9/37...2019/01/15  · schaft als «private Aneignung von Profiten » und warum sie, was andere...

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Jtatt Äjcr <;3ciliing ZEITFRAGEN 18 9/37 Samstag/Sonntag, I7./18. August 1985 Nr. 189 37 Nach dem wiederholten Ende des Zweiten Weltkrieges Plädoyer für eine zeitgemässe Zeitgeschichte Von Georg Kreis, Universität Basel Die sogenannte Zeitgeschichte wird allge- mein als Sonderbereich der Geschichtswissen- schaft verstanden. Wenn auch der Unterschied zwischen dieser und der anderen Geschichte bei näherer Betrachtung gar nicht so gross ist - eine gewisse Besonderheit besteht trotzdem: Zeitge- schichte ist die Bezeichnung für den von Zeitge- nossen erlebten Zeitraum wie (in der auch für die allgemeine Geschichte geltenden Doppel- deutigkeit) auch für die wissenschaftliche Verar- beitung dieses Zeitraums. Dass auch die Zeitge- schichte ihren Platz in der wissenschaftlichen Lehre und Forschung haben soll, muss heutzu- tage eigentlich nicht mehr betont oder gar er- neut begründet werden. Die Zeiten sind in der Tat vorbei, da die Zeitgeschichte wegen ihrer Gegenwartsnähe der klassischen Geschichtswis- senschaft suspekt war und da sie als «gegen- wartsverfallen», als «histoire immediate» und im Angelsächsischen als «presentisme» abgetan wurde. Die Zeitgeschichte scheint kein Plädoyer mehr nötig zu haben. Was ist das aber für eine Zeitgeschichte, die sich mittlerweile so gut etabliert hat? Es ist - in der Schweiz etwas stärker als im Ausland - grosso modo die Geschichte der Jahre 1918-1945; es sind die Epochen der Zwischen- kriegszeit und des Zweiten Weltkrieges. Allein: Was in den ersten Nachkriegsjahren noch als jüngste Vergangenheit empfunden werden konnte, ist inzwischen doch älter geworden. Diese «Zeitgeschichte» verliert immer mehr den Charakter von Zeitgeschichte. Erlebnisraum der Zeitgenossenschaft Es bereitet uns einige Mühe, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich mit dem Wandel der Zeitgenossenschaft auch deren Erlebnis- raum verschiebt. Das Ende des Zweiten Welt- krieges ist nach wie vor eine starke Zäsur, der Zeitraum nach 1945 noch immer ein wenig er- schlossenes Niemandsland. Wie sehr die histori- sche Forschung zögert, in diesen Zeitraum vor- zustossen, zeigen für Deutschland die Beiträge der angesehenen «Vierteljahrshefte für Zeitge- schichte», die erst in jüngerer Zeit etwas häufi- ger auch Themen aus dem Zeitraum nach 1945 behandeln. Wäre die deutsche Zeitgeschichts- forschung schneller zur Bearbeitung der Nach- kriegszeit übergegangen, hätte man ihr gewiss vorgeworfen, eine schmerzliche Phase der deut- schen Geschichte verdrängen zu wollen. In Frankreich ist man im Überwinden der Zäsur von 1945 .etwas weitergekommen: Das Dokumentationszentrum. des Comite d'Histoire de la Deuxieme Guerre Mondiale wurde schon 1978 in ein neu geschaffenes Institut d'Histoire du Temps Present integriert - allerdings nicht nur aus akademischer Einsicht, sondern weil Staatspräsident Giscard d' Estaing damit auch den aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegange- nen Gaullismus treffen wollte. (Bekanntlich ver- suchte Giscard d'Estaing auch den «8. Mai» ab- zuschaffen.) In Frankreich besteht generell ein wenig die Tendenz, die ältere Zeitgeschichte zu überspringen und sich direkt der jüngeren Zeit- geschichte anzunehmen und so den selbstzer- fleischenden Auseinandersetzungen um die nicht sehr ruhmvolle Ära der Niederlage und der Kollaboration aus dem Wege zu gehen. Und in der Schweiz? Das von Klaus Unter aufgebaute und seit 1974 in die ETH Zürich integrierte Schweizerische Archiv für Zeitge- schichte ist ebenfalls aus dem besonderen Inter- esse an der Zwischenkriegs- und Kriegszeit ent- standen. Es hat aber mit seinen systematischen Befragungen von zeitgenössischen Persönlich- keiten schon immer lebenslaufbedingte Vor- stösse in die Zeit nach 1945 unternommen. Zu- dem decken manche der von ihm gesicherten und gesichteten Privatbestände den Zeitraum bis in die sechziger Jahre ab. Aber noch interes- siert sich der grössere Teil der Benützer für die Zeit vor 1945. Beschleunigter Wandel und Überbenachrichtigung Bleibt die Zeitgeschichte bei 1945 stehen, wird das «geschichtslose» Feld zwischen der Vergangenheitsforschung der Historiker und der Gegenwarts- und Zukunftsfoischung der Politologen und ökonomen immer grösser. Dies aber ist aus mehreren Gründen zu bekla- gen. Zunächst gilt natürlich auch für diese Zeit die Binsenwahrheit, dass wir die Gegenwart nicht verstehen, wenn wir die Vergangenheit nicht kennen. Sie gilt für die Vorgeschichte der Gegenwart und für die besonders schnellebige Gegenwart sogar in besonderem Masse. Zwar wird sich wohl jede Zeit im Vergleich zur ge- mächlicheren Vorzeit einem beschleunigten Wandel ausgesetzt gefühlt haben. Die allge- meine Entwicklung hat aber unzweifelhaft auch objektiv eine starke Beschleunigung erfahren. Die Nachrichten über die beschleunigten Inter- aktionen fallen in immer stärkerer Intensität und kürzerer Kadenz an und werden entspre- chend schnell wieder vergessen - durch neue Nachrichten gelöscht. Erich Gruner hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die techni- schen Umwälzungen, die so plötzlich über uns gekommen sind und eine bisher unvorstellbare Beschleunigung des geschichtlichen Ablaufs verursachen, uns in einer vorher kaum je dage- wesenen Weise von der Vergangenheit ab- schneiden. In Anbetracht des von der Überbenachrichti- gung ausgehenden Löscheffekts wäre es wünsch- bar, dass im Windschatten des aktualitätsbezo- genen Interesses die Gegenwart von gestern und vorgestern ohne grossen zeitlichen Verzug ge- sichtet, bearbeitet und zu einem ersten Bild ver- dichtet würde. Der im Überblick zutage tretende Verlauf unserer Vorgeschichte muss im übrigen nicht unbedingt bisher unbeachtet gebliebene Veränderungen sichtbar machen. Schon beim ersten Betrachten des von der hektischen Ge- genwart zurückgelassenen Geschehens könnte sich nämlich herausstellen, dass die mittel- und längerfristigen Entwicklungsverläufe trotz den steten Wechseln, die wir kurzfristig wahrneh- men, so wechselreich gar nicht sind. Die Dauer im Wandel - auch das wäre ein wichtiger Be- fund. Man mag es als paradox empfinden: Unsere Kenntnisse und Vorstellungen werden, auch wenn es sich um scheinbar bewusst miterlebte Zeit handelt, oft dürftiger, je näher die Vorgän- ge, um die es geht, an unserer Gegenwart liegen. Eine gegenwartsnähere Zeitgeschichte könnte aber nicht nur das Verständnis der an Vorgän- gen von allgemeiner Bedeutung bereits interes- sierten Zeitgenossen fördern, es könnte auch das Interesse der zunächst noch Desinteressierten wecken. Erfahrungsgemäss ist man nämlich in Fragen, in denen ein zum Beispiel durch zeitge- schichtliche Publikationen vermitteltes Vorwis- sen bereits vorhanden ist, ansprechbar und darum auch aufnahmefähiger. Vom Krieg zum Frieden Für ein Überschreiten der Zäsur von 1945 spricht auch der besondere Umstand, dass die Aufmerksamkeit der klassischen Zeitgeschichte einer Zeit gilt, die im Grunde gar nicht als Vor- geschichte der Gegenwart aufgefasst wird, son- dern als eine ganz andere, als eine ausserordent- liche und - aus dem Bewährungserlebnis heraus - als «hohe» Zeit. Auch wenn die Kriegszeit - auch für die Schweiz - eine sehr dichte Zeit war, das Denken einer ganzen Generation prägte und - nun bloss indirekt auch für die Schweiz - manchen Entscheid brachte, der die gegenwärti- gen Verhältnisse schicksalshaft bestimmte, und wenn auch die Vorkriegs- und Kriegszeit noch längst nicht abschliessend historisch verarbeitet sind (was sie ja ohnehin nie sein können), ist die Aufnahme der" Nichtkriegszeit in unser histori- sches Bewusstsein, in unsere geistige Bilderwelt auch darum angezeigt, weil deren innere Über- einstimmung mit unserer Gegenwart das Ver- ständnis gerade dieser Gegenwart fördert. Zu- dem ist - vor allem nun für die Schweiz - 1945 eigentlich gar kein epochaler Einschnitt. Die Nachkriegszeit hatte in einem gewissen Sinn schon 1943 begonnen, und die Jahre 1943-1948 bilden wahrscheinlich mindestens so sehr eine Einheit wie die Jahre 1939-1945. Im Wettlauf mit Legendenbildungen Eine neue Zeitgeschichte ist auch aus einem anderen Grund vonnöten: Zeitgeschichtliche Geschichtsschreibung findet nämlich auch dann statt, wenn sich die Geschichtswissenschaft aus Berührungsangst ihrer nicht annimmt. Die am Geschehen beteiligten Parteien haben ein Inter- esse daran, mit ihrer Sicht der Dinge das künf- tige Geschichtsbild zu prägen. Diese Art von Ein- flussnahme erlebt die Zeitgeschichte vor allem von seiten der militanten und doktrinären Par- teien. Eine nachgeführte, das heisst an die Ge- genwart näher herangeführte Zeitgeschichte könnte dazu ein gewisses Gegengewicht bilden. Sie könnte das Einnisten von Legenden gewiss nicht verhindern, aber erschweren und deren Wirkung eindämmen. Oft ist von zunehmender Geschichtslosigkeit die Rede. Wenn damit das Fehlen eines hier nicht näher bestimmbaren hi- storische n Denkens gemeint ist, mag das zutref- fen. Das Interesse an der Möglichkeit, die Ver- gangenheit politisch zu nutzen, ist in unserer Gegenwart indessen kaum geringer geworden. Kommt ein weiterer Grund hinzu: Lässt die zeitgeschichtliche Verarbeitung auf sich warten, entgeht der Nachwelt zwangsläufig ein Teil der historischen Dokumentation. Materialien gehen verloren, die der Historiker im Laufe seiner Re- cherchen sichern könnte oder die als Reaktion auf erste zeitgeschichtliche Publikationen anfal- len würden. Natürlich ist dieser Verlust nicht in allen Bereichen gleich gross. Im Bereich bei- spielsweise der klassischen Staatsgeschichte ist er geringer als im Bereich etwa der Mentalitäts- geschichte, die sich stärker auf private , auch mündliche Quellen abstützt. Dies sind in Kürze die wichtigsten Gründe, die einen Aufbruch in die jüngere Vorgeschichte als dringlich erscheinen lassen. Kürzlich ist mit bemerkenswert viel Aufwand das Ende des Zweiten Weltkrieges vergegenwärtigt worden. Nun sollte das Interesse an dem, was «vor 40 Jahren» geschehen ist, nicht wieder einschlafen, nun sollte die Erinnerungsbereitschaft auch der Nachkriegszeit zugute kommen, allerdings nicht nur in dezimalen Erinnerungsritualen, sondern durch Bemühungen, eine ganze Ära zu erschlies- sen. Erste Vorarbeiten von Erich Gruner .. Die Zeit nach 1945 ist allerdings nicht nur terra incognita. Eine wertvolle Vorarbeit stellt der vom bereits zitierten Erich Gruner herausge- gebene Sammelband «Die Schweiz seit 1945» (Bern 1971) dar. Das Werk ist aus einem Volks- hochschulkurs herausgewachsen, der - wie die- ses Plädoyer es anlässlich des 40. Gedenkjahres tut - anlässlich des 25. Gedenkjahres den Auf- bruch in die Nachkriegszeit einleiten wollte. Gruner stellte damals fest, man sei zwangsläufig noch sehr materialnah geblieben und vielfach über ein erstes Sortieren des geschichtlichen Rohstoffes nicht hinausgekommen. In diesem Band geben 17 Autoren einen informativen Querschnitt durch die wichtigsten Gebiete des öffentlichen und des privaten, des ökonomi- schen, politischen und kulturellen Lebens. Die Frage, welches die dominanten Kräfte der Zeit seien, wurde in der Einleitung zwar gestellt, musste damals aber noch unbeantwortet blei- ben. Auch die Frage der Periodisierung konnte nur am Rande besprochen werden. Immerhin wurde die vorläufige Aussage gewagt, dass dem Jahr 1970 wegen des stärker gewordenen Dissens und der entsprechenden Infragestellung des Bil- des der nationalen Schicksalsgemeinschaft die Bedeutung eines Epocheneinschnitts (oder einer Wendezeit) zukomme (S. 359). Wiederum als Folgeprodukt eines Volks- hochschulkurses, nun aus den Jahren 1980/81, entstand die von Christoph Dejung verfasste «Schweizer Geschichte seit 1945» (Frauenfeld 1984). Dieses Werk, das auch die achtzigerjahre in seine Darstellung einbezieht, leitet in kurzen Chronologien, thematisch geordnet, einzelne Entwicklungsstränge aus der Zwischenkriegs- zeit, zum Teil sogar aus dem 19. Jahrhundert her und gibt mit einem eigenen Text einen leicht fasslichen Überblick über die Vorgänge der Nachkriegszeit und mit beigegebenen Doku- menten Einblicke in Positionen, die bekannte Exponenten unserer Gesellschaft zu bestimmten Fragen eingenommen haben. ... sowie von Cilg/Hablützel Ein wesentliches Stück weiter in der konzep- tionellen Erfassung und der Verdichtung kamen Peter Gilg und Peter Hablützel mit ihrem Beitrag im 3. Band der «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» (Basel 1983). Publizierten Gru- ner und Dejung ihre Werke noch unter dem zurückhaltenden Arbeitstitel «. .. seit 1945», hoben Gilg und Hablützel die ihres Erachtens wichtigsten Epochenmerkmale hervor und setz- ten sie über ihren Beitrag den Titel «Beschleu- nigter Wandel und neue Krisen». Mit bemer- kenswerter Selbstverständlichkeit definierten sie nun übrigens die Zeitgeschichte als Geschichte der Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrie- ges . Mit einem starken reflektorischen Ansatz ar- beiteten sie vier Leitideen heraus, die ihnen als Erklärungszusammenhänge dienten: den Ge- danken ' des beschleunigten Wandels, der sich verstärkenden weltweiten Interdependenz, des wachsenden Organisationsgrades von Wirtschaft und Gesellschaft und An fortschreitenden Auflö- sung herkömmlicher Bildungen. Die Autoren verstanden ihre Darstellung als (eigene) Inter- pretation, beabsichtigten aber, deren Standort- bedingtheit sichtbar und dank dieser Deklara- tion auch nachvollziehbar zu machen. Die mit dem Handbuchcharakter des Werkes schwer vereinbaren Positionsbezüge konnten auf dem zur Verfügung stehenden Raum dann aller- dings doch selten als solche kenntlich gemacht werden. Dem Leser wird zum Beispiel nicht klar, warum die Autoren von einem «Wieder- aufstieg» des Kapitalismus nach 1945 reden, warum sie diesen Wiederaufstieg als «erstaun- lich», warum sie die Erträge der Privatwirt- schaft als «private Aneignung von Profiten» und warum sie, was andere Arbeitsbeschaffung nennen, als «Beanspruchung» von Arbeitslei- stung der Gesellschaft bezeichnen. Wenn - um auf den gleichen, willkürlich herausgegriffenen Seiten (197/8) zu bleiben - von der «sogenannten» freien Welt und von der «vermeintlichen » Bedrohung durch das feindli- che System die Rede ist, geschieht dies wohl im Bestreben, sich von einer allzu geläufigen com- munis opinio zu lösen. Wir müssen uns aber fra- gen, inwiefern solche Emanzipierungsversuche nicht zugunsten neuer Bindungen unternommen werden, die als Prämissen ebenfalls explizit dar- gelegt werden sollten. Gilgs und Hablützels interpretatorische Zu- griffe sind eine Herausforderung - eine begrüs- senswerte Herausforderung, sofern es Dialog- partner gibt, die sich herausgefordert fühlen. Auffallenderweise fühlen sich Leser aber weni- ger durch diese Bearbeitung der jüngsten Zeit provoziert als durch die von Hans Ulrich Jost im gleichen Werk gegebene Darstellung der Zeit von 1914 bis 1945. Dies zeigt - und hier sind wir wieder an unserem Ausgangspunkt -, wie sehr die ältere Zeitgeschichte noch immer dominiert und wie wichtig es wäre, dass auch der jüngeren Zeitgeschichte ein Platz in unserem historischen Bewusstsein eingeräumt würde. Schule der Selbstdisziplin Die grosse Gegenwartsnähe der jüngeren Zeitgeschichte stellt höchste Ansprüche an die Historiker. Hans Rothfels hat schon 1953 von der Zeitgeschichte gesagt, sie müsse beweisen, «dass mit der Nähe und stärkster Betroffenheit durchaus ein Abstandnehmen von den Leiden- schaften des Tages sich verbinden lässt, ohne deshalb zu relativistischer Skepsis zu führen». So besehen, ist die Zeitgeschichte in höchstem Masse eine Schule der Selbstdisziplin und als solche von eminent politischer Bedeutung. Und dies wiederum ist der letzte, aber nicht der un- wichtigste Grund, der zeigt, wie nötig es ist, dass wir eine zeitgemässe Zeitgeschichte pfle- gen. Kleine Einführungen ins Tessin Zwei neue Publikationen rf. Dieses Jahr sind zwei Bändchen erschie- nen, die sich zur Einführung ins Tessin aufs an- genehmste ergänzen, obwohl dies gewiss nicht geplant war. Beide sind schmal, erheben nicht den Anspruch, umfassend zu sein oder gar ge- wichtigere Werke wie die Tessin-Geschichte von Rossi und Pometta (1980 bei Armando Dando neu aufgelegt, deutsch vergriffen) zu ersetzen. Aber sie haben den Vorzug, leichter greifbar und zu lesen zu sein. Das eine dieser Bändchen heisst «Kleine Ge- schichte des Kantons Tessin» (Edizioni San Pietro, Ascona) und stammt aus der Feder des 1977 verstorbenen Ernst Merz, eines Pfarrers, der sich nach S. Abbondio über dem Langensee zurückgezogen und dort auch einige Zeit, wäh- rend der Kriegsjahre, als Sindaco geamtet hatte. Heinrich Ammann hat eine Reihe historischer Aufsätze von Merz, die in den fünfziger Jahren im Winterthurer «Landboten» erschienen sind, zusammengestellt und zwei bisher unveröffent- lichte Manuskripte über die Jahre des Faschis- mus und über die Emigration hinzugefügt. Die andere Broschüre ist in der Reihe erschienen, die die Schweizerische Bankgesellschaft den ein- zelnen Kantonen widmet, und zwar in deut- scher und in italienischer Sprache; als Verfasser zeichnen Thomas Lips und Gianni Moresi. Die beiden Publikationen nun ergänzen sich einmal dadurch, dass die eine vor allem der Vergangenheit, die andere eher der Gegenwart gewidmet ist, zum anderen aber auch in ihrem ganz unterschiedlichen Vortrag. Die eine eignet sich trefflich, für eine besinnliche Lektüre in die Pergola mitgenommen zu werden. Merz lässt, wie man so sagt, den Blick durch die weite Ge- schichte schweifen, liebt es, die Zeitläufte an einzelnen Schicksalen oder Orten (was gleich Anregung zu einem kleinen Ausflug sein kann) sichtbar werden zu lassen, und lässt es sich nicht nehmen, wenn da schon von den Langobarden im Tessin die Rede ist, auch zu erzählen, wie König Alboin aus dem Schädel des erschlage - nen Schwiegervaters einen mit Silber beschlage- nen Pokal anfertigen und seine Gattin daraus trinken liess. In Nummer 92 der SBG-Schriften zu Wirtschafts-, Bank- und Währungsfragen hingegen geht es naturgemäss nüchterner zu; hier herrschen Zahlen, Graphiken, Prozente vor, eingefügt aber in einen leserlichen und übersichtlich gegliederten Text. Die kleine Tessiner Geschichte zieht also den weiten Bogen von der Zeit der Römer bis zur Mitte unseres Jahrhunderts; sie zeichnet nach, wie der Wettbewerb zwischen den beiden Städ- ten Como und Mailand ins Tessin ausstrahlte, und zeigt auch, wie das Tessin in das Kräftefeld von Süd und Nord eingespannt ist, wie bei- spielsweise die Christianisierung der Alpentäler von Norden her dauernde Bindungen an die Bündner Klöster zur Folge hatte oder hinter der Gegenreformation des Mailänder Erzbischofs Borromeo auch ein sprach- und kulturpoliti- sches Engagement vermutet werden kann. Der Leser wird daran erinnert, wie der Bund von 1291 Vorläufer in Freiheitsbewegungen südlich der Alpen hatte, etwa in Torre oder Biasca. Hat man so sich die Geschichte wieder gehörig in Erinnerung rufen lassen, wird man auch im an- deren Büchlein keinen Schaden nehmen an der Wendung, dass das Schicksal des Tessins «bis ins 12. Jahrhundert eng mit jenem der Lombar- dei verbunden» geblieben sei. Tatsächlich aber ist die Broschüre der SBG keineswegs eingleisig abgefasst. Sie versucht, ein differenziertes Bild der facettenreichen Wirklichkeit des Tessins zu geben, und auch das Kapitel, das mit «Finanzplatz: Konsolidierung nach dem Boom» überschrieben ist und dem Tessin in dieser Publikationsreihe wohl Priorität verschafft hat, ist angesichts der Bedeutung die- ser Sparte für das Tessin keineswegs zu gross geraten ; das Tessin rangiert weit oben auf der Liste der Finanzplätze, und nirgends ist der An- teil der Beschäftigten im Bankensektor so gross wie in Lugano (12 Prozent). Nach der anfäng- lich raschen Expansion (stark durch die ungün- stigen Verhältnisse in Italien bedingt) mit ihren oft wenig erfreulichen Begleiterscheinungen - das die Quintessenz dieses Abschnittes - hat der Finanzplatz Tessin eine eigenständige und brei- ter gelagerte Dynamik entwickelt, so dass Re- striktionsmassnahmen und gebremster Kapital- zustrom ihm den Schwung nicht nehmen konn- ten. Gerade die wirtschaftliche Ausrichtung der Broschüre ist geeignet, ein allzu idyllisches Bild vom Tessin zu korrigieren und etwa bewusstzu- machen, dass es diese «Sonnenstube» ihren Be- wohnern keineswegs leichtgemacht hat. Der Umschlag vom Auswanderungs- zum Einwan- derungsgebiet in den sechziger Jahren, die Ag- glomerationstendenz, die Überalterung, die Grenzgänger, der Wechsel von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft machen viele Sorgen verständlicher, mit denen dieser Kanton heute zu kämpfen hat. Neue Zürcher Zeitung vom 17.08.1985

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Jtatt Äjcr <;3ciliing ZEITFRAGEN18 9/37

Samstag/Sonntag, I7./18. August 1985 Nr. 189 37

Nach dem wiederholten Ende des Zweiten Weltkrieges

Plädoyer für eine zeitgemässe ZeitgeschichteVon Georg Kreis, Universität Basel

Die sogenannte Zeitgeschichte wird allge-

mein als Sonderbereich der Geschichtswissen-schaft verstanden. Wenn auch der Unterschiedzwischen dieser und der anderen Geschichte beinäherer Betrachtung gar nicht so gross ist - einegewisse Besonderheit besteht trotzdem: Zeitge-

schichte ist die Bezeichnung für den von Zeitge-

nossen erlebten Zeitraum wie (in der auch fürdie allgemeine Geschichte geltenden Doppel-deutigkeit) auch für die wissenschaftliche Verar-beitung dieses Zeitraums. Dass auch die Zeitge-

schichte ihren Platz in der wissenschaftlichenLehre und Forschung haben soll, muss heutzu-tage eigentlich nicht mehr betont oder gar er-neut begründet werden. Die Zeiten sind in derTat vorbei, da die Zeitgeschichte wegen ihrerGegenwartsnähe der klassischen Geschichtswis-senschaft suspekt war und da sie als «gegen-wartsverfallen», als «histoire immediate» undim Angelsächsischen als «presentisme» abgetan

wurde. Die Zeitgeschichte scheint kein Plädoyermehr nötig zu haben.

Was ist das aber für eine Zeitgeschichte, diesich mittlerweile so gut etabliert hat? Es ist - inder Schweiz etwas stärker als im Ausland -grosso modo die Geschichte der Jahre1918-1945; es sind die Epochen der Zwischen-kriegszeit und des Zweiten Weltkrieges. Allein:Was in den ersten Nachkriegsjahren noch alsjüngste Vergangenheit empfunden werdenkonnte, ist inzwischen doch älter geworden.Diese «Zeitgeschichte» verliert immer mehr denCharakter von Zeitgeschichte.

Erlebnisraum der Zeitgenossenschaft

Es bereitet uns einige Mühe, der TatsacheRechnung zu tragen, dass sich mit dem Wandelder Zeitgenossenschaft auch deren Erlebnis-raum verschiebt. Das Ende des Zweiten Welt-krieges ist nach wie vor eine starke Zäsur, derZeitraum nach 1945 noch immer ein wenig er-schlossenes Niemandsland. Wie sehr die histori-sche Forschung zögert, in diesen Zeitraum vor-zustossen, zeigen für Deutschland die Beiträgeder angesehenen «Vierteljahrshefte für Zeitge-schichte», die erst in jüngerer Zeit etwas häufi-ger auch Themen aus dem Zeitraum nach 1945behandeln. Wäre die deutsche Zeitgeschichts-forschung schneller zur Bearbeitung der Nach-kriegszeit übergegangen, hätte man ihr gewissvorgeworfen, eine schmerzliche Phase der deut-schen Geschichte verdrängen zu wollen.

In Frankreich ist man im Überwinden derZäsur von 1945 .etwas weitergekommen: DasDokumentationszentrum. des Comite d'Histoirede la Deuxieme Guerre Mondiale wurde schon1978 in ein neu geschaffenes Institut d'Histoiredu Temps Present integriert - allerdings nichtnur aus akademischer Einsicht, sondern weilStaatspräsident Giscard d' Estaing damit auchden aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegange-nen Gaullismus treffen wollte. (Bekanntlich ver-suchte Giscard d'Estaing auch den «8. Mai» ab-zuschaffen.) In Frankreich besteht generell einwenig die Tendenz, die ältere Zeitgeschichte zuüberspringen und sich direkt der jüngeren Zeit-geschichte anzunehmen und so den selbstzer-fleischenden Auseinandersetzungen um dienicht sehr ruhmvolle Ära der Niederlage undder Kollaboration aus dem Wege zu gehen.

Und in der Schweiz? Das von Klaus Unteraufgebaute und seit 1974 in die ETH Zürichintegrierte Schweizerische Archiv für Zeitge-schichte ist ebenfalls aus dem besonderen Inter-esse an der Zwischenkriegs- und Kriegszeit ent-standen. Es hat aber mit seinen systematischenBefragungen von zeitgenössischen Persönlich-keiten schon immer lebenslaufbedingte Vor-stösse in die Zeit nach 1945 unternommen. Zu-dem decken manche der von ihm gesicherten

und gesichteten Privatbestände den Zeitraumbis in die sechziger Jahre ab. Aber noch interes-siert sich der grössere Teil der Benützer für dieZeit vor 1945.

Beschleunigter Wandelund Überbenachrichtigung

Bleibt die Zeitgeschichte bei 1945 stehen,wird das «geschichtslose» Feld zwischen derVergangenheitsforschung der Historiker undder Gegenwarts- und Zukunftsfoischung derPolitologen und ökonomen immer grösser.Dies aber ist aus mehreren Gründen zu bekla-gen.

Zunächst gilt natürlich auch für diese Zeitdie Binsenwahrheit, dass wir die Gegenwartnicht verstehen, wenn wir die Vergangenheitnicht kennen. Sie gilt für die Vorgeschichte derGegenwart und für die besonders schnellebigeGegenwart sogar in besonderem Masse. Zwarwird sich wohl jede Zeit im Vergleich zur ge-mächlicheren Vorzeit einem beschleunigtenWandel ausgesetzt gefühlt haben. Die allge-meine Entwicklung hat aber unzweifelhaft auchobjektiv eine starke Beschleunigung erfahren.Die Nachrichten über die beschleunigten Inter-aktionen fallen in immer stärkerer Intensitätund kürzerer Kadenz an und werden entspre-chend schnell wieder vergessen - durch neueNachrichten gelöscht. Erich Gruner hat schonvor Jahren darauf hingewiesen, dass die techni-schen Umwälzungen, die so plötzlich über unsgekommen sind und eine bisher unvorstellbareBeschleunigung des geschichtlichen Ablaufsverursachen, uns in einer vorher kaum je dage-

wesenen Weise von der Vergangenheit ab-schneiden.

In Anbetracht des von der Überbenachrichti-gung ausgehenden Löscheffekts wäre es wünsch-bar, dass im Windschatten des aktualitätsbezo-genen Interesses die Gegenwart von gestern undvorgestern ohne grossen zeitlichen Verzug ge-sichtet, bearbeitet und zu einem ersten Bild ver-dichtet würde. Der im Überblick zutage tretendeVerlauf unserer Vorgeschichte muss im übrigen

nicht unbedingt bisher unbeachtet gebliebeneVeränderungen sichtbar machen. Schon beimersten Betrachten des von der hektischen Ge-genwart zurückgelassenen Geschehens könntesich nämlich herausstellen, dass die mittel- undlängerfristigen Entwicklungsverläufe trotz densteten Wechseln, die wir kurzfristig wahrneh-men, so wechselreich gar nicht sind. Die Dauerim Wandel - auch das wäre ein wichtiger Be-fund.

Man mag es als paradox empfinden: UnsereKenntnisse und Vorstellungen werden, auchwenn es sich um scheinbar bewusst miterlebteZeit handelt, oft dürftiger, je näher die Vorgän-ge, um die es geht, an unserer Gegenwart liegen.

Eine gegenwartsnähere Zeitgeschichte könnteaber nicht nur das Verständnis der an Vorgän-gen von allgemeiner Bedeutung bereits interes-sierten Zeitgenossen fördern, es könnte auch dasInteresse der zunächst noch Desinteressiertenwecken. Erfahrungsgemäss ist man nämlich inFragen, in denen ein zum Beispiel durch zeitge-

schichtliche Publikationen vermitteltes Vorwis-sen bereits vorhanden ist, ansprechbar unddarum auch aufnahmefähiger.

Vom Krieg zum Frieden

Für ein Überschreiten der Zäsur von 1945spricht auch der besondere Umstand, dass dieAufmerksamkeit der klassischen Zeitgeschichte

einer Zeit gilt, die im Grunde gar nicht als Vor-geschichte der Gegenwart aufgefasst wird, son-dern als eine ganz andere, als eine ausserordent-liche und - aus dem Bewährungserlebnis heraus- als «hohe» Zeit. Auch wenn die Kriegszeit -auch für die Schweiz - eine sehr dichte Zeit war,das Denken einer ganzen Generation prägte

und - nun bloss indirekt auch für die Schweiz -manchen Entscheid brachte, der die gegenwärti-gen Verhältnisse schicksalshaft bestimmte, undwenn auch die Vorkriegs- und Kriegszeit nochlängst nicht abschliessend historisch verarbeitetsind (was sie ja ohnehin nie sein können), ist dieAufnahme der" Nichtkriegszeit in unser histori-sches Bewusstsein, in unsere geistige Bilderweltauch darum angezeigt, weil deren innere Über-einstimmung mit unserer Gegenwart das Ver-ständnis gerade dieser Gegenwart fördert. Zu-dem ist - vor allem nun für die Schweiz - 1945eigentlich gar kein epochaler Einschnitt. DieNachkriegszeit hatte in einem gewissen Sinnschon 1943 begonnen, und die Jahre 1943-1948bilden wahrscheinlich mindestens so sehr eineEinheit wie die Jahre 1939-1945.

Im Wettlauf mit Legendenbildungen

Eine neue Zeitgeschichte ist auch aus einemanderen Grund vonnöten: ZeitgeschichtlicheGeschichtsschreibung findet nämlich auch dannstatt, wenn sich die Geschichtswissenschaft ausBerührungsangst ihrer nicht annimmt. Die amGeschehen beteiligten Parteien haben ein Inter-esse daran, mit ihrer Sicht der Dinge das künf-tige Geschichtsbild zu prägen. Diese Art von Ein-flussnahme erlebt die Zeitgeschichte vor allemvon seiten der militanten und doktrinären Par-teien. Eine nachgeführte, das heisst an die Ge-genwart näher herangeführte Zeitgeschichte

könnte dazu ein gewisses Gegengewicht bilden.Sie könnte das Einnisten von Legenden gewiss

nicht verhindern, aber erschweren und derenWirkung eindämmen. Oft ist von zunehmenderGeschichtslosigkeit die Rede. Wenn damit dasFehlen eines hier nicht näher bestimmbaren hi-storischen Denkens gemeint ist, mag das zutref-fen. Das Interesse an der Möglichkeit, die Ver-gangenheit politisch zu nutzen, ist in unsererGegenwart indessen kaum geringer geworden.

Kommt ein weiterer Grund hinzu: Lässt diezeitgeschichtliche Verarbeitung auf sich warten,entgeht der Nachwelt zwangsläufig ein Teil derhistorischen Dokumentation. Materialien gehenverloren, die der Historiker im Laufe seiner Re-cherchen sichern könnte oder die als Reaktionauf erste zeitgeschichtliche Publikationen anfal-len würden. Natürlich ist dieser Verlust nicht inallen Bereichen gleich gross. Im Bereich bei-spielsweise der klassischen Staatsgeschichte ister geringer als im Bereich etwa der Mentalitäts-geschichte, die sich stärker auf private, auchmündliche Quellen abstützt.

Dies sind in Kürze die wichtigsten Gründe,die einen Aufbruch in die jüngere Vorgeschichte

als dringlich erscheinen lassen. Kürzlich ist mitbemerkenswert viel Aufwand das Ende desZweiten Weltkrieges vergegenwärtigt worden.Nun sollte das Interesse an dem, was «vor 40Jahren» geschehen ist, nicht wieder einschlafen,

nun sollte die Erinnerungsbereitschaft auch derNachkriegszeit zugute kommen, allerdings nichtnur in dezimalen Erinnerungsritualen, sonderndurch Bemühungen, eine ganze Ära zu erschlies-sen.

Erste Vorarbeiten von Erich Gruner . .

Die Zeit nach 1945 ist allerdings nicht nurterra incognita. Eine wertvolle Vorarbeit stellt

der vom bereits zitierten Erich Gruner herausge-gebene Sammelband «Die Schweiz seit 1945»(Bern 1971) dar. Das Werk ist aus einem Volks-hochschulkurs herausgewachsen, der - wie die-ses Plädoyer es anlässlich des 40. Gedenkjahrestut - anlässlich des 25. Gedenkjahres den Auf-bruch in die Nachkriegszeit einleiten wollte.Gruner stellte damals fest, man sei zwangsläufignoch sehr materialnah geblieben und vielfachüber ein erstes Sortieren des geschichtlichenRohstoffes nicht hinausgekommen. In diesemBand geben 17 Autoren einen informativenQuerschnitt durch die wichtigsten Gebiete desöffentlichen und des privaten, des ökonomi-schen, politischen und kulturellen Lebens. DieFrage, welches die dominanten Kräfte der Zeitseien, wurde in der Einleitung zwar gestellt,musste damals aber noch unbeantwortet blei-ben. Auch die Frage der Periodisierung konntenur am Rande besprochen werden. Immerhinwurde die vorläufige Aussage gewagt, dass demJahr 1970 wegen des stärker gewordenen Dissensund der entsprechenden Infragestellung des Bil-des der nationalen Schicksalsgemeinschaft dieBedeutung eines Epocheneinschnitts (oder einerWendezeit) zukomme (S. 359).

Wiederum als Folgeprodukt eines Volks-hochschulkurses, nun aus den Jahren 1980/81,entstand die von Christoph Dejung verfasste«Schweizer Geschichte seit 1945» (Frauenfeld1984). Dieses Werk, das auch die achtzigerjahrein seine Darstellung einbezieht, leitet in kurzenChronologien, thematisch geordnet, einzelneEntwicklungsstränge aus der Zwischenkriegs-zeit, zum Teil sogar aus dem 19. Jahrhunderther und gibt mit einem eigenen Text einen leichtfasslichen Überblick über die Vorgänge derNachkriegszeit und mit beigegebenen Doku-menten Einblicke in Positionen, die bekannteExponenten unserer Gesellschaft zu bestimmtenFragen eingenommen haben.

. . . sowie von Cilg/Hablützel

Ein wesentliches Stück weiter in der konzep-tionellen Erfassung und der Verdichtung kamenPeter Gilg und Peter Hablützel mit ihrem Beitragim 3. Band der «Geschichte der Schweiz undder Schweizer» (Basel 1983). Publizierten Gru-ner und Dejung ihre Werke noch unter demzurückhaltenden Arbeitstitel «. . . seit 1945»,hoben Gilg und Hablützel die ihres Erachtenswichtigsten Epochenmerkmale hervor und setz-ten sie über ihren Beitrag den Titel «Beschleu-nigter Wandel und neue Krisen». Mit bemer-kenswerter Selbstverständlichkeit definierten sienun übrigens die Zeitgeschichte als Geschichteder Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrie-ges.

Mit einem starken reflektorischen Ansatz ar-beiteten sie vier Leitideen heraus, die ihnen alsErklärungszusammenhänge dienten: den Ge-danken

'

des beschleunigten Wandels, der sichverstärkenden weltweiten Interdependenz, des

wachsenden Organisationsgrades von Wirtschaftund Gesellschaft und An fortschreitenden Auflö-sung herkömmlicher Bildungen. Die Autorenverstanden ihre Darstellung als (eigene) Inter-pretation, beabsichtigten aber, deren Standort-bedingtheit sichtbar und dank dieser Deklara-tion auch nachvollziehbar zu machen.

Die mit dem Handbuchcharakter des Werkesschwer vereinbaren Positionsbezüge konnten aufdem zur Verfügung stehenden Raum dann aller-dings doch selten als solche kenntlich gemachtwerden. Dem Leser wird zum Beispiel nichtklar, warum die Autoren von einem «Wieder-aufstieg» des Kapitalismus nach 1945 reden,warum sie diesen Wiederaufstieg als «erstaun-lich», warum sie die Erträge der Privatwirt-schaft als «private Aneignung von Profiten»und warum sie, was andere Arbeitsbeschaffungnennen, als «Beanspruchung» von Arbeitslei-stung der Gesellschaft bezeichnen.

Wenn - um auf den gleichen, willkürlichherausgegriffenen Seiten (197/8) zu bleiben -von der «sogenannten» freien Welt und von der«vermeintlichen» Bedrohung durch das feindli-che System die Rede ist, geschieht dies wohl imBestreben, sich von einer allzu geläufigen com-munis opinio zu lösen. Wir müssen uns aber fra-gen, inwiefern solche Emanzipierungsversuchenicht zugunsten neuer Bindungen unternommenwerden, die als Prämissen ebenfalls explizit dar-gelegt werden sollten.

Gilgs und Hablützels interpretatorische Zu-griffe sind eine Herausforderung - eine begrüs-

senswerte Herausforderung, sofern es Dialog-partner gibt, die sich herausgefordert fühlen.Auffallenderweise fühlen sich Leser aber weni-ger durch diese Bearbeitung der jüngsten Zeitprovoziert als durch die von Hans Ulrich Jost imgleichen Werk gegebene Darstellung der Zeitvon 1914 bis 1945. Dies zeigt - und hier sind wirwieder an unserem Ausgangspunkt -, wie sehrdie ältere Zeitgeschichte noch immer dominiertund wie wichtig es wäre, dass auch der jüngerenZeitgeschichte ein Platz in unserem historischenBewusstsein eingeräumt würde.

Schule der Selbstdisziplin

Die grosse Gegenwartsnähe der jüngerenZeitgeschichte stellt höchste Ansprüche an dieHistoriker. Hans Rothfels hat schon 1953 vonder Zeitgeschichte gesagt, sie müsse beweisen,«dass mit der Nähe und stärkster Betroffenheitdurchaus ein Abstandnehmen von den Leiden-schaften des Tages sich verbinden lässt, ohnedeshalb zu relativistischer Skepsis zu führen».So besehen, ist die Zeitgeschichte in höchstemMasse eine Schule der Selbstdisziplin und alssolche von eminent politischer Bedeutung. Unddies wiederum ist der letzte, aber nicht der un-wichtigste Grund, der zeigt, wie nötig es ist,dass wir eine zeitgemässe Zeitgeschichte pfle-gen.

Kleine Einführungen ins TessinZwei neue Publikationen

rf. Dieses Jahr sind zwei Bändchen erschie-nen, die sich zur Einführung ins Tessin aufs an-genehmste ergänzen, obwohl dies gewiss nichtgeplant war. Beide sind schmal, erheben nichtden Anspruch, umfassend zu sein oder gar ge-wichtigere Werke wie die Tessin-Geschichte vonRossi und Pometta (1980 bei Armando Dandoneu aufgelegt, deutsch vergriffen) zu ersetzen.Aber sie haben den Vorzug, leichter greifbarund zu lesen zu sein.

Das eine dieser Bändchen heisst «Kleine Ge-schichte des Kantons Tessin» (Edizioni SanPietro, Ascona) und stammt aus der Feder des1977 verstorbenen Ernst Merz, eines Pfarrers,der sich nach S. Abbondio über dem Langenseezurückgezogen und dort auch einige Zeit, wäh-rend der Kriegsjahre, als Sindaco geamtet hatte.Heinrich Ammann hat eine Reihe historischerAufsätze von Merz, die in den fünfziger Jahrenim Winterthurer «Landboten» erschienen sind,zusammengestellt und zwei bisher unveröffent-lichte Manuskripte über die Jahre des Faschis-mus und über die Emigration hinzugefügt. Dieandere Broschüre ist in der Reihe erschienen,die die Schweizerische Bankgesellschaft den ein-zelnen Kantonen widmet, und zwar in deut-scher und in italienischer Sprache; als Verfasserzeichnen Thomas Lips und Gianni Moresi.

Die beiden Publikationen nun ergänzen sicheinmal dadurch, dass die eine vor allem derVergangenheit, die andere eher der Gegenwartgewidmet ist, zum anderen aber auch in ihremganz unterschiedlichen Vortrag. Die eine eignetsich trefflich, für eine besinnliche Lektüre in diePergola mitgenommen zu werden. Merz lässt,wie man so sagt, den Blick durch die weite Ge-schichte schweifen, liebt es, die Zeitläufte aneinzelnen Schicksalen oder Orten (was gleichAnregung zu einem kleinen Ausflug sein kann)sichtbar werden zu lassen, und lässt es sich nichtnehmen, wenn da schon von den Langobardenim Tessin die Rede ist, auch zu erzählen, wieKönig Alboin aus dem Schädel des erschlage-nen Schwiegervaters einen mit Silber beschlage-nen Pokal anfertigen und seine Gattin daraustrinken liess. In Nummer 92 der SBG-Schriftenzu Wirtschafts-, Bank- und Währungsfragenhingegen geht es naturgemäss nüchterner zu;hier herrschen Zahlen, Graphiken, Prozentevor, eingefügt aber in einen leserlichen undübersichtlich gegliederten Text.

Die kleine Tessiner Geschichte zieht also denweiten Bogen von der Zeit der Römer bis zur

Mitte unseres Jahrhunderts; sie zeichnet nach,wie der Wettbewerb zwischen den beiden Städ-ten Como und Mailand ins Tessin ausstrahlte,und zeigt auch, wie das Tessin in das Kräftefeldvon Süd und Nord eingespannt ist, wie bei-spielsweise die Christianisierung der Alpentälervon Norden her dauernde Bindungen an dieBündner Klöster zur Folge hatte oder hinter derGegenreformation des Mailänder ErzbischofsBorromeo auch ein sprach- und kulturpoliti-sches Engagement vermutet werden kann. DerLeser wird daran erinnert, wie der Bund von1291 Vorläufer in Freiheitsbewegungen südlichder Alpen hatte, etwa in Torre oder Biasca. Hatman so sich die Geschichte wieder gehörig inErinnerung rufen lassen, wird man auch im an-deren Büchlein keinen Schaden nehmen an derWendung, dass das Schicksal des Tessins «bisins 12. Jahrhundert eng mit jenem der Lombar-dei verbunden» geblieben sei.

Tatsächlich aber ist die Broschüre der SBGkeineswegs eingleisig abgefasst. Sie versucht,ein differenziertes Bild der facettenreichenWirklichkeit des Tessins zu geben, und auch dasKapitel, das mit «Finanzplatz: Konsolidierungnach dem Boom» überschrieben ist und demTessin in dieser Publikationsreihe wohl Prioritätverschafft hat, ist angesichts der Bedeutung die-ser Sparte für das Tessin keineswegs zu grossgeraten ; das Tessin rangiert weit oben auf derListe der Finanzplätze, und nirgends ist der An-teil der Beschäftigten im Bankensektor so gross

wie in Lugano (12 Prozent). Nach der anfäng-

lich raschen Expansion (stark durch die ungün-stigen Verhältnisse in Italien bedingt) mit ihrenoft wenig erfreulichen Begleiterscheinungen -das die Quintessenz dieses Abschnittes - hat derFinanzplatz Tessin eine eigenständige und brei-ter gelagerte Dynamik entwickelt, so dass Re-striktionsmassnahmen und gebremster Kapital-zustrom ihm den Schwung nicht nehmen konn-ten. Gerade die wirtschaftliche Ausrichtung derBroschüre ist geeignet, ein allzu idyllisches Bildvom Tessin zu korrigieren und etwa bewusstzu-machen, dass es diese «Sonnenstube» ihren Be-wohnern keineswegs leichtgemacht hat. DerUmschlag vom Auswanderungs- zum Einwan-derungsgebiet in den sechziger Jahren, die Ag-glomerationstendenz, die Überalterung, dieGrenzgänger, der Wechsel von der Agrar- zurDienstleistungsgesellschaft machen viele Sorgenverständlicher, mit denen dieser Kanton heutezu kämpfen hat.

Neue Zürcher Zeitung vom 17.08.1985