7. 14. November 2014 Osnabrücker Wissensforum...7. 14. November 2014 Zukunft. Fragen. Antworten....

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Zukunft. Fragen. Antworten. Zukunft. Fragen. Antworten. Osnabrücker Wissensforum 14. November 2014 7. Osnabrücker Wissensforum 14. November 2014 7.

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  • Zukunft. Fragen. Antworten.Zukunft. Fragen. Antworten.

    Osnabrücker Wissensforum14. November 20147. Osnabrücker Wissensforum14. November 20147.

    http://www.wipo.uni-osnabrueck.de/7005.htm

  • Zukunft. Fragen. Antworten.Zukunft. Fragen. Antworten.

  • InhaltWolfgang Lücke Ebola, Smoothies und das düstere Mittelalter 6

    Siebtes Osnabrücker WissensforumFrank Ollermann Digitale Demenz. Machen digitale Medien dick, dumm, aggressiv

    und einsam? 10Frank Westermann Chlorhühnchen, Genmais, Schiedsgerichte.

    Wozu brauchen wir ein Freihandelsabkommen? 12Michael Kiefer Salafismus in Deutschland.

    Was bewegt Jugendliche, in den Krieg zu ziehen? 14Prof. Dr. Sabine Zachgo Grüne Smoothies: Was ist dran und drin? 16Wassilis Kassis Erfolg wider Erwarten. Ist Resilienz erlernbar? 18Martin H. Jung Kreuz, Halbmond, Davidstern. Was bedeuten uns Symbole? 20Jochen Gemmer Balance. Was hält mich auf dem Rad? 22Andrea Lenschow Krieg in der Ukraine. Hat Europa versagt? 24Oliver Vornberger Internet der Zukunft. Wohin geht die Reise? 26Renate Zimmer »Mama tomm neel« – Wie funktioniert der Spracherwerb bei Kindern? 28Thomas Gruber Migräne oder Hexenschuss. Lässt sich Schmerz messen? 30Hans-Jürgen Ahrens Ärztliche Kunstfehler. Warum sind Klagen vor Gericht oft erfolglos? 32Ingrid Kunze Unterrichtsqualität. Hilft ein Eignungstest für das Lehramt? 34Stefan Hanheide »Es braust ein Ruf ...«.

    Warum spielte Musik im Ersten Weltkrieg eine so große Rolle? 36Ralf Kleinfeld An die Urne. Warum gibt es in Deutschland keine Wahlpflicht? 38Fryderyk Zoll Google und das Recht auf Vergessen.

    Was kann gelöscht werden, was muss im Netz auffindbar bleiben? 40Rosa Maria Puca Scheitern, verlieren, versagen.

    Warum verarbeiten wir Misserfolge unterschiedlich? 42

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  • Zukunft. Fragen. Antworten.

    Gordon Pipa Das Navi im Gehirn. Wie können wir uns in einer komplexen Umgebung orientieren? 44

    Stefanie Engel Ökologisches Wirtschaften. Sorgt Nachhaltigkeit für eine bessere Kosteneffizienz in Unternehmen? 46

    Roland Czada Islamischer Staat. Ein Sicherheitsrisiko für Deutschland? 48Julia Becker Zwischen den Geschlechtern.

    Lässt sich sexistisches Verhalten vorhersagen? 50Sabine Hunke Hunger und Stress. Wie kommunizieren Bakterien mit ihrer Umwelt? 52Sven Walter Zeugenaussagen. Können wir unserer Erinnerung vertrauen? 54Ursula Walkenhorst Gesundheitswesen akademisch.

    Braucht eine Hebamme einen Hochschulabschluss? 56Andreas Pott Asyl. Droht Deutschland eine Flüchtlingskatastrophe? 58May-Britt Kallenrode Citizen Science. Wie können Bürger sich an der Forschung beteiligen? 60Christian Dawidowski Chatten, googlen, fernsehen. Ist der Jugend der Lesespaß vergangen? 62Swen Malte John Arzt in der Hosentasche.

    Taugen Apps als medizinische Frühwarnsysteme? 64Andrea Hartmann Firnkorn Heimkehr aus Afghanistan. Warum geht der Krieg im Kopf weiter? 66Henning Allmers Irgendwo in Afrika. Was hat die Ebola-Epidemie mit mir zu tun? 68Ulrike Graf Große Hürden. Woran scheitert die Inklusion im Unterricht? 70Andrea Schmidt Spritzen, sprayen, schlucken: Doping im Breitensport.

    Mythos oder Alltag? 72Thomas Vogtherr Bestseller, Schwerterspiele, Märkte.

    Warum hat das düstere Mittelalter bei uns so viel Strahlkraft? 74

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    Ebola, Smoothies und das düstere Mittelalter7. Osnabrücker Wissensforum der Universität und Neuen Osnabrücker Zeitung

    Grüne Smoothies, digitale Demenz,Doping im Breitensport und düsteresMittelalter. Das 7. Osnabrücker Wissens-forum »Zukunft. Fragen. Antworten.«,eine Kooperation der Universität Osna-brück und der Neuen Osnabrücker Zei-tung (NOZ), bot rund 300 Zuhörern inder vollbesetzen Schlossaula wieder einenabwechslungsreichen Abend des Wis-sens mit überraschenden Erkenntnissen.Eine Serie mit allen Beiträgen erschienin der NOZ. Die Videomitschnitte sindim Internet (www.uni-osnabrueck.de/wissensforum) abrufbar.

    Über 100 Fragen hatten die Lese-rinnen und Leser der Neuen Osnabrücker Zeitung eingesandt. 32 wurden ausgewählt und von den Pro -fessorinnen und Professoren beantwortet. So unter-schiedlich die Themen, so vielfältig gestalteten sichauch die Darbietungen. Einige überzeugten mit Wort-witz, andere brachten Requisiten zur Untermauerungihrer Rede mit auf die Bühne und wieder andere nutz-ten die vier Minuten Redezeit sogar für ein politischesStatement. Wer überzog, erhielt die rote Karte. Das Ergebnis war wieder eine dreistündige Reise durch die

    Fächer und Fachbereiche der Universität, die zeigte,wie bunt und spannend Wissenschaft sein kann.

    Gleich zu Beginn erfuhren die Zuhörer von derDirektorin des Botanischen Gartens, Prof. Dr. SabineZachgo, dass grüne Smoothies durchaus gesund sind,vorausgesetzt die Zutaten sind ausgewogen und ab-wechslungsreich gewählt. Bei der Suche nach der Zu-kunft des Internets lenkte der Informatiker Prof. Dr.Oliver Vornberger den Blick auf vernetzte Systeme imStraßenverkehr. Künftig werden Autos ganz ohne Fah-rer gesteuert. Und apl. Prof. Dr. Henning Allmerszeigte anschaulich, dass die Region auf die Gefahrendes Ebola-Virus gut vorbereitet ist. Studentin KatjaLorenzen schlüpfte kurzerhand in einen medizinischenSchutzanzug. Die Botschaft: Die Krankenhäuser derRegion sind für den Ernstfall gerüstet.

    Wieder waren die Themen beim Wissensforumbreit gefächert, vom Salafismus in Deutschland , überdie Inklusion im Unterricht, den Lesespaß bei Jugend-lichen bis zur Vorhersage sexistischen Verhaltens undder Verbreitung von Doping im Breitensport. Referiertwurde auch über die Klagen ärztlicher Kunstfehler, dieWahlpflicht sowie den Spracherwerb bei Kleinkindern.Wie funktioniert das Navi im Gehirn, war eine weitereLeserfrage. Christliche, jüdische und muslimische

  • Symbole kamen ebenso zur Sprache wie Google unddas »Recht auf Vergessen« sowie der Islamische Staat als Sicherheitsrisiko für Deutschland. Die Humboldt-Professorin Dr. Stefanie Engel beschäftigte sich schließ-lich mit dem ökologischen Wirtschaften. Initiativenfür mehr Nachhaltigkeit in einem Unternehmen könnendie Profite erhöhen. Beispielsweise dann, wenn Pro-duktionsprozesse optimiert werden, um Energie einzu-sparen. Das hilft der Umwelt und dem Unternehmen.

    Einen abschließenden Glanzpunkt lieferte der His -toriker Prof. Dr. Thomas Vogtherr. Humorvoll beant -wortete er die Frage, warum gerade das düstere Mittel-alter bei uns Hochkonjunktur hat. »Mittelaltermärktemit Schwerterspielen vermitteln zwar einen wohligenSchauer. Wir wissen aber, dass es anders war.« Und erempfahl den Zuhörern ein Experiment: »Wenn Siegleich nach Hause aufbrechen, dann gehen Sie zu Fuß,werfen Sie Ihr Handy weg, schalten Sie alle elektrischenGeräte aus und stellen Sie die Heizung ab. Dann sindSie dem Mittelalter schon ein Stück näher gekommen.«

    Den Wissensabend moderierten NOZ-Chefredak-teur Ralf Geisenhanslüke und UniversitätspräsidentProf. Dr. Wolfgang Lücke. Die Begrüßung übernahmdie Vizepräsidentin für Forschung und Nachwuchsför-derung, Prof. Dr. May-Britt Kallenrode.

    Mein Dank gilt der Neuen Osnabrücker Zeitungund den beteiligten Professorinnen und Professoren.Sie haben es wieder eindrucksvoll geschafft, die Vielfalt und Faszination des wissenschaftlichen Arbei-tens an der Universität Osnabrück einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Planung undOrganisation lag in den Händen von Sebastian Philipp (Redakteur, Neue Osnabrücker Zeitung) und unserem Pressesprecher Dr. Utz Lederbogen.

    Das 8. Osnabrücker Wissensforum ist am Freitag, 13. November 2015 geplant.

    Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung bei dieser Lektüre

    Prof. Dr. Wolfgang LückePräsident der Universität Osnabrück

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    – Bakterien haben eine Vielzahl von Sensoren anihrer Außenhülle und kommunizieren so mit derAußenwelt (Prof. Dr. Sabine Hunke).

    – Zehn bis 30 Prozent der Bodybuilder dopen, abernur vier Prozent der Bergsteiger (Prof. Dr. AndreaSchmidt).

    – Neigungswinkel, Lenkeinschlag und die Geschwin -digkeit halten den Radfahrer in der Balance (Prof.Dr. Jochen Gemmer).

    – Demnächst redet ein Prozessor im Auto mit demVerkehrsleitsystem der Stadt Osnabrück. In vieramerikanischen Staaten wurde schon die Straßen-verkehrsordnung entsprechend angepasst (Prof.Dr. Oliver Vornberger).

    – In Australien kostet das Nichterscheinen in derWahlkabine bis zu 150 Euro. Wie in Großbritan-nien sollte über eine Wahlpflicht für Erstwählernachgedacht werden (Prof. Dr. Ralf Kleinfeld).

    – Alarmierend ist, dass 15 bis 20 Prozent der Kin-der im vorschulischen Alter sprachauffällig sind(Prof. Dr. Renate Zimmer).

    – Moderne Hirnforschung sagt, dass Erinnerungnicht das Abrufen von wirklichkeitsgetreuen Bildern ist, sondern ein aktiver Prozess des immerwieder neuen Re-Konstruierens (Prof. Dr. SvenWalter).

    – Die Senkung der Sterblichkeitsrate in den letzten50 Jahren verdanken wir zu 40 Prozent verbesser-ten Therapien und 60 Prozent der besseren Kon-trolle von Risikofaktoren (apl. Prof. Dr. SwenMalte John).

    – Die gelesenen Bücher entfallen heute auf wenigerLeser, und es gibt immer mehr Nichtleser, etwa25 Prozent (Prof. Dr. Christian Dawidowski).

    Die Beiträge des 7.Osnabrücker Wissens-forums sind auch alsVideomitschnitte an-sehbar. Sie könnenüber den entsprechen-den QR-Code direktabgerufen werden.Ansonsten sind sie er-reichbar über die In-ternetadresse: www.uni-osnabrueck.de/wissensforum

    Einige Erkenntnisse des Osnabrücker Wissensforums:

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    Zukunft. Fragen. Antworten.

  • Digitale Demenz. Machen digitale Medien dick, dumm, aggressiv und einsam?Frank Ollermann

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    Das sind ja gleich vier Fragen auf einmal! Zunächst ein-mal zum Begriff Digitale Demenz: Digitale Demenz istkein wissenschaftlicher Fachbegriff, sondern eine besten-falls populärwissenschaftliche Wortschöpfung, die unteranderem dazu geeignet ist, Menschen, insbesondere El-tern, zu verunsichern. Ob das nun beabsichtigt ist odernicht, sei jetzt mal dahingestellt. Aber kommen wir zureigentlichen Frage: Machen digitale Medien dick,dumm, aggressiv und einsam?

    Dazu ein paar Gedanken:Erstens: Es gibt eine riesige Vielfalt an digitalen

    Medien und Nutzungsmöglichkeiten: Digitales Fernse-hen, digitales Radio, das Internet, Smartphones, aberauch E-Books oder elektronische Lernangebote anHochschulen seien hier nur als Beispiele genannt. Alleinschon diese Vielfalt verbietet es, pauschal von »den« di-gitalen Medien zu sprechen. Man muss da schon ge-nauer hinschauen.

    Zweitens: Neben dem Medium selbst kommt es aufden Medieninhalt an. Nehmen wir einmal das Internetals ein Beispiel heraus: Natürlich gibt es da, wie im ech-ten Leben, dunkle Ecken, von denen Sie sich besserfernhalten. Aber Sie finden im Internet eben auch le-ckere Kochrezepte, Sie finden da Ihre Lieblingsmusik,Sie finden da Videoaufzeichnungen vom Osnabrücker

    Wissensforum. Es wäre also völlig absurd, zu erwarten,dass »das Internet« pauschal eine bestimmte gleichför-mige und vorhersagbare Wirkung auf seine Nutzer hat.

    Drittens: Es kommt auch auf die Hintergründeund individuellen Beweggründe an, aus denen herausdigitale Medien genutzt werden. Dazu wiederum einBeispiel: Wenn jeder, der »Ballerspiele« – sogenannteEgo-Shooter – spielt, automatisch chronisch aggressivwürde, dann wären wir ein Volk von Gewalttätern. Sindwir aber nicht, denn die meisten Spieler sind ganz nor-male und friedliche Menschen, die sehr wohl zwischendieser virtuellen Spielewelt und der Realität unterschei-den können. Es gibt aber natürlich auch einige, die viel-leicht mit einer ungünstigen familiären Vorgeschichtebelastet sind und mit solchen Spielen ihre unterdrücktenGewaltfantasien ausleben wollen. In solchen Fällen kön-nen Gewalt darstellende Spiele sicherlich dazu beitragen,einen schon bestehenden Schaden zu vergrößern.

    Es gibt noch eine Reihe weiterer Randbedingungen,auf die es ankommt, wenn es um die Wirkung digitalerMedien auf den Menschen geht. Ich fasse mal zusam-men: In der wissenschaftlichen Forschung finden sichsowohl Befunde für negative Effekte als auch für Nicht-Effekte als auch für positive Effekte des Konsums elek-tronischer Medien. Das ist übrigens auch ein Grund

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    dafür, dass man ganze Bücher schreiben kann, in denen es –selbstverständlich unter Rückgriff auf wissenschaftliche For-schungsergebnisse – ausschließlich um die möglichen negativenEffekte geht. Man muss sich eben nur die passenden Forschungs-ergebnisse heraussuchen.

    Ein allgemein negativer Effekt digitaler Medien auf denMenschen lässt sich wissenschaftlich jedenfalls nicht nachweisen.Und selbst wenn, wäre es ja auch nicht sonderlich hilfreich, mitsolch alarmierenden Thesen für Verunsicherung zu sorgen: Digi-tale Medien gibt es, und es wird sie auch weiterhin geben – obman ihnen nun skeptisch oder begeistert gegenübersteht. Inso-fern bleibt uns ohnehin nichts anderes übrig, als mit ihnen zuleben, sie sinnvoll zu nutzen und unseren Kindern einen ver-nünftigen und gesunden Umgang mit ihnen zu vermitteln, siealso vor möglichen Gefahren zu schützen, ihnen aber auch dievielen Potenziale digitaler Medien zu vermitteln, die in der öf-fentlichen Diskussion meist zu kurz kommen.

    Oder, um der Ausgangsfrage einmal eine optimistische Per-spektive entgegenzusetzen: Digitale Medien können auchschlank, schlau, ausgeglichen und gesellig machen.

    Prof. Dr. Frank Ollermann, Universität Osnabrück, Zentrum für Informationsmanagement und virtuelle Lehre (virtUOS) E-Mail: [email protected]: www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/follerma

    http://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/follermahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/follermahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/follermahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/follerma

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    Chlorhühnchen, Genmais, Schiedsgerichte. Wozu brauchen wir ein Freihandelsabkommen?Frank Westermann

    Die Volkswirtschaftslehre ist sich in so manchen Berei-chen nicht einig: Sind die Staatsausgaben zu groß, odersind sie zu klein? Sind die Zinsen zu hoch oder sind siezu niedrig? Zu vielen Positionen ließen sich anerkannteWissenschaftler finden, die Gegenteiliges für richtighalten. 2013 wurde sogar der Nobelpreis gleichzeitig anzwei Kollegen vergeben. An einen der bewiesen hatte,dass die Finanzmärkte rational sind – und einen ande-ren, der bewies, dass sie es nicht sind.

    Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regelist die Handelspolitik: Einstimmig vertreten Wissen-schaftler weltweit die Auffassung, dass freier Handel dieWohlfahrt der Länder verbessert und dass die Handels-beschränkungen zu hoch sind. Das betrifft Importzöllegenauso wie Export-Subventionen oder quantitativeRestriktionen.

    Die Vorteile des freien Handels bestehen darin,dass die Konsumenten niedrige Preise zahlen, weil dieKonkurrenz unter den Firmen Kartelle und Monopoleaufbricht. Sie liegen weiterhin darin, dass sich die Län-der auf ihren relativen Vorteil spezialisieren und dassSkaleneffekte auftreten, wenn man in größerer Stück-zahl günstiger produzieren kann.

    Das »Transatlantisches Freihandelsabkommen«,oder »Transatlantic Trade and Investment Partnership«

    im Englischen, kurz TTIP, soll den Handel zwischenEuropa und den USA erleichtern. Es wird derzeit aufArbeitsebene von Diplomaten der EU-Kommissionund der US-Regierung verhandelt und soll diesenHerbst offiziell vorgestellt und ratifiziert werden. Zoll-schranken werden darin abgebaut und der Zugang zuden Märkten erleichtert.

    Eine Schwierigkeit an solchen Handelsabkommenbesteht oft darin, dass nicht-tarifäre Handelshemmnisseaußer Acht gelassen werden. Zum Beispiel werden oftdiejenigen Güter besonders hoch besteuert, die im eige-nen Land nicht produziert werden. Oder es werdenProduktstandards festgelegt, die die ausländischenGüter nicht erfüllen. Als Japan zum Beispiel vor einigenJahren ein Freihandelsabkommen bezüglich der Ex-und Importe von Autos mit Frankreich abschloss, legtedie japanische Regierung kurz darauf fest, dass alleAutos nur in einem kleinen Zollamt südlich von Tokioabgefertigt werden dürfen. Die wenigen Beamten dortwaren komplett überfordert, schafften nur wenigeAutos am Tag und setzten somit das Freihandelsabkom-men faktisch wieder außer Kraft.

    Aus meiner Sicht handelt es sich in den Diskussio-nen um Genmais und Chlorhühnchen etc. um genausolche nicht-tarifären Handelshemmnisse. Die Kritik

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    ist überzogen, und es spiegelt sich darin nicht nur die Sorge umdas Wohl der Bürger wider, sondern auch der Wunsch nacheiner Ausschaltung der ungeliebten Konkurrenz aus den USA.Eine klare Kennzeichnungspflicht würde zum Beispiel schonreichen den Konsumenten die Wahl zu lassen, ob sie diese Pro-dukte kaufen wollen oder nicht.

    Dennoch kann man die Handelspolitik der EU kritisieren.Die Handelsgewinne sind immer dann besonders groß, wenndie Länder sich unterscheiden. Wenn zum Beispiel kapitalinten-siv produzierende Länder wie Deutschland Handel treiben mitLändern, die arbeitsintensive Güter oder Rohstoffe exportieren.Die USA sind in ihrer Struktur der EU jedoch recht ähnlich.Die Vorteile wären wesentlich größer, würde auch ein vergleich-bares Freihandelsabkommen mit Russland, China oder Indienabgeschlossen. Handel mit diesen Ländern würde zu beiderseiti-gem Vorteil Handelsgewinne erzeugen und – als Nebeneffekt –vielleicht auch die politischen Beziehungen verbessern.

    Prof. Dr. Frank Westermann, Universität OsnabrückVolkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt internationale WirtschaftspolitikFachbereich WirtschaftswissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.wipo.uni-osnabrueck.de/7005.htm

    Zukunft. Fragen. Antworten.

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  • Salafismus in Deutschland. Was bewegt Jugendliche, in den Krieg zu ziehen?Michael Kiefer

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    »Abu Usama al-Almani«, der eigentlich Philip Bergnerhieß, fuhr vor wenigen Wochen mit einem Fahrzeugim Norden des Iraks in eine Peschmerga-Stellung undsprengte sich in die Luft. Bei dem Anschlag fandenmehr als 20 Menschen den Tod. Der Attentäter, derals junger Mann zum Islam konvertierte, stammte ausDinslaken und hatte sich mit weiteren Gleichgesinntenvermutlich im Sommer 2013 nach Syrien abgesetzt.Bergner ist kein Einzelfall. Bereits wenige Wochenzuvor hatte sich der aus Frankfurt stammende »AbuAyyub Al Maghrebi« vor laufenden ISIS-Kameras alsSelbstmordattentäter in Szene gesetzt. Junge Deutschestellen in den Kampftruppen des IS keine Seltenheitdar. Die Sicherheitsbehörden der Länder gehen mitt-lerweile (Stand: Oktober 2014) davon aus, dass mehrals 450 junge Menschen aus Deutschland, in der RegelMänner unter 27, als Kombattanten in neosalafisti-schen Organisationen in Syrien oder im Irak kämpfen.

    Was veranlasst junge Menschen, in einen fernenKrieg zu ziehen? Die Beantwortung dieser Frage istnicht einfach. Das Phänomen ist relativ neu. Folglichgibt es noch keine wissenschaftlichen Studien, die be-lastungsfähige Aussagen zum Ablauf von Radikalisie-rungsprozessen zulassen. Die Informationen, die wirhaben, stammen zumeist von Akteuren aus Schule,

    Jugendhilfe und Polizeikontexten. Es kann davon aus-gegangen werden, dass in Radikalisierungsprozessensehr viele Faktoren eine Rolle spielen. Die Gruppe derAusgereisten ist keineswegs homogen. Unter Ihnen be-finden sich Akademiker und Studierende. Auffällig istauch der hohe Anteil an Konvertiten. Eine deutlicheMehrheit stammt jedoch eher aus bildungsbenachtei-ligten Milieus und ist überwiegend männlich. Vieleweisen in mehrfacher Hinsicht prekäre Lebenslagenauf. Sie stehen folglich nicht auf der Sonnenseite desLebens.

    Die Erfolgsgeschichte des Neosalafismus basiert ineinem erheblichen Ausmaß auf Versprechungen unddamit verbundenen »attraktiven« Angeboten. JungeMenschen erfahren in den Netzwerken scheinbar Auf-wertung und Anerkennung, die Ihnen bisher versagtblieb. Sie fühlen sich als Teil einer Avantgarde, dieGottes Willen befolgt und damit kann die individuelleSuche nach Bedeutung erfolgreich abgeschlossen wer-den. Dadurch verlieren die lästigen oder enervieren-den Anforderungen des Alltags an Bedeutung. Es gibtKameradschaft und Fürsorglichkeit. Darüber hinausbietet die Neosalafiyya ein vereinfachtes und schlüssi-ges System der Weltdeutung, das in allen Angelegen-heiten Eindeutigkeit bietet. Bei manchen spielt sicher-

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    lich auch die Abenteuerlust eine Rolle. Schließlich bietet derBürgerkrieg die Möglichkeit zur Selbstermächtigung unddamit verbunden zur exzessiven Gewaltanwendung.

    Gegen all diese Phänomene hilft nur eine ganzheitlichePräventionsstrategie, die den Neosalafismus als ein gesamtge-sellschaftliches Phänomen begreift, das von allen sozialraumre-levanten Akteuren in Schule, Jugendhilfe und Gemeinde mitausreichenden Ressourcen, Geduld und langem Atem bearbei-tet wird.

    Dr. Michael Kiefer, Universität OsnabrückInstitut für Islamische Theologie Fachbereich Erziehungs- und KulturwissenschaftenE-Mail: [email protected] Internet: www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.html

    http://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.htmlhttp://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.htmlhttp://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.htmlhttp://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.htmlhttp://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.htmlhttp://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/personen/postdocs/dr_michael_kiefer.html

  • Grüne Smoothies: Was ist dran und drin?Prof. Dr. Sabine Zachgo

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    Grüne Smoothies sind »in« und gelten als gesundeMini-Mahlzeiten aus dem Mixer. Was steckt dahinter?Wir wissen es alle: Obst und Gemüse sind gesund. DieDeutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt davonzur Förderung der Gesundheit »5 am Tag«. Zu den er-nährungsphysiologischen Vorteilen von Obst, Salat undGemüse zählen ihre geringe Energiedichte, ein geringerFettgehalt und gleichzeitig ein hoher Gehalt an verschie-denen Vitaminen, Mineralstoffen sowie Ballaststoffen.Weiterhin enthalten sie Antioxidantien und andere se-kundäre Pflanzenstoffe, von denen derzeit über 100.000bekannt sind und die vielfältige Schutzfunktionen inZellen ausüben.

    Es sind weniger die Effekte der einzelnen Vital-stoffe, als viel mehr ihr komplexes Zusammenwirken,das sich positiv auf die Gesundheit auswirkt. Das Pro-blem ist aber, dass pflanzliche Zellen, anders als tieri-sche, von einer festen, schützenden Zellwand umgebensind. Diese Zellwand muss durch sehr gründliches undausdauerndes Kauen aufgeschlossen werden. Dieserenorme Kauaufwand wird meistens nicht aufgebracht,wodurch ein großer Anteil der zellulären Vitalstoffenicht zugänglich ist und ungenutzt wieder ausgeschie-den wird.

    2004 hatte Victoria Boutenko in den USA eineIdee, wie die Zellwände von Pflanzenzellen einfacheraufgeschlossen werden können. Um an möglichst vieleder gesunden Vitalstoffe zu gelangen, mixte sie je eineHälfte Blattgrün und eine Hälfte an Früchten in einemHochleistungsmixer und prägte damit den Begriff »Grüner Smoothie«. Blattgrün von Salaten, Kräutern,Wurzelgemüse und Wildkräutern hat eine extrem hoheNährstoffdichte und häufig einen strengen und bitterenGeschmack. Durch die Zugabe süßer Früchte wird zumeinen der Geschmack ausgeglichen, zum anderen wer-den außerdem noch weitere Vitalstoffe wie Vitamine da-zugegeben. Bei der Zusammensetzung von 50 ProzentBlattgrün und 50 Prozent Frucht ist viel Spielraum für

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    Kreativität bei der Auswahl der Zutaten. Individuelle Ge-schmackvorlieben können berücksichtigt werden und einSmoothie lässt sich einfach und rasch, in nicht einmal fünf Minuten, herstellen.

    Können pflanzliche Vitalstoffe aus Blattgrün und Früchtenim Grünen Smoothie auch negative Wirkungen verursachen?Beispielsweise enthalten Spinat, Rote Beete und Rhabarber Oxal-säure, die im Körper zu Calciumoxalat umgewandelt wird. BeiPersonen, die zu Nierensteinbildung neigen, wirkt sich Oxal-säure negativ aus. Hier gilt für die Grünen Smoothies, genau wieauch für den Verzehr dieser Pflanzen als Salat, Gemüse oderKompott: Nur die Dosis macht das Gift. Abwechslung bei derAuswahl der Zutaten und die Verwendung regionaler Produkte,deren Angebot im Verlauf des Jahres variiert, vermeiden eventu-elle negative Auswirkungen und ermöglichen es, gleichzeitig einegroße Breite an verschiedenen Pflanzenstoffen aufzunehmen.Sollen für Smoothies auch Wildkräuter als Blattgrün verwendetwerden, ist eine Kenntnis der Arten, die gesundheitsförderndsind und verwendet werden können, unerlässlich.

    Prof. Dr. Sabine Zachgo, Universität OsnabrückBotanik, Direktorin des Botanischen Gartens der Universität Osnabrück Fachbereich Biologie/ChemieE-Mail: [email protected] Internet: www.biologie.uni-osnabrueck.de/arbeitsgruppen/botanik.html

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  • Erfolg wider Erwarten. Ist Resilienz erlernbar? Wassilis Kassis

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    Es gibt Menschen in unserem Umfeld, die wir regel-recht als »unplattbar« bezeichnen. Diese Menschenkennzeichnen sich dadurch, so mindestens unsere Vor-stellung bzw. unsere Beurteilung mit einem vorwissen-schaftlichen Blick, dass sie enorme Belastungen, Be-drohungen oder Herausforderungen entweder quasimit links wegstecken oder an diesen Belastungen sogarwachsen, also sich weiter entwickeln. »What doesn’tkill me makes me stronger« trällert uns Kelly Clark-son, »Steh auf, wenn du am Boden bist« rocken unsdie Toten Hosen.

    Im Fachvokabular nennt sich dieser Sachverhalt»Resilienz«, dabei geht es darum, dass Menschen sichtrotz (oder gar wegen!) Belastungen positiv entwickelnbzw. etwas hinkriegen, dass wir ihnen wegen beste -hender Hürden und Gefährdungen nicht zugetrauthätten. Es geht somit um einen positiven Ausgangtrotz enormer Risikofaktoren, es tritt ein Erfolg widerErwarten ein. Keiner von uns hätte vorweg auf dieseMenschen gewettet, wir würden es als ein »program-miertes Verlustgeschäft« betrachtet haben.

    Wissen Sie, wer als Erster den wissenschaftlichenBlick auf Resilienz richtete? Es war der unnachahmli-che und einzigartige Denker Friedrich Nietzsche, der1885 insbesondere im Rahmen seiner Abhandlung

    »Also sprach Zarathustra« mit dem Untertitel »einBuch für alle und keinen« von der Entwicklung undFörderung von, so Nietzsche, »Übermenschen« sprach.Nietzsche ging es dabei um die Selbst-Überwindung,um die Erreichung von Zielen jenseits jeglichen Vor-stellungsvermögens, Ziele, die als unerreichbar galten.

    Nur für Sie, quasi zwei Nebeneffekte dieses Bil-dungsabends bei uns an der Universität Osnabrück,sei zu Nietzsche gesagt, dass erstens Comic- und Film-figuren wie Superman, Spiderman etc. sich sehr starkvon Nietzsches Übermenschvorstellungen anregen ließen. Zweitens, dass Nietzsche nichts aber auch garnichts mit dem nationalsozialistischen Gedankengutzu tun hatte. Nietzsche war vieles, ein Marschierer imGleichschritt war er aber definitiv nie!

    Zurück zum Kernthema aber: Eine wiederum»unplattbare« Fehlbeurteilung zu Resilienz gibt es, dieich aus dem Weg räumen möchte. Resilienz wurdeeine eindeutig zu lange Zeit als eine Persönlichkeitsei-genschaft betrachtet, die einem Individuum eigen ist.Dem ist ganz klar nicht so, das können wir empirischsehr deutlich aufzeigen. Wenn Menschen resilient blei-ben bzw. resilient werden, liegt es nur zum geringerenTeil an ihnen selbst. Vielmehr sind es die erfahrendesoziale Unterstützung sowie herrschende hilfreiche

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    gesellschaftliche Bedingungen, die zu Resilienz führen. Eingutes soziales Netzwerk wie auch ein funktionierender Wohl-fahrtsstaat ist somit eminent zwecks Resilienzförderung.

    Menschen können viel, erstaunlich viel, ja manchmal er-schreckend viel aushalten. Resilienz ist ein grandioser Prozess,der von der einzelnen Person, von seinem sozialen und gesell-schaftlichen, ja politischen Umfeld gefördert und gestützt werdenkann. Resilienzlernen muss sehr wohl auf der individuellen,aber insbesondere auf der sozialen und gesellschaftlichen Ebenestattfinden.

    Prof. Dr. Wassilis Kassis, Universität OsnabrückErziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialisation, außerschuli-sche Bildung und ErziehungFachbereich Erziehungs- und KulturwissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassis

    http://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassishttp://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassishttp://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassishttp://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassishttp://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassishttp://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassishttp://www.sozialisation.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/wassillis-kassis

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    Kreuz, Halbmond, Davidstern. Was bedeuten uns Symbole?Martin H. Jung

    Menschen brauchen Symbole. Symbole ermöglichenOrientierung, sie geben Halt und vermitteln dem Ein-zelnen das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein.Das gilt für den Trauring am Finger und das Vorhänge-schloss an der Hasebrücke. Das gilt für das Logo einesVereins und den Schal einer Fußballmannschaft. Dasgilt für das Tattoo auf dem Rücken und das Trikot einesMarathonlaufs. Und Religionen brauchen Symbole. Ineinem Symbol finden spezifische Inhalte einer Religioneinen repräsentativen Ausdruck. Ein Symbol steht fürdas Ganze oder für den Kern. Es vergegenwärtigt diesen– und ermöglicht Identifikation.

    Das Kreuz war nicht von Anfang an Symbol desChristentums, denn die frühen Christen scheuten Ab-bildungen. Erst ab dem 4. Jahrhundert entwickelte essich zum zentralen Symbol des Christentums. Es erin-nert an den Tod Jesu am Kreuz im Jahre 30 und daran,dass dieser qualvolle, und auf den ersten Blick sinnlose,Tod das Zentrum und den Ausgangspunkt der christli-chen Religion bildete; weil die ersten Christen imNachhinein diesem Tod Sinn abgewinnen, ihn als letzteKonsequenz eines Lebens für andere verstehen konn-ten. Die Auseinandersetzung mit und die Bewältigungvon Tod, Leid, Schuld und Versagen war und ist zentralfür die christliche Religion. Das Kreuz findet sich in

    allen Kirchen – außer in reformierten, die auf Bilderganz verzichten – und es ziert viele Kirchtürme.

    Der Halbmond, besser die Mondsichel, arabischHilal, als Symbol des Islam hat nicht den gleichen Stel-lenwert wie das Kreuz im Christentum. Er wurde seitdem 15. Jahrhundert von den Osmanen benutzt undwar weniger ein religiöses Symbol als eines für die Aus-dehnung der moslemischen Herrschaft. Anders als beiuns in Europa liegt die Sichel in Vorderasien horizontal.Als Fruchtbarer Halbmond wird seit dem frühen 20.Jahrhundert das Kerngebiet des Islam – von Palästinaüber Syrien bis in den Irak – bezeichnet, ein wasserrei-ches Gebiet, das wie eine Mondsichel die wasserarmearabische Halbinsel umspannt. Die Mondsichel bietetaber auch Raum für religiöse Deutungen, denn der isla-mische Kalender orientiert sich am Mond. Zum Bei-spiel beginnt der Fastenmonat Ramadan mit dem Er-scheinen der Mondsichel am Himmel. Heute ziert derHalbmond die Flagge vieler islamischer Staaten, darun-ter die Flagge der Türkei. Er findet sich auch in Mo-scheen, häufig auf dem Minarett.

    Der sechszackige Davidstern, hebräisch MagenDavid, Schutzschild Davids, als Symbol des Judentumshat ebenfalls nicht den gleichen Stellenwert wie dasKreuz im Christentum. Er besteht aus zwei ineinander

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    verschlungenen Dreiecken, was viele Deutungen ermöglicht. Derjüdische Philosoph Franz Rosenzweig sah in dem einen DreieckGott, Welt, Mensch, im anderen Schöpfung, Offenbarung, Erlö-sung symbolisiert. Im Mittelalter war der Davidstern erstmals imKontext jüdischer Magie aufgetaucht und wurde im 14. Jahr-hundert, zunächst in Prag, zu einem Symbol des Judentums. ImNationalsozialismus wurde er den Juden aufgezwungen. Schonvorher war er aber im Zionismus Symbol für die jüdische Natio-nalbewegung geworden, und so kam er 1948 bei der Gründungdes Staates Israel auf die Flagge. Der Davidstern ist aber auch anund in vielen Synagogen zu sehen.

    Mondsichel und Davidstern finden sich auch in der christli-chen Kunst: die Mondsichel in Verbindung mit Maria, zum Bei-spiel im Osnabrücker Dom; der Davidstern als bloßes Orna-ment, zum Beispiel an der Marktkirche Hannover. Die Symboledes Islam und des Judentums sind somit auch Symbole für dieVerbindung der drei Religionen Christentum, Judentum undIslam.

    Prof. Dr. Martin Jung, Universität OsnabrückEvangelische Theologie: Historische TheologieFachbereich Erziehungs- und KulturwissenschaftenE-Mail: [email protected] Internet: www.ev-theologie.uni-osnabrueck.de/Main/Jung

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  • Balance. Was hält mich auf dem Rad?Jochen Gemmer

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    Wir haben uns so daran gewöhnt, dass es uns nicht mehr auf-fällt, aber eigentlich ist es doch merkwürdig: Wieso fällt einFahrradfahrer nicht seitlich um, obwohl seine »Standfläche«nur wenige Zentimeter breit ist? Bei der Antwort sollte manzwischen zwei Ebenen unterscheiden, einer prinzipiellen undeiner praktischen.

    Prinzipiell entscheiden drei sich ständig verändernde Größen über den Neigungswinkel des Fahrrades (gegenüberder Senkrechten) im nächsten Moment: der Neigungswinkelselbst, der Lenkeinschlag und die Geschwindigkeit. Der Nei-gungswinkel hat eine selbstverstärkende Tendenz: Ist er schongroß, wird er auch schnell noch größer, man fällt um. Demwirken Lenkeinschlag und Geschwindigkeit entgegen: Lenktman in die Richtung, in die man kippt und fährt dabei miteiner gewissen Geschwindigkeit, richtet einen die Zentrifugal-kraft wieder auf. Man fährt dabei eine oft kaum merkbareKurve. Für dieses Aufrichten ist aber die Geschwindigkeit un-abdingbar, fährt man nicht, kann kein noch so starker Lenk-einschlag eine Zentrifugalkraft erzeugen und man fällt um. ImWesentlichen bewirkt also der Fahrer das Aufrechtbleiben,indem er – meist unbewusst – zu jeder Neigung die passendeGeschwindigkeit und den passenden Lenkeinschlag wählt.

    Ganz praktisch stellt sich aber die Frage, ob es an gängi-gen Fahrrädern konkrete Konstruktionsmerkmale gibt, dieden Fahrer in seinem Balanceakt unterstützen? Können Fahr-

  • räder vielleicht sogar ohne Fahrer fahren? Tatsächlichkann das etliche Meter funktionieren. Am wichtigstendafür ist der »Nachlauf«: Die Vordergabel dreht sichim »Steuerrohr«, welches immer ein wenig schrägsteht. Dadurch berührt der Vorderreifen den Boden aneiner Stelle, die hinter einer gedachten Verlängerungdes Steuerrohrs liegt. Das führt zu folgendem Effekt:Kippt man das Fahrrad, so drückt – aus der Perspek-tive des Fahrrads – der Boden leicht seitlich gegen dieReifen. Und zwar von der Seite, auf die das Fahrradgeneigt ist. Da der Angriffspunkt der Kraft am Vorder-rad aufgrund des Nachlaufs hinter der Drehachse derVordergabel liegt, bewirkt diese Kraft einen Lenkein-schlag in die Richtung, in die das Fahrrad gekipptwurde. Also genau in die Richtung, in die gelenkt wer-den muss, damit sich das Fahrrad wieder aufrichtet. So kann sich das Fahrrad in gewissen Grenzen selbststabilisieren. Experimente haben gezeigt, dass manFahrräder ohne Nachlauf zwar fahren kann, dies abererheblich schwieriger ist.

    Einen gewissen Einfluss hat auch der Kreiseleffektdes Vorderrades. Er bewirkt auch bei Neigung desFahrrades einen entsprechenden Lenkeinschlag. DieserEffekt wird aber häufig, insbesondere bei kleinen Ge-schwindigkeiten, überschätzt, schließlich fahren auch

    Falträder oder Roller, deren Reifen zu klein für einennennenswerten Kreiseleffekt sind. Fahrrad fahren istalso eine beherrschbare Sache, ein Erwachsenerbraucht dabei keine weitere Unterstützung. Weder umoben zu bleiben, noch bei der Frage ob er es über-haupt tun will.

    Prof. Dr. Jochen Gemmer, Universität OsnabrückTheoretische Physik im Bereich der MaterialforschungFachbereich PhysikE-Mail: [email protected] Internet: www.gemmer.physik.uni-osnabrueck.de

    Zukunft. Fragen. Antworten.

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    Was im November 2013 als inner-Ukrainische Protestbewegunggegen den Präsidenten Janukovitsch begann, hat im vergangenenJahr die Dimension eines kriegerischen Konfliktes angenommen.Deutungen gehen auseinander, ob es sich (noch) um einenBürgerkrieg in der Ukraine handelt, oder um einen Krieg Russ-lands gegen die Ukraine. Sowohl die Annexion der Krim durchRussland im März 2014 als auch Nachweis, dass Aufständischemit militärischer Unterstützung durch Russland für die Abspal-tung der Regionen Donezk und Lugansk kämpfen, verweisendarauf, dass Russland die politische Instabilität der Ukraine zurBefriedigung eigener geopolitischer Machtansprüche nutzt.

    Die Bemühungen der internationalen Staaten gemeinschaftum eine Beilegung des Konflikts waren bislang erfolglos. Kri-sengipfel blieben ineffektiv, Sanktionen zögerlich, Waffenliefe-rung sind (noch) Tabu, kurzfristige Waffenruhen wurdenimmer wieder gebrochen.

    Nicht nur in Russland, sondern auch in Teilen der westli-chen Berichterstattung wird die EU für die fortwährende Krisein der Ostukraine verantwortlich gemacht. Es heißt: Europahabe Russland mit der Osterweiterung von EU und NATOprovoziert und sei mit seiner Nachbarschaftspolitik und Assozi-ierungsabkommen in einem Ausmaß in die Einflusssphäre vonRussland eingedrungen, dass mit einer Abwehrreaktion vonRussland zu rechnen war. Insbesondere habe man den Groß-machtanspruch Russlands in der Welt nicht hinreichend ernst

    Krieg in der Ukraine. Hat Europa versagt?Andrea Lenschow

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    genommen, Präsident Putin und die russische Regie-rung während der Auseinandersetzungen brüskiert undregionale Sensibilitäten missachtet.

    In der Tat entspricht dies der Interpretation Putins.Doch sie besteht aus Halbwahrheiten und rechtfertigtdie Aggression Russlands nicht. So hat es nie formaleZusagen gegeben, eine Osterweiterung der NATO zuunterlassen. Dass es zur Osterweiterung sowohl der EUals auch der NATO gekommen ist, ist dem nachdrück-lichen Interesse der Bewerberländer und sicher nichteiner »Rattenfängermentalität« des Westens zu verdan-ken. Bezüglich der Ukraine steht die NATO Mitglied-schaft aktuell nicht auf der Tagesordnung, genauso wiedie EU Mitgliedschaft nicht am Ende der geplantenWirtschafts assoziation stand. Dennoch wäre eine plura-listische und demokratische Ukraine mit EU-Orientie-rung eine Pro vokation gegenüber russischer Ambitio-nen der eigenen Peripherie. Das Abwehren engerer Be-ziehungen von Ukraine und EU, verstanden als res-pektvolle Geste gegenüber Russland, wie von einigenVertretern der politischen Prominenz gefordert, wäreein erneutes Versagen gegenüber der Ukraine.

    Nun ist die Ukraine nicht nur Opfer in einer heiklengeopolitischen Gemengelange. Die Wirtschaft des Landesist seit den 1990er Jahren um die Hälfte geschrumpft, da

    das Land von alter Nomenklatura und neuen Oppor -tunisten in kleptomanischer Manier regiert wurde.Massenarmut und die Macht mafiöser Wirtschaftsbossegegenüber schwachen staatlichen Akteuren – nicht eth-nische Zugehörigkeiten – haben den Osten des Landesdestabilisiert und angreifbar gemacht für anti-westlichePropaganda und (russisch unterwanderte) separatistischeMilizen. Der EU kann man diese Zustände in der Ost -ukraine nicht zur Last legen. Aber man sollte nicht un-kritisch sein. Tatsächlich verweist die Möglichkeit einesAuseinanderbrechens der Ukraine auf die Grenzen einerallein auf positive Anreize setzenden Nachbarschafts -politik. Ein missregiertes Land wird man so weder vorsich selbst noch vor destabilisierender Infiltration vonaußen retten. Doch demokratische und liberale Kräftein der Ukraine benötigen dringend der Vergewisserungdurch die EU – auch in Opposition zu Russland.

    Prof. Dr. Andrea Lenschow, Universität OsnabrückEuropäische IntegrationFachbereich SozialwissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.sozialwissenschaften.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter_detailseiten/lenschow_andrea.html

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  • Internet der Zukunft. Wohin geht die Reise?Oliver Vornberger

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    Von dem dänischen Atomphysiker Niels Bohr ist fol-gende Erkenntnis überliefert: »Vorhersagen sind immerschwierig. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen«.In der Tat können wir nicht einmal das Wetter dernächsten Woche zuverlässig vorhersagen, geschweigedenn sagen, wie der Nachfolger von Facebook aussehenwird. Aber wir können zunächst in der Rückschau fest-halten, wie stürmisch sich die Informatik allgemein ent-wickelt hat. Vor 40 Jahren wurde das Programmierenmit Lochkarten durchgeführt und der zugehörige Groß-rechner benötigte einen Raum so groß wie die Schloss -aula. Er hatte einen Hauptspeicher von 256 KB, das istder 500.000 Teil vom Speicher eines aktuellen iPhones.

    Als das Internet geschaffen wurde, waren zunächstnur einige Dutzend Computer miteinander verbunden.Jeder bekam eine Adresse, und dafür war eine 32-stelligeBinärzahl vorgesehen. Das schien mehr als ausreichend,denn damit ließen sich vier Milliarden Teilnehmeradressieren. Nach einem stürmischen Wachstum wur-den die Adressen langsam knapp, und daher wurdekürzlich das Adressformat auf 128 Bit erweitert, so dasswir nun auf unserem Planeten 600 Billiarden Adressenzur Verfügung haben und zwar pro Quadratmillimeter!Das ist mehr als genug, um auch jeden Kühlschrankund Toaster ins Netzwerk einzubinden.

    Und genau dahin geht die Reise: Wir reden vomInternet der Dinge. Das heißt: Neben den konventio -nel len Desktop-Computern sind zum einen alle Smart -phones eingebunden, aber auch viele elektronische Geräte, sogenannte Embedded Systems. Wenn Sieheute einen VW Golf bestellen, dann entfällt inzwi-schen ein Drittel des Kaufpreises auf die Elektronik.Zurzeit arbeitet die noch abgeschottet im Fahrzeug undsteuert beispielsweise das Antiblockiersystem. Aberdemnächst redet ein Prozessor im Auto mit dem Ver-kehrsleitsystem der Stadt Osnabrück, und wenn Sie beiRot mit abgeschaltetem Motor vor einer Ampel stehen,dann springt der Anlasser genau 15 Sekunden, bevor

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    die Ampel auf Grün wechselt, wieder an. Ein anderer Prozessorunterhält sich derweil mit den anderen in der Nähe fahrendenAutos, die ich selbst noch nicht sehe, und handelt das korrekteVerhalten an der nächsten Kreuzung aus.

    Oder mehrere Autos vernetzen sich auf der Autobahn undfahren verbrauchsarm im Konvoi. Jetzt stört eigentlich nur nochder Fahrer. Und so hat Google inzwischen das völlig autonomfahrende Auto entwickelt und in vier amerikanischen Staaten,darunter Kalifornien, wurde auch die Straßenverkehrsordnungentsprechend angepasst.

    Wir Europäer sind da etwas zögerlicher. Wir gründen keinStartUp, sondern eine Kommission. Dort wird über Daten-schutz, Privatsphäre und Sozialstandards beraten. Und zwar ausgutem Grund: Deshalb sind unsere Taxen noch vor der Internet-mitfahrzentrale Uber geschützt, und unsere Hotels sind nochnicht durch die Internetzimmervermittlung AirBnB in ihrerExistenz bedroht. Aber unsere Enkel werden über diese gute alteZeit später nur müde lächeln.

    Prof. Dr. Oliver Vornberger, Universität OsnabrückFachbereich Mathematik/InformatikPraktische InformatikE-Mail: [email protected]: www.informatik.uni-osnabrueck.de/oliver/

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  • »Mama tomm neel« – Wie funktioniert der Spracherwerb bei Kindern?Renate Zimmer

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    Warum müssen Menschen ihre Sprache überhaupt ler-nen? Warum wird sie nicht vererbt – wie bei den Tieren?Schließlich müssen Frösche nicht das Quaken undHunde nicht das Bellen lernen. Warum erlernen Kin-der das Sprechen nicht einfach durch Nachahmung:Durch Vorsprechen eines Wortes oder eines Satzeskönnte das Gehörte im Gehirn gespeichert werden?

    Die menschliche Sprache ist viel zu kompliziert,als dass sie durch reine Imitation erworben werdenkönnte. Es geht ja nicht allein um das Erlernen vonWörtern, sondern immer auch um Kommunikation,um das Sich-einem-andern-Mitteilen, um das Vermit-teln von Bedeutungsinhalten. Kaum ein Satz wird inder gleichen Form wiederholt, ein Wort muss nichtnur als akustisches Signal eingeprägt, sondern auch inseiner Bedeutung verstanden werden und je nach dem,an welcher Stelle ein Wort in einem Satz steht, be-kommt dieser eine andere Bedeutung.

    Auch innerhalb eines Wortes kann die Bedeutungwechseln, wenn der Akzent auf eine bestimmte Silbegelegt wird. So können wir eine Verkehrsampel um-fahren oder wir können sie umfahren. Sprache ist alsonicht nur eine Produktion von Lauten, sondern einkomplexer und vielgestaltiger Prozess der Kommuni-kation. Sprache baut auf dem Handeln auf: Zuerst

    kommt das körperlich-sinnliche Erkunden einerSache, dann erst erfolgt die sprachliche Begleitung.Das Kind spielt beispielsweise mit dem Ball, lässt ihnauf den Boden prellen. »Ball springt« sagt es, abernicht bevor, sondern nachdem es sich mit ihm beschäf-tigt hat. Im Tun, im handelnden Umgang mit Gegen-ständen und Objekten entdeckt es die Sprache alsnützliches Medium, als Werkzeug des Handelns.

    Durch das Handeln gewonnene Erfahrungen wer-den in Verbindung mit der Sprache zu Begriffen.Diese Begriffe ermöglichen dem Kind die innere Ab-bildung der Welt. Zeitliche Begriffe wie »langsam«und »schnell«, räumliche Begriffe wie »hoch« und»tief« erfährt das Kind in Bewegungshandlungen, diees in Raum und Zeit variiert. So erweitert es seinenWortschatz und erwirbt die Voraussetzung für das Ver-ständnis sprachlicher Klassifizierungen.

    Voraussetzung für den kindlichen Spracherwerbist, dass abwechslungsreich, differenziert und freudigin der Umgebung von Kindern gesprochen, mit ihnenkommuniziert wird. Die wichtigsten Grundlagen ihrerErstsprache eignen Kinder sich während der erstendrei Lebensjahre an. Bei den meisten Kindern verläuftder Spracherwerb ohne Komplikationen, sie sind mitetwa vier Jahren auch in der Lage, ihre Muttersprache

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    weitgehend fehlerfrei zu gebrauchen. Alarmierend ist aber, dass15 bis 20 Prozent der Kinder im vorschulischen Alter sprach-auffällig sind. Wichtig ist es, die Freude des Kindes am Spre-chen zu erhalten und Situationen aufzusuchen, in denen diesprachlichen Kompetenzen durch Anregungen spielerisch un-terstützt werden können.

    Die soziale Umwelt spielt beim Spracherwerb eine wich-tige Rolle. Eine Fernsehsendung – auch wenn darin noch soviel gesprochen wird – kann die sprachliche Entwicklung desKindes nicht fördern. Sie ermöglicht keinen Dialog und ver-hindert beim Kind geradezu die Eigenaktivität. Babys könnenvon Geburt an Tondauer, Tonintensität und Rhythmen unter-scheiden. Sie können feine Unterschiede zwischen den Sprach-lauten heraushören, sie haben das Potenzial, jede Sprache derWelt kennenzulernen. Mit großer Lust experimentieren sie mitihrer Stimme, sie lallen und gurren, vokalisieren, kommunizie-ren mit Gesten und Bewegung. Wenn sie allerdings wüssten,wie kompliziert gerade die deutsche Sprache ist – sie würdengar nicht damit anfangen sie zu lernen.

    Prof. Dr. Renate Zimmer, Universität Osnabrück Institut für Sport-und Bewegungswissenschaften · Sportpädagogik Leiterin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung undEntwicklung (nifbe) E-Mail: [email protected] · Internet: www.renatezimmer.de/

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    Migräne oder Hexenschuss. Lässt sich Schmerz messen?Thomas Gruber

    Schmerz ist eine unangenehme Wahrnehmung, dieaus evolutionärer Perspektive als Warnsignal des Kör-pers verstanden werden kann. Er kann sich aber auchins Gehirn »einbrennen« (chronisches Schmerzsyn-drom). Dieses Krankheitsbild verlangt nach einergründlichen Diagnostik und es stellt sich die Frage:Kann man Schmerz messen? Vorab: »Jein«.

    Zur Erklärung: Beim Einschlagen eines Nagelstrifft Hammer auf Daumen. Dabei werden überSchmerzsensoren in der Haut Signale ins Gehirn ge -leitet, und dort als Schmerz interpretiert. Wir spürennicht den Daumen an sich, sondern die Hirnaktivitätals Resultat dieser Verletzung. Der Finger an sich spürtalso keinen Schmerz und das Gehirn wurde nicht vom

    Hammer getroffen. Dieses Paradox macht die Mes-sung schwierig.

    Eine Möglichkeit Schmerz zu erfassen sind Skalen, auf denen der Schmerz von »mäßig«, »mittel-stark«, über »stark« bis »unerträglich« eingestuft unddurch Qualitätsangaben ergänzt wird (dumpf, ste-chend). Diese Angaben sind allerdings hochgradigsubjektiv. Weiterhin existieren interindividuelle Unter-schiede im Schmerzerleben und die Schmerzwahrneh-mung wird durch eine Reihe psychologischer Faktorenbeeinflusst. So nehmen Männer Schmerz weniger in-tensiv wahr, während sie emotional ablenkende Bilderbetrachten (Fotos attraktiver Frauen). Auch die Auf-merksamkeit spielt eine wichtige Rolle (»erst als ichdas Blut sah, tat es weh«).

    Selbstauskünfte sind also ein unzureichendes Maßden Schmerz zu messen, und man ist bestrebt, zu ob-jektiven Schmerzmaßen zu gelangen. Neben der Auf-zeichnung von Mimik, Atemfrequenz, treten hier neu-rowissenschaftliche Untersuchungen in den Vorder-grund. Diese zeigen jedoch, dass kein eindeutiges Ak-tivierungsmuster im Gehirn existiert, das für einen be-stimmten Schmerz spezifisch wäre (beispielsweise exen-schuss versus Zahnschmerzen). Zwar wird in bestimm-ten Hirnarealen vor allem die Schmerzintensität ko-

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    diert, während andere Gebiete die emotionale Reaktion auf denSchmerz verarbeiten; ähnliche Hirnareale werden allerdingsauch durch in Hypnose suggerierten Schmerz oder soziale Pein(Ablehnung durch eine Gruppe) aktiviert. In einer aktuellenPublikation im renommierten New England Journal of Medicinewird gefolgert, dass es der Hirnforschung inzwischen zwarmöglich ist, das Vorhandensein von physischem Schmerz vonanderen hervorstechenden Ereignissen zu unterscheiden; Ein-zelfalldiagnosen sind allerdings (noch) nicht möglich.

    Wäre es also möglich Schmerz zu simulieren, um sich spe-zifische Vorteile zu verschaffen (finanzielle Entschädigung)? ImPrinzip ja. Über Plausibilitäts- und Konsistenzprüfungen sindallerdings geschulte Gutachter in der Lage solche Simulationenzum Teil aufzudecken. Schätzungen gehen davon aus, dass essich nur bei etwa acht Prozent chronischer Schmerzpatientenum Simulanten handelt.

    Zu Schluss: Man kann Schmerz messen aber nicht wieden Blutdruck mit absoluter Gewissheit. Aber eine Sache istgemäß Heinz Erhardt gewiss: »Es werden Schmerzen erstnachdem sie nachgelassen angenehm.«

    Prof. Dr. Thomas Gruber, Universität OsnabrückAllgemeine Psychologie I · Fachbereich HumanwissenschaftenE-Mail: [email protected] Internet: www.psycho.uni-osnabrueck.de/fachgebiete/allg1/

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    Ärztliche Kunstfehler. Warum sind Klagen vor Gericht oft erfolglos?Hans-Jürgen Ahrens

    Die Klage gegen einen Arzt wird abgewiesen, wennein Behandlungsfehler nicht vorgelegen oder sich aufden behaupteten Schaden nicht ausgewirkt hat. Eslässt sich nicht belegen, dass Arzthaftungsklagen trotzeines ärztlichen Fehlverhaltens erfolglos bleiben. NachZahlen der Haftpflichtversicherer wird die Hälfte derzirka 30.000 Schadensersatzansprüche pro Jahr regu-liert. Die Zahl der Großschäden mit sechsstelligenSummen pro Fall resultiert zum großen Teil aus derGeburtshilfe.

    Verlangt ein Patient im Arzthaftungsprozess mate-riellen Ersatz oder Schmerzensgeld, behauptet er einenvon der Behandlungsseite sorgfaltswidrig herbeige-führten Gesundheitsschaden. Das Gericht muss dannin einem geordneten Beweisverfahren tatsächlicheFeststellungen treffen, ob die Verschlechterung desGesundheitszustandes oder der ausgebliebene Hei-lungserfolg auf einen Fehler in der Diagnostik oderder Therapie zurückzuführen ist. Aufzuklären sindzwei Fragen: Hat ein Behandlungsfehler vorgelegenund war der Behandlungsfehler für den Gesundheits-schaden ursächlich?

    Für seine Feststellungen ist das Gericht auf sach-verständige Beratung angewiesen. Sachverständige re-konstruieren das Behandlungsgeschehen aufgrund der

    Behandlungsdokumentation und bewerten es aus me-dizinischer Sicht. Grundsätzliches Misstrauen gegenmedizinische Sachverständige ist ungerechtfertigt. Esgibt aber natürlich auch dort unterschiedliches Erfah-rungswissen und auch arbeiten Sachverständige nichtalle gleichermaßen sorgfältig. Medizinische Sachver-ständige erstatten Gutachten nach Abschluss ihrerHaupttätigkeit in der Freizeit gegen staatliche Gebüh-ren, deren Höhe keinen Anreiz darstellt.

    Es gibt objektive Hindernisse der Sachverhalts-feststellung. Ursachenzusammenhänge im Körper sindnicht vollständig aufklärbar. Zu beachten ist auch, dassder Patient wegen einer gesundheitlichen Beeinträchti-gung zum Arzt gegangen ist, also eine »Vorschädigung«gegeben war. Sie kann sich ohne fehlerhaftes Zutun desArztes weiterentwickeln und ist selbst bei Beobachtungeines Fehlers von einem »Gesundheitsschaden« abzu-grenzen. Der Patient oder seine Hinterbliebenen beob-achten zunächst nur einen gesundheitlichen Misserfolg.Daraus dürfen keine verkürzten Rückschlüsse auf einenBehandlungsfehler gezogen werden. Die biologisch-physiologischen Vorgänge im Körper laufen nichtstandardisiert ab. Sie sind nicht schlechthin objektivbeherrschbar. Der Arzt schuldet deshalb auch nichtden Eintritt eines bestimmten Behandlungserfolges.

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    Das Führen eines Arzthaftungsprozesses wird prozessualerheblich erleichtert. Der klagewillige Patient kann seinen Informationsrückstand durch Einsicht in die Behandlungs -unterlagen ausgleichen. Er braucht in der Klageschrift nichtdetailliert zur von ihm behaupteten Fehlerhaftigkeit vorzutra-gen. Für verschiedene Fallgestaltungen gelten Umkehrungender Beweislast. Alternativ lässt sich das Behandlungsgeschehendurch Einschaltung einer Schlichtungsstelle aufklären.

    Prof. i. R. Dr. Hans-Jürgen Ahrens, Universität OsnabrückHandels- und Wirtschaftsrecht Fachbereich RechtswissenschaftenE-Mail: [email protected] Internet: www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/

    http://www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/http://www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/http://www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/http://www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/http://www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/http://www.ahrens.jura.uni-osnabrueck.de/

  • Unterrichtsqualität. Hilft ein Eignungstest für das Lehramt?Ingrid Kunze

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    Guter Unterricht unterstützt Schülerinnen und Schülerbeim Lernen und die Unterrichtsqualität hängt we-sentlich von der Kompetenz und dem Engagement derjeweiligen Lehrerin, des jeweiligen Lehrers ab. Das istwissenschaftlich belegt und deshalb ist es naheliegend,sich um die Auswahl und Qualifizierung von Lehr-kräften Gedanken zu machen. Oft wird vorgeschlagen,scharf zu sortieren und nur diejenigen zum Studiumzuzulassen, die für den Lehrerberuf geeignet sind. Abergibt es eine solche Eignung, und wenn ja, wann undwie kann man sie feststellen?

    Es werden verschiedene Online-Verfahren für In-teressenten an einem Lehrerstudium angeboten, unteranderem auf der Homepage der Zentralen Studienbe-ratung Osnabrück. Studieninteressierte können sichdabei erstens darüber vergewissern, ob ihr Interesse amLehrerberuf tragfähig ist, sie sich also zum Beispielwirklich für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichenund für die gewählten Fächer interessieren. Sie werdenzweitens über die Anforderungen des Lehrerberufs in-formiert.

    Man könnte meinen, Schülerinnen und Schülerkennen keinen Beruf so gut wie diesen – aber sie sehennur ein Drittel dieser Tätigkeit, nämlich das Unter-richten selbst. Hingegen wissen sie meist wenig über

    Unterrichtsvorbereitung, das Korrigieren von Klassen-arbeiten, Gespräche mit Eltern, Zeugniskonferenzen,Kooperation mit anderen Fachlehrern und Sonderpä-dagogen, Verwaltungsarbeit. Drittens können Studien-interessierte testen, ob sie über bestimmte Persönlich-keitsmerkmale verfügen, von denen man relativ sicherweiß, dass sie für Lehrkräfte notwendig sind: ein ge-sundes Maß an Extraversion (soziale Aktivität undDurchsetzungsfähigkeit), an Offenheit für neue Erfah-rungen, Gewissenhaftigkeit und sozialer Verträglich-keit sowie geringe Ängstlichkeit und Reizbarkeit.

    Diese Verfahren helfen aber, ebenso wie aufwän -digere Beratungsmöglichkeiten, die manchen Univer-sitäten anbieten, bestenfalls bei der Klärung, ob manüber Grundvoraussetzungen verfügt und ob der Lehrerberuf dem entspricht, was man sich daruntervorstellt. Eine »Eignung« können sie niemandem at-testieren oder absprechen, diese muss vielmehr vonden Studierenden und Referendaren selbst entwickeltwerden. Dazu gehören fundierte Fachkompetenzen,die die Grundvoraussetzung für qualitätsvolles Unter-richten bilden, sowie fachdidaktisches und erziehungs-wissenschaftliches Grundlagenwissen.

    In Praktika und im Referendariat werden schritt-weise praktische Fähigkeiten aufgebaut. Immer wieder

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    müssen die künftigen Lehrkräfte sich selbstkritisch fragen, wosie stehen und was noch zu lernen ist. Dazu benötigen sie ge-eignete Formen der Unterstützung. Dies schließt ein, dass alljene, die diese Kompetenzentwicklung nicht vollziehen kön-nen oder wollen, eine klare Rückmeldung und bei Bedarf einemöglichst frühzeitige Hilfe etwa beim Wechsel des Studien-gangs erhalten. Hinzu kommt: Als Lehrerin und Lehrer lerntman nie aus – und diese Chance gehört zu dem, was den Berufattraktiv macht.

    Prof. Dr. Ingrid Kunze, Universität OsnabrückInstitut für Erziehungswissenschaften Fachbereich Erziehungs- und KulturwissenschaftenE-Mail: [email protected]: http://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunze

    http://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunzehttp://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunzehttp://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunzehttp://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunzehttp://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunzehttp://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunzehttp://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ingrid-kunze

  • »Es braust ein Ruf ...«. Warum spielte Musik im Ersten Weltkrieg eine so große Rolle?Stefan Hanheide

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    Die Musik spielte im Ersten Weltkrieg keineswegs einegrößere Rolle als zu Friedenszeiten, jedoch eine ganzandere. Mit Beginn des Krieges wurden ihre Betäti-gungsmöglichkeiten zunächst deutlich eingeschränkt.Weil die Männer scharenweise in den Krieg zogen,entschlossen sich viele Opernhäuser, Orchester undauch Musikschulen zunächst, ihre Häuser zu schließen.Aber nach wenigen Monaten nahmen sie ihren Betriebwieder auf, denn das Publikum sehnte sich nach Kon-zert und Oper.

    Die Spielpläne veränderten sich deutlich. Die Ver-anstalter suchten Musik aus, die den Patriotismus un-terstützte. Besonders viel wurde Beethoven gespielt,der als deutsch-nationale Ikone stilisiert wurde. AmEnde von Konzerten stimmte das Publikum spontannationale Lieder an, vor allem das Deutschlandlied,die Nationalhymne »Heil dir im Siegerkranz«, und die»Wacht am Rhein«. Dieses gegen Frankreich gerichtetepopuläre Lied beginnt mit dem Text »Es braust einRuf wie Donnerhall« und lautet im Kehrvers »LiebVaterland, magst ruhig sein« – es ist heute kaum nochbekannt. Auch die Operettenbühne bediente den Pa-triotismus in aggressiver Weise.

    Komponisten der feindlichen Länder, vor allemnoch lebende, wurden aus den Spielplänen gestrichen.

    Allerdings protestierte die Presse gegen diese kriegsbe-dingten Veränderungen und verlangte eine Rückkehrzu normalen Vorkriegsverhältnissen. Eine neue Kon-zertform erhielt großen Auftrieb, die sogenanntenWohltätigkeitskonzerte. Allerorts wurden sie in uner-messlicher Fülle veranstaltet, um Geld für jedwedenkriegsunterstützenden Verband zu sammeln. Musikerkomponierten in großer Zahl neue patriotische Werkefür derartig ausgerichtete Konzerte.

    Mein Kollege Dietrich Helms hat allein an Kom-positionen auf Paul von Hindenburg 168 Titel zusam-mengetragen. Komponisten und Verleger erwartetendavon wirtschaftlichen Erfolg und Renommee. RichardStrauss warf jenen Komponisten vor, sie nützten dieKonjunktur und produzierten »unter dem Deckman-tel des Patriotismus das dilettantischste Zeug«. Tat-sächlich sind die allermeisten dieser Komponistenheute völlig unbekannt und die Werke kaum noch zufinden. Heute bekannte Komponisten der Zeit wieStrauss, Schönberg, Hindemith, Alban Berg undAnton Webern haben keine kriegsunterstützendeMusik komponiert. Mittelbar lassen sich die Schre-cken des Krieges in manchen ihrer Werke nachspüren.

    Es wird immer wieder vom großen Besuch derKonzerte gesprochen. Sie begleiteten das Kriegsgesche-

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    hen einerseits in patriotischem Sinne. Andererseitswurde Musik als ein »heilsames Gegengewicht« zumKrieg wahrgenommen, ihn besser zu ertragen undTrost und Kraft gegenüber den vielen Trauernachrich-ten zu gewinnen.

    Im Kriegseinsatz selbst gab es Militärmusik zu zeremoniellen Anlässen und zur Unterstützung desMarschierens. Die dort beschäftigten Musiker bliebenvon den Lebensgefahren an der Front verschont. Sol-daten sangen häufig Heimatlieder, um die Illusion anein friedliches Zuhause aufrechtzuerhalten und »denRiss zu verkleiden, der unsere Seele durchklafft«, wieein Student in einem Feldpostbrief schrieb.

    apl. Prof. Dr. Stefan HanheideHistorische MusikwissenschaftFachbereich Erziehungs- und KulturwissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_ hanheide.html

    http://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.htmlhttp://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.htmlhttp://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.htmlhttp://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.htmlhttp://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.htmlhttp://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.htmlhttp://www.musik.uni-osnabrueck.de/forschung/historische_musikwissenschaft/mitarbeiter/apl_prof_dr_phil_stefan_hanheide.html

  • An die Urne. Warum gibt es in Deutschland keine Wahlpflicht?Ralf Kleinfeld

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    Sinkende Wahlbeteiligung in vielen Demokratien wirft dieFrage auf, wie dieser Trend gestoppt werden kann. Eine derdiskutierten Lösungen heißt Wahlpflicht. Als Begründung füreine Wahlpflicht werden zwei Hauptargumente genannt: Bür-gerrechte und Bürgerpflichten ergänzen sich; Wahlergebnissesind umso stärker legitimiert, je mehr Menschen an Wahlenteilnehmen.

    Deutschland kennt keine Wahlpflicht. Auch im National-sozialismus und in der DDR gab es formal keine Wahlpflicht.Die Landesverfassung Baden-Württemberg spricht in Artikel26.3 von Wahlen als Bürgerpflicht, aber es bleibt bei dem moralischen Appell. Immerhin 29 Länder, das sind fast einViertel aller liberalen Demokratien, besitzen Erfahrung mitWahlpflicht. Und nur drei Länder (Chile, Niederlande, Öster-reich) haben ihre Wahlpflicht in den letzten Jahrzehnten wieder abgeschafft. Welche Wirkung eine Wahlpflicht auf dieWahlbeteiligung hat, hängt neben dem Wahlsystem und derpolitischen Kultur stark davon ab, ob es und wenn ja welcheSanktionen es für den Verstoß gegen die Wahlpflicht gibt. InBelgien als Land mit Wahlpflicht (aber seit 1993 ohne Sank-tionen) liegt die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als inDeutschland. In Australien, wo für das Nichterscheinen imWahllokal ein Bußgeld von maximal 130 Dollar verhängt wer-den kann, liegt die Wahlbeteiligung sehr viel höher als inDeutschland.

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    Befürworter einer Wahlpflicht verweisen auf diehöhere Legitimation sowie Repräsentativität, die hö-here soziale Ausgewogenheit und das höhere Maß anInklusion. Sinkende Wahlbeteiligung verteilt sichnicht nach dem Zufallsprinzip. Nichtwählen ist vorallem bei Menschen verbreitet, die auch aus anderenGründen benachteiligt oder ausgeschlossen werden.

    In Deutschland müsste das Grundgesetz geändertwerden. Experten halten eine Wahlpflicht grundsätz-lich mit dem Grundgesetz vereinbar, nachdem der Eu-ropäische Gerichtshof für Menschenrecht bereits 1971die Vereinbarkeit von Demokratie und Wahlpflichtbestätigt hatte, sofern nicht die Grundprinzipien de-mokratischen Wählens verletzt werden.

    Insbesondere zwei Fragen stellen sich bei einerEinführung in Deutschland. Erstens: Wie verhindertman, dass die Wahlpflicht zu einem Geschenk an dieSchatzmeister der Parteien wird? Zweitens: Wie gehtman mit der Fünfprozenthürde um, die bei einer hö-heren Wahlbeteiligung de facto noch höher würde? Sowie es aussieht, wird über die Einführung einer Wahl-pflicht in jedem Fall Karlsruhe das letzte Wort haben.

    Zum Nachdenken ist der Vorschlag der britischenPolitikwissenschaftlerin Barbara Birch: Keine allge-meine Wahlpflicht, sondern eine Wahlpflicht nur für

    Erstwähler. Wahlforscher wissen, dass es erst einer Ein-übung in das Wählen bedarf, bevor eine Wahlteil-nahme zur Selbstverständlichkeit wird. Und die Wahl-forschung weiß auch, dass in Europa vor allem dieniedrige Wahlbeteiligung der Jüngeren die größte Herausforderung darstellt. Denkbar wäre, eine solcheWahlpflicht für Erstwähler in Deutschland zunächstbei Kommunal-, Landtags- und Europawahlen auszu-probieren, also jenen Wahlen, die auch in Deutsch-land eine niedrige Wahlbeteiligung aufweisen.

    Prof. Dr. Ralf KleinfeldVergleichende PolitikwissenschaftFachbereich SozialwissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.sozialwissenschaften.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter_detailseiten/kleinfeld_ralf.html

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  • Google und das Recht auf Vergessen. Was kann gelöscht werden, was muss im Netz auffindbar bleiben? Fryderyk Zoll

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    »Damnatio memoriae« – im Mittelalter war diese Verurteilung zum Vergessenwerden noch eine derschwersten Strafen, die die Gemeinschaft einem Indivi-duum auferlegen konnte. Der Betroffene sollte auf-grund der Tragweite seiner Taten auf ewig aus demmenschlichen Gedächtnis verschwinden und die Spurenseines Handelns beseitigt werden. Heute haben sich dieUmstände so weit geändert, dass wir uns in der Regelkeinesfalls vor dem Vergessenwerden fürchten, sondernim Gegenteil, danach Streben vergessen zu werden.

    Das Internet vergisst nie. Alles, was man einmal ein -getragen hat oder was über einen geschrieben worden ist,kann auch nach Jahren noch ohne großen Aufwand ge-funden werden. Unser Privatleben wird für alle zugäng-lich gemacht. Längst von uns vergessene Ereignisse, gutewie schmerzhafte, können immer wieder entdeckt undpublik gemacht werden. Das kann in einem völlig neuenKontext geschehen. Die Zivilisation verändert sich – wirsind einer ständigen Überwachung ausgesetzt, an der wiruns aber auch aktiv beteiligen und unaufhaltsam neuenStoff liefern. Die einst ins Netz gestellten Informationenkönnen jetzt mit Hilfe von Suchmaschinen wie Googleschnell gefunden, aber auch neu verbunden werden.

    In dieser neu geschaffenen Welt macht jetzt einneues Recht Karriere, das allmählich sogar zu einem

    Menschenrecht emporgehoben wird: das Recht aufVergessen. Dieses Recht der Europäischen Union ge-währt uns das Recht auf das Verlangen unter anderemder Löschung von Daten, die sogar rechtsmäßig erho-ben und gespeichert worden sein können, wenn sienicht mehr den Zwecken dienen, für die sie erhobenoder weiterverarbeitet worden sind.

    Der Europäische Gerichtshof hatte in einem vorKurzem ergangenen Urteil (C 131/12 Google SpainSL und Google Inc.) die Grenzen des Rechts auf Ver-gessen aber erneut zu definieren: Betrifft die Pflichtzur Löschung bestimmter Informationen auch einenBetreiber von Suchmaschinen – wie zum Beispiel diebekannte Suchmaschine Google? Die Frage ist kom-pliziert, weil Google die gesuchten Informationen nurverbindet und technisch gesehen nur vorübergehendspeichert. Ist Google somit auch der »Verantwortliche«,der die Daten entfernen muss?

    Eine positive Antwort auf diese Frage ist aus demGrunde heikel, weil Google hierdurch zur Verfälschungder Suchergebnisse gezwungen wird: Obwohl bestimmteInformationen in den durchsuchten Dateien weiterbestehen und sogar rechtmäßig sind, könnte das Er-gebnis der Suche sie nicht offenlegen. Google vertei-digte sich gegen die Auferlegung einer solchen Pflicht

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    mit dem Argument, dass der Konzern ausschließlich die tech-nische Ausrüstung zur Verfügung stelle und in Bezug auf diegefundenen Informationen völlig neutral bleibe. Nur derjenige,der diese Daten ursprünglich aufbewahre, solle nach dieser Auf-fassung zur Entfernung der Daten gezwungen werden können.

    Der EuGH aber hat diese Auffassung nicht geteilt. Die betroffene Person kann nach dieser Entscheidung auch vonGoogle (sowie von allen Betreibern digitaler Suchmaschinen)verlangen, die Algorithmen so zu verändern, dass bestimmteDaten nicht mehr auffindbar sind. Die breite Präsenz derSuchmaschinen in der Praxis und ihr dadurch hervorgerufenerEinfluss auf die Privatsphäre liefern nach der Entscheidung desEuGH die Begründung dafür, den Betreiber zum Adressatender Pflicht zur Wahrung des Rechts auf Vergessen zu machen.

    Die Folgen dieser Entscheidung werden uns alle bei derAbwägung der Informationsfreiheit mit dem Schutz der Pri-vatsphäre lange beschäftigen, weil unsere alte Rechtsordnungmit der technischen Entwicklung immer weniger Schritt hal-ten kann.

    Prof. Dr. Dr. h. c. Fryderyk Zoll, Universität OsnabrückEuropäisches und Polnisches Privatrecht und Rechtsvergleichung Fachbereich RechtswissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.zoll.jura.uni-osnabrueck.de/

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  • Scheitern, verlieren, versagen. Warum verarbeiten wir Misserfolge unterschiedlich?Rosa Maria Puca

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    Menschen unterscheiden sich darin, wie sehr sie sichMisserfolge zu Herzen nehmen. Für die einen ist esnicht weiter schlimm, auch mal zu scheitern. Sie neh-men Misserfolg zum Ansporn, es beim nächsten Malbesser zu machen. Für die andern ist es eine Katastro-phe, die sie mit allen Mitteln zu verhindern versuchen.

    Dieser Versuch macht es aber im Grunde nochschlimmer. Er führt in einen Teufelskreis, der dieFurcht vor Misserfolg verstärkt und aufrechterhält.Das Problem beginnt bereits mit der Zielsetzung. UmMisserfolgserlebnisse zu verhindern, neigen Misserfolgs -ängstliche dazu, ihre Ziele unrealistisch niedrig oderunrealistisch hoch zu stecken. Setzt man sich nämlichZiele, die weit unter dem liegen, was man leisten

    kann, droht erst gar kein Misserfolg. Setzt man sichviel zu schwierige Ziele, ist der Misserfolg wenigerschmerzhaft, weil man das Scheitern der Schwierigkeitder Aufgabe zuschreiben kann. Auf den ersten Blick istdiese Strategie also geeignet, Misserfolgserfahrungenzu verhindern. Unglücklicherweise hat man dabei aberauch keine Erfolgserlebnisse. Zu schwierige Aufgabengelingen erst gar nicht, und das Gelingen zu leichterAufgaben wird nicht als Erfolg gewertet.

    Ist die Aufgabe erledigt, kann man für deren Gelingen oder Misslingen unterschiedliche Ursachenausmachen. So kann man einen Erfolg zum Beispielauf seine Fähigkeit, seine Anstrengung oder auf Glückzurückführen, Misserfolg hingegen auf seine Unfähig-keit, mangelnde Anstrengung oder unglückliche Umstände. Misserfolgsängstliche setzten auch hierwieder eine Strategie ein, die Misserfolgserlebnissewahrscheinlich und Erfolgserlebnisse unmöglichmacht. Misslingt eine Aufgabe, führen sie dies auf ihre mangelnden Fähigkeiten zurück. Gelingt die Aufgabe, machen sie glückliche Umstände dafür verantwortlich. In der Konsequenz schämen sie sich für ihre Misserfolge, ohne sich über ihre Erfolgefreuen zu können. Dies führt zu einem negativenSelbstwertgefühl, das auf lange Sicht die Furcht

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    vor Misserfolg und somit die genannten ungünstigen Strate-gien weiter verstärkt.

    Menschen, die Misserfolge gut verarbeiten können, setzensich dagegen realistische Ziele und führen Erfolge auf ihre Be-gabung oder Anstrengung und Misserfolge auf unglücklicheUmstände oder mangelnde Anstrengung zurück. Sie wendendamit Strategien an, die das Selbstwertgefühl stärken, da sieErfolgs erlebnisse ermöglichen und Misserfolgserlebnisse abmildern.

    Der Grundstein für diese unterschiedlichen Strategienwird bereits im Alter von drei bis fünf Jahren gelegt. Studienhaben gezeigt, dass Misserfolgsängstliche häufig nicht altersan-gemessen, sondern zu früh oder zu spät zum selbstständigenHandeln an gehalten wurden. Wahrscheinlich spielen auch dieRückmeldungen eine Rolle, die Kinder nach Erfolg und Miss-erfolg bekommen. Rückmeldungen, die Fähigkeiten für Erfolgund Misserfolg verantwortlich machen, gehen eher mit späte-rer Misserfolgsfurcht einher als Rückmeldungen, die sich aufAnstrengung und Strategien beziehen.

    Prof. Dr. Rosa Maria Puca, Universität OsnabrückPädagogische Psychologie Fachbereich HumanwissenschaftenE-Mail: [email protected]: www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/rpuca

    http://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/rpucahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/rpucahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/rpucahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/rpucahttp://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/rpuca

  • Das Navi im Gehirn. Wie können wir uns in einer komplexen Umgebung orientieren?Gordon Pipa

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    Ein Spaziergang in einer neuen oder bekannten Umge-bung erfordert Höchstleistungen von unserem Gehirn,denen wir uns nicht bewusst sind. Es kartiert fortlau-fend unsere Position und erschafft dadurch eine innereKarte, mit der wir wissen, wo wir sind und an welchenLandmarken wir uns orientieren können. Für die Auf-klärung, wie unser Gehirn dies genau umsetzt, erhiel-ten in diesem Jahr die Wissenschaftler John O'Keefesowie May-Britt und Edvard Moser den Nobelpreis fürMedizin. Dazu lokalisierten sie das Navi im Kopf, un-serem Hippocampus. Sie fanden heraus, dass in die-sem kleinen Teil des Gehirns, bestehend aus circa 60Millionen Nervenzellen, zwei Aufgaben ausgeführtwerden.

    Die erste Aufgabe entspricht dem Merken undWiedererkennen von Positionen. Dazu lernen einzelneZellen im Hippocampus sich genau einen Platz ineiner Umgebung zu merken und nur dann aktiv zusein, wenn wir an diesem Ort eintreffen. Eine Wegbe-schreibung entspricht damit einer Reihenfolge vonWegmarken. Also, zum Beispiel für meinen Weg zurArbeit: Aus der Tür, links zum Weg, dann zur Straße,an der Kreuzung geradeaus, an der Nächsten linksusw. Auch wenn dies im Prinzip ausreicht, von Anach B zu kommen, so kann man sich vorstellen, dass

    es nicht sehr effektiv ist. Denn diese Beschreibungeines Weges ist oft lang sowie fehleranfällig und hatkeine Struktur, die uns erlaubt zu wissen, wo auf einerKarte wir uns befinden oder was in unserer Nähe ist.

    Es wäre also nützlich sagen zu können, an derKreuzung, die in der Nähe des Stadthauses ist, musstdu rechts. Der Bezug auf bekannte Wegmarken er-laubt uns also zu wissen, wo wir uns auf einer Kartebefinden, damit eine Übersicht zu erlangen ist. Undgenau diese Funktion wird von der zweiten Art vonNervenzellen im Hippocampus umgesetzt. Dazu ler-nen einzelne Zellen unsere interne Karte in ein Koor-dinatensystem aufzuteilen, welches aus Sechsecken be-steht. Diese Sechsecke erlauben es den Zellen, einzelneAbschnitte unserer internen Karte zu unterscheiden,ähnlich den Koordinaten auf Landkarten oder denNamen der Felder eines Schachbrettes. Dadurch kön-nen wir nun komplexe Navigationsaufgaben lösen, beidenen wir zum Beispiel auf Stadtteile und -viertelBezug nehmen können. Für meinen Weg zur Arbeitbedeutet dies, dass ich den Weg mit deutlich kürzerenKombinationen aus Landmarken und Koordinaten be-schreiben kann: Aus der Tür links zum Weg, dann derStraße bis Hellern folgen, nach der Autobahn linkshoch zum Westerberg.

  • Zukunft. Fragen. Antworten.

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    Nun wissen wir, welche Nervenzellen was machen. Heißtdas denn auch, dass die Menschen besonders gut navigierenkönnen, die besonders viele dieser Zellen im Hypocampushaben? Ja und nein. Es wurde gezeigt, dass Taxifahrer in Lon-don, die häufig komplexe Navigationsaufgaben ausführenmüssen, einen größeren Hypocampus haben als Vergleichs -personen im gleichen Alter. Unser Gehirn reagiert also auf intensive Nutzung mit einer Zunahme des Volumens diesernotwendigen Gehirnstruktur, so wie wir es beim Training un-serer Muskulatur vom Sport kennen. Allerdings heißt diesnicht, dass Taxifahrer mehr Nervenzellen im Hypocampushaben. Vielmehr wächst die Stärke der Verbindungen zwischenden Zellen sowie das Volumen der Glia-Zellen, also der Zellen,die unsere Nervenzellen bei der Arbeit unterstützen und mitEnergie versorgen.

    Prof. Dr. Gordon Pipa, Universität OsnabrückNeuroinformatikFachbereich HumanwissenschaftenE-Mail: [email protected]: https://ikw.uni-osnabrueck.de/en/ni

    https://ikw.uni-osnabrueck.de/en/nihttps://ikw.uni-osnabrueck.de/en/nihttps://ikw.uni-osnabrueck.de/en/nihttps://ikw.uni-osnabrueck.de/en/nihttps://ikw.uni-osnabrueck.de/en/nihttps://ikw.uni-osnabrueck.de/en/ni

  • Ökologisches Wirtschaften. Sorgt Nachhaltigkeit für eine bessere Kosteneffizienz in Unternehmen?Stefanie Engel

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    Die Antwort lautet: manchmal, aber nicht immer.Und Konsumenten und Politik spielen eine wichtigeRolle. Lassen Sie mich dies genauer erläutern.

    Initiativen für mehr Nachhaltigkeit in einem Un-ternehmen können die Profite erhöhen. Beispielsweisedann, wenn Produktionsprozesse optimiert werden,um Energie einzusparen. Das hilft der Umwelt unddem Unternehmen.

    Manchmal rechnet sich eine nachhaltigere Pro-duktion langfristig, aber zu Beginn werden große In-vestitionen benötigt. Beispielsweise, wenn ein Land-wirt in ein effizienteres Bewässerungssystem investiert.Muss dafür ein Kredit aufgenommen werden, so be-stimmt die Zinsrate den Profit wesentlich mit. Zurzeitist diese niedrig und solche Investitionen sind profi-tabler. In Entwicklungsländern kann aber Armut ver-hindern, dass Landwirte in profitable nachhaltigeTechnologien investieren, da sie keinen Zugang zugünstigen Krediten haben. Das kurzfristige Überlebenist vorrangig vor Investitionen, die sich erst langfristigauszahlen.

    Manchmal können Unternehmen durch nachhal-tigere Produktion Marktanteile steigern oder höherePreise erzielen. Ein Beispiel sind Bio-Bananen. Ver-zichtet der Produzent auf Fungizide, muss er mehr Ar-

    beit einsetzen, um Pilzbefall zu verhindern und hathöhere Produktionskosten. Wenn er die Bananendann als Bio-Bananen verkauft, so realisiert er höherePreise und es kann sich am Ende rechnen. Entschei-dend dafür ist, dass genug Konsumenten bereit sind,mehr für solche Bio-Bananen zu bezahlen. Und wieaufwendig die Biozertifizierung ist. Zertifizierungdurch neutrale Ökolabels ist von Bedeutung für dasVertrauen der Konsumenten. Entscheidend für denProduzenten ist auch, wie viel der Gewinne beim Zwi-schenhandel verbleibt. Sehr billige Bio-Angebote rech-nen sich daher häufig nicht für den Produzenten. Sieals Konsument spielen also eine wichtige Rolle: Beiausreichender Nachfrage und Zahlungsbereitschaft fürumweltfreundliche Produkte rechnet es sich für mehrUnternehmen, nachhaltiger zu produzieren.

    Durch mehr Nachhaltigkeit können Unternehmenmanchmal ihre Chancen bei Investoren verbessern.Dies können Sie mit beeinflussen, wenn Sie bei Kauf-entscheiden und Bankgeschäften auf Umwelteffekteachten.

    Es ist aber auch die Politik gefragt. Oft würde dieGesellschaft von höherer Umweltqualität profitieren,aber für Produzenten entstehen Mehrkosten. Dies hatoft damit zu tun, dass die Unternehmen die wahren

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    Kosten ihres Handelns für die Umwelt nicht berücksichtigenmüssen, da diese von der Gesellschaft übernommen werden.In solchen Fällen kann die Umweltpolitik Kostenwahrheit her-stellen und so die Produktionsanreize verändern, zum Beispielmit einer Ökosteuer. So setzt eine CO2-Steuer Anreize, klima-schonender zu produzieren.

    Ein anderes Politikinstrument, das beispielsweise in derLandwirtschaft an Bedeutung gewinnt, sind Zahlungen fürUmweltleistungen. Statt Umweltschäden zu besteuern, werdenumweltschonende Maßnahmen belohnt. In der EU wird zumBeispiel diskutiert, ob man einen größeren Teil der Agrarsub-ventionen für umweltschonende Maßnahmen einsetzt. Es gibtbereits eine Reihe solcher Zahlungen, wie etwa für Streuwiesenund veränderte biodiversitätsfördernde Mähpraktiken. Sokann die Politik Bedingungen schaffen, die es für Unterneh-men profitabel machen, nachhaltiger zu produzieren.

    Prof. Dr. Stefanie Engel, Universität OsnabrückAlexander von Humboldt Professur für UmweltökonomieInstitut für Umweltsystemforschung Fachbereich Mathematik/InformatikE-Mail: [email protected]: www.usf.uni-osnabrueck.de/institut/mitarbeiter/engel.html

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  • Islamischer Staat. Ein Sicherheitsrisiko für Deutschland?Roland Czada

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    Die Ursprünge des islamischen Staates, der Teile desIraks und Syriens beherrscht und dem sich Kämpfer inneun weiteren Ländern des Nahen und Mittleren Os-tens und Afrikas zuordnen, geht auf die Invasion desIraks 2003 zurück. Sein militärisches Rückgrat bildenOffiziere der von den US-Streitkräften aufgelösten ira-kischen Armee, die sich dem salafistischen Jihad zu-wandten. Ihre reichlich fließenden Finanzmittel sollenaus Handelsgeschäften, Zuwendungen aus der Golfre-gion, Steuern und Abgaben sowie Raubdelikten her-rühren. Sie verfügen über modernes Kriegsgerät, dasüberwiegend aus amerikanischen Waffenlieferungenan den Irak stammt.

    Ob der Islamische Staat für Deutschland eine Ge-fahr ist? Wer wollte es verneinen, nachdem etwa 500Deutsche für ihn kämpfen und Tausende vor ihmhierher flüchten. Wir erleben eine zunehmende Islam-angst, die Ankunft von Asylsuchenden, und wir erfah-ren von Jugendlichen aus vielen Ländern, die dem Is-lamischen Staat ihr Leben opfern. Politik, Medien,Angehörige und Behörden rätseln über die Hinter-gründe.

    Wenig rätseln muss man über die Ursachen imNahen Osten. Wer die historische Last, die politischenBrüche und Verwerfungen sowie die geo-ökonomi-

    schen und geo-strategischen Besonderheiten dieser Region nachzeichnet, stellt fest: Die politischen undterritorialen Konflikte werden von religiösen Glaubens -kämpfen überlagert. Der Islamische Staat legitimiertsich gegenüber seinen Anhängern mit der Behauptung,er würde am festesten und umfassendsten an der gött-lichen Offenbarung des Korans festhalten. Hinzukommt, dass er sich als Kalifat versteht und seinenAnführer als direkten Nachkommen (khilafat=Nach-folge) des Propheten Mohammed betrachtet. DieWirksamkeit dieser auf Religion und Tradition abhe-bende Rechtfertigung seines Herrschaftsansprucheswird unterschätzt, wenn man den Blick allein auf terroristische Gewalttaten und die archaische Scharia-Justiz richtet.

    Die Kämpfe und das Leiden im Nahen Ostenbergen nicht nur ökonomische und sicherheitspoliti-sche Risiken. Aufgr