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7 Armen Avanessian Form – Singularität, Dynamik, Politik »Aurai-je encore besoin des formes?« (Matisse) 1 Diese von Matisse im Jahr 1942 notierte Selbstreflexion ist nur ein, wenn auch besonders prägnantes, Beispiel für eine künstlerische und kunsttheoretische Hinterfragung von Form, die sich in den darauf folgenden Jahrzehnten noch weiter intensivieren sollte. Lassen sich Problematisierungen der Form für den gesamten Zeitraum der Moderne belegen, so ist speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine teilweise inflationäre Zunahme an kritischen Distanzierun- gen von Formen zu beobachten. Blickt man auf diese neuere Entwicklung des Formdenkens, lässt sich grob ein bestimmtes Schema ausmachen. Auf der einen Seite finden sich, als Residuen einer revolutionären Rhetorik, so zentrale Topoi wie Auflösung, Öffnung, Bruch. Und auf der anderen Seite steht, zu deren Plausi- bilisierung, die Projektion eines negativ konnotierten Formbegriffs als Synonym erstarrter gesellschaftlicher und künstlerischer Verhältnisse. Aus zahlreichen Gründen sind solche vorschnellen Dementis der Form zu hin- terfragen. Dabei sind es vornehmlich zwei Motivationen, die eine theoretische Neuvermessung des Formbegriffs geboten erscheinen lassen. Ein erster Anspruch besteht darin, der Auffassung von Form als ›erstarrter‹ zu widersprechen. Jede Theoretisierung von Kunst, die sich für den temporalen Vollzugsmodus ihrer rezeptiven Erfahrung interessiert, gewärtigt noch in den am strengsten formali- sierten Kunstwerken eine diesen eigene dynamische Disposition. Schon allein die durch sie ausgelöste Erfahrungsdimension macht singuläre Kunstwerke immer auch zu dynamischen. Daraus folgt zunächst, dass auch ein singulärer Form- und Werkbegriff nur mittels des mit ihm verschränkten Aspekts von Dynamisierung zu verstehen ist. Für den ästhetischen Formbegriff bestätigt sich damit eine oft vergessene Einsicht der philosophischen Tradition. Diese hatte den Begriff des Singulären (bzw. Individuellen) zwar als Gegensatz zu Universellem angesetzt, nicht jedoch – wie das in der Kunsttheorie der Moderne und ihren leichtfertigen Gegenüberstellungen von einzigartigen Kunstwerken und statischer Form oft missverständlich geschieht – als statischen Gegenbegriff zu Dynamik. Diesem Wechselverhältnis folgt auch die Gliederung des vorliegenden Sammel- bandes, auf dessen einzelne Beiträge hier in den Fußnoten verwiesen wird: Die in den beiden ersten Sektionen des Bandes getrennten Aspekte von Singularität (Sektion 1) und Dynamik (Sektion 2) sind zwei einander nicht zuwiderlaufende, sondern miteinander verschränkte Aspekte von Form. Erst aus dem historisch je 1. Zitiert nach Eric Alliez; Jean-Claude Bonne: La Pensée-Matisse. Portrait de l’artiste en hyperfauve, Paris 2005, S. 9.

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armen avanessian Form – Singularität, dynamik, Politik

»Aurai-je encore besoin des formes?«(Matisse)1

Diese von Matisse im Jahr 1942 notierte Selbstreflexion ist nur ein, wenn auch besonders prägnantes, Beispiel für eine künstlerische und kunsttheoretische Hinterfragung von Form, die sich in den darauf folgenden Jahrzehnten noch weiter intensivieren sollte. Lassen sich Problematisierungen der Form für den gesamten Zeitraum der Moderne belegen, so ist speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine teilweise inflationäre Zunahme an kritischen Distanzierun-gen von Formen zu beobachten. Blickt man auf diese neuere Entwicklung des Formdenkens, lässt sich grob ein bestimmtes Schema ausmachen. Auf der einen Seite finden sich, als Residuen einer revolutionären Rhetorik, so zentrale Topoi wie Auflösung, Öffnung, Bruch. Und auf der anderen Seite steht, zu deren Plausi-bilisierung, die Projektion eines negativ konnotierten Formbegriffs als Synonym erstarrter gesellschaftlicher und künstlerischer Verhältnisse.

Aus zahlreichen Gründen sind solche vorschnellen Dementis der Form zu hin-terfragen. Dabei sind es vornehmlich zwei Motivationen, die eine theoretische Neuvermessung des Formbegriffs geboten erscheinen lassen. Ein erster Anspruch besteht darin, der Auffassung von Form als ›erstarrter‹ zu widersprechen. Jede Theoretisierung von Kunst, die sich für den temporalen Vollzugsmodus ihrer rezeptiven Erfahrung interessiert, gewärtigt noch in den am strengsten formali-sierten Kunstwerken eine diesen eigene dynamische Disposition. Schon allein die durch sie ausgelöste Erfahrungsdimension macht singuläre Kunstwerke immer auch zu dynamischen. Daraus folgt zunächst, dass auch ein singulärer Form- und Werkbegriff nur mittels des mit ihm verschränkten Aspekts von Dynamisierung zu verstehen ist. Für den ästhetischen Formbegriff bestätigt sich damit eine oft vergessene Einsicht der philosophischen Tradition. Diese hatte den Begriff des Singulären (bzw. Individuellen) zwar als Gegensatz zu Universellem angesetzt, nicht jedoch – wie das in der Kunsttheorie der Moderne und ihren leichtfertigen Gegenüberstellungen von einzigartigen Kunstwerken und statischer Form oft missverständlich geschieht – als statischen Gegenbegriff zu Dynamik.

Diesem Wechselverhältnis folgt auch die Gliederung des vorliegenden Sammel-bandes, auf dessen einzelne Beiträge hier in den Fußnoten verwiesen wird: Die in den beiden ersten Sektionen des Bandes getrennten Aspekte von Singularität (Sektion 1) und Dynamik (Sektion 2) sind zwei einander nicht zuwiderlaufende, sondern miteinander verschränkte Aspekte von Form. Erst aus dem historisch je

1. Zitiert nach Eric Alliez; Jean-Claude Bonne: La Pensée-Matisse. Portrait de l’artiste en hyperfauve, Paris 2005, S. 9.

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differierenden Zusammenspiel dieser beiden Pole lassen sich auch Versuche zu Entgrenzungen der Form genauer nachvollziehen (Sektion 3: Politik der Form).

Eine zweite Notwendigkeit, Form neu zu verhandeln, ergibt sich aus dem Fokus auf die Ästhetik und künstlerische Praxis der Moderne, und hier speziell auf die Entgrenzungen zwischen den Künsten sowie deren erfahrungstheoretische Di-mension. Hier ermöglicht der Formbegriff wie kaum ein anderes Konzept eine Zusammenführung von sonst nur schwer zur Deckung zu bringenden Untersu-chungsgegenständen. Zum einen nämlich lassen sich künstlerische Theorie und Praxis anhand von Form parallel diskutieren. Zum anderen leistet der Form-begriff eine Engführung der beiden für die Disziplin der Ästhetik konstitutiven Wissensfelder: Theorien (der Produktion und Beurteilung) von unterschied-lichen Künsten einerseits und Lehre von deren Wahrnehmung und Rezeption andererseits.

Diese ersten Andeutungen mögen erklären, warum das Formproblem das ge-samte 20. Jahrhundert hindurch virulent bleibt. Das zeigen insbesondere die zahlreichen Versuche einer forcierten Redefinition oder gar Abschaffung von Form. Immer wieder erweist sich dabei, dass selbst emphatische Verabschie-dungen eines aus der jeweiligen Sicht falschen Formverständnisses sich sofort wieder mit einer emphatischen Anrufung von Formprozessen verbinden. Zuletzt hat Alain Badiou Le Siècle, das zwanzigste, gerade anhand einer diesbezüglichen utopischen Hoffnung charakterisiert: »Denn im Grunde ist die Formalisierung die große vereinheitlichende Macht in den Versuchen des Jahrhunderts, von der Mathematik (die formalen Logiken) über die Kunst […] bis hin zur Politik«.2 Allerdings stehen in diesem Band weniger die Formalisierungsprojekte der Mo-derne im Zentrum des Interesses, sondern Fragen nach der Formbildung, also nach Formation und Formatierung von Gattungen und Kunstwerken ebenso wie von deren Rezipienten. Wenn ein bestimmendes Charakteristikum von Form in dem hier untersuchten Zeitraum (ab Mitte des 18. Jahrhunderts) in der ihr eigentümlichen Prozessualität liegt, dann ist damit zweierlei gemeint: einerseits konkrete künstlerische Praktiken und Prozeduren, andererseits diesen voraus-liegende Anordnungsbestimmungen und regulative Ordnungen. Auch formlos und chaotisch scheinenden Kunstwerken liegen stets, seien es auch nur schwa-che, formale Vorgaben zugrunde.

Die Rede von der Prozessualität der Form spielt nicht nur auf eine verfahrens-technische Dimension an, sondern auch auf die juridische Bedeutung des Wortes ›Prozess‹. Einerseits wird mit Form ins Gericht gegangen, wird ihr der Prozess ge-macht, um andererseits immer wieder ihre Bedeutung und ihren Gehalt als pro-zessual neu zu verstehen. Deswegen auch gehen neue, andere und gegen frühere Formvorstellungen gerichtete Formexperimente stets einher mit konzeptuellen Anstrengungen, Form anders auf den Begriff zu bringen (von Friedrich Schlegels ›Antiform‹ bis Batailles ›informe‹). Immer schon, so könnte man sagen, ist die

2. Alain Badiou (Das Jahrhundert, Berlin 2006, S. 195) versteht »›Form‹ in der ›Formalisie-rung‹ nicht in Opposition zu ›Materie‹ oder ›Inhalt‹«, sondern als »eine in ihrem materiellen Indiz gegebene Idee, die nur durch die reale Einwirkung eines Akts aktivierbar ist«.

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(moderne) Ästhetik auf dem Weg zu dem ihr entsprechenden Formbegriff – und immer liegt darin auch der Versuch einer Verabschiedung der Form, einer Be-wegung weg von der Form. Die Frage jedoch, wodurch sich jene unermüdlich beschworene Kontrastfolie eines ›traditionellen Formverständnisses‹ auszeich-net, ist ebenso schwierig zu beantworten wie die mit ihr verwandte Frage, wie denn jener oft leichtfertig als Antipode postulierte metaphysische Formbegriff zu bestimmen wäre.3

Historisch ist der Formbegriff in Beziehung zu einer Vielzahl von Gegenbegrif-fen wie ›Materie‹, ›Stoff‹, ›Bedeutung‹ oder ›Zweck‹ gedacht worden. Durchge-hend gilt, dass Form nur aus einer doppelten Differenz heraus zu verstehen ist: in diachroner Differenz zu diesen ihren historisch unterschiedlichen Konjunkturen unterworfenen Gegenpolen und in synchroner Differenz zu den daraus resultie-renden miteinander konkurrierenden Formbegriffen. Ein präzises Verständnis der historisch unterschiedlichen und disjunkten Formkonzepte kann sich aber nicht mit einer Einsicht in ihre jeweiligen begrifflichen Gegenpole begnügen. Zu bedenken ist immer auch die Art und Weise, wie sich die Bezüge von ›Form und‹ ihrem jeweiligen Anderen ausprägen: als Gegensatzverhältnis, als ein Oszillieren zwischen dynamisch aufeinander bezogenen Polen, als unterschiedliche Aspekte innerhalb eines autopoietischen Systemzusammenhangs. Am ehesten lässt sich die Absetzung moderner Konzeptionen von früheren Formtheorien vielleicht anhand dieses letzten, für die ästhetische Moderne spezifischen logischen Be-zugs zu dem jeweiligen Gegenpol verstehen. Exemplarisch ausgedrückt wird diese Logik etwa in Panofskys ontologischer und methodischer Definition des Kunstwerks als »lebendige Wechselwirkung […] zwischen ›Form‹ und ›Fülle‹« und »Auseinandersetzung zwischen ›Zeit‹ und ›Raum‹«.4 Aus den zunehmend in spannungsgeladener oszillatorischer Bewegung gedachten Formkonzepten wer-den auch historische Konjunkturen einzelner ›Form-und‹-Konstellationen, also von Form und jeweils anderen mit ihr liierten Kontrastpartnern, verständlich. Obwohl etwa noch Adornos geschichtsphilosophisch kodierter Formalismus diese als »sedimentierte[n] Inhalt«5 denkt, lässt sich insgesamt doch seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine ästhetische Ablösung von der Opposition Form/Inhalt zugunsten einer Form/Materie-Dialektik beobachten. Was dabei, in den Worten von Hegels Wissenschaft der Logik, deutlich wird, ist ein dialektisches Wechsel-verhältnis: »Die Materie muß daher formiert werden, und die Form muß sich materialisieren«.6

3. Vgl. dazu in diesem Band exemplarisch Marcus Coelens Relektüre des neuplatonischen Formdenkens Plotins.4. Erwin Panofsky: »Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit ›kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe‹«, in: ders.: Deutschsprachige Aufsätze 2, Berlin 1998, S. 1035–1063, hier: S. 1037.5. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 15; vgl. dazu auch Konrad Paul Liessmann: »Form als Sediment. Über Kunst als antiformaler Formalismus«, in: Eveline List; Martin Strauss (Hg.): Form in der Gegenwartskunst, Wien 1999, S. 134–143, hier: S. 134.6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik 2, in: Werke, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, S. 90.

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Am prägnantesten findet sich diese neue Einsicht vielleicht formuliert in einer selbstkritischen Reflexion Novalis’. In seiner Auseinandersetzung mit Kant und Fichte entwickelt er 1795 eine Ordo-inversus-Lehre und notiert: »Das war ein fal-scher Begriff, daß du die Form zur Antithese, den Stoff zur These machtest«.7 Gewiss hatte bereits die Aristoteles folgende hylemorphistische Tradition Stoff und Form als sich gegenseitig bedingend betrachtet. Erst mit der Renaissance je-doch treten Fragen nach einer aktiven (künstlerischen) Formung hervor, wie sie in doppelter Weise noch aus Panofskys Formulierung einer ›lebendigen Wech-selseitigkeit‹ spricht: als Frage nach der Form als generativem Prinzip sowie nach ihren materiellen Entstehungsbedingungen selbst. Erst auf dieser formästheti-schen Basis wird es möglich, über die abstrakte Gegensätzlichkeit von Forma-lismus und Materialismus hinauszugehen. In den Blick kommen damit Fragen nach den materiellen Substraten formaler Verfahrensweisen ebenso wie nach den materialen Dispositionen und Konsequenzen von Formen in unterschiedlichen Künsten.

Ebenfalls schon bei Hegel finden sich auch jene von Luhmann später als ›Pa-radoxie der Form‹ bezeichneten Wesensbestimmungen: »Die Form bestimmt das Wesen heißt also, die Form in ihrem Unterscheiden hebt dies Unterscheiden selbst auf und ist die Identität mit sich, welche das Wesen als das Bestehen der Be-stimmung ist«.8 Das re-entry9 in sich selber erweist sich nicht nur in künstlerisch je unterschiedlichen ›generischen Formen‹, also Formen, die sowohl Ursache als auch Resultat materialer Verfahrensweisen in unterschiedlichen Kunstfeldern sind. Dieses epistemologische Münchhausenprinzip der Form zeigt sich zu-gleich an ihrer plastischen Kapazität in (der Verbindung von) unterschiedlichen Wissen schaftsdisziplinen oder Wissensfeldern. Ohne Dirk Baeckers schematisch formulierte These übernehmen zu müssen, wonach das in Spencer Browns Laws of Form (1969) entwickelte logische Grundschema den Formbegriff »aus den Differenzsetzungen zu Materie, Substanz und Inhalt, die er in der aristotelischen, scholastischen und ästhetischen Tradition hat«,10 endgültig gelöst hätte, ist doch die Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexivität des Formbegriffs als Voraussetzung seiner Anwendbarkeit und Offenheit für soziale (Kommunikations-)Phänomene festzuhalten. Ebenso haben neuere biologische Überlegungen zum Thema in die-sem Sinne versucht, einen »reine[n] Begriff der Form« vor dem »verkürzenden Gebrauch […] dieses Begriffs im hylemorphischen Schema« zu retten.11

7. Novalis: Das philosophische Werk I, in: Schriften, Bd. 2, hg. von Richard Samuel, Stutt-gart, Berlin, Köln, Mainz 1981, S. 130.8. Hegel: Wissenschaft der Logik 2, a.a.O., S. 87.9. Zum systemtheoretischen Formbegriff vgl. in diesem Band den Beitrag von Benjamin Wihstutz.10. Dirk Baecker: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt am Main 1993, S. 9–21, hier: S. 14.11. Gilbert Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, in: Claudia Blümle; Armin Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Zürich, Berlin 2007, S. 29–45, hier: S. 44. Eine doppelte raumzeitliche Lesart des biologischen Formbegriffs hat Viktor von Weizsäcker in seiner Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen vorgeschlagen: In »räumlicher Hinsicht« sei Form zu verstehen als »Ort der Begeg-

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Am deutlichsten jedoch erweist sich diese artikulierende Kapazität von Form angesichts heterogener Wissensformationen für die konstitutiven Wissensberei-che der Disziplin Ästhetik.

aisthesis und kunsttheorie

Trotz der fortwährend postulierten Krise des Formbegriffs, die sich entsprechend in einer Konjunktur alternativer Begriffe wie ›Prozess‹, ›Offenheit‹, ›Netz‹ oder ›Struktur‹ manifestiert, die allesamt mit dem Anspruch auftreten, eine abstrakte Form/Inhalt-Opposition zu unterlaufen, ist der Formbegriff nicht zu ersetzen. Dem künstlerischen Bedürfnis nach Form entspricht ein anhaltendes theoreti-sches Begehren, sie endgültig auf den Begriff zu bringen. Dass der Formbegriff von den Künsten schlechterdings nicht abzuziehen ist und sich auch ästhetisch als unverzichtbar erweist, liegt nicht zuletzt in seiner Fähigkeit, die zwei in die Konstitutionszeit von Ästhetik zurückführenden Fundamente der Disziplin (stets wieder) zu verbinden. Konkrete raumzeitliche Formen – egal ob einzelne Kunstwerke oder ganze Chronotopoi – sind die Reflexionsmedien, in denen sich die wahrnehmungs- und kunsttheoretischen Aspekte ästhetischer Phänomene analytisch ausdifferenzieren und synthetisch zusammen denken lassen.

Diese ästhetische Zweiseitigkeit der Form trat erstmals mit Kants transzenden-taler Wende und der auf sie im 19. Jahrhundert folgenden empirischen Auslegung der Formen der Anschauung in der Wahrnehmungspsychologie und -physiologie in den Vordergrund. Die aus diesen neuen Wissenschaftsdisziplinen resultieren-den Einsichten in die Modulier- und Gestaltbarkeit von Wahrnehmungsformen opponierten nicht zuletzt der von Lessing versuchten semiotischen Ausdiffe-renzierung von Raum- und Zeitkünsten. Und analog der Beziehung von Kunst-objekten zur Welt und deren Wahrnehmung wandelt sich auch das Verständnis werk- und rezeptionsästhetischer Zusammenhänge, deren Ineinanderspiel eine Voraussetzung jeder ästhetischen Erfahrung ist. Die Spaltung in zwei oft kommu-nikationslos nebeneinander verlaufende Traditionslinien von Ästhetik, also von Aisthetik und Kunsttheorie, lässt sich zurückverfolgen bis zu ihrem neben Baum-garten ursprünglichen Erfinder. Schon bei Kant findet sich ›Ästhetik‹ in zweifa-cher Bedeutung: einerseits als Lehre von den Formen der Anschauung Raum und Zeit (in der Kritik der reinen Vernunft) und andererseits wenn auch nicht mehr als kunsttheoretische Geschmackslehre, so doch als Lehre von den ästhetischen Urteilen (in der Kritik der Urteilskraft). Auch oder gerade weil Kant diese beiden Konzeptionen nicht ausreichend vermittelt, das heißt kunsttheoretisch fruchtbar gemacht hat, wurde in der Folge immer wieder die Frage nach der Möglichkeit

nung von Organismus und Umwelt« und zeitlich »als Genese jeweiliger Gegenwart« (Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. von Peter Achilles; Dieter Janz; Martin Schrenk, Frankfurt am Main 1997, S. 264f.). Zum Zusammenhang von biologischem und ästhetischem Lebens- und Formbegriff vgl. in diesem Band den Beitrag von Jan Völker.

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einer Verbindung zwischen erkenntnistheoretischer ›reiner Form der Anschau-ung‹ einerseits und ästhetischer ›Anschauung der Form‹ andererseits virulent.

Für die Kunst der Moderne kann nun von einer disjunktiven Synthese dieser beiden Ansätze gesprochen werden: Der nunmehr relevante Formbegriff ist äs-thetisch, aber er ist dies nicht mehr im Sinne schöner Formen. Die weitreichende und anhaltende ästhetische Relevanz von Form in der Moderne erschließt sich am ehesten, wenn diese nicht mehr nur als sinnlich wahrnehmbare Kategorie – als Kontur, Umriss oder Gestalt – verstanden wird. Letzteres war gleichwohl die Herangehensweise einer langen neukantianisch informierten Tradition in phä-nomenologischen Überlegungen zu Umriss und Kontur12 oder namentlich in der Gestaltpsychologie. Überhaupt lässt sich gegen die auch musikpsychologisch dominante Position des Neukantianismus – von Helmholtz’ Physiologie des Hör-sinns bis zu Riemanns Musiktheorie13 – und der Konzeption einer kategorialen Formung von passiver Empfindungsmaterie oder gegen Hanslicks Idee eines for-malen Komponierens als »Arbeiten des Geistes im geistfähigen Material«14 an frühe anthropologische Thesen von deren methodischem Gründervater selber anschließen. Auch kunsttheoretisch relevant heißt es in Kants frühen, raumzeit- und geschmackstheoretische Fragen verbindenden Überlegungen,15 dass »zur Gestalt […] nicht blos die Form des Gegenstandes nach Verhältnissen des Rau-mes in der Erscheinung [gehöret], sondern auch die Materie, d. i. Empfindung (Farbe)«.16

12. So noch bei Bernhard Waldenfels (Vielstimmigkeit der Rede, in: Studien zur Phänome-nologie des Fremden, Bd. 4, Frankfurt am Main 1999, S. 202): »Konturen spielen eine ent-scheidende Rolle bei der Herausbildung dinglicher Strukturen. Konturen sind Umrisse der Dinge, in die das Ding eingeschlossen ist und mit dem es an anderes grenzt, sich mehr oder weniger deutlich von anderen abhebt. Diese sinnliche Form der Abgrenzung ist abermals zu unterscheiden von der definitorischen Bestimmung der Dinge mittels bestimmter Merkmale bzw. sprachlicher Prädikate.«13. Vgl. dazu Carl Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Grundzüge einer Systematik, Darmstadt 1984, S. 54f. 14. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854, Darmstadt 1981, S. 35 (vgl. auch Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1987, S. 111f.).15. Kant hatte lange vor der Publikation seiner offiziellen Ästhetik über einen möglichen Zusammenhang zwischen Geschmackslehre und Raum- und Zeitlehre nachgedacht. Das zei-gen vor allem seine handschriftlichen Reflexionen zur Anthropologie. Die zentrale Aussage (vgl. speziell im Abschnitt »Vom Gefühl für das Schöne, d. i. der theils sinnlichen, theils in-tellectualen Lust in der reflectirten Anschauung oder dem Geschmack. Von der Originalität des Erkenntnisvermögens oder dem Genie«, in: Immanuel Kant: Handschriftlicher Nachlaß. Anthropologie, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XV, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907ff., S. 284.) lautet dort: »Der Geschmack in der Erscheinung gründet sich auf die Verhaltnisse des Raumes und der Zeit«. Die allen Erschei-nungen gemeinsame »Form«, und hier ist nicht zwischen ästhetischer und Anschauungs-form unterschieden, »wird auch nach gemeinschaftlichen Regeln der coordination erkannt; was also der Regel der Coordination in Raum und Zeit gemäß ist, dass gefält nothwendig iederman und ist schön« (ebd., S. 298).16. Kant: Reflexionen zur Anthropologie, in: Kant’s gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. XV, S. 276.

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Sebastian Egenhofer zufolge lassen sich folgende »Grundparameter der kan-tischen Ontologie« für Erfahrungsobjekte generell wie im Speziellen für Kunst-werke behaupten: die mathematische Synthesis ihrer »räumlich gegenwärtigen Form und jetzt gegebenen sinnlichen Qualitäten (Farbe, Dichte, Temperatur etc.)« und die dynamische Synthesis in der Zeit (qua Momentaufnahme eines »allgemeinen Prozess[es] der materiellen Transformation«).17 Was Egenhofer als Aspekt der »Formung« minimalistischer Kunstwerke Donald Judds konzeptua-lisiert, das hat Rodolphe Gasché an Kants Wiederaufnahme des antiken rheto-rischen Konzepts der »Hypotypose« herausgearbeitet. Meint diese in der rheto-rischen Tradition ein sinnliches Vor-Augen-Stellen der Erscheinungsform von Dingen, so bezeichnet sie in Aristoteles’ Metaphysik (1028b, 31f.) »weniger einen unklaren bloßen Umriß oder ein unbestimmtes, skizzenhaftes Schema«, sondern eher das, »was das Wesen selbst formt, gestaltet oder prägt«.18

Will man angesichts der allgegenwärtigen Dynamisierung und Auflösung künstlerischer Formen an einem Begriff singulärer Form festhalten, dann ist der Rekurs auf einen solchen nicht mehr gegenständlich gedachten Formbegriff un-umgänglich. Einer der philosophischen Versuche, einen solchen nichtsinnlichen, abstrakten Formationsbegriff zu denken, lässt sich bei Kant ausweisen. Seine kritischen Überlegungen zu einer ›bloßen Form‹ ästhetisch singulärer Ereignisse lassen sich nicht auf eine Theorie sinnlich (wahrnehmbarer) schöner Formen re-duzieren, sondern zielen auf die Präsentationsbedingungen von Dingen. Kants ›bloße Form‹ verweist auf eine formgebende Kapazität, auf die Transformation von Formlosem in Form. Ein solcher singularisierender Formbegriff gibt nicht die Gestalt von Dingen vor, sondern setzt ein auf der Ebene ihrer Gestaltbar-keit überhaupt: »›Mere form‹ concerns […] the possibility of being given in a representation«.19

Diese abstrakt-philosophischen Fragestellungen über nichtgegenständliche Formkonzepte finden sich auch in konkreten kunsthistorischen Überlegungen. So hat es immer wieder – symptomatischerweise auch Panofskys neukantiani-scher ›symbolischer Form‹ opponierende – Versuche gegeben, ein allgemeines Kunstwollen auch als psychologische und raumzeitliche Kategorie zu verstehen. Wolfgang Kemp hat darauf hingewiesen, inwiefern bereits Alois Riegls ›Kunst-wollen‹ als ein »visuelles Regime«,20 als regulative Matrix einer Epoche verstan-

17. Sebastian Egenhofer: Abstraktion. Kapitalismus. Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werkes in der Moderne, Paderborn 2008, S. 217; Egenhofer argumentiert hier mit Blick auf Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1, in: Werkausgabe, Bd. 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, A 158ff./B 197f.18. Rodolphe Gasché: »Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main 1994, S. 152–174, hier: S. 158.19. Rodolphe Gasché: The Idea of Form. Rethinking Kant’s Aesthetics, Stanford 2003, S. 87. Vgl. dazu auch den Beitrag Gaschés in diesem Band.20. »Artistic volition (Kunstwollen […]) is not – as is often fallaciously supposed – a creative instinct that slumbers in the obscure depths of nations and times: it operates by schooling and gratifying the eye, and it constitutes the ›visual regime‹ of an age.« (Wolfgang Kemp: »Introduction«, in: Alois Riegl: The Group Portraiture of Holland, Los Angeles 1999, S. 1–57, hier: S. 3.)

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den werden kann. Wilhelm Worringer entdeckt dann in seinen Analysen zur go-tischen Kunst eine nichtfigurative, abstrakt-expressive »Linie, die keine Funktion als Kontur übernimmt«.21 Nach deren Modell und unter der strikt kantianischen Grundannahme, dass eine Ästhetik immer nur Ästhetik der Form sein könne, hat Worringer auch von einem »apriorischen Formwillen«22 gesprochen, der allen konkreten Formpraktiken quasi formatierend zugrunde liege. Und Otto Pächt, um noch einen Vertreter der Wiener Schule anzuführen, hat an der Linienform mittelalterlicher Buchmalerei eine »entfesselte […] Dynamik« beobachtet, wel-che die Trennung von Schrift und Bild unterwandert und die »organische Form in Fluß«23 kommen lässt. Auch diese oft als abstrakt titulierte ornamentale Linien-form ist anschlussfähig an Zentralbegriffe schon der frühromantischen Ästhetik wie die ›Arabeske‹ und verweist zugleich auf die zeitgenössische und zukünftige künstlerische Abstraktion. Was sich zeigt, ist ein künstlerischer und kunsttheo-retischer Formbegriff, der statt auf einen Gegensatz von Form und Materie eher auf eine materielle Produktivität künstlerischer Formen setzt. Als theoretisch wie praktisch entscheidend ist festzuhalten, dass gerade die Entsinnlichung, die Gestaltlosigkeit einer solchen Form, ihre morphogenetische Produktivität in je unterschiedlichen künstlerischen Materialien gewährleistet.

Um jeweils singuläre Formgebungsprozesse handelt es sich dabei in mehr facher Hinsicht. Die von Kant ursprünglich an singulären, also begrifflos, beurteilten Naturobjekten entwickelte transzendentalästhetische Formtheorie hat bis heute, also bis in das postkonzeptuelle Zeitalter einer neuen Gegenständlichkeit kunst-theoretische Plausibilität. Selbst dort, wo man mit Thierry de Duve Kant after Duchamp liest, also das Urteil »this is beautiful« durch »this is art«24 ersetzt, erweist sich die Relevanz singulärer Form. Die aktuelle Frage gilt nunmehr der Konsequenz für unseren Begriff von Kunst, wenn künstlerische Werke nicht mehr einfach als Beispiele der traditionellen Kunstgattungen gelten können, sondern zunehmend als je singuläre Formen auftreten, die Gattungen sowohl begründen wie in sich aufheben. Neben der Möglichkeit, aisthetische und kunsttheoretische Aspekte zu verknüpfen, erweist sich der Formbegriff nämlich auch gattungs-theoretisch als in doppelter Weise von Bedeutung. An Gattungen und Genres ist neben ihrer vereinheitlichenden Tendenz zur Grenzbestimmung ebenso ein dy-namischer und entgrenzender Aspekt zu betonen.25 Will man ihre Regelsysteme verstehen, dann sind die beiden korrelierenden Verfahrensweisen ästhetischer Form, Dynamisierung und zunächst Singularisierung, genauer zu bestimmen.

21. Vgl. Claudia Blümle; Armin Schäfer: »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung«, in: Blümle; Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur, a.a.O., S. 9–28, hier: S. 20; Vgl. im selben Band auch Claudia Öhlschläger: »Geistige Raumscheu. Bemerkungen zu Wilhelm Worringers An-thropologie der Abstraktion«, S. 93–114.22. Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik, München 1912, S. 42.23. Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, München 1984, S. 138.24. Thierry de Duve: Kant after Duchamp, Cambridge, Massachusetts, London 1996, S. 314.25. Vgl. in diesem Zusammenhag den Beitrag von Barbara Naumann.

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Singularität: Werke und gattungen

Einsicht in die ästhetische Singularität von Form lässt sich von drei Seiten ge-winnen: erstens in der kantischen Bedeutung einer Singularität des (begriff losen) Geschmacksurteils als Bestandteil jeder ästhetischen Erfahrung; zweitens als Kapazität von Kunstwerken, raumzeitlich singuläre Ereignisse und Performan-zen zu produzieren, die, ohne verallgemeinerbar zu sein, doch umfassende Gül-tigkeit beanspruchen; drittens unterstreicht der Begriff des Singulären die Tat-sache, dass künstlerische Werke schon längst nicht mehr einfach als Beispiele der traditionellen Kunstgattungen gelten können. Vielmehr sind Kunstwerke je singuläre Formen, die Gattungen und kunstwissenschaftliche Disziplinen sowohl begründen als auch in sich aufheben. Das impliziert eine dementsprechende epistemische Verfasstheit des Kunstfelds. »Das ästhetische Regime der Künste bestätigt die absolute Besonderheit der Kunst [singularité de l’art]«, so Jacques Rancière, »und befreit diese Kunst von jeder spezifischen Regel und Hierarchie der Gegenstände, Gattungen und Künste«.26 Singularität erweist sich so in einer doppelten und scheinbar widersprüchlichen Prozessualität. Der Exzessivität sin-gulärer Objekte oder Ereignisse, ihrer gemeinhin mit Formlosigkeit assoziierten Überschüssigkeit, steht ein (qua Verfahrensweisen und Ordnungen) formatie-render Aspekt gegenüber. Singularität und Dynamik sind so verstanden nur zwei intrinsisch miteinander verbundene operative Attribute von Form und wohlver-standen keine Eigenschaften von Dingen. In Abwandlung von Jean-Luc Nancys Formel ›être singulier pluriel‹ lässt sich die »Ipseität«27 und kontradiktorische Äquivalenz ästhetischer Formen umschreiben als: ›singulär dynamisch sein‹.

An zwei prominenten literarischen Gattungen des 19. Jahrhunderts, der No-velle und dem Roman, lassen sich die beiden konstitutiven Funktionen ästhe-tischer Form besonders deutlich nachzeichnen. Im Fall der Novelle kann von ›formbildender Singularität‹ insofern gesprochen werden, als es stets eine nicht-repräsentierbare und nichterzählbare ›unerhörte Begebenheit‹ (Goethe) ist, die die Narration motiviert und vorantreibt. Dass der Gegenstand der Novelle eine solche singuläre Zeitlichkeit ist – gemäß Badious Definition ist ein Term »be-sonders (singulär) […], der präsentiert, aber nicht repräsentiert wird«28 –, hat sich auch grammatisch sedimentiert. Die französische Novellistik hat dafür sogar ein singuläres grammatisches Tempus, das sogenannte imparfait de rupture, zur Behandlung eines punktuellen Vorgangs hervorgebracht.29 Was die Novelle also formt, was ihre singuläre Gattungsform bestimmt, sind jeweils singuläre Ereig-nisse.30

26. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Parado-xien, Berlin 2006, S. 40. 27. Dies im Gegensatz zu den Künsten im Allgemeinen, die durchaus als »plurale Singulari-täten« zu fassen sind; vgl. Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin 2004, S. 37 und S. 57f.28. Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005, S. 119.29. Vgl. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München 2001, S. 135.30. Das zeigt Andreas Gailus in diesem Band speziell für die deutsche Novelle des 19. Jahr-hunderts.

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Um eine andere Performanz von Singularität handelt es sich bei der »Dissonanz der Romanform«, die Georg Lukács zufolge aus dem »Nichthineingehen-Wollen der Sinnesimmanenz in das empirische Leben«31 resultiert. Als formkonstitutiv für ihrem Anspruch nach singuläre, genrebegründende und -beendenwollende Romane erweisen sich hier umgekehrt Kriterien, die bei flüchtigem Blick als Ge-genteil formaler Geschlossenheit gelten könnten: Prozesse der Ausweitung, Öff-nung und somit Dynamisierung der literarischen Form. Für die Singularität der Gattung Roman gilt also folgende Variante des Verhältnisses von Dynamik und Singularität: Spezifisch für die Form des Romans ist jene Dynamik, dank derer aus chaotischer Formlosigkeit ihre singuläre Form gerinnt.

Was Friedrich Schlegel aufgrund der Kapazität zur Aufnahme und Integration immer neuer Formen und Gestalten als eine ›progressive Universalpoesie‹ (qua Roman) diagnostizierte, das hat Walter Benjamin in seiner Dissertation für seine Bestimmung romantisch-moderner Kunst generell übernommen. Ihm zufolge ist die romantische »Idee der Kunst definiert als das Reflexionsmedium der For-men«, wobei die singulär-dynamische »Einheit der Kunst […] in der Idee eines Kontinuums der Formen« liege.32 In dieser ästhetischen Formreflexion zweiter Ordnung ist die Frage nach der Formation oder Formalisierung der Form nicht zufällig dekonstruktiv verdoppelt: Die Frage nach formalen Genrebedingungen bedingt gleichzeitig deren parodistische Hinterfragung. Der systemtheoretisch diagnostizierte selbstreferenzielle »Wiedereintritt der Form in der Darstellung zweiter Ordnung«33 ist die schon bei Benjamins Romantikern erkannte »formale Ironie«. Eine solche objektive und formale Ironie »stellt den paradoxen Versuch dar, am Gebilde noch durch Abbruch zu bauen«,34 also aus der Deformierung, und in letzter Konsequenz: aus der Formlosigkeit, selbst Form zu gewinnen.

Seit den frühromantischen Konzeptionen von ›Antiform‹ als Figur an der Grenze jeder Figuralität, von ›Ironie‹ als »permanente[r] Parekbase«35 qua durchgehen-der Brechung und Unterbrechung, spätestens seit 1800 also, so kann resümiert werden, stellt sich auch die Frage nach der Kanonisierung und Dekanonisierung regelkonformer Werkgattungen. Mit Nachdruck ist zu betonen, dass es sich hier-bei um dynamische Gattungsbegriffe und ihnen korrespondierende singuläre Kunstwerke handelt. Denn (künstlerische) Singularität ist auch hier nicht als Gegensatz von Dynamik zu denken. Die Gattungen der Moderne sind keine sta-tischen Formationen. Die für sie paradigmatischen Kunstwerke sind ihnen denn auch in einem dynamischen Wechselverhältnis verbunden.

31. Georg Lukács: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die For-men der großen Epik, Darmstadt 1971, 51979, S. 61.32. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, Frankfurt am Main 1974, S. 7–122, hier: S. 87.33. David Roberts: »Die Paradoxie der Form in der Literatur«, in: Baecker (Hg.): Probleme der Form, a.a.O., S. 22–44, hier: S. 38.34. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, a.a.O., S. 87.35. Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806, in: Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 18, hg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien, Zürich 1963, S. 85.

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dynamik: temporalisierung, Wirkung, lebendigkeit

Die immer wieder konstatierte Dynamisierung der Form ist somit nicht ein-seitig im Sinne einer Auflösung von Werken und Gattungen zu verstehen, die sie gewiss auch katalysieren kann. Zunächst meint Dynamisierung die Hetero-nomisierung und Verfremdung zweier miteinander verschränkter Aspekte: der (autopoietischen) Autonomie des Werks und der (organischen) Geschlossenheit seiner Form. Ein solches Konzept geschlossener Werkform hatte sich ab 1700 am deutlichsten zunächst im Feld der Musik, aus der Opern- und Kantatenarie, dann vornehmlich im textfreien, auf dem Prinzip harmonischer Totalität beru-henden Instrumentalkonzert herausgebildet.36 Die gegen diese Geschlossenheit gerichteten und miteinander verschränkten wirkungsästhetischen Aspekte von Dynamisierung führen zu einem Verständnis der Form zunehmend als tempo-raler bzw. dynamischer.37 Schon der Begriff einer dynamischen musikalischen Form – musikgeschichtlich von der Mannheimer bis zur zweiten Wiener Schule – impliziert ein paradoxes Verhältnis zur Zeit. Am deutlichsten zeigt sich diese Verabschiedung von der klassischen Regelpoetik und Formenlehre in der neuen Prominenz der musikalischen ›Durchführung‹ als Rechtfertigung und »Zentrum der gesamten Form«38 der sich um 1800 entwickelnden Sonatensatzform. Dieses zeitästhetische Prinzip thematischer Differenz und Wiederholung kann als das musikgeschichtliche Äquivalent der auch in der bildenden Kunst seit 1750 zuneh-menden Konzentration auf die Prozessualität und Wirkung von Form betrachtet werden. Die ästhetische Erfahrung von Formen meint von daher den Eintritt des Betrachters als notwendige Wahrnehmungsinstanz in das komplexe Geflecht von ästhetischer Form und ästhetischem Gehalt.39 Für die ästhetische Moderne ist nicht nur eine zunehmende ›Dominanz der Formwahrnehmung‹ (gegenüber der Wahrnehmung von Gegenständen oder Inhalten) festzustellen. Die moderne Re-naissance der Form verdankt sich der Problematisierung eines repräsentativen logos der Form zugunsten einer künstlerisch neuen Formtheorie und -wahrneh-mung.

Die durch die neuen Formästhetiken ca. ab 1800 reflektierte Dynamisierung materialisiert sich auf ganz explizite Weise in den unterschiedlichen Strategien und Verfahrensweisen zur Offenlegung der autopoietischen Dimension ästhe-tischer Form. Die »Wirksamkeit einer Form ist diejenige, durch die eine Form sich formt: Sie ist ihre Autogenese«, weswegen jede figurative Form neben einer repräsentativen auch eine »genetisch-rhythmische« Dimension besitze, so Henri

36. Vgl. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, a.a.O., S. 109.37. Zu der damit verbundenen Ablösung einer syntaktischen durch eine Empfindungsform vgl. in diesem Band den Beitrag von Sebastian Klotz.38. Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt am Main 1975, S. 57f.: »Sie ist nicht mehr gleichgültig zur Zeit, da sie in dieser nicht beliebig wiederholt wird, sondern sich verändert. Aber sie verfällt auch nicht der bloßen Zeit, da sie ja in dieser Veränderung als identische sich durchhält. Der Begriff des Klassischen in der Musik ist durch diese paradoxe Beziehung zur Zeit definiert.«39. Dies findet sich in diesem Band näher ausgeführt in dem Beitrag von Werner Busch.

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Maldiney.40 Das anhaltende Interesse zweier Jahrhunderte an jenem raumzeit-lich paradoxen ›Stillstand in der Bewegung‹ (Walter Benjamin) in Zeitbildern bediente sich nicht zufällig einer Symbolik des Kristallinen. An Kristallen war schon den idealistischen Naturphilosophen um 1800 ein aus der amorphen Masse anorganischer Stoffe sich heraustreibender Formtrieb sichtbar und deutlich ge-worden. Ein neues formästhetisches Interesse galt von daher der Produktion und Reflexion nicht regelgeleiteter Präsentationen von ereignishaften Singularitäten, das heißt weniger der Nachahmung vorgebildeter oder präformierter natura na-turata denn Versuchen der Sichtbarmachung formbildender natura naturans. Naturgemäß »ist Leben« Schlegel zufolge nur »durch eine fortdauernde immer wiederholte Störung«41 und dessen Darstellung oder Präsentation dann nur mit-tels ästhetischer Verfremdung möglich. Diese Materialisierung der Form diffe-riert somit ums ästhetische Ganze von dem idealistischen Phantasma eines »voll-kommenen Gleichgewichts zwischen Seele und Materie«.42

Die ästhetische Materialisierung der Form in der Moderne ist in Entsprechung zu obigen Überlegungen wiederum in ihrer zweifachen, aisthetischen und kunst-theoretischen, Bedeutung zu fassen. Für die künstlerische Praxis der Moderne kann das an einem durch entsprechende künstlerische Objekte katalysierten Auf-dringlichwerden von Raum und Zeit, die bei Kant noch als unfühlbar und nicht-empfindbar gedacht sind, festgemacht werden.43 An entsprechend konstruierten ästhetischen Formen und künstlerischen Gestalten, die auf die Bedingungen und Konventionen unserer Wahrnehmung reflektieren, werden die Formen unserer Wahrnehmung materialiter gegenständlich. Auch hier sind Prozesse der Singu-larisierung und Dynamisierung nicht voneinander zu trennen. Das künstlerische Aufdringlichwerden von Raum und Zeit resultiert aus dem Zusammenbrechen und Zusammenfallen der traditionellen physiologischen und Sinneslogik von Si-multaneität und Sukzession, von Synchronie und Diachronie. Induziert wird die aisthetische Aufdringlichkeit der ansonsten unmerklichen Ordnungsrelationen Raum und Zeit in konkreten Raumzeiten und Zeiträumen im Nachvollzug (oder deren Steigerung durch zusätzliche Bewegungsformen und Rhythmisierungen) der für die modernen Lebenswelten typischen Dynamisierung der Wahrneh-mungsbedingungen.44 Immer wieder ging es für die künstlerischen Proponenten einer Materialisierung der Form um die Wiedergewinnung einer ursprünglichen Dimension von Raum und Zeit, welche diese in ihrer singulären Ereignishaftig-keit zu bewahren oder wiederzufinden sucht.45 Aus diesem ästhetischen Interesse

40. Henri Maldiney: »Die Ästhetik der Rhythmen«, in: Blümle; Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur, a.a.O., S. 47–78, hier: S. 58.41. Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806, a.a.O., S. 419.42. So Schelling 1807 in seiner Schrift »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« (in: Sämmtliche Werke, hg. v. K.f. A Schelling, Stuttgart 1856ff., Bd. 7, S. 316.)43. Dies wird auch thematisch in dem den Band abschließenden Gespräch mit Rodolphe Gasché.44. Zur Rolle etwa der Beschleunigung vgl. in diesem Band den Beitrag von Bernhard S chieder.45. Auf das symptomhafte Insistieren raumzeitlicher Störungen quer durch die Geschichte haben Kunst- und Kulturhistoriker von Alois Riegl (Raumscheu) bis Pamela Lee (Chrono-phobia) hingewiesen.

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erklärt sich auch die Insistenz auf Raum- und Zeitbilder, auf Phänomene dyna-mischer Stasis, die dynamische Prozesse aus singulären Formkristallisierungen generieren.46 Solche Formbildung zielt auf deren Sichtbarmachung in momen-tanen Kristallisierungen: die Singularität dynamischer Formprozesse.

An solchermaßen materialisierten Formen unserer Wahrnehmung lassen sich in der Folge zudem konkrete, gesellschaftliche oder politische, Aspekte ablesen. Als heteroautonome »Sonderrolle der Kunst« kann mit Christoph Menke ver-standen werden, »daß sie alle Formen durch sich selbst befragen kann«,47 dass also aus der Analyse künstlerischer Formen auf ihre gesellschaftlichen Entste-hungsbedingungen zurückgeschlossen werden kann.

Form und Politik

Form auf ihre politischen Bezüge hin zu untersuchen, bedeutet keine forcierte Ausweitung ihres Geltungsbereichs. Im Gegenteil: Die gemeinsame Diskussion von Form und Politik trägt auf zumindest dreifache Weise zu deren gegenseiti-ger Erhellung bei. Erstens nämlich wiederholen sich die oben angesprochenen Formprobleme und -paradoxa auch auf der Ebene politischer Theorie. Darüber hinaus erweisen sich die an Form festgemachten Modalitäten von Singularisie-rung und Dynamisierung – Letztere nun auch verstanden als Historisierung eines Weiterlebens und Absterbens von Formen – auch als politisch relevant. Zunächst aber liegt die Rechtfertigung und Notwendigkeit einer politischen Diskussion der Form darin, dass Kunst über Form mit gemeinhin als nichtkünstlerisch verstan-denen Bereichen in Verbindung tritt. Deswegen auch konnte immer wieder eine Politik des Sehens mit formalistischen Argumenten propagiert werden. In den Diskussionen über Form vermengen sich nicht nur aisthetische mit erkenntnis-theoretischen Themen und Fragestellungen, sondern auch mit einem konkreten politischen Einsatz.48 Einer Politik des Sehens und Hörens entspricht dabei eine Politik des Sag- und Schreibbaren.

Dass eine solchermaßen mit gesellschaftlichem und sozialem Ausdruckscharak-ter durchdrungene Form mit den historischen Avantgarden auch zu einem poli-tischen Kampfbegriff wurde, ist spätestens seit den Diskussionen des russischen Formalismus gut dokumentiert. Das zunächst von Viktor Šklovskij formulierte Prinzip der Verfremdung, das Verfahren einer Erschwerung der Form, zielte ur-sprünglich auf die singulären Kunstwerken eigene Fähigkeit, durch Deformie-rung den Automatismen unseres Wahrnehmungsapparats entgegenzuarbeiten. Folgerichtig wurde die von den Formalisten als momentane Brechung oder um-

46. Zu der damit verbundenen Offenlegung der Formgebung als Prozess in der Minimal Art vgl. den Beitrag von Michael Lüthy.47. Stefan Germer: »Form als Selbstunterlaufung. Ein Interview mit Christoph Menke«, in: Texte zur Kunst, Nr. 27, September 1997, S. 73–76, hier: S. 76.48. Inwiefern das zugleich mit gegen seine Banalisierung gerichteten Versuchen einer Sin-gularisierung des Raums verbunden ist, zeigt in diesem Band Sebastian Zeidlers Beitrag über Carl Einstein.

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gekehrt als Dehnung unserer Wahrnehmungszeit untersuchte Intensivierung unserer Wahrnehmungsweisen auch politisch weitergedacht. Der radikale Bruch mit unseren Seh- und Hörgewohnheiten bildete dafür das Modell einer grund-sätzlichen ›Revolution der Wahrnehmung‹ (Marcuse), die als Voraussetzung zu-künftiger gesellschaftlicher Umgestaltung zu leisten wäre.49

Die hier beschriebene Temporalisierung der Form hat aber noch aus anderen Gründen eine geschichtstheoretische Implikation. Was sich schon in der histo-rischen Untersuchung unterschiedlicher Erzählformen von Novelle und Roman zeigt, wird deutlicher noch mit der Reflexion auf das eigentümliche Nachleben der Formen. So wurde der Wechsel von Kanonisierung und Dekanonisierung künstlerischer Formen von Roman Jakobson und Jurij Tynjanov als ›Evolution von Gattungsformen‹ verstanden. Damit ist auch Bezug genommen auf die his-torisch variable und nie zu einem Ausgleich kommende Auseinandersetzung in-nerkünstlerischer Formen mit außerliterarischem Material. Bezeichnenderweise hat Tynjanov in diesem Zusammenhang zu dem literaturhistorischen Konzept einer »Zwischenraumzeit«50 gegriffen, um die für lebendige Formen konstitu-tive Spaltung – ein raumzeitliches ›Zwischen‹ der Aneignung von Außerkünst-lerischem und darauf folgender automatisierter Nicht-Kunst – auf den Begriff zu bringen. Es ist die nicht mehr nach einer repräsentativen Ordnung gedachte, sondern »ästhetische Identifizierung der Kunst«, welche frühere Unterschei-dungskriterien »zwischen den Formen der Kunst und den Formen des Lebens« verschwinden lässt.51 Analog der Entgrenzung der Künste untereinander werden auch die Unter schiede zwischen Kunst und Nicht-Kunst porös. »Kurz, die ästhe-tische Autonomie der Kunst ist nur ein anderer Name ihrer Heteronomie.«52

Rancières ›ästhetischem Identifikationsregime‹ und seinem Überwindungsver-such der naturalisierten Trennungen von »Form und Materie, zwischen Aktivität und Passivität«53 korreliert ein bipolares Verständnis der politischen Einsatz-möglichkeiten künstlerischer Formen. Auf der einen Seite steht eine Politik der Form im Akt: das Versprechen einer Einheit von Leben und Kunst, die spieleri-sche Aufhebung nach dem Modell eines künstlerischen Spiels gleichberechtigter Formen; diesem relationalen Kunstverständnis, in dem Kunst in letzter Konse-quenz politisch nur dadurch wird, dass »sie sich als Kunst abschafft«, entgegen-gesetzt ist eine ›formalistisch‹ zu nennende Politik, in der die gesellschaftliche Progressivität der Kunst umgekehrt aus der Abstandnahme von jeder konkreten politischen Intervention resultieren soll. Unschwer sind in diesen »zwei großen

49. Renate Lachmann: »Die ›Verfremdung‹ und das ›Neue Sehen‹ bei Viktor Šklovskij«, in: Poetica 3, 1970, S. 226–249, hier: S. 249.50. Anke Hennig zeigt in ihrem vorliegenden Beitrag zugleich den politischen Einsatz der »Zwischenraumzeit«.51. Jacques Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, S. 81. Zur Frage nach der Intervention künstlerischer und gesellschaftlicher Formen vgl. in diesem Band den Beitrag von Hermann Kappelhoff.52. Ebd.53. Jacques Rancière: »Schiller und das ästhetische Versprechen«, in: Felix Ensslin (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf der Bühne. Schillers Ästhetik heute, Berlin 2006, S. 39–55, hier: S. 49.

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Politiken der Ästhetik […], der Politik des Leben-Werdens der Kunst und der Po-litik der widerständischen Form«54 wieder obige auf einem gemeinsamen Form-regime aufruhende Aspekte von Dynamik und Singularität, diesmal im Bereich des Politischen, wiederzuerkennen.

Wie im Kunstfeld, so auch im Feld des Politischen wird der Streit um Form stets neu ausgetragen. Deutlich wird das im Formdenken politischer Theoretiker unterschiedlicher Couleur. So zeigt sich etwa Carl Schmitt in seinem Einspruch gegen den demokratischen Formalismus folgerichtig als neoklassizistischer Formfanatiker, der am ewigen Gespräch des romantisch-modernen Parlamen-tarismus gerade die Formlosigkeit kritisiert: »Die Schwäche liegt darin, daß das Volk über die Grundfragen seiner politischen Form und seiner Organisation ent-scheiden soll, ohne selbst formiert«55 zu sein. Zugrunde liegt Schmitts theologi-schem Begriff des Politischen noch einmal ein, so Friedrich Balke, »hylemorphes Modell«,56 in dem die geistlose Materie einer Beseelung durch die geistige Form bedarf. Und auch bei den kommunistischen und liberalen Alternativen zu dikta-torischer Formgewalt haben sich die Fragen nach den demokratischen Formen und der spezifisch politischen Bedeutung von Form nicht erübrigt. Im Gegen-teil scheint es in der Tat, »als ob der als regierend proklamierte Liberalismus die Sichtweise des für tot erklärten Marxismus teilen würde: diejenige, die die Formen der Politik im begrifflichen Paar von Form und Inhalt, von politischer Erscheinung und gesellschaftlicher Wirklichkeit denkt«.57 Noch in der offiziellen politischen Philosophie der westlichen Demokratien bleibt die Frage nach der Form ein Unruheherd. Auch politisch kommt sie somit nicht zur Ruhe.

Die Widerstände und andauernden Auseinandersetzungen um künstlerische und politische Form sind Indiz nicht nur für einen anhaltenden theoretischen und praktischen Klärungsbedarf. Die Widersprüche und nie aufgelösten Anti-thesen verweisen vielmehr auf ein andauerndes Insistieren der Form.

54. Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, a.a.O., S. 55.55. Carl Schmitt: Verfassungslehre, Berlin 1965, unveränderter Nachdruck der ersten Auflage 1929, S. 83.56. Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 356.57. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main 2002, S. 108.