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4.5. Politische Willensbildung I: Interessengruppen und ihr Einfluss auf die Politik a) Die Stellung von Interessengruppen im policy-Zyklus b) Zwei Ansätze zur Erfassung von Interessengruppen in der Politik: Pluralismus und Korporatismus c) Interessengruppen in Deutschland d) Interessengruppen auf europäischer Ebene e) Schlussfolgerungen Definition Interessengruppe Definition: Frei gebildete, primär dem Zweck der Interessenvertre- tung nach außen dienende Organisation. Wichtigste Funktionen von Interessengruppen: Interessenartikulation: Äußerung von politischen Interessen im politischen Willensbildungsprozess Interessenaggregation: Aggregierung von Interessen zu ent- scheidungsfähigen Alternativen im politischen Willensbil- dungs- und Entscheidungsprozeß Interessenvermittlung: Darstellung wichtiger Interessen gegen- über den Mitgliedern und nach außen

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4.5. Politische Willensbildung I: Interessengruppen und ihr Einfluss auf die Politik

a) Die Stellung von Interessengruppen im policy-Zyklus b) Zwei Ansätze zur Erfassung von Interessengruppen in der Politik:

Pluralismus und Korporatismus

c) Interessengruppen in Deutschland

d) Interessengruppen auf europäischer Ebene

e) Schlussfolgerungen Definition Interessengruppe • Definition: Frei gebildete, primär dem Zweck der Interessenvertre-

tung nach außen dienende Organisation. Wichtigste Funktionen von Interessengruppen: • Interessenartikulation: Äußerung von politischen Interessen im

politischen Willensbildungsprozess • Interessenaggregation: Aggregierung von Interessen zu ent-

scheidungsfähigen Alternativen im politischen Willensbil-dungs- und Entscheidungsprozeß

• Interessenvermittlung: Darstellung wichtiger Interessen gegen-über den Mitgliedern und nach außen

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b) Zwei Ansätze zur Erfassung von Interessengruppen in der Politik: Plura-lismus und Korporatismus

Pluralismus "Fachausdruck für die Struktur moderner Gesellschaften, in denen – auf der Basis hochgradiger sozialer Differenzierung, zahlreicher (sich teils ü-berlappender, teils überkreuzender) Konflikte und Lebensstile – die Bürger ihre Interessen in einer Vielzahl autonomer Bewegungen, Vereine, Parteien und Verbände organisieren, die um Einfluss in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ringen" (Schmidt 32000: 227) Hier erläutertes Konzept nach: • Fraenkel, Ernst, 1973 (1970): Strukturanalyse der modernen Demokra-

tie. In: Ernst Fraenkel: Reformismus und Pluralismus. Hamburg: Hoff-mann und Kampe, pp. 404-436

Weitere wichtige Theoretiker: • Arthur Bentley • David Truman • Robert Dahl

Volks- bzw. Demosbegriffe • Konservatismus: historisch gewachsene, organische Einheit; Volksgeist;

volonté générale • Liberalismus: isolierte Individuen mit rationalen Argumenten; govern-

ment by public opinion • Faschismus: amorphe Masse in einem politischen Verband mit allge-

meinem Konsens • Pluralismus: Gruppen der Gesellschaft, die sich auf politischer Ebene

um die Durchsetzung ihrer Interessen bemühen

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Idealtypus des pluralistischen Staates: • autonome Legitimation: über Verwirklichung eines a-posteriori-

Gemeinwohls durch die Regierenden • heterogene Strukturierung: vielgliedriges Staatsvolk • pluralistische Herrschaftsorganisation: Vielgliedrigkeit in Staat, Gesell-

schaft und im intermediären Bereich • sozialer Rechtsstaat: das Recht darf nicht unbeschränkt unter dem Vor-

behalt des Politischen stehen

Wichtigste Thesen Fraenkels: • zu einer funktionierenden Demokratie gehören Konsens und Konflikt • Rolle des Staates in pluralistischen Systemen: Überwachung der Spiel-

regeln und Herstellung eines Ausgleichs zwischen Interessen • Pluralistischer Interessenausgleich sichert das Fortbestehen der Demo-

kratie gegen totalitäre Einflüsse

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Definitionen Korporatismus "Corporatism can be defined as a system of interest representation in which the constituent units are organized into a limited number of singular, com-pulsory, noncompetitive, hierarchically ordered and functionally differenti-ated categories, recognized or licensed (if not created) by the state and granted a deliberate representational monopoly within their respective categories in exchange for observing certain controls on their selection of leaders and articulation of demands and supports". Schmitter, Philippe, 1974: Still the Century of Corporatism? In: Review of Politics, vol. 36, pp. 85-131 "Institutionalisierte, gleichberechtigte und freiwillige Kooperation und Ko-ordination von Staat und Verbänden bei der Formulierung und Ausführung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen (hauptsächlich Wirt-schafts- und Sozialpolitik)" (Schmidt 1995); "Zum Korporatismus gehört der Dreieckscharakter konfligierender sozialer Interessen bei staatlicher Vermittlung" (Beyme 1996: 202)

Zusammenfassung Korporatismusbegriff: • Verbindung von ökonomischen, politischen und soziopolitischen Ele-

menten (Alemann 1981) • "Modus von Interessenpolitik" (Lehmbruch 1981: 50) • Ebene der politischen Akteure: Bindung organisierter sozioökonomi-

scher Interessengruppen an den Staat durch ein institutionalisiertes Rep-räsentationsprinzip auf der einen und gegenseitiges Verhandeln auf der anderen Seite

• Ebene der gesellschaftlichen Massen: Mobilisierung und soziale Kon-trolle durch organisierte sozioökonomische Interessengruppen

• Beschränkung auf bestimmte Politikfelder: insbesondere Verteilungs-konflikte im wirtschaftspolitischen Bereich (Cleavage Arbeit – Kapital).

• Kernbestand korporatistischer Politikentwicklung: Anbindung der Lohnpolitik an die makroökonomische Steuerung.

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Übersicht: Korporatismus versus Pluralismus (liberaler) Korporatis-

mus Pluralismus

Eigenschaften der ge-sellschaftlichen Orga-nisationen

variable Anzahl, singu-lär, Pflichtcharakter, nichtkompetitiv, hierar-chisch organisiert, funktional differenziert

unbegrenzte Anzahl, freiwilliger Beitritt, kompetitiv, nicht hie-rarchisch organisiert, selbstdeterminiert

Status der gesellschaft-lichen Organisationen

vom Staat anerkannt, lizensiert oder kreiert

keine staatliche Aner-kennung, Lizensierung, Bezuschussung oder Kreierung

sektoraler Repräsenta-tionsstatus

Garantie des (sektora-len) Repräsentierungs-monopols durch den Staat

kein Repräsentie-rungsmonopol

Kontrollmöglichkeit des Staates

(Mit)kontrolle des Staa-tes bei Führungsbeset-zung, Interessenartiku-lation und Interessen-aggregation

Keine Kontrolle des Staates bei Führungs-besetzung, Interessen-artikulation und Inte-ressenaggregation

Quelle: nach Schmitter (1974)

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c) Interessengruppen in Deutschland

Organisationsform Organisationsspektrum

• Verbände als frei gebilde-te, primär dem Zweck der Interessenvertretung nach außen dienende Organisation

• Öffentliche Institutionen wie Industrie- und Han-delskammern

• Örtliche Gruppierungen mit Forderungen an das politische System (z.B. Bürgerinitiativen)

• Wirtschafts- und Arbeitsbereich (z.B. Gewerkschaften, Arbeitgeber, Industrie- und Handelskammern)

• sozialer Bereich (z.B. Mieterbund, Rotes Kreuz, Bund der Vertriebe-nen)

• örtliche Interessen (z.B. Bürgerinitia-tiven)

• Freizeitbereich (z.B. Deutscher Fuß-ball-Bund, Sängerbund, ADAC)

• Politische und ideelle Vereinigungen (z.B. Greenpeace, amnesty internati-onal, Kirchen)

• Öffentliche Gebietskörperschaften (z.B. Deutscher Städtetag)

Korporatistische Elemente im deutschen System: "Sektoraler Korporatis-mus"

• Interessenartikulation, Interessenaggregation: ca. 190 Beiräte und ca. 175 Aufsichtsgremien im Bereich der Bundesregierung mit ü-berwiegender Verbandsbesetzung (z.B. Drittelparität der Bundesan-stalt für Arbeit, Lastenausgleich / Vertriebenenverbände)

• Mitwirkung der freien Wohlfahrtsverbände bei Sozial- und Jugend-hilfe

• Tarifvertragssystem als "echtes korporatistisches" Element. Ende 1994 waren 567 Tarifverträge – immer unter Mitwirkung von Ver-bänden erstellt – allgemeinverbindlich

"Konzertierte Aktion": Gemeinsame Konjunkturpolitik zu Beginn der sieb-ziger Jahre.

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Verbände im politischen System

• Anzahl der in Bonn / Berlin vertretenen Interessenorganisationen: ca. 1.500 (Anhang 2 der Geschäftsordnung des Bundestages). Für diese be-steht Anhörungsrecht bei den Organen des Bundestages

• Einflusskanäle der Interessenorganisationen im politischen System: • Verbandsmitgliedschaften von Abgeordneten (z.B. Mitglieder

von 232 Verbänden in der Legislaturperiode 1976-80; 60% der Bundestagsmitglieder sind Gewerkschaftsmitglieder etc.)

• Abgeordnete als Funktionsträger von Verbänden (früher oder ak-tuell, hauptberuflich oder ehrenamtlich) und Überrepräsentation solcher Abgeordneter in entsprechenden Ausschüssen; Wahllis-tenaufstellung begünstigen Aufstellung von Verbandvertretern

• Beeinflussung von Abgeordneten mittels Informationsaustausch, Expertenhearings

• Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess nach § 24 der Gemein-samen Geschäftsordnung der Bundesministerien (Besonderer Teil): "verbandsfeste" Gesetzesentwürfe durch Referenten; Beirä-te der Ministerien; personelle Nähe zwischen Verband und Minis-terium

• Einfluss auf Parteien: Spenden (früher bedeutender als heute: Öf-fentlichkeitspflicht und Abschreibungsgrenze); personelle Durch-dringung; Wahlempfehlungen

• Einfluss auf öffentliche Meinung: Zueigenmachung des Gemein-wohls; eigene Medien

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d) Interessengruppen auf europäischer Ebene Vielgestaltigkeit der Interessenvertretung auf europäischer Ebene • europäische Interessenvertretungen / Verbände: Anzahl der von der

Kommission anerkannten (2004): 137, davon allein 44 im Bereich der Landwirtschaft. Quelle: http://europa.eu.int/comm/civil_society/coneccs/

• Multinationale Konzerne mit Verbindungsbüros in Brüssel: ca. 200 • Nationale Verbände mit eigenen Vertretungen in Brüssel, z.B.

• Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) • Deutscher Industrie- und Handelstag (DIHT) • Deutscher Raiffeisenverband (DRV), seit 1968 • Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), seit 1997

• Kommerzielle Lobby-Agenturen: ca. 250 Kanzleien und Beratungsbüros in Brüssel

Quelle (falls nicht anders angegeben):

Platzer, Hans-Wolfgang, 2002: Interessenverbände und europäischer Lobbyismus. In: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Europa Handbuch. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 409-422.

Wichtige europäische Verbände • Rat der europäischen Industrien (CEI), 1950 • Europäische Regionalorganisation des Internationalen Bundes Freier

Gewerkschaften (1950), später Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB), 1972

• Studienausschuss des westeuropäischen Kohlebergbaus, 1953 • Comité des Organisations Professionelles Agricoles (COPA), 1958 • EUROCHAMBERS, seit 1958: Dachorganisation der Industrie- und

Handelskammern • Europäischer Verbraucherverband (BEUC), ca. 1970 • Europäisches Umweltbüro (EEB), 1974 • European Round Table of Industrialists (ERT), 1983. http://www.ert.be/ • Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), seit

1991 Einrichtung einer UNICE advisory and support group

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Einflußkanäle der Interessenorganisationen auf europäischer Ebene: • Einflussvektoren:

• Einfluss von nationalen Interessengruppen auf nationale Regie-runge, u.U. koordiniert in mehreren Mitgliedstaaten

• Einfluss nationaler Interessengruppen auf europäische Institutio-nen, u.U. koordiniert in mehreren Mitgliedstaaten

• Einfluss europäischer oder transnationaler Verbände auf europäi-sche Institutionen

• Institutionen • Kommission:

• sieht europäische Verbände als "natürliche Verbündete" an • Segmentierung nach Generaldirektionen begünstigt "Ver-

bandherzogtümer" • Europäisches Parlament:

• Verbandsmitgliedschaften von Abgeordneten • Abgeordnete als Funktionsträger von Verbänden • Beeinflussung von Abgeordneten mittels Informationsaus-

tausch, Expertenhearings • Einfluß auf den Gesetzgebungsprozess durch Anhörungen • Einfluß auf Parteien: auf europäischer Ebene vergleichswei-

se gering • Wirtschafts- und Sozialausschuss

• 317 Mitglieder (bis 30.4.2004: 222 Mitglieder) • Drei Gruppen im WSA: Arbeitgeber, Arbeitnehmer, "sonsti-

ge Interessen" • konsultative Funktion

• Ausschuss der Regionen • 317 Mitglieder (bis 30.4.2004: 222 Mitglieder) • konsultative Funktion

• Einfluss auf öffentliche Meinung: auf europäischer Ebene eher ge-ring