geschichte ausgedacht

und gesagt, wir wÅrden die Feen im Wald sehen, wenn das Zeug

anfing zu wirken.

»Lasst euch drauf ein«, hatte sie gesagt und uns das Pulver ins

Zahnfleisch gerieben.

Ashlee wusste, wie man an Drogen rankommt, aber so was war

noch nie dabei gewesen. Charlie hatte wie eine Hykne gelacht, dabei

war ihm eine lange Schnauze gewachsen, das hatte ich selbst gese-

hen.

»Du kriegst eine Sonderbehandlung«, hatte sie mir ins Ohr geflÅs-

tert und mir so viel reingedrÅckt, dass ich fast wÅrgen musste.

Spkter lagen wir zusammen auf dem Waldboden. Wir hatten es

gemacht. Ich versuchte mich an das GefÅhl zu erinnern . . . sie zu

spÅren. Ihre weiche Haut um mich herum. Ihre Wkrme.

Nichts!

Verdammt, wozu hat man Sex, wenn man sich hinterher nicht

dran erinnert? Wozu der ganze Abend, wenn man davon derart hÇl-

lische Kopfschmerzen bekam? Hatte mir irgendwer am Ende vom

Spiel so richtig eine reingehauen? Konnte ich mich deshalb an

nichts erinnern? War das vielleicht der Grund, wieso ich ihr Hals-

band nicht hatte? Ich blinzelte noch mal im Zimmer herum und

entdeckte auf dem Tisch neben dem Bett endlich mein Handy. Tipp-

te eine Nachricht an sie.

Was treibst du Geiles?Was treibst du Geiles?

War das zu heftig? Klang das, als wkre sie mir egal, als ginge es mir

nur um Sex? HÇrte ich mich wie ein Arschloch an?

Ich schickte die Nachricht trotzdem ab. Dann versenkte ich den

Kopf im Kissen und wartete auf Ashlees Antwort. Bestimmt wÅrde

sie mir irgendwas Schnuckliges schicken, vielleicht sogar ein Foto.

Das hatte sie in letzter Zeit Çfter gemacht: Ich durfte sie anschauen,

Jugendbuch ab 14 Jahren

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wie sie im Bett lag, nur im Schlafanzug, oder sie zeigte mir, welchen

Slip sie anhatte. Aber so, wie es in meinem Kopf gerade zuging, wkre

es schon genug, wenn sie einfach nur zurÅckschrieb, es hktte ihr

Spaß gemacht gestern. Oder mir nur erzkhlte, wer die meisten Hals-

bknder eingesackt und das Spiel gewonnen hatte.

Ich trkumte von ihr, ließ mich im Traum von ihr anfassen. SpÅrte

ihre abgekauten Fingernkgel auf meinem Bauch. Sie schmeckte

nach Zucker und ihre Zunge flitzte wie ein Fisch um meine Zkhne.

Und dann nahm sie mich in den Mund, machte mich heiß. Ich trieb

es mit ihr . . . fast. Dann glitt ich ziemlich weg. Ich trkumte, bis mich

die Sonne wieder aufgeheizt hatte und das Handy neben meinem

Ohr piepste. Ich musste grinsen. Vom Trkumen hatte ich einen

Stknder und war gierig auf einen heißen Spruch. Wenn ich sie an-

rief, wÅrde sie mir vielleicht was Unanstkndiges ins Ohr flÅstern.

Mich an das erinnern, was wir letzte Nacht miteinander gemacht

hatten.

Aber die SMS war von Mack.

Ich las sie trotzdem. Starrte die Worte, auf die Ellbogen gestÅtzt,

ewig lang an. Je Çfter ich sie las, desto wacher wurde ich.

Hast du gehÇrt, was passiert ist? Alles klar mit dir? Komm rÅber.Hast du gehÇrt, was passiert ist? Alles klar mit dir? Komm rÅber.

Was sollte das heißen?

Hatte ich irgendwas BlÇdes gemacht? War ich denn dermaßen

breit und zugedrÇhnt gewesen? Ich guckte nach anderen Nachrich-

ten, aber von Ashlee war seit gestern Abend nichts gekommen.

Auch keine Antwort auf meine SMS von eben. Hatte sie schlechte

Laune? Mich so lange zu ignorieren war nicht ihre Art.

Ich runzelte die Stirn. Auf einmal hatte ich ein Wort im Hirn, aus

dem Nichts aufgetaucht.

Unbrauchbar.

Wieso?

Lucy Christopher, Kiss me, kill me

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Hatte sie mich letzte Nacht so genannt? War ich unbrauchbar ge-

wesen, als wir es miteinander gemacht hatten? Zu high, um einen

hochzukriegen? Und so abgedreht, dass es mir egal war?

Irgendwann simste ich Mack. Was meinst du? Bin ok. Nur Kopfweh.Was meinst du? Bin ok. Nur Kopfweh.

Mack rief an. Er hÇrte sich heiser und Åbernkchtigt an und irgend-

was war komisch an seiner Stimme. »Dann weißt du also nichts? Ist

noch keiner bei dir aufgekreuzt oder . . . irgendwas in der Art? Die

Polizei?«

»Was soll ich wissen? Was meinst du?«

Ich hÇrte ihn einatmen. »Du weißt nichts von Ashlee?«

Ich sagte nichts. War nur verdammt durcheinander.

»Komm rÅber, Alter«, sagte er. »Komm einfach rÅber. Wir mÅssen

was klkren.«

Lucy Christopher

Kiss me, kill me

Aus dem Englischen von Beate Schifer

Umschlag: Henry s Lodge, Vivien Heinz

ca. 384 Seiten

Ab 14 Jahren

13,3 x 19,8 cm, Klappenbroschur

ISBN 978-3-551- 52033-3

A 14,99 (D) / A 15,50 (A) / sFr 21,90

Erscheint im Februar 2014

Von Lucy Christopher bereits erschienen:

Ich wÅnschte, ich kÇnnte dich hassen

Jugendbuch ab 14 Jahren

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Der Tod liegt ihm auf der Zunge

Dalton Fly hat schon eine Menge Gift geschluckt. Der

Waisenjunge kostet das Essen der SchÇnen und Reichen

von Highlions vor und merkt sofort, wenn irgendetwas

damit nicht stimmt. Doch nach dem letzten Auftrag ist

sein Freund Bennie tot und Dalton kommt nur mit viel

GlÅck davon. Wer steckt hinter dem Mord? Und warum

wird Dalton seitdem verfolgt? Gemeinsam mit der schÇ-

nen Scarlet Dropmore, die Dalton ihr Leben verdankt,

sucht er nach Antworten. Die Spur fÅhrt zu den mich-

tigsten Minnern der Stadt – und damit auch zu den ge-

fihrlichsten.

»Die Geschichte fesselt den Leser von den ersten Seiten

an.«

Booktrust.org

Der Autor

Fletcher Moss arbeitete bereits als RegalauffÅller und

LKW-Fahrer in Frankreich und Spanien, bis er schließlich

stellvertretender Schulleiter wurde. Mit seinem DebÅt

»Der Giftschmecker« hat er den Times-Chicken-House-

Schreibwettbewerb 2012 gewonnen. Er lebt mit seiner

Frau und seiner kleinen Tochter in Manchester.

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Eins

Als die TÅr mit einem Knall aufflog, drkngte sich Dalton Fly in

einer dunklen Ecke mit dem RÅcken gegen eine breite, kalte Mar-

morskule. Er hielt den Atem an und sah verzweifelt zu einer Spiel-

karte hinÅber. Irgendwie hatte ihm dieser GlÅcksbube, an dem

Bennies Blut klebte, das Leben gerettet. Er durfte ihn hier nicht zu-

rÅcklassen. Von seinem Versteck aus konnte Dalton das rotver-

schmierte Gesicht des Buben sehen, der ihn anstarrte. Die Karte lag

auf dem Teppich vor dem Kamin, vielleicht ein Dutzend Schritte

entfernt. Dalton blinzelte und konnte fÅr einen Moment nicht

mehr richtig sehen; alles war verschwommen. Er rieb sich die Au-

gen. An seinen Hknden und unter den Fingernkgeln war Blut.

Einer Sache war sich Dalton sicher: Zwei Mknner waren ins Zim-

mer getreten und sie hatten Pistolen, denn er hÇrte das Klicken ei-

nes Hahns, der zum Feuern gespannt wurde.

»Großer Gott!«, sagte einer der Mknner, er hatte wohl den toten

Bennie Jinks entdeckt.

Bennie lag mit dem Gesicht nach unten, ein Hkuflein Haut und

Knochen in einer Blutlache. Er hatte sich die Seele aus dem Leib ge-

hustet und noch immer lief Blut aus seinem Mund. Er war erst

zwÇlf. Was immer er gegessen hatte, es hatte ihm die Eingeweide

zerfetzt.

FÅr einige lange Sekunden herrschte Stille. Dalton konnte jetzt

wieder besser sehen, ihm klopfte das Herz und sein Magen schmerz-

te vom Gift. Er kniete sich langsam hin und kroch auf allen Vieren

weiter, damit er in dem ganzen Dreck nicht ausrutschte. Das war

viel Blut fÅr so einen kleinen Kerl, auch Dalton war klatschnass da-

von. Er hatte es im Gesicht und in der Nase, auf den Zkhnen und

Fletcher Moss, Der Giftschmecker

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unter der Zunge. Es schmeckte bitter und es war dunkel; seine Haare

waren schwarz verklebt. Erneut kkmpfte er gegen die pbelkeit an.

Die Lederstiefel der Mknner knarzten, als sie mit vorgereckten Pis-

tolen weitergingen. Einer der beiden ging neben Bennie in die Ho-

cke und berÅhrte ihn an der Schulter.

»Ist noch warm.«

Dalton sah zu den Kostproben, die auf dem dicken Teppich samt

Teller und Schalen verstreut lagen. Zwei Kissen mit Goldbesatz wa-

ren heruntergefallen; ein Stuhl lag auf der RÅckenlehne. Die rußen-

de Flamme einer Kerze zitterte und in den grauen TorbÇgen tanzten

tiefe Schatten. Vielleicht hatte Bennie diese VerwÅstung angerich-

tet, als er unter Schreien und Gurgeln erstickt war. Das Scheppern

und Klirren musste weit Åber die Flure und Galerien gehallt sein.

»Mist!«, fluchte der eine und stieß mit dem Fuß etwas beiseite.

»Was fÅr eine Sauerei. Das sollte sich die Meisterin einmal anse-

hen.«

Wieder Bewegungen. Dalton fragte sich, ob sie ihre Pistolen inzwi-

schen heruntergenommen hatten. Seine Hknde zitterten wie ver-

rÅckt. Bennies Blut auf seinen Kleidern und seiner Haut kÅhlte ab,

die Klumpen fingen an zu kleben. Jetzt, Åberlegte er, bestand eine

Chance. Wenn die Mknner an dem massiven Tisch vorbeigingen

und das andere Ende des Raumes durchsuchten, drÅben bei den

Fenstern, dann konnte er es dicht am Boden bis zu seiner Karte

schaffen und abhauen.

Er krabbelte los und hatte erneut Probleme, seine Umgebung klar

und deutlich zu sehen. Ein silberner Kelch war mitten in die dun-

kelrote PfÅtze gerollt, mit verschmierten blutigen FingerabdrÅcken

darauf. Irgendwo draußen hallten Glocken. Kirchenglocken, die un-

ablkssig lkuteten.

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Der GlÅcksbube zwinkerte ihm noch immer gelassen zu. Dalton

setzte langsam eine Hand vor die andere und versuchte, nicht zu

atmen. Er brauchte diese Karte.

»Was war es? Der Wein?«, fragte der eine Mann den anderen.

Dalton hÇrte, wie ein Pfropfen aus einer Flasche gezogen wurde.

Er kroch langsam weiter und konnte die Mknner jetzt sehen. Sie

standen wenige Schritte hinter dem Tisch, zwei verschwommene

Umrisse im Schatten. Sie brauchten sich nur umzudrehen und er

war geliefert. Angst durchrieselte ihn.

»Weiß der Teufel. Der Wein, die FrÅchte, die Oliven . . .«

Wieder Stille. Der eine Mann nahm den Tisch in Augenschein, das

breite Kreuz gekrÅmmt. Dalton versuchte sich zu erinnern, was Ben-

nie und er zuletzt gekostet hatten, wo sich das Gift verbarg. Er kroch

langsam weiter.

»Irgendwas hat ihn umgebracht . . .«, sagte der eine. »Der Bursche

hat ja die Innereien aus dem Leib gehustet.«

»Verdammt«, sagte der andere. »Jetzt habe ich mir die Stiefel ein-

gesaut.«

Um Bennie herum lagen Speisen. Datteln, Oliven, Obst, zwei helle,

halb ausgewickelte StÅcke Kkse, und Wein. Dalton wusste noch,

dass er Wein getrunken hatte; er konnte es trotz des Bluts hinten

an seinen Zkhnen schmecken.

Vorsichtig bewegte er sich weiter vorwkrts. Seine Hknde klebten,

wenn er sie vom Teppich hob. Auf der halb heruntergerissenen

Tischdecke, deren Zipfel Bennie immer noch in der kleinen roten

Faust hielt, lagen wÅrfelfÇrmige Geleebonbons mit Puderzucker ver-

streut. Der GlÅcksbube schien zu grinsen. Dalton hatte ihn fast er-

reicht. Er streckte die Hand aus, sie tropfte und bebte. Er war ganz

nah daran. Seine Muskeln brannten.

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»Verflucht noch mal!«, sagte der eine Mann plÇtzlich und fletsch-

te die Zkhne. »Wo steckt der andere Junge, der kltere?«

Daltons Herz setzte einen Schlag aus. UnwillkÅrlich zog er vor

Angst den Bauch ein. Er hÇrte, wie einer der beiden Mknner einen

Schritt nach vorn machte, aber er wagte es nicht, hinzusehen.

»Wo ist er abgeblieben?«

Dalton berÅhrte den Rand der Spielkarte mit den Fingerspitzen.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Wenn sie sich umdrehten,

war er so gut wie tot.

»Hier ist er nicht.« Diesmal war die Stimme ganz nahe. Ein Vor-

hang wurde beiseite gerissen und wieder losgelassen. Sie durchsuch-

ten den Raum.

Dalton zog die Karte langsam an sich. Wieder Stiefelschritte. Er

schluckte schwer. Jetzt hatte er die Karte. Er versuchte rÅckwkrts

zu kriechen, zurÅck in die schÅtzende Dunkelheit, aber seine Beine

wollten ihm nicht gehorchen.

»Wo steckt der andere denn nun?«, fragte die Stimme und war

jetzt wieder weiter weg, wahrscheinlich bei den Fenstern.

Erneutes Schweigen. Papiere raschelten, als einer der beiden die

Unterlagen fÅr das Vorkosten ÅberprÅfte.

»Sein Name ist Dalton Fly. GehÇrt auch zu Oscars Jungen.«

Die Mknner standen beisammen und beugten sich gemeinsam

Åber die Papiere. Eine bessere Gelegenheit, in Deckung zu gehen,

wÅrde Dalton nicht bekommen. Er gab sich einen Ruck und zog

sich bebend zu der Skule zurÅck. Dabei hinterließ er eine breite rote

Schmierspur auf dem Boden. Er steckte den Buben ein und unter-

drÅckte ein Schluchzen der Furcht und Erleichterung. Nun war er

wieder in seinem Versteck im Schatten der gewaltigen Marmorsku-

le, die zu der gemusterten Decke aufstieg.

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Als er aufstand, tauchte vor ihm plÇtzlich das verschwommene

Bild eines abstoßenden Dkmons auf, der ihn mit irrem Blick anstarr-

te. Instinktiv riss er die blutverschmierten Hknde hoch. Da erkannte

er, dass er sich selbst in einem goldenen Spiegel sah. Die eine Ge-

sichtshklfte glknzte purpurschwarz, als hktte er sie in Teer getaucht.

Seine Haare standen ab. Seine Zkhne waren rot. Er sah grksslich zer-

schunden aus. Aber er lebte.

»KÇnnte sich um einen BetrÅger handeln«, sagte der eine Mann.

»Die Meisterin kÇnnte in Gefahr sein.«

»Wkre mÇglich.« Sie schwiegen erneut. Einer der beiden spuckte

aus.

Dalton tastete sich um die Skule herum und sah, dass die Zimmer-

tÅr einen winzigen Spalt offenstand. Wenn er schnell war und nicht

ausrutschte oder sich Åbergeben musste, dann konnte er vielleicht

entkommen, wkhrend die beiden noch grÅbelten.

»Kann sein, dass der Junge gar nichts weiß«, sagte der eine. Wie-

der war das Rascheln von Papier zu hÇren. »Er ist erst vierzehn. Sie

sind noch Kinder.« Eine Pause. »Moment mal . . .«, fÅgte der Mann

und nun klang seine Stimme hkrter. Ihnen war etwas aufgefallen:

die rote Spur auf dem Boden, die direkt zur Skule fÅhrte. Wieder

klickte der Hahn einer Pistole; nun waren beide schussbereit.

Dalton schluckte, doch der heiße Klumpen in seiner Kehle wollte

sich nicht rÅhren. Seine FÅße verkrampften sich. Bewegungen wa-

ren zu hÇren. Sie kamen nkher. Er sah wieder zu der TÅr, seiner ein-

zigen FluchtmÇglichkeit. In seinem Magen brodelte es, aber er riss

sich zusammen. Die TÅr war nur einen Sprung entfernt; er konnte

es dorthin schaffen, bevor sie ihre Pistolen hochrissen, und draußen

sein, bevor sie ihn Åber den Haufen schossen.

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Er tastete nach seiner GlÅckskarte, die jetzt sicher in seiner Jacken-

tasche steckte, und schickte ein sinnloses Gebet fÅr Bennie Jinks gen

Himmel. Dann rannte er los.

Zwei SchÅsse knallten ohrenbetkubend und der TÅrrahmen neben

seiner Schulter zerbarst zu knotigen BruchstÅcken. Dalton bekam

Panik und schrie auf vor Angst – dann floh er keuchend aus dem

Zimmer.

Er gelangte in eine offene, mit Marmor ausgelegte Halle, in der

unzkhlige ausgestopfte VÇgel ausgestellt waren. Sie starrten ihn an

wie wilde Kreaturen aus einem Albtraum. Eine geschwungene Trep-

pe mit blauem Lkufer fÅhrte nach oben. PlÇtzlich flog zu seiner Lin-

ken eine TÅr auf und ein zweiter Trupp Mknner kam auf ihn

zugelaufen. Eine breite, schwarze Gestalt fÅhrte sie an, mit einem

flatternden Reitumhang um den Schultern. Jemand stieß einen

Kampfschrei aus. Daltons Furcht trieb ihn die Stufen hinauf, er

nahm immer drei auf einmal. Hinter ihm war ein Schuss zu hÇren,

dann ein lauter Fluch.

Er war halb wahnsinnig vor Angst und musste weinen, teils we-

gen Bennie Jinks, der tot in dieser fremden Villa des Oberen Ringes

lag, teils vor Angst, eine Ladung Blei verpasst zu bekommen.

»Dreck!«, fluchte er und fummelte auf der Suche nach seiner

GlÅckskarte in der Jackentasche herum. Dabei sah er sich im Zim-

mer um. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, um klarer se-

hen zu kÇnnen. Dann hielt er den Buben fest in seinen zitternden

Hknden und flehte ihn um Beistand an. Auf Blackjack Gannet, den

mkchtigen KÇnig aller giftschmeckenden Jungen, konnte man sich

in Momenten der Verzweiflung verlassen.

»Was jetzt, Gannet?«, fragte er die Karte. Seine Stimme war rau,

kratzig, und ihm brannte die Kehle. Der Bube starrte ihn an und

schwieg. »Lass mich nicht im Stich, Gannet. Wohin jetzt?«

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Draußen rÅttelte ein warmer Wind am Fenster und wieder fielen

Dalton die Glocken auf. Hunderte von ihnen schienen Åberall in der

Stadt zu lkuten, langsam, tief, drÇhnend. Er wischte sich den

Schweiß aus den Augen. Was war da draußen los? Vorsichtig nkher-

te er sich dem Fenster und achtete darauf, die Scheibe nicht zu be-

schmieren. Unten waren unzkhlige Dkcher zu sehen, das Gewirr der

Kuppeln und Galerien, der Fußwege und Plktze. Anscheinend hatte

sich jede Kirche der Stadt dem klagenden Chor des endlos schallen-

den Lkutens angeschlossen. So etwas hatte Dalton noch nie gehÇrt –

als wkre ganz Highlions in Trauer verfallen.

Er starrte hinunter und Åberlegte.

Wieder rÅttelte ein leichter Wind an dem Schiebefenster. Dalton

sah noch einmal den Buben an, den er noch immer nicht richtig

scharf sehen konnte, dann steckte er die Karte weg. In ihm loderte

Furcht.

»Na schÇn«, krkchzte er.

Blackjack Gannet hatte gesprochen. Dalton wischte sich die Hkn-

de so sauber wie es nur ging, riss schweratmend und keuchend das

Schiebefenster auf und kletterte hinaus ins Nichts.

Drei

»Wir kriegen das nicht hin, ohne Oscar zu wecken«, flÅsterte Sal

Sleepwell. Oscar zu wecken, wkre ein Fehler; soviel war den beiden

Jungen klar. »Hilft es, wenn du die Luft anhkltst?«

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Dalton, der es schließlich nach Hause geschafft hatte, kauerte in

einem Flecken Mondlicht unter einem Fenster im ersten Stock von

Oscars Haus. Er starrte seinen Freund finster an. »Es hilft, wenn ich

weiß, was das fÅr ein Gift ist, du Schwachkopf.« Er brachte ein Lk-

cheln zustande, bleckte dabei aber die Zkhne. »Wir mÅssen da rauf.«

»Richtig. Richtig. Weiß ich auch.« Sal steckte sich die Brille in den

vollen, ungezkhmten Haarschopf. In seinen Augen standen noch

immer Trknen um Bennie Jinks und seine Stimme bebte. »Bloß,

dass er da oben pennt und es Gott weiß wie spkt ist. Wir kommen

nie an das Zeug ran, ohne ihn aufzuwecken.«

»Nun hÇr schon auf, Sleepwell«, sagte Dalton ein wenig zu laut.

Sein Freund riss die Augen auf und hob warnend die Hknde. Sie zit-

terten. »Du kannst das von uns allen am besten«, fÅgte Dalton flÅs-

ternd hinzu.

Sal wischte sich die Nase und spkhte hinaus auf die leere Straße.

Die Glocken lkuteten noch immer; ein unablkssiges DrÇhnen, das

Åber die Stadtbezirke hinweg hallte – bis hinaus nach Angels und

Geswick und Yelder – Åber die zerbrochenen Dachziegel der engen

Hkuser des Unteren Ringes hinweg.

»Teufel!«, sagte er und sah zur Decke hinauf. »Wie kann der Alte

bei diesem Lkrm Åberhaupt schlafen?«

»Fiebertee, du Schwachkopf. KÇnnen wir uns vielleicht ein wenig

beeilen? Ich bin ziemlich hinÅber.«

Irgendetwas raschelte unten in den Schatten – eine Ratte, die sich

ihren Weg durch den Staub suchte. Es hatte seit Wochen nicht ge-

regnet. Ein einsamer Fensterladen klapperte mÅßig im lauen Wind.

Direkt unter ihnen schaukelte quietschend das Ladenschild aus Ei-

sen, auf dem stand: Oscars redliches Dutzend. Gegengifte und Vor-

kosten fÅr das Volk von Highlions. Aber auf ein Dutzend waren sie

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noch nie gekommen, das wusste Sal. Sie waren immer nur zu dritt

gewesen und nun hatte es Bennie erwischt.

Oscar sprach manchmal mit einem vertrkumten Blick ins Leere

von seinem redlichen Dutzend. Dann zkhlte er Namen auf wie einen

alten Zauberspruch: Starmint, Rakes, Moorepeach, May, Swales.

Tote Jungen oder auch Erwachsene, die schon lange nicht mehr in

den brÅtenden Gassen des Unteren Ringes lebten. Jetzt schlief der

Alte da oben, den massigen KÇrper verdreht, das Bettzeug zurÅck-

geworfen, schwitzend und tief in einem Fieberteetraum gefangen.

Sal wandte sich vom Fenster ab.

»Na schÇn. Gehen wir rauf.«

»Danke.« Dalton wischte sich mit einem schweren rrmel Åber

das heiße Gesicht. In seinem Bauch krampfte und zuckte es.

»Also ist Bennie schlecht geworden, ja?« Sal kauerte sich neben

ihn und begann mit seiner Untersuchung.

Dalton nickte und fuhr mit den Fingern die Kanten des GlÅcks-

buben in seiner Innentasche entlang.

»Wie doll? Ganz plÇtzlich? War es wie FlussÅbelkeit?«

»Weiß ich nicht mehr«, flÅsterte Dalton mit fest zugekniffenen

Augen. »Ich bin so wieder zu mir gekommen.« Er zeigte auf seine

verdreckte, zerknitterte Jacke.

»Hast du selber auch Blut gehustet? Oder ist das alles von Ben-

nie?«

Sal bohrte weiter nach, zupfte dabei an den gelben Strkhnen sei-

nes Ponys und schloss ab und zu die Augen. Er versuchte sich an

alles zu erinnern, was er in kÅrzester Zeit aus den BÅchern gelernt

hatte. Man musste die wesentlichen Elemente bestimmen: Zeit-

punkt der Erkrankung, Art der Erkrankung, Temperatur, Reaktion

auf eine Kerzenflamme . . . »Zittern?«, fragte er mit einem trockenen

FlÅstern. »Krkmpfe in Armen und Beinen?« Mit jeder Antwort kam

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er der Sache nkher. »Was fÅr eine Art Kopfschmerz? Oben im Na-

cken, hier?« Unablkssig drÇhnten die Glocken. »Was ist mit deinen

Augen? Zeig mir deine Augen.« Er betrachtete sie aus nkchster Nk-

he. »Mist!«, fluchte er, die Stimme etwas hÇher als Åblich.

»Was ist? Was stimmt denn nicht?«

»Kannst du mit denen Åberhaupt noch irgendwas sehen?«

»Nicht richtig. Aber ist schon besser geworden. Was meinst du

mit denen?«

»Deine Augen sind hinÅber.« Sal pfiff leise. »Das ganze Weiße ist

jetzt schwarz. Als ob man in zwei Tintenfksser reinguckt.«

Dalton hielt dem Blick des anderen Jungen stand. Es gab nur ein

Gift, das so wirkte, und das wussten sie beide.

»Hast du ein Brennen im Hals?«, fragte Sal.

Dalton nickte und verzog das Gesicht.

»Und du weißt nicht mehr, was passiert ist.«

»Nein«, sagte Dalton. »Ich bin zu mir gekommen und Bennie war

tot. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich brauchte Stunden, um

wieder hierher zurÅckzufinden.« Er hielt sich den Bauch und

schloss die Augen.

Sal musterte seinen Freund – ein blasser Giftschmecker, der Fieber

hatte und am Wegdkmmern war. »Verschwommene Sicht«, sagte

Sal mit konzentrierter Miene und hob einen dÅnnen Finger. »Ein

lÅckenhaftes Gedkchtnis.« Ein zweiter Finger ging nach oben.

»Und, Sleepwell«, sagte Dalton und rang sich ein Lkcheln ab,

»kannst du das hier spÅren?« Er legte sich die Hand seines Freundes

auf die Brust. Daltons Herz setzte im Wechsel aus und galoppierte

irrwitzig. »Das macht es schon die ganze Zeit. Egal, was ich tue.«

Sal stand auf und wischte sich die rote Handflkche ab. »Wir brau-

chen Kalabarbohnen«, sagte er entschieden. »Und zwar genau die

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richtige Anzahl, sonst . . .« Er brach ab. Dalton grunzte und versuch-

te aufzustehen. Sal streckte ihm eine Hand entgegen.

»Dann ist das Gift also – Belladonna«, sagte Dalton.

Sal nickte traurig und zog seinen Freund auf die FÅße. Wieder

wischte er sich fÅr ein, zwei Sekunden die Augen und schniefte laut,

dann rÅckte er sich die Brille auf der sommersprossenÅberskten

Nase zurecht und machte sich daran, fÅr Dalton das Gegengift zu

besorgen.

(. . .)

In der KÅche war alles still. Niemand hatte den Abwasch gemacht.

An den billigen Zinntellern und schwarz angelaufenen TÇpfen kleb-

ten noch die Reste des Abendessens vom Vortag. Der lange Tisch, an

dem die Jungen gemeinsam aßen, war leer. Die beiden sahen zu dem

großen Stuhl mit der hohen RÅckenlehne, der am Kopfende stand.

Aber Oscar wÅrde noch lange nicht aufstehen.

»Sleepwell, wir mÅssen uns was Åberlegen.« Dalton ging zum

Fenster und rieb mit der Hand Åber die Scheibe, die so verdreckt

war, dass man kaum hindurchsehen konnte. »Sonst kommen wir

hier nicht mehr weg.« Wir mÅssen dringend –«

Aus dem Hausflur ertÇnten einige harte Schlkge. Die EingangstÅr

kchzte. Sal fuhr auf wie ein erschrockenes Kind und Dalton ließ sei-

ne Karte fallen.

»Dalton Fly!«, bellte eine Stimme von draußen. »Stadtwache.

Mach sofort die TÅr auf!«

Es gab eine kurze Pause. Die Hunde knurrten und hechelten und

an der TÅr. Dalton und Sal sahen einander mit offenem Mund an.

Ihre Herzen rasten.

»Verdammt!«, fluchte Sal scharf. »Was machen wir jetzt?«

»Dalton Fly!« Erneut hkmmerten krkftige Fkuste an die TÅr. Die

Hunde zerrten bellend und grollend an ihren Leinen.

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Ganz zerstreut vor Angst bÅckte sich Dalton und hob den GlÅcks-

buben auf. Dabei fiel ihm etwas ins Auge. »Sleepwell«, sagte er und

sah auf. »Was ist mit dem Abwasserschacht?«

Sal grinste erleichtert. »Gute Idee«, hauchte er.

»Dann ab nach unten.« In Daltons Augen glomm ein wildes Feu-

er. »Sleepwell. Sag, dass du eine Route kennst. Sag mir, dass du eine

Route kennst.«

Die alte, lkngst vergessene FalltÅr zum Abwasserschacht befand

sich unter dem Esstisch. Sie tasteten hektisch und mit zitternden

Hknden auf dem staubigen, kalten Fußboden an ihrer Kante herum

und fluchten nur verstohlen, als ihre Fingernkgel umknickten und

sie sich die Fingerkuppen klemmten. Sal gelang es, die Finger unter

eine Ecke zu schieben, Dalton zog an der TÅr und hielt den Atem an,

als ihm ein Schwall skuerlicher Luft entgegenkam.

Wkhrend sie sich noch abmÅhten, knallte eine Pistole, die Schar-

niere barsten und die HaustÅr wurde eingeschlagen. Aus dem Flur

war das erstickte Knurren von Hunden zu hÇren, die sich ins Haus

drkngten.

»Dalton Fly!«, rief ein undeutlicher Umriss mit vorgehaltener Pis-

tole. »Ergib dich! Niemand darf dieses Gebkude verlassen!« Der gan-

ze Trupp breitschultriger Stadtwachen bahnte sich einen Weg in

Oscars Haus; die Jungen konnten ihre stkmmigen Beine von ihrem

Versteck aus sehen.

Dalton schaffte es endlich, die TÅr zu Çffnen. Nur mit MÅhe ge-

lang es ihm, sie lange genug zu halten, dass Sal hindurchschlÅpfen

konnte. Im Flur drangen die Mknner mit gezÅckten Pistolen weiter

vor und jemand brach die nkchste TÅr mit der Schulter auf.

Sal war jetzt unten im dunklen Schacht verschwunden. Dalton

hkngte die Beine in die qffnung, drehte sich auf den Bauch und ließ

sich fallen. Das Letzte, was er sah, waren trampelnde Stiefel in der

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KÅche. Er ließ die FalltÅr so sanft herunter, wie er konnte, mit

schmerzenden Armen, und fand sich in pechschwarzer Dunkelheit

wieder.

Einen Moment lang war es totenstill. Dann hÇrte er das Kratzen

und Schaben schwerer Schritte auf dem Steinboden und das Knur-

ren der Hunde.

»Hier drin ist der Abwasserschacht«, sagte jemand. »Schickt die

Hunde rein. Stellt diesen Raum auf den Kopf. Und unterschktzt den

Burschen nicht. Er ist gefkhrlich.«

Fletcher Moss

Der Giftschmecker

Aus dem Englischen von Frank BÇhmert

Umschlag: Henry s Lodge, Vivien Heinz

ca. 336 Seiten

Ab 12 Jahren

15 x 21 cm, gebunden

ISBN 978-3-551- 52064-7

A 14,99 (D) / A 15,50 (A) / sFr 21,90

Erscheint im August 2014

Fletcher Moss, Der Giftschmecker

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Ein Sommer, der ihr Leben verGndern wird

Wie immer verbringt Sophie die Ferien bei ihrer Mutter

im Kongo. Kaum ist die 14-Jihrige in Kinshasa ange-

kommen, kauft sie einem Straßenhindler ein niedliches

Bonobo-Baby ab und nennt es Otto. Es ist krank und

braucht unbedingt FÅrsorge und Pflege. Dass ihre Mutter

ihr deswegen VorwÅrfe macht, ist schnell schon nicht

mehr Sophies einziges Problem. Rebellen haben die Re-

gierung gestÅrzt, das Land befindet sich im Krieg und

die UN will alle Auslinder ausfliegen. Doch Tiere dÅrfen

nicht mit. Weil ihre Mutter unterwegs ist, trifft Sophie

eine folgenschwere Entscheidung: Sie bleibt. Denn sie

kann Otto nicht verlassen. Eine gefahrvolle Odyssee be-

ginnt.

»nberwiltigend und großherzig«

The New York Times

Der Autor

Eliot Schrefer hat in Harvard studiert und anschließend

fÅr zahlreiche Zeitungen geschrieben, darunter The Huf-

fington Post und USA today. Mit seinem Roman

»Dunkelrote Erde« wurde er fÅr den National Book Award

2012 nominiert. Wenn er nicht gerade Bonobos im Kon-

go besucht, lebt er in New York.

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Teil 1: Otto

Es ist schwer vorstellbar, aber Beton kann tatskchlich verrotten:

Erst verfkrbt er sich grÅnlich, dann wird er schwarz und schließlich

zerbrÇckelt er.

Doch das weiß kaum jemand. Das wissen wohl nur die Kongole-

sen.

Es gab eine Zeit, da sind auch mir solche Sachen nicht aufgefallen.

Als kleines Kind habe ich im Kongo einfach nur die Åppige, immer-

grÅne, kraftstrotzende Natur wahrgenommen. Und diesen Wahn-

sinnshimmel, Åber den die VÇgel leuchtend bunte Streifen zogen.

Mit acht Jahren bin ich dann mit Dad in die USA gezogen. Seitdem

besuchte ich meine Mutter nur in den Sommerferien, und jedes Mal

kam es mir so vor, als wÅrde ich ins Nirgendwo reisen – oder ge-

nauer: auf die gefkhrliche, feucht-schwÅle RÅckseite des Nirgendwo.

Die Hauptstadt Kinshasa hat rund zehn Millionen Einwohner,

aber nur zwei geteerte Straßen und so gut wie keine Ampeln. Es ist

ziemlich aussichtslos, auf den chaotischen, stkndig ÅberfÅllten Stra-

ßen schnell irgendwohin zu kommen. Und deshalb steckten wir

auch sofort im Verkehr fest, als der Fahrer vom Haus meiner Mutter

losfuhr, um mich zu ihrem Arbeitsplatz zu bringen. Wegen einer

Straßensperre kamen wir nur zentimeterweise voran. Dass die Poli-

zei die Straße abriegelt, ist nicht gerade an der Tagesordnung, aber

auch keine Seltenheit. Einige der Polizisten auf Kinshasas Straßen

sind echt, andere sind irgendwelche Typen in gestohlenen Unifor-

men, die versuchen Bestechungsgelder abzugreifen. Absolut unmÇg-

lich, die echten von den unechten zu unterscheiden. Aber letztlich

ist es auch egal, denn in beiden Fkllen gelten dieselben Verhaltens-

regeln: Motor anlassen, Ausweis gegen die Windschutzscheibe hal-

Jugendbuch ab 14 Jahren

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ten, keinesfalls das Fenster runterkurbeln und erst recht nicht aus-

steigen, wenn man aufgefordert wird mitzukommen.

Auch jetzt nkherte sich jedem Auto, das abbremste, ein Mann. Al-

lerdings sah er nicht nach einem falschen Polizisten aus, sondern

eher nach einem ganz normalen Bettler. Dann sah ich, dass er ir-

gendein kleines Tier hinter sich herzog. Ich kletterte auf den Vorder-

sitz, um besser gucken zu kÇnnen.

Es war ein Affenjunges. Sobald der Mann neben einem Auto stand,

riss er das rffchen hoch, das wie auf Knopfdruck ein breites Grinsen

aufsetzte und mit den FÅßchen strampelte. Obwohl der Mann stark

humpelte, war er erstaunlich flink, er hatte eine ganz eigene Art,

seinen schorfigen Klumpfuß vorwkrtszuschwenken. Hinter dem Ty-

pen stand ein rostiges Fahrrad, auf dessen Gepkcktrkger eine Holz-

kiste geschnallt war, wahrscheinlich zum Transportieren des Affen.

Ich hatte an diesem Morgen bereits unzkhlige leidende Tiere gese-

hen: Graupapageien am Straßenrand, die so eng in ihren Kkfigen zu-

sammengepfercht waren, dass die bereits verendeten VÇgel genauso

aufrecht dastanden wie die noch lebenden; eine verkrÅppelte HÅn-

din, die mit ihrem bloßliegenden HÅftknochen jaulend auf einem

ÅberfÅllten Markt herumlief, umschwirrt von Fliegen; ein paar halb

tote Kktzchen, die vom GÅrtel eines Hausierers baumelten. Aber ich

hatte gelernt, solche Bilder auszublenden. Anders ging es gar nicht

in einer Stadt, in der man alle paar Kilometer einen Menschen am

Straßenrand sterben sah. Und das war fÅr mich dann doch noch

schlimmer als die Qualen eines Tieres. Zumindest redete ich mir

das ein. Mom sah das anders. Sie war der Meinung, dass die Art und

Weise, wie wir Tiere behandeln, ein Spiegel dafÅr ist, wie wir unsere

Mitmenschen behandeln. Und deshalb setzte sie sich auch mit all

ihrer Energie dafÅr ein, Mknner wie diesen humpelnden Affenhknd-

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ler davon abzuhalten, sogenanntes Buschfleisch zu verhÇkern. Ihr

Engagement fÅr den Tierschutz war schon immer sehr groß gewe-

sen – mit der Folge, dass sie damals, als Dads Job im Kongo endete

und er nach Amerika zurÅckmusste, einfach hierblieb. Die beiden

haben sich dann scheiden lassen. Das war das Ende unseres Zusam-

menlebens als Familie.

Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass sich das rffchen

bestens amÅsierte, so wie es von einem Ohr zum anderen grinste.

Aber als ich genauer hinschaute, sah ich die Wunden und kahlen

Stellen in seinem Fell, dort, wo es offenbar festgebunden gewesen

war. Das Seil hing noch an seiner HÅfte und schleifte hinter ihm

durch den Straßenstaub.

»Halt an!«, rief ich. Mein pberdruss, in diesem Auto festzusitzen –

und in diesem Land –, war auf einmal verflogen.

»Nein, Sophie«, widersprach Moms Chauffeur neben mir. »Deine

Mutter wÅrde wollen, dass ich ihr Bescheid sage, damit sie das Um-

weltministerium einschalten kann. Sie wÅrde wollen, dass die sich

darum kÅmmern – und nicht ihre Tochter.«

Der Mann ließ den kleinen Bonobo los, der sich mÅde in den

Schmutz hockte, die Arme sinken ließ und regelrecht zusammen-

sackte, als die Anspannung in seinen Muskeln nachließ. Ich kniete

mich hin und streckte meine Hand nach ihm aus. Das rffchen

blickte kngstlich zu seinem Herrchen, bevor es sich mÅhsam auf-

raffte und langsam auf mich zutappte. Kurz lehnte es sich an mein

Schienbein, dann streckte es die rrmchen aus, um hochgehoben zu

werden. Es war federleicht. Wie ein zartes Collier legten sich seine

dÅnnen Arme um meinen Hals, und der kleine Kerl schmiegte sich

an mich. Ich konnte seine Rippen unter meinen Fingern spÅren und

seinen flatternden Herzschlag in meiner Halsbeuge. Er drÅckte seine

Lippen auf meine Wange, wahrscheinlich um so dicht wie mÇglich

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bei mir zu sein, und erst da konnte ich seine schwachen Schreie ver-

nehmen. Er hatte offenbar schon so lange geschrien, dass seine Stim-

me fast weg war.

Clnment hatte das Auto inzwischen geparkt und kam wutschnau-

bend auf uns zu.

»Wie viel wollen Sie fÅr ihn?«, fragte ich den Hkndler.

»Das Reservat kauft keine Bonobos«, belehrte mich Clnment und

trat zwischen uns.

»Er ist mein Eigentum«, antwortete der Mann. »Sie kÇnnen ihn

mir nicht wegnehmen.«

»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn und wÅnschte, Clnment wÅrde

verschwinden.

Wkhrend ich die eine Hand stÅtzend unter das dÅnne Hinterteil

des Tieres schob, zog ich mit der anderen das Geld aus der Tasche

und reichte es dem Mann. Es war weniger, als er verlangt hatte,

aber er steckte das ScheinbÅndel weg, ohne nachzuzkhlen, und

humpelte zurÅck zu seinem Rad.

Clnment drkngte mich zum Auto und hÅllte sich den restlichen

Weg bis zum Reservat in Schweigen.

Man brauchte keine Bonobo-Expertin zu sein, um zu sehen, dass

das Exemplar auf meinem Schoß ganz besonders hksslich war. Es

war fast kahl, seine Haut war schorfbedeckt und am vorgewÇlbten,

nur von einer dÅnnen grauen Flaumschicht bedeckten Bauch ganz

runzelig. Die HÅftknochen, an denen das Seil gescheuert hatte, wa-

ren von Eiterblasen Åberzogen. An der einen Hand fehlte der kleine

Finger und der daneben war nur ein kleiner roter Stumpen.

Der Bonobo war entsetzlich mager. Entweder war er nicht gefÅt-

tert worden oder er hatte die Nahrung verweigert. Es war Åberdeut-

lich: Dieses Tierkind hatte nichts und niemanden auf der Welt –

außer mir. Und wir kannten uns erst seit ein paar Minuten.

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»Schhhhh«, flÅsterte ich. »Ganz ruhig, mein Kleiner, ab jetzt wirst

du es gut haben.«

Doch noch wkhrend ich das sagte, wusste ich, dass ich damit sehr

viel versprach.

Wir bogen von der geteerten Straße ab auf eine staubige Schotter-

piste. Clnment manÇvrierte den Wagen vorsichtig um das Wrack

eines Pick-ups, das mitten auf der Straße vor sich hin rostete, dann

bog er in einer scharfen Kurve in Richtung Dschungel ab. Die Piste

wurde jetzt immer morastiger und schmaler, das grÅne Dickicht zu

beiden Seiten immer dichter. Schließlich kÅndigte ein kleines hand-

gemaltes Schild an, dass wir uns unserem Ziel nkherten.

(. . .)

»Siehst du Mom irgendwo?«, fragte ich Clnment, wkhrend mein

Blick nervÇs Åber das Gelknde schweifte. Ich kannte Moms Devise:

Sie wollte, dass das Umweltministerium die Bonobos ganz offiziell

beschlagnahmte, damit sie und ihr Reservat nicht in den Ruf kamen,

den Leuten ihr Eigentum wegzunehmen. Aber in diesem Fall hatte

ich keine andere Wahl gehabt. Hktte ich dem Mann das Geld nicht

gegeben, wkre er mit dem Bonobo im GewÅhl untergetaucht. Und

dann hktte dessen kleines Herz, das ohnehin schon so schwach

pochte, garantiert bald aufgehÇrt zu schlagen. Und Åberhaupt:

Wenn es Mom wirklich ernst war mit ihrer Lebensaufgabe, dem Er-

halt dieser speziellen Schimpansenart, dann musste sie sich doch ei-

gentlich Åber jedes einzelne Tier freuen, das in ihre Obhut gelangte

– egal auf welche Weise.

(. . .)

Mom saß eine Weile ganz ruhig da und streichelte mir und dem

Bonobo Åber den Kopf.

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»Schatz«, sagte Mom langsam, »ich muss etwas mit dir bespre-

chen: Was du heute getan hast, war falsch.«

Das war das Problem mit meiner Mutter: Sie sah nicht ein, dass es

einen ziemlich großen Spielraum gab zwischen Richtig und Falsch.

Damals im Kongo zu bleiben, im Bonobo-Reservat, war fÅr sie rich-

tig gewesen – mit meinem Vater und mir nach Amerika zu gehen

wkre eindeutig falsch gewesen. Etwas anderes wollte sie einfach

nicht wissen. »Ich weiß, was du meinst, Mom. Dass das Ministerium

hktte informiert werden mÅssen und so. Aber dazu war keine Zeit.

Wenn ich nicht sofort gehandelt hktte, dann hktte der Typ . . .«

»Erinnerst du dich noch daran, dass kurz nach der ErÇffnung des

Reservats jemand einen Stein durch ein Fenster hier geworfen hatte?

Du schienst mir damals noch zu klein, deshalb habe ich mit dir

nicht darÅber gesprochen: Aber der Steinewerfer war ein Wildtier-

hkndler, dessen Bonobo konfisziert worden war. Daran siehst du: Es

ist absolut wichtig, dass nicht wir diejenigen sind, die den Leuten

ihren Besitz wegnehmen. Unsere Aufgabe ist es lediglich, den Bono-

bos einen Platz zum Leben zu bieten. Verstehst du den Unter-

schied?«

O Mann. Ich rollte mit den Augen. Ich war fast fÅnfzehn, nicht

zehn.

»Keine Sorge, ich hab dem Mann doch Geld gegeben. Der hat gar

keinen Grund, sich aufzuregen. Und wir haben einem Bonobo ge-

holfen.« Ich hob die Hand, damit sie mir nicht gleich wieder in die

Parade fuhr. »Mom, ich verstehe, was du meinst. Aber dieses rff-

chen hier wkre inzwischen tot oder hktte noch weniger Finger,

wenn ich es nicht gekauft hktte. Es musste einfach auf schnellstem

Wege hierher. Und jetzt ist es hier.«

»Ich gebe im Ministerium Bescheid, dass nach dem Mann gesucht

werden soll.«

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»Aber er ist sicher kein schlechter Mensch, Mom.« Ich musste an

seine schkbige Kleidung denken, und daran, wie er das rffchen als

seinen Freund bezeichnet hatte.

Die Augen meiner Mutter blitzten auf. »O doch, Sophie, diese Ty-

pen sind absolut mies und es ist ein Riesenfehler, ihnen Geld zu ge-

ben. Aber da du das Problem insgesamt zu begreifen scheinst, werde

ich jetzt nicht lknger darauf herumreiten. Doch in Zukunft musst

du mehr achtgeben auf solche Dinge. Du musst einfach lernen das

Leid um dich herum hin und wieder auszublenden, um zur rechten

Zeit stark genug zu sein, es zu bekkmpfen.«

Teil 2: Ein Land zerfSllt

Mittlerweile bewegte Otto sich auch erstaunlich geschickt. Auf

den FÅßen war er zwar nach wie vor tapsig und musste sich zwi-

schen seinen torkelnden Schritten immer wieder an mir festhalten,

aber sobald er in die Nkhe eines Baumes, einer Regenrinne, eines

Autos oder sonst etwas Bekletterbarem kam, war er ruckzuck oben.

Ohne RÅcksicht auf Verluste, wie ich neulich am Beispiel eines wa-

ckeligen Aktenschrankes feststellen musste. Wkhrend sich meine

Vorstellung vom Raum auf links, rechts, vorne und hinten be-

schrknkte, drehte sich bei Otto alles um oben. Er konnte urplÇtzlich

aus meinem Arm verschwinden, und wenn ich mich nervÇs nach

ihm umguckte, hÇrte ich irgendwann Åber mir ein verrkterisches

krkchziges Lachen. Dann baumelte er zum Beispiel lkssig mit dem

Arm vom FlÅgel eines Deckenventilators und fuhr Karussell.

(. . .)

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Schließlich ging ich mit Otto auf mein Zimmer, um noch vor dem

Abendessen mit Dad zu chatten. Doch kaum war die Satellitenver-

bindung hergestellt, brach sie zusammen. Ich ging raus auf den Flur,

in der Hoffnung, dort jemanden zu finden, der mir weiterhelfen

kÇnnte, aber das ganze Gebkude lag wie ausgestorben da. Erst nach

einigem Suchen sah ich, wo sie alle steckten: Sie hatten sich um das

Kurzwellenradio auf Moms Schreibtisch geschart.

»Ist etwas passiert?«, fragte ich, aber sofort zischte mir aus einem

Dutzend MÅnder ein ungeduldiges »Pst« entgegen.

Das Radio knackte und rauschte, der Empfang war total wackelig.

»Warum schalten wir nicht den Fernseher ein?«, schlug ich vor,

aber augenblicklich wurde ich wieder zur Ruhe gepfiffen.

Nach einer Weile konnte man endlich ein paar Worte verstehen:

». . . bestktigen, dass die SchÅsse heute Nachmittag tatskchlich . . . ha-

ben gesehen, wie der verunstaltete Leichnam von . . . aus einem Re-

gierungsgebkude transportiert wurde . . . eventuell die Aktion der

TLA, einer militanten Gruppe aus dem Osten, die mit Hutu-Gruppie-

rungen in Ruanda und Burundi verbÅndet ist . . . fliehen aus der

Hauptstadt, wo es innerhalb der Armee zu Richtungskkmpfen ge-

kommen ist und . . . diejenigen, die zu Hause sind, werden gebeten

ihre Hkuser nicht zu verlassen . . .«

An dieser Stelle brach der Empfang fÅr mehrere Sekunden ganz

ab.

»Was ist passiert?«, flÅsterte ich Marie-France zu, die neben mir

saß.

Ihr Gesicht war ernst. Das war es schon immer gewesen, aber jetzt

schien es fast, als hktte Marie-France es all die Jahre nur angespannt,

um fÅr diesen Augenblick gerÅstet zu sein, wo im Kongo alles un-

ausweichlich wieder zerfallen wÅrde.

»Auf den Prksidenten ist ein Attentat verÅbt worden«, sagte sie.

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»Ist er tot?«

Sie nickte beklommen.

Der Prksident ist tot? Ich war wie gelkhmt vor Entsetzen. »Heißt

das, dass jetzt der Vizeprksident an der Macht ist?«, brachte ich

schließlich hervor.

»Nein«, antwortete Marie-France. »Zurzeit ist niemand an der

Macht.«

Ich drÅckte Otto so fest an mich, dass er wimmernd protestierte.

»Ich versuch mal, ob ich den UN-Sender reinkriege.« Patrice fum-

melte am Drehknopf des Radios herum. Die Vereinten Nationen wa-

ren seit dem Kriegsausbruch in den 90er-Jahren im Kongo prksent

und sendeten in Krisensituationen auf einer eigenen Radiofrequenz.

Die Luft knisterte vor Anspannung. Klar, sie sorgten sich alle ge-

nauso um ihre Familien wie ich.

Patrice hatte endlich den UN-Kanal gefunden, der in franzÇsischer

Sprache sendete. ». . . werden dringend aufgerufen in ihren Hkusern

zu bleiben. Solange noch keine stabile pbergangsregierung im Amt

ist, sollte jeder Kontakt mit AngehÇrigen des Militkrs und der Poli-

zei oder mit Uniformierten, die sich als solche ausgeben, vermieden

werden. Ich wiederhole: Mindestens 1.000 Menschen, wahrschein-

lich aber deutlich mehr, sind bereits bei Straßenkkmpfen in der

Hauptstadt ums Leben gekommen. Gegenangriffe von Regierungs-

treuen sind im Chaos geendet und haben zu einer weiteren Eskalati-

on der Gewalt gefÅhrt. Von einem Aufenthalt auf den Straßen ist

daher strikt abzuraten. Bleiben Sie ruhig und verhalten Sie sich be-

sonnen und vorsichtig. Viele der bewaffneten Gruppen halten sich

auf den Hauptstraßen auf. Sie machen einen unorganisierten Ein-

druck und es ist nicht klar, unter wessen Befehl sie stehen. Belgien

und die USA haben bereits angekÅndigt ihre BÅrger zu evakuieren,

Frankreich wird dem Beispiel vermutlich folgen. Anweisungen dies-

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bezÅglich werden auf diesem Sender durchgegeben. Wir wieder-

holen diese Sendung, ausgestrahlt vom Hauptquartier der Vereinten

Nationen in Kinshasa, bis neue Informationen vorliegen.«

Patrice drehte den Ton leiser.

»Was machen wir jetzt?«, fragte einer der WildhÅter.

»Wir bleiben, wo wir sind«, sagte Patrice. »Das habt ihr doch ge-

hÇrt. Die Sache wird sich genauso entwickeln wie schon einmal.

Wir kÇnnen nur hoffen, dass niemand in unsere Hkuser eindringt

und plÅndert. Aber wir sollten uns wirklich von den Straßen fern-

halten, dort schwebt man in Lebensgefahr.«

»pberall kann man umgebracht werden, nicht nur in den Stra-

ßen«, widersprach Þvangnline.

»Wir bleiben jedenfalls hier. Hier sind wir sicher, niemand wird

ein Bonobo-Reservat Åberfallen«, sagte Patrice.

»Vielleicht nicht gleich in den nkchsten Tagen. Aber wenn es kei-

ne neue Regierung gibt und zehn Millionen Menschen in Kinshasa

hungern? Habt ihr vergessen, wie es 1994 war? Da haben sich die

Leute auf der Suche nach Essbarem als Erstes die Zootiere ge-

schnappt. Wenn sich die Situation wieder so zuspitzt, werden sie

sich auf unsere Bonobos stÅrzen wie auf eine Viehherde. Außerdem

vermutet man sicher haufenweise US-Dollars von unseren auslkn-

dischen Geldgebern in unserem Safe.«

»So weit wird es nicht kommen«, versuchte Patrice sie zu beruhi-

gen. »Diesmal nicht.«

Aber er konnte auch keine GrÅnde fÅr seine Zuversicht nennen,

und so wurde die Verzweiflung im Raum immer drÅckender. Viel-

leicht lag es auch an der Art, wie Patrice »diesmal« gesagt hatte. Die

Demokratische Republik Kongo hatte eine derart lange Erfahrung

mit Attentaten und Putschen, dass man sich unweigerlich fragte,

Eliot Schrefer, Dunkelrote Erde

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durch welches Wunder das Land ausgerechnet diesmal gerettet wer-

den sollte.

Da niemand es riskieren wollte, auf die Straße zu gehen, blieben

wir alle Åber Nacht im Reservat.

Die Rebellen mussten das Internet und die Mobilfunknetze außer

Funktion gesetzt haben, denn es gelang uns nicht, nach draußen zu

kommunizieren. Unser einziger Kontakt zur Außenwelt war das

Kurzwellenradio.

Beim ersten Morgengrauen hockten Otto und ich auf der Stufe der

EingangstÅr und starrten in den Dschungel. Sehen konnte ich

nichts, aber ich lauschte auf Schritte oder Motorengerkusche. Ich

horchte auf Gewehrsalven aus dem nahen Dorf. Ich horchte auf ers-

te Vorboten des Todes.

Eliot Schrefer

Dunkelrote Erde

Aus dem Englischen von Birgit Niehaus

Umschlag: Henry s Lodge, Vivien Heinz

ca. 400 Seiten

Ab 14 Jahren

15 x 21 cm, gebunden, E-Book inkl.

ISBN 978-3-551-52055-5

A 16,99 (D) / A 17,50 (A) / sFr 24,50

Erscheint im Mai 2014

Jugendbuch ab 14 Jahren

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Spiel mit der Zeit

Eddie, Adam und David leben in verschiedenen Jahr-

zehnten. Trotzdem laufen sie sich immer wieder Åber

den Weg. Denn die Jugendlichen verbindet eine seltene

Gabe. Wihrend sie schlafen, kÇnnen sie alle Grenzen

Åberwinden und durch Raum und Zeit reisen. Dabei ver-

folgt jeder sein ganz eigenes Ziel. Eddie will alles Åber

das Traumwandeln herausfinden. Adam versucht mit al-

len Mitteln den Lauf der Geschichte zu verindern. Und

David muss seine Familie retten, bevor sie ausgelÇscht

wird.

»Wenn Sie nach dem nachsten großen Zeitreise-Roman

suchen, brauchen Sie sich nicht weiter umzusehen.«

Coma Calm Blog

Der Autor

Thomas Taylor, geboren in Norwich, wuchs an der KÅste

von Wales auf. In seiner Kindheit zeichnete er viel –

meistens wihrend des Matheunterrichts. Nach seinem

Studium an der Kunstakademie illustrierte er zunichst

BÅcher und gestaltete unter anderem das Cover zu J. K.

Rowlings »Harry Potter und der Stein der Weisen«.

Schließlich begann er selbst BÅcher zu schreiben.

»Wettlauf in der Nacht« ist sein erster Roman. Heute

lebt er mit seinen beiden SÇhnen in England.

Jugendbuch ab 12 Jahren

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Die drei Regeln des Traumwandler-Kodex:

1. Lass dich sehen, aber fall nicht auf.

2. Sprich, aber verrate nichts.

3. Lass nichts versucht.

Kapitel 1. Unschlaf.

David kauerte auf dem Dach des Hauses seines besten Freundes,

wkhrend die Flammen, die es verschlangen, in den Nachthimmel lo-

derten. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hier hergekommen

war, und hatte erst recht keinen Schimmer, warum er hier war.

Doch als ein weiteres großes StÅck des Daches in einem Feuer- und

Funkenschwall zusammenbrach, zkhlte eigentlich nur eine Frage:

War Eddie noch im Haus?

Und leider gab es nur einen Weg, das herauszufinden.

David kletterte zum Schornstein hinauf und versuchte durch die

heiße Luft und den Rauch etwas zu erkennen. Am anderen Ende des

Daches klaffte ein riesiges Loch, aus dem hohe Flammen schlugen.

Auf diesem Weg konnte er nicht ins Haus gelangen. Wie dann?

Denk nach!

Wkhrend er in den grellen Feuerschein blinzelte, merkte er plÇtz-

lich, dass er nicht allein war. Eine schlanke Gestalt beobachtete ihn

seelenruhig vom anderen Ende des Daches aus, obwohl sie von

Flammen umzÅngelt wurde.

»Eddie?«, brÅllte David. »Eddie, bist du das?«

Thomas Taylor, Wettlauf in der Nacht

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Dichte Rauchschwaden zogen vorbei und nahmen ihm die Sicht.

Als sie wieder frei war, erkannte David in der Gestalt einen Jungen,

der ungefkhr in seinem Alter war. Nur war es nicht Eddie, sondern . . .

David starrte unglkubig hinÅber. Er blickte auf sich selbst. Sogar

die Kleidung war seine.

Er rieb sich die Augen – dies war ein schlechter Zeitpunkt, um

sich Dinge einzubilden. Die Details verknderten sich plÇtzlich, als

er wieder hinsah, sie verschwammen, als noch mehr Rauch vorÅber-

zog, und die Gestalt entpuppte sich doch als ein Unbekannter – ein

hochgewachsener, dunkelhaariger Junge vielleicht knapp unter

zwanzig.

»Wer bist du?«, schrie David. »Wo ist Eddie?«

Der Junge lachte und warf den Kopf nach hinten.

»Du kommst zu spkt!« Seine Stimme war voller Triumph. »Falls

du wegen Eddie hier bist, Davy-Schktzchen, kommst du viel zu

spkt.«

(. . .)

Kapitel 2. Das Schlimmste sind dieKopfschmerzen

David fuhr mit einem Aufschrei hoch und warf die verschwitzte

Bettdecke zurÅck. Sein Herzschlag raste. Schon wieder dieser

Traum. Nur – nein, es war nicht genau der gleiche Traum. Ein ste-

chender Schmerz schoss ihm durch die Schlkfen und er stÇhnte laut

auf. Er warf einen Blick auf sein Handy, das auf dem Nachttisch lag.

Jugendbuch ab 12 Jahren

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Es war 5.02 Uhr morgens.

(. . .)

Der Fußboden war eiskalt. David goss sich ein Glas Orangensaft

ein, setzte sich auf einen Barhocker und zog die nackten FÅße unter

die Decke. Eines der zerlesenen alten BÅcher seiner Mutter lag auf

der Theke, aber er schob es gleichgÅltig beiseite. So blieb er eine

Ewigkeit sitzen und versuchte, nicht auf die Uhr zu sehen.

David trkumte seit weit Åber einem Jahr von Eddie, aber so etwas

war noch nie passiert. Es war seltsam. Nein, seltsam war, dass er die-

se bizarren Trkume Åberhaupt hatte. David glaubte nicht daran, dass

Trkume irgendetwas zu bedeuten hatten, aber manchmal gaben sie

ihm doch zu denken. Normal war es mit Sicherheit nicht, jemand

vÇllig Fremdem in einem Traum zu begegnen und ihn dann fast

jede Nacht wiederzutreffen, bis man irgendwann das GefÅhl hatte,

dass er ein enger Freund geworden war. Gut, manche Kinder hatten

vielleicht imaginkre Freunde, aber David war gerade vierzehn ge-

worden und fÅr so etwas auf jeden Fall zu alt.

Nein, es war nur ein Traum, und jetzt hatte er sich in einen Alb-

traum verwandelt. Und wer war der andere Junge, der so gehkssig

gelacht und sich dann anscheinend in Luft aufgelÇst hatte? Alles

war diesmal anders gewesen. Vielleicht bedeutete das, dass der

Traum jetzt endgÅltig vorbei war. David hoffte es, bis ihm einfiel,

dass er Eddie dann nie wiedersehen wÅrde. Jetzt wusste er nicht

mehr, was er denken sollte.

FÅnf Minuten spkter schlich er in sein Zimmer zurÅck und zog

sich an. Es hatte keinen Sinn, bis zur Schule im Haus herumzuhkn-

gen, also beschloss er, ein bisschen mit dem Fahrrad herumzustrei-

fen, um den schmerzenden Kopf freizupusten. Zu dieser frÅhen

Stunde wÅrde auf den Straßen noch nicht viel los und die Luft frisch

sein.

Thomas Taylor, Wettlauf in der Nacht

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Draußen war es eiskalt und graublau und der Tag hatte im Osten

gerade erst zu dkmmern begonnen – ein typischer Herbstmorgen in

den Londoner Vororten. Es waren nicht viele Leute unterwegs und

diejenigen, die David sah, waren mit ihren eigenen Angelegenheiten

beschkftigt, stiegen in Autos oder gingen zu Fuß, um einen Zug zu

erwischen. David achtete nicht groß auf sie, als er mit dem Fahrrad

aus der Einfahrt schoss und die Straße hinunterraste.

Ein Lieferwagen scherte hinter ihm aus. Eine Weile trat David

krkftig in die Pedale und seine Kopfschmerzen verschwanden all-

mkhlich ganz. Dann merkte er, dass der Lieferwagen langsam hinter

ihm herfuhr, obwohl er reichlich Platz zum pberholen hatte. Er

drehte sich um.

Sofort beschleunigte der Wagen. Die Fenster waren verdunkelt,

aber wer immer drinnen saß, wÅrde ihn gut erkennen kÇnnen, wkh-

rend der Wagen an ihm vorbeirollte. Dann bog er links ab und war

nicht mehr zu sehen. David radelte weiter, doch als er selbst um die

Ecke bog, stellte er fest, dass der Lieferwagen wieder nur Schritt-

geschwindigkeit fuhr, so als wartete er auf ihn. Also knderte David

die Richtung. Er ratterte eine Betontreppe hinunter, wich den MÅll-

tonnen in einer Seitengasse aus, umfuhr im Slalom ein paar Poller

und kam dann wieder auf einer Straße heraus. Kurz darauf sprang er

auch schon auf den BÅrgersteig in seiner eigenen Straße.

Und der Lieferwagen parkte genau vor seinem Haus.

David fuhr den Åberdachten Durchgang zum Garten entlang und

warf das Fahrrad in den Schuppen. Als er ins Haus ging, fummelte

er zitternd an den SchlÅsseln herum. BlÇder Eddie! BlÇder Traum!

Jetzt wurde er auch noch paranoid.

Drinnen ließ er sich in einen Sessel fallen, saß nervÇs den Rest der

Zeit bis zur Schule ab und versuchte, sich auf den Fernseher zu kon-

zentrieren.

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Kapitel 3. Das MSdchen in der Gasse

Auf dem Weg zur Schule hielt David argwÇhnisch nach dem Lie-

ferwagen mit den getÇnten Scheiben Ausschau. Er konnte ihn nir-

gendwo entdecken, wurde aber zugleich das GefÅhl nicht los, dass

er beobachtet wurde. (. . .)

In der ersten Stunde hatte er Physik, was ihm fast wieder Kopf-

schmerzen bescherte. Der Lehrer leierte seinen Stoff vor der Klasse

herunter und zeigte dabei auf ein Schaubild, in dem irgendetwas

mit Raum und Zeit dargestellt war, wkhrend David MÅhe hatte, die

Augen offen zu halten.

»David Utherwise! David!«

David hob ruckartig den Kopf und machte ein verdutztes Gesicht.

Die ganze Klasse hatte sich zu ihm umgedreht. Eine der Schulsekre-

tkrinnen stand in der TÅr und war offensichtlich verkrgert.

»David, du sollst dich bitte in Mrs Fernleys BÅro melden«, sagte

sie auf eine Weise, die vermuten ließ, dass sie es bereits mehrmals

gesagt hatte.

»Hab ich was verbrochen?«, fragte er die Sekretkrin auf dem Weg

durch den Flur.

»Ausnahmsweise nicht«, antwortete sie stirnrunzelnd. »Es sind

ein paar Leute gekommen, um dich abzuholen, das ist alles.«

»Mich abzuholen? Aber . . . wohin soll ich denn?«

»Das solltest du doch wohl wissen«, entgegnete die Sekretkrin.

David sah sie verstkndnislos an. Seines Wissens stand nichts an

und seine Mutter hatte ihm auch keinen ihrer Zettel hingelegt, da

war er ganz sicher.

»Mit was fÅr einem Auto sind sie gekommen?«

»Mit einem Krankenwagen«, antwortete die Sekretkrin.

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»Keinem Lieferwagen?«, fragte David nach kurzem Nachdenken,

aber die Sekretkrin beachtete ihn nicht.

Sie erreichten das BÅro und David wurde hineingefÅhrt. Mrs Fern-

ley saß an ihrem Schreibtisch, und sobald David ihr dÅsteres Ge-

sicht sah, wusste er, dass irgendetwas ganz und gar nicht in

Ordnung war. Aus irgendeinem Grund waren die Jalousien herun-

tergelassen, so dass der Raum im Halbdunkeln lag.

»Da bist du ja, David«, sagte die Direktorin mit zitternder Stimme.

»Deine rrztin ist persÇnlich hergekommen. Warum bist du heute

nicht zu deinem Termin im Krankenhaus erschienen?«

David wollte antworten »Weil ich gar keinen hatte«, doch in dem

Moment fiel sein Blick auf die Frau, die Mrs Fernley gegenÅbersaß.

Ihr Gesicht erinnerte ihn an einen Hai und ihr schlichtes, elegantes

KostÅm wirkte fast so unangenehm wie eine Uniform. Dann be-

merkte er, dass noch jemand im Zimmer war. Im trÅben Licht in

der dunkelsten Ecke stand ein Mkdchen im Teenageralter. Sie hatte

weißblondes Haar und ihre Kleidung wirkte wie die einer Kranken-

schwester, doch genau konnte David es nicht erkennen. Die Na-

ckenhaare strkubten sich ihm – er konnte nicht mal mit Gewissheit

sagen, dass dort wirklich jemand stand.

»Nun, David«, sagte die Frau mit dem Haigesicht, »wenn du so

weit bist, kÇnnen wir losfahren. Wir haben extra einen Krankenwa-

gen von seinem Åblichem Einsatz abgezogen, um dich abzuholen.«

David sah sie unglkubig an.

»Ich hatte gerade deine Mutter am Telefon, David«, sagte Mrs

Fernley schließlich und ließ dabei das Mkdchen im Dunkeln nicht

aus den Augen. »Sie wartet im Krankenhaus auf dich.«

»Aber ich habe keinen Termin im Krankenhaus.« David machte

einen Schritt zurÅck. »Ich bin nicht mal krank, Mrs Fernley.«

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Als er das sagte, schienen Mrs Fernley plÇtzlich Zweifel zu kom-

men. Sie blickte ihn stirnrunzelnd an, als skhe sie ihn zum ersten

Mal, und einen Moment lang war ihr Åblicher Gesichtsausdruck,

der unbedingte Autoritkt ausstrahlte, wieder da. Nie hktte David ge-

dacht, dass er sich einmal so darÅber freuen wÅrde. Sie wandte sich

der rrztin zu, als wollte sie ihr Fragen stellen, doch bevor sie etwas

sagen konnte, trat die Krankenschwester aus dem Dunkeln vor.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie mit einer Stimme wie gefrore-

ner Honig. »Wir sind hier, um David abzuholen, mehr nicht. Es ist

alles in Ordnung.«

Ihre Worte klangen so Åberzeugend, dass sogar David das GefÅhl

hatte, alles wÅrde gut werden, wenn er nur mit ihnen ging, ohne

irgendwelche Fragen zu stellen. Die rrztin legte ihm die Hand auf

die Schulter, als spÅrte sie es.

Erst als David zur TÅr geschoben wurde, kehrte seine Angst zu-

rÅck.

»Aber Mrs Fernley«, platzte er heraus, »ich kenne diese Leute

doch gar nicht!«

Mrs Fernley schaute nicht mal in seine Richtung, als sie eine Ant-

wort stammelte.

»Versuche kÅnftig an deine Krankenhaustermine zu denken, Da-

vid. Deine Gesundheit ist sehr wichtig.«

Dann wurde David auch schon aus dem Zimmer und durch den

Flur gezerrt. Die Frau hielt ihn am Arm fest, so weit oben, dass er

sich nicht umdrehen und ihr entgegenstellen konnte.

Doch David bewegte sich nicht vom Fleck. Der Sanitkter sah ihn

mit hellen, kalten Augen an und David konnte sich seinem Blick

nicht entziehen. Er kannte dieses teuflische Lkcheln. Es gehÇrte

dem Jungen, den er auf dem Dach von Eddies Haus gesehen hatte.

Vor ihm stand der seltsame Junge aus seinem Traum!

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Der Junge lachte Åber Davids Gesichtsausdruck. Dann stÅrzte er

sich plÇtzlich auf ihn und zÅckte mit der anderen Hand eine Spritze.

David reagierte instinktiv. Bevor er wusste, was geschah, hatte er

sich mit dem Fuß vom Krankenwagen abgestoßen und dabei die

rrztin hinter sich zu Boden geworfen. Die greifenden Finger des Sa-

nitkters verfehlten ihn um Haaresbreite.

»Haltet ihn!«

David sprang auf, ließ die rrztin atemlos auf dem Boden zurÅck

und lief auf die Schulhofsmauer zu. Schon hÇrte er schnelle Schritte

hinter sich, wkhrend er sich an den Ziegelsteinen festhielt und sich

ohne Schwierigkeiten Åber die Mauer zog. Auf der anderen Seite

landete er sanft auf den FÅßen, raste den Weg entlang und schlÅpfte

rasch in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Hkusern. Hier

zwkngte er sich zwischen die MÅlltonnen und versuchte sich nicht

zu bewegen, obwohl sein Herz laut klopfte. Ein paar Sekunden lang

tat sich nichts, dann folgte eine schattenhafte Bewegung am Ende

des Durchgangs und die Krankenschwester sauste vorbei – schnel-

ler, als er je fÅr mÇglich gehalten hktte. Er zog den Kopf ein und

traute sich nicht zu atmen. Erst nach einer vollen Minute spkhte er

erneut hinaus.

Keiner da.

David ließ die Luft aus seiner angespannten Lunge, erhaschte je-

doch gleich darauf eine Bewegung im Augenwinkel.

Jemand stand im Zwielicht am anderen Ende des Durchgangs, die

schlanke Silhouette eines Mkdchens. Sie hatte wirres Haar, doch den

Rest ihrer Gestalt konnte er im Dunkeln nicht erkennen. Sie winkte

ihn zu sich.

»Hier lang, David!«

David blieb in Deckung und rÅhrte sich nicht. Wer war sie? Wo-

her kannte sie seinen Namen?

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Das Mkdchen kam ein StÅck nkher.

»Schnell! Wenn du hierbleibst, finden sie dich.«

Wer immer das unbekannte Mkdchen war, sie war nicht die un-

heimliche blonde Krankenschwester, und in diesem Moment reich-

te das fÅr David aus. Er rannte den Gang entlang, um sie einzuholen.

Er trat auf die offene Straße und blieb auf dem Gehweg stehen. Es

war niemand da und er konnte sich auch nirgendwo verstecken. (. . .)

David sah den Lieferwagen erst, als dieser ihn fast umgefahren

hatte. Er schoss mit kreischenden Rkdern aus einer Seitenstraße

und hielt nur Zentimeter vor seiner Nase an. Die TÅr glitt auf und

zwei Paar Hknde in schwarzen Handschuhen kamen heraus und

packten ihn. David Çffnete den Mund, um zu schreien, doch ein

feuchter Lappen wurde ihm aufs Gesicht gedrÅckt. Der Stoff war

mit etwas durchtrknkt, das ihm in die NasenlÇcher drang und sofort

den Verstand benebelte. Er sah dunkle Umrisse. Einen Moment lang

fixierte er das Gesicht eines Mannes mit einem schwarzen Basecap.

Dann erlosch die Welt wie ein Licht.

Thomas Taylor

Wettlauf in der Nacht

Aus dem Englischen von Stefanie Mierswa

Umschlag: Henry s Lodge, Vivien Heinz

ca. 416 Seiten

Ab 12 Jahren

12 x 18,7 cm, Klappenbroschur

ISBN 978-3-551-52056-2

A 14,99 (D) / A 15,50 (A) / sFr 21,90

Erscheint im Juli 2014

Thomas Taylor, Wettlauf in der Nacht

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Try, high, die!

Death ist Kult. Jeder spricht Åber die neue Droge. Wer

sie nimmt, hat die beste Zeit seines Lebens. Den ultima-

tiven HÇhenflug. Den absoluten Kick. Es gibt keine Gren-

zen, alles ist mÇglich – eine Woche lang. Den achten

Tag erlebt man nicht. Death ist tÇdlich.

Soll Adam die kleine Pille schlucken? Sein Bruder ist tot,

bei dem Midchen, in das er verliebt ist, hat er keine

Chance und seine Zukunftsaussichten sind alles andere

als rosig. Adam glaubt, dass er nichts zu verlieren hat.

Und die beste Woche seines Lebens ist greifbar nah.

»Burgess’ neuer Roman ist eine Wucht.«

The Guardian

Der Autor

Der Autor wurde in London geboren und ist in Surrey

und Sussex aufgewachsen. Er hat als Journalist gearbei-

tet, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte. Seine

JugendbÅcher wurden unter anderem mit dem Guardian

Fiction Award und mit der Carnegie Medal ausgezeich-

net. Melvin Burgess lebt mit seiner Familie in Manches-

ter.

Melvin Burgess, Death

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Kapitel 1: Der sehr Çffentliche Toddes Jimmy Earle

Bei Jimmy drehte sich immer alles um die Fans. Man sagt ja oft,

LivekÅnstler wÅrden sich vÇllig verausgaben, aber noch nie hatte

einer seinen Fans so viel versprochen wie Jimmy fÅr diesen Abend.

Adam glaubte nicht so recht dran, trotzdem fÅhlte er sich als Teil

von etwas Besonderem. Jimmy Earle war schon seit Jahren die große

Nummer, seine Shows waren legendkr, aber so was wie heute hatte

es noch nie gegeben. Die Leute kamen dafÅr aus Los Angeles oder

Peking angeflogen. Das hier wÅrde das Konzert der Konzerte wer-

den, das ultimative Erlebnis, niemals und unter keinen Umstknden

zu toppen.

»So ’ne Art Menschenopfer«, sagte Adam. »Die sollten ihm sein

Herz rausschneiden, wie bei den Azteken. Das wkr mal richtig cool.«

»Du wirst bestimmt keine Witze mehr reißen, wenn er das echt

durchzieht«, antwortete Lizzie.

Adam schÅttelte den Kopf. Dazu wÅrde es niemals kommen. Jim-

my hatte alles – er war reich, er war jung, sah gut aus, hatte Talent.

Dass die Loser und schrkgen Typen aus den Ghettos diese Droge na-

mens Death einwarfen, konnte man irgendwie nachvollziehen. Sie

hatten nichts, weder jetzt noch in Zukunft. Wieso sich also nicht

diese eine Woche lang ins gleißende Licht stÅrzen? Aber Jimmy

Earle? Niemals.

»Er will in den Klub 27«, sagte Lizzie aufgeregt. »Brian Jones, Jimi

Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain, Amy Winehouse –

und Jimmy Earle. Alle siebenundzwanzig Jahre alt. Deswegen haben

hier alle so dermaßen Schiss. Guck sie dir an!«

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Tatsache, dachte Adam, wkhrend sie in Reih und Glied in die Are-

na marschierten. Sicherheitspersonal, wo man hinsah, riesenhafte

Typen Åberall in den Gkngen. Sie wirkten allesamt reichlich nervÇs.

»Wenn er heute Abend stirbt, wird sich jeder bis in alle Ewigkeit

an ihn erinnern«, sagte Lizzie.

Sie machten sich auf den Weg zu ihren Sitzplktzen. Der Lkrm war

schon jetzt ohrenbetkubend. Die Leute brÅllten stkndig irgendwas

Richtung BÅhne, obwohl dort noch keiner war. Die Atmosphkre

war aufgeladen.

»Glaubst du, irgendwer hier hat das Zeug eingeworfen?«, fragte

Lizzie, als sie endlich auf ihren Plktzen saßen.

»Sicher«, erwiderte Adam.

Lizzie lachte nervÇs. Sie hat Angst, schoss es ihm durch den Kopf,

dann wurde ihm klar, dass auch er Angst hatte. Deather waren ge-

fkhrlich. Sie hatten nichts zu verlieren. Das war der Sinn des Gan-

zen.

UrsprÅnglich war Death eine Droge aus der Sterbehilfe, die den

unheilbar Kranken fÅr eine Woche alles Leid nahm und ihnen an-

schließend einen raschen, schmerzlosen Tod bescherte. Keiner hktte

je fÅr mÇglich gehalten, dass auch die Jungen und Gesunden sie

schlucken wÅrden. Doch auf Death fÅhlte man sich einfach um

Lkngen besser: geistig, kÇrperlich, sexuell, worauf auch immer man

Wert legte. Es katapultierte einen ins absolut hÇchste High.

So berichteten sie davon. Und das Ganze hatte natÅrlich seinen

Preis. Death kostete mehrere Tausend pro Trip.

Und es gab kein ZurÅck! Kein Wissenschaftler hatte bisher ein Ge-

genmittel entdeckt. Jimmy Earle war ein großer Star – der grÇßte –,

aber was Death betraf, war er so normal wie jeder andere. Falls er das

Zeug tatskchlich eingeworfen hatte, war er so gut wie tot. Schon seit

Ewigkeiten hatte er von der Droge gesprochen, in der Presse, auf sei-

Melvin Burgess, Death

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ner Website. Das Konzert war schon zweimal abgesagt worden, seit

er verkÅndet hatte, er habe die Pille endlich geschluckt. Die BehÇr-

den waren entsetzt. Death hatte bei den Unter-FÅnfundzwanzigjkh-

rigen bereits fÅr die grÇßte Selbstmordwelle gesorgt, die jemals

verzeichnet worden war. Erst als Jimmy sein Statement zurÅckgezo-

gen und geschworen hatte, das Ganze sei nur ein Gag gewesen, hat-

ten die zustkndigen Stellen das Konzert genehmigt.

Die Frage war nur, wen fÅhrte Jimmy hier an der Nase herum? Die

BehÇrden oder die Fans? War er nun auf Death oder war er es nicht?

Und wenn er es war – wieso?

»Die Draufgeh-Liste«, sagte Adam. »Aber klar.«

»Die Liste ist doch vÇllig egal!«, schrie Lizzie. »Es geht nicht da-

rum, was du noch tust, bevor du ins Gras beißt, sondern darum, wie

du das Ganze erlebst. Alles passiert zum letzten Mal. Jede Kleinigkeit

hat eine Bedeutung. Darum geht’s. Sobald du in die Death-Phase ein-

trittst, wird dein Leben unglaublich intensiv. Die meisten Menschen

warten, bis sie alt und verbraucht sind. Jimmy will’s eben auskosten,

solang er noch jung ist.«

Adam schnaubte verkchtlich. »So was kann echt nur von ’nem

Mkdchen kommen. Hast du seine Liste gelesen? Ich meine – mal ehr-

lich!«

Jimmy Earles Draufgeh-Liste war legendkr. Das Ganze hatte Åber

zwanzig Millionen Pfund gekostet. Er hatte in einer einzigen Woche

mit gut hundert Frauen geschlafen; mindestens zwanzig von denen

waren jetzt schwanger. Er war um die Welt gereist, hatte bei einem

Abendessen zwei Kilo Kaviar verdrÅckt, hatte insgesamt hundert-

fÅnfzig Flaschen Champagner getrunken und ein Pfund Kokain ge-

schnupft, war in den Weltraum geflogen, hatte jemanden

umgebracht, hatte Schneeleoparden gejagt, war auf den Everest ge-

klettert . . . und die Liste war noch nicht zu Ende.

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Kein einzelner Mensch konnte all diese Dinge in nur einer Woche

tun. Oder vielleicht doch? Death tÇtete einen nicht einfach – in Sa-

chen Liebe und Empathie brachte dich das Zeug besser drauf als

Ecstasy und verpasste dir obendrein noch einen unglaublichen

Energieschub.

Als Earle endlich die BÅhne betrat, brandete tosender Jubel auf. Er

streckte die Hknde aus und wartete, bis der Tumult sich gelegt hatte.

»Wir haben hier ein paar Songs fÅr euch im Gepkck«, sagte er.

»Und der heutige Abend wird ein unvergesslicher werden.«

Er drehte sich um, riss die Arme zur Seite, die Band explodierte in

die erste Nummer. Die Menge grÇlte.

Die Leute, das Adrenalin, der Lkrm. Etwas Vergleichbares hatte er

nie erlebt. Er fragte sich, ob Åberhaupt schon mal jemand so was wie

das hier erlebt hatte. Die Menge um sie herum sprang auf, und sie

beide mit ihr, Åberall lachten, weinten, schrien, tanzten die Leute.

Und das war gerade mal der erste Song.

Das Konzert war unglaublich. Jimmy schien sich da oben in die-

sen dicht gedrkngten zwei Stunden die Seele aus dem Leib zu sin-

gen. Das GetÇse wurde lauter und lauter, je nkher die magische

Uhrzeit rÅckte – halb elf –, zu der er sterben sollte. Death war prkzi-

se; man konnte ziemlich genau ausrechnen, wann es einen erwisch-

te, fast bis auf die Minute. War er tatskchlich wahnsinnig genug –

entschlossen genug gewesen, um Death zu nehmen?

Bei Jimmy wusste man nie.

Wkhrend die letzten Minuten heruntertickten, fiel die Band drÇh-

nend in ihre aktuelle Single, »Something to Live For«. Jimmy schrie

und paradierte sich durch den Song. Die Uhren zeigten halb elf und

er sang weiter. Alles bloße Publicity – natÅrlich!

Aber gerade als sich schon alle sicher waren, verkÅmmerte ihm

der Text auf den Lippen. Er taumelte. Ein Keuchen lief durch die

Melvin Burgess, Death

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Menge. Jimmy stÅrzte fast, doch dann richtete er sich wieder auf

und presste das Mikro an seine Brust. Die Band ließ den Song aus-

trudeln. Aus den Lautsprechern drang ein hektischer Beat.

Babammbammbammbammbabammbammbabababamm bamm.

Jimmys Herz. Es hÇrte sich an, als wollte es sich aus seinem Brust-

korb heraushkmmern.

BAMMBABAMMBAMMBABAMMBAMMBAMMBAMMBAM.

Die Band begann mit einem Countdown. 10 – 9 – 8 – 7 . . . Das

Publikum flippte aus.

»Tu’s nicht, Jimmy! Verlass uns nicht!«, brÅllte jemand.

. . . 4 – 3 – 2 – 1.

Nichts.

Jimmy Earle hob den Blick in die Menge und grinste. Er breitete

die Arme aus, als wollte er sagen: Reingelegt! Dann kippte er um und

fiel flach aufs Gesicht.

Einen Augenblick lang herrschte verblÅfftes Schweigen. Die Leute

standen vor ihren Sitzen, warteten darauf, dass er sich wieder hoch-

rappelte. War das bloß ein neuer Trick? Es musste ein neuer Trick

sein. Ein muskelbepackter Sanitkter stÅrmte auf die BÅhne, wuchte-

te Jimmy auf den RÅcken und machte sich an die Herzmassage. Sie

konnten das Ganze auf den großen Leinwknden verfolgen, in hun-

dertfacher LebensgrÇße. Der Typ schlug auf Earles Brust ein, als

wollte er ihm skmtliche Rippen brechen.

Die Zuschauermenge regte sich wieder, doch die Gerkuschkulisse

war jetzt eine andere – ein sonores, nervÇses Stimmengewirr, das

rasch anschwoll, durchgellt von Rufen und Schreien. Auf der BÅhne

bekreuzigte sich einer der Gitarristen, stÇpselte seine Fender aus

und stiefelte davon. Der Schlagzeuger schklte sich hinter seinem

Drumkit hervor, marschierte zum vorderen BÅhnenrand und mur-

melte irgendetwas ins Mikro. Sie konnten es nicht richtig verstehen,

Jugendbuch ab 14 Jahren

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aber es hÇrte sich an wie: »Herzlichen GlÅckwunsch.« Das Publi-

kum wurde mit jeder Sekunde lauter. Irgendwo in der Nkhe brÅllte

jemand: »Ich liebe dich, Jimmy, ich liebe dich!« Unmittelbar vor ih-

nen kreischte ein Mkdchen: »Nimm mich mit, Jimmy! Ich will mit

dir gehen!«

Eine Handvoll Rotkreuz-Leute hetzte die Gknge entlang, aber sie

kamen nicht weit. Chaos brach aus. Die Menge drkngte vorwkrts

und hinauf auf die BÅhne, alle wollten zu Jimmy. Die Leute flehten

ihn an, wieder aufzustehen, beknieten ihn weiterzuleben, verlang-

ten ihr Geld zurÅck. Die Security reagierte kopflos, schlug um sich,

stieß einen nach dem andern zurÅck von der BÅhne.

Und mittendrin, flach auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen,

vollkommen jenseits von Aufregung oder Spaß oder Traurigkeit

oder Lust oder Schmerz, lag Jimmy Earle, auf dessen Brustkorb der

Sanitkter weiter einhkmmerte. Die Luft strÇmte in seine Lungen hi-

nein und wieder heraus, das Blut pumpte ziellos in sein zerplatztes

Herz hinein und wieder heraus. Nicht ein Tropfen davon wÅrde ihm

je wieder irgendwas nÅtzen.

Kapitel 2: Manchester Burning

Die Bilder auf den großen Leinwknden erloschen, so dass niemand

mehr sehen konnte, was vor sich ging, doch das Chaos hÇrte nicht

auf. Schuhe, Bierdosen, sogar Flaschen flogen durch die Luft und

landeten in der Menge. Schreie gellten, Leute wurden verletzt. Schlk-

gereien brachen aus, die Security wurde Åberwkltigt. Das Ganze ar-

tete zusehends in einen handfesten Aufstand aus. pber die PA

Melvin Burgess, Death

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kamen warnende Durchsagen, dass die gesamte Halle von Kameras

Åberwacht und jeder Randalierer strafrechtlich verfolgt werde, aber

die Gewalttktigkeiten gingen weiter.

Kurz darauf eine neue Durchsage – Jimmy lebte! Die Sache war

also doch nur Fake gewesen. An alle: Bitte beruhigt euch wieder.

FÅr ein oder zwei Minuten schien es zu funktionieren. Die Leute

liefen verwirrt hin und her. Sie mussten nicht lange warten – da war

er! Jimmy Earle, der auf die BÅhne kam, dabei winkte und lkchelte.

Aber das Schauspiel war absolut miserabel – jeder konnte auf den

ersten Blick sehen, dass der Kerl da oben bloß ein Doppelgknger

war, der Jimmys Klamotten trug. Falls noch irgendwer daran ge-

zweifelt hatte, dass Earle tatskchlich gestorben war, so wurde dieser

Zweifel in exakt diesem Augenblick begraben.

PlÇtzlich lief alles komplett aus dem Ruder. StÅhle wurden aus

den Reihen gerissen und durch die Halle geschleudert. Ganze Hor-

den stÅrzten auf die BÅhne, um das Equipment zu plÅndern – nach

der Nummer heute Abend wÅrde das Zeug ein VermÇgen wert sein.

Doch dann schlugen mit wildem Knallen die TÅren zurÅck und ein

Strom von Polizisten drang in die Arena, mehrere Stoßtrupps, die in

voller Kampfmontur durch die Gknge jagten. Sie bahnten sich ihren

Weg bis zum BÅhnenrand, drehten sich mit erhobenen Schilden

und gezÅckten SchlagstÇcken um zur tobenden Menge und rÅckten

Meter um Meter vor. Sie wÅrden das Publikum buchstkblich hinaus

auf die Straße drkngen.

Wieder kam eine Durchsage. FÅr alle, die nicht verhaftet wÅrden,

werde eine Website zur Erstattung des Eintrittspreises eingerichtet.

Das Management entschuldigte sich und bat jeden Konzertbesu-

cher, ruhig und geordnet den Veranstaltungsort zu verlassen. Jetzt

verebbte der Tumult allmkhlich.

Jugendbuch ab 14 Jahren

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Vorwkrtsgetrieben von der Phalanx der Polizisten schob sich die

Menge auf die Ausgknge zu.

Adam und Lizzie hatten gute Plktze gehabt, ziemlich weit vorn, so

dass sie unter den Letzten waren, die die Halle verließen. Sie hÇrten

die Sirenen schon, wkhrend sie sich noch im Gebkude befanden,

und als sie schließlich auf den Platz vor der Arena traten, waren die

ersten ScharmÅtzel bereits im Gange. Tausende Åberdrehte, verwirr-

te Fans, an einem Freitagabend urplÇtzlich in die Straßen der Stadt

gespÅlt, ohne Ziel – das musste einfach rrger geben. Der Veranstal-

tungsort war gerkumt, aber jetzt stand dem Aufruhr ganz Manches-

ter offen.

In den Straßen war die hitzige Atmosphkre mit Hknden zu greifen.

Die Szenerie wirkte wie ein Realitkt gewordener Jimmy-Earle-

Song. Seine Musik hatte sich immer schon um Liebe und Sex ge-

dreht, um Verlust und Hoffnung, ums Randalieren und PlÅndern

und um den gewaltsamen Aufstand gegen Armut und Scheitern –

hier jetzt entlud sich alles, glutheiß und zischend unter dem SprÅh-

regen des Manchester Abends. Heute Nacht gehÇrten die Straßen

der Stadt seinen Fans und die wÅrden die Sache auskosten bis zum

Letzten.

Adam und Lizzie hasteten weiter. Die Innenstadt stand in Flam-

men. Kein Geschkft war verschont geblieben, skmtliche Schaufens-

ter waren eingeschlagen, Leute rannten ungehindert in die Lkden

hinein und wieder heraus. An der Ecke Princess Street hkmmerte

irgendein Typ mit einer zerbrochenen Gehwegplatte auf die Heck-

tÅren eines Lieferwagens ein. pberall Geschrei und Sirenengeheul,

Rauchwolken, der Gestank von brennendem Gummi und Benzin.

Das hier war ein Kriegsgebiet. Aber worum ging es?

Adam war schwindelig vor Aufregung.

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»PlÅndern. Hey, wie wkr’s damit?«, zischte er Lizzie ins Ohr.

»Wow. Sieh dir das an. Sieh’s dir an!«, rief sie und blickte sich mit

großen, leuchtenden Augen um.

»Hast du Schiss?«

»Nein! Ich find’s super!« Manchmal hatte Lizzie das GefÅhl, ihr

behÅtetes Leben im Wohlstand kkme bald quklend zum Stillstand.

Und jetzt das! Die Stadt ging in Rauch auf – und hier stand sie, mit-

tendrin im Geschehen.

Sie liefen weiter, die Princess Street hinauf bis zum Albert Square.

Der Platz tobte. Vor dem Rathaus war eine Art Schlacht ausgebro-

chen, eine riesige Menschenmenge kkmpfte sich vorwkrts, ohne

RÅcksicht auf Verluste. Die Polizei war da, versuchte den Mob da-

von abzuhalten, das Gebkude zu stÅrmen. Die Beamten fÅhrten sich

eher auf wie Soldaten als wie GesetzeshÅter, hieben mit ihren

SchlagstÇcken wild auf die Leute ein. Aber sie waren zu wenige und

die Meute wurde rasend schnell grÇßer. PlÇtzlich gaben sie auf und

ergriffen die Flucht, bahnten sich hektisch einen Weg aus der Men-

ge, die sich teilte, um sie durchzulassen. Triumphgeschrei brandete

auf und die vorderste Angriffsreihe machte sich daran, die Fenster

des Rathauses einzuschlagen und gegen die wuchtige eichene FlÅ-

geltÅr zu hkmmern, um in das Gebkude zu kommen. Schon kletter-

ten die Ersten hinein.

Auch die Konzernzentralen und Banken rund um den Platz wur-

den attackiert. Flaschen und Pflastersteine flogen durch die Luft.

Keiner hier hatte noch friedliche Absichten. Wer mit alldem nichts

zu tun haben wollte, war lkngst verschwunden. In den Einkaufsstra-

ßen und großen Kaufhkusern ringsum waren weiter die PlÅnderer

am Werk, aber hier auf dem Platz gab es niemanden, der sich fÅr

Breitbildfernseher oder Bierkksten interessierte. Die Leute wollten

mehr. Sie versuchten mit bloßen Hknden die ganze Stadt nieder-

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zureißen und noch mal ganz von vorn anzufangen.

Und sie waren organisiert. Von dort, wo sie standen, konnten Liz-

zie und Adam ganze Gruppen mit Rattenmasken erkennen. Adam

zischte vor Aufregung. Zeloten! Eine militante Mischung aus hirn-

verbrannter Protestbewegung und bewaffneter Rebellentruppe –

und diese Typen kkmpften jetzt genau hier, mitten in Manchester,

darum, den Sitz der Stadtverwaltung in ihre Gewalt zu bringen.

»Hier geht’s nicht bloß ums PlÅndern«, schrie Lizzie, »das ist ’ne

Revolution, Adam!«

pber die Front des Rathauses lief plÇtzlich eine wellenartige Bewe-

gung. Sie hoben den Blick und sahen, wie sich aus einem der oberen

Stockwerke ein gigantisches, vielleicht dreißig Meter breites Banner

Åber fast die gesamte Fassade entrollte. Es zeigte eine riesige Ratte,

die eine Spraydose mit roter Farbe hielt und wÅtend der Menge ent-

gegenstarrte. Hinter ihr prangte in Rot der Slogan der Zeloten:

Unser Tag wird kommen!Die Massen auf dem Platz antworteten mit tosendem Beifalls-

gebrÅll.

Weit oben auf dem Dach sahen sie Zeloten in Rattenmasken, einer

reckte triumphierend ein Maschinengewehr in die HÇhe. Ob das

Teil echt war?, fragte sich Adam.

Die Zeloten waren Åberall – drkngten die Polizisten zurÅck oder

zerrten sie weg, als wÅrden sie sie verhaften. Musik plkrrte los, eine

Jimmy-Earle-Nummer, »The Rats Are Taking Over«. Bewegung kam

in die Menge, die Leute stießen und rempelten einander an. Ein

Mann prallte mit Adam und Lizzie zusammen und schleuderte ih-

nen eine Handvoll Pillen ins Gesicht.

»Was ist das?«, fragte Adam und streckte die Hand aus. Kostenlose

Drogen! Vielleicht Ecstasy?

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»Bisschen was SÅßes«, sagte der Typ und grinste sie an. »Mit

schÇnsten GrÅßen von Jimmy Earle. Der letzte Punkt auf seiner

Draufgeh-Liste.«

Adam gab eine der Pillen an Lizzie weiter und beide sahen sich die

Dinger genauer an. Auf jedem Ding prangte, fein skuberlich auf-

gedruckt, ein winziger Totenkopf.

»Das ist Death!«

»Kann nicht sein . . .« Doch es stimmte. Alle Welt wusste, wie die

Teile aussahen.

Adam beobachtete, wie der Mann weiterging und eine Handvoll

der tÇdlichen, kleinen Pillen nach der anderen unters Volk brachte.

Die Aktion musste ein VermÇgen gekostet haben.

Und die Leute warfen die Dinger ein! Adam sah, wie sie die KÇpfe

zurÅckbogen und sich die Pillen in ihre Rachen schnippten. »Leb

schnell, stirb jung!«, brÅllte der Typ. Er lachte und warf einen gan-

zen Haufen von dem Zeug in die Luft. Die Leute um ihn herum

klaubten die Pillen hastig vom Boden auf. Adam starrte auf die

schwarz-weiße Pille in seiner Hand. Wie es wohl wkre zu wissen –

zu fÅhlen wie Jimmy Earle, fÅr eine kurze, wohlige Woche . . .

Melvin Burgess

Death

Aus dem Englischen von Kai Kilian

Umschlag: Henry s Lodge, Vivien Heinz

ca. 352 Seiten

Ab 14 Jahren

13,3 x 19,8 cm, Klappenbroschur

ISBN 978-3-551-52061-6

A 14,99 (D) / A 15,50 (A) / sFr 21,90

Erscheint im Mirz 2014

Jugendbuch ab 14 Jahren

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www.chickenhouse.dewww.facebook.de/chickenhouse.de

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