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1 BULIMIA NERVOSA Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse Mai 2002 Eingereicht von: Dr. Christiane Groinig Eingereicht bei: DDr. Alfried Längle Dr. Lilo Tutsch Angenommen am:

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BULIMIA NERVOSA

Abschlussarbeit für die fachspezifische

Ausbildung in Existenzanalyse

Mai 2002

Eingereicht von: Dr. Christiane Groinig

Eingereicht bei: DDr. Alfried Längle

Dr. Lilo Tutsch

Angenommen am:

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BULIMIA NERVOSA

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Zusammenfassung

In dieser Arbeit habe ich versucht, die Bulimia nervosa sowohl aus medizinischer als auch aus

existenzanalytischer Sicht zu beleuchten. Deshalb bilden die medizinische Diagnostik, mit

einer genauen Beschreibung der somatischen Veränderungen und der Ätiologie den einen,

sowie die Beschreibung der Person der Bulimisierenden und mögliche existenzanalytische

Therapiezugänge den anderen Schwerpunkt. Der Bulimia nervosa liegen Störungen und

Defizite im Bereich der vier Grundmotivationen zugrunde, weshalb diese in der vorliegenden

Arbeit genau erörtert werden. Zum besseren Verständnis der Bulimisierenden wird ein

„typischer Einstieg“ in die Bulimia nervosa dargestellt.

Schlüsselwörter

Essstörung, Bulmia nervosa, Existenzanalyse, Grundmotivationen.

Summary

This study tries to shed light on the bulimia nervosa both from a medical as from an

existential-analytical point of view. Therefore, the medical diagnostic is emphasized on the

one hand, including a thorough description of somatic changes and of the etiology. On the

other hand, the “bulimising” personality and possible existential-analytical therapeutic

approaches are described. Disorders and deficits regarding the four foundamental motivations

are underlying bulimia nervosa. Hence they are carefully investigated here. For a better

understanding of the bulimising person a “typical entrance” to bulimia nervosa is presented.

Key words

Eating disorder, bulimia nervosa, existential-analysis, foundamental motivations.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung S.5

2. Historischer Überblick S.8

3. Epidemiologie S.9

4. Das Krankheitsbild “Bulimia Nervosa” S.10

4.1. Diagnostik S.10

4.1.1. Diagnostik nach ICD-10 S.10

4.1.2. Diagnostik nach DSM IV S.11

4.1.3 Differentialdiagnosen S.11

4.2. Prognose S.12

5. Symptomatik S.14

5.1. Somatische Veränderungen S.14

5.1.1. Veränderungen im Bereich des oberen Verdauungstraktes S.14

5.1.2. Verschiebungen im Elektrolythaushalt und

die Auswirkungen auf den Kreislauf S.14

5.1.3. Veränderungen im endokrinen System S.15

5.1.4. Gastroenterologische Störungen S. 15

5.1.5. Neurologische Befunde S.15

5.1.6. Bulimia nervosa und Schwangerschaft S.16

5.1.7. Bulimia nervosa und Stoffwechselerkrankungen S.16

5.1.8. Der Einfluss von Süßstoff auf die Bulimia nervosa S.16

5.2. Äußere Anzeichen für das Vorliegen einer Bulimia nervosa S.16

5.3. Psychische Veränderungen S.17

5.3.1 Depressive Störungen S.17

5.3.2 Angststörungen und Zwänge S.17

5.3.3 Substanzmissbrauch S.18

5.3.4 Persönlichkeitsstörungen S.18

6. Ätiologie S.19

6.1. Biologische Faktoren S.19

6.1.1. Diät S.19

6.2. Soziokulturelle Faktoren S.20

6.3. Familiäre Faktoren S.21

6.4. Äußere Belastungen S.21

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6.5. Prädisponierende Persönlichkeitsmerkmale S.21

7. Ätiologie der Bulimie aus existenzanalytischer Sicht S.23

7.1. Grundmotivationen S.23

7.1.1. Erste Grundmotivation S.23

7.1.2. Zweite Grundmotivation S.25

7.1.3. Dritte Grundmotivation S.28

7.1.4. Vierte Grundmotivation S.30

7.2. Die zugrunde liegenden Störungen S.32

7.2.1. Persönlichkeiten mit histrionischen Merkmalen S.32

7.2.2. Histrionische Persönlichkeitsstörung S.33

7.2.3. Borderlinestörung S.34

8. Der Weg in die Bulimia nervosa S.36

8.1. Essen und Gewichtskontrolle S.36

8.2. Selbstinduziertes Erbrechen S.37

8.3. Chronifizierung S.38

9. Therapie S.40

9.1. Allgemeines über Existenzanalyse S.40

9.1.1. Der Personenbegriff S.40

9.1.2. Der Krankheitsbegriff S.41

9.2. Die existenzanalytische Therapie S.42

9.2.1. Die allgemein unspezifische Behandlung S.42

9.2.2. Die spezifische Therapie S.44

10. Schlussfolgerung S.49

11. Literaturverzeichnis S.50

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1.Einleitung.

In meiner Praxis als Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutin unter Supervision

werde ich immer wieder von Patientinnen mit unklaren Beschwerden wie

uncharakteristischen Magenschmerzen, Blähungen, Völlegefühl, Sodbrennen, Verstopfung

bzw. Durchfall oder allgemeiner Schwäche, Müdigkeit, Leistungsabfall und Kältegefühl zur

medizinischen Abklärung aufgesucht.

Die Erhebung der Anamnese gestaltet sich oft mühsam, es erfolgen teils widersprüchliche,

teils unkonkrete Angaben zum Befinden. Besonders Fragen zum Essverhalten und zu

Nahrungsmittelvorlieben werden umständlich oder ausweichend beantwortet. Auffallend sind

die guten Kenntnisse dieser Frauen in Bezug auf Nährgehalt und Inhaltsstoffe der

Nahrungsmittel sowie ein hoher Stellenwert der Figur für das allgemeine Wohlbefinden. Des

öfteren werden unauffällige medizinische Befunde beigelegt.

In klinischen Untersuchungen lassen sich meist keine körperlichen Ursachen für die

angegebenen Beschwerden nachweisen.

Spürbar sind einerseits ein großer Leidensdruck und Wunsch nach (medizinischer?) Hilfe

seitens der Patientinnen, andererseits ein unbefriedigendes Gefühl und Hilflosigkeit bei mir

als Therapeutin.

Diese Gefühle resultieren daraus, dass eine exakte Diagnose nach dem Stand der

Wissenschaft mit den gängigen medizinischen Mitteln nicht erstellt werden kann und die

vermutete, vorsichtig angefragte und oft von der Patientin beleidigt abgelehnte

Verdachtsdiagnose “lediglich” emotional begründbar, aber nicht medizinisch beweisbar ist.

Hilflosigkeit entsteht, weil einerseits eine große Bedürftigkeit, aber ein noch größeres

Misstrauen von der Patientin fühlbar ist und der Umgang mit dieser Ambivalenz schwerfällt,

andererseits sich jedoch die Frage nach der “richtigen” Hilfe stellt.

So bleibt die Verdachtsdiagnose “Essstörung, vermutlich im Sinne einer Bulimia nervosa”

stehen, verbunden mit einem Gefühl der Unfähigkeit, auf die versteckte Bitte um Hilfe nicht

richtig reagiert zu haben.

Da gerade ÄrztInnen im Rahmen ihrer Tätigkeit (schulärztliche Untersuchungen,

Vorsorgeuntersuchungen, zahnärztliche Behandlungen, allgemeinärztliche Behandlungen) die

erste Anlaufstelle für Patientinnen mit Essstörungen sein können, kommt ihnen eine wichtige

Aufgabe in der Früherkennung zu, die besonders im Falle der Bulimia nervosa äußerst

schwierig sein kann. Die richtige Diagnose wird nur in circa 12% der Fälle gestellt (De

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Zwaan & Schüssler, 2000). Diesbezüglich scheint nicht nur vermehrte Aufklärung und

Bewusstseinsbildung notwendig, wünschenswert wäre auch ein geschulter, einfühlsamer

Umgang mit der ambivalenten Haltung der bulimischen Patientin, welche einerseits durch

Scham, andererseits durch das Gefühl, keine adäquate Hilfe bekommen zu können, bedingt

ist. Da die Prognose auch von der Dauer der bulimischen Symptomatik bestimmt wird und

jede negative Erfahrung für die bulimische Patientin einen Schritt mehr in die Isolation mit

ihrem Symptom bedeuten kann, ist eine rasche Zuführung zu einer geeigneten Therapie

entscheidend.

Mit dieser Arbeit möchte ich versuchen, einen Überblick über das Krankheitsbild der Bulimia

nervosa sowohl von medizinischer als auch von psychotherapeutischer Seite zu geben, dem

Phänomen der Bulimia nervosa auf die Spur zu kommen, Ansätze für ein besseres

Verständnis zu entwickeln und damit einen Zugang zur Person der Bulimikerin zu schaffen,

was Beginn und Basis jeglicher Diagnostik, Motivation und Therapie ist.

Ich werde dabei auf die sonst in der Literatur übliche Bezeichnung “Bulimikerin” verzichten,

da diese meines Erachtens der Person nicht gerecht wird und als Ausdruck der Reduktion auf

ein Krankheitsbild verstanden werden kann. V. Frankl schreibt dazu in “Der leidende

Mensch” (1990, S.241):

Sehe ich aber von vornherein die Krankheit als etwas an, was das gesamte

Menschsein, eben das In-der-Welt-Sein des Kranken, einheitlich durchwaltet und

gestaltet, also gleichsam diffus infiltriert, dann kann ich den Kranken >selbst<, die

hinter und über aller (auch seelischer) Krankheit stehende (geistige) Person,

nimmermehr fassen und greifen - und vor allem habe ich dann nur mehr Krankheit vor

mir, aber darüber hinaus nichts, was ich noch auszuspielen vermöchte gegen die

Krankheit, auszuspielen gegen die Schicksalsmacht eines so (.....) und nicht anders In-

der- Welt- sein müssens.

Aus Gründen der Vereinfachung werde ich anstelle “Patientin oder Person mit bulimischem

Syndrom oder bulimischer Symptomatik” den Begriff “Bulimisierende” als eine “Tuende” im

Gegensatz zur “Seienden”, verwenden. Mit dieser Bezeichnung möchte ich hervorheben, dass

der Mensch nicht nur “Erlebender” sondern auch “Handelnder” ist, und “letztlich Selbst der

Gestalter seines Lebens, (......) derjenige, der für sich und seine Zukunft entscheiden kann“

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(Längle, 1994, S.18).

Auf die männliche Form werde ich jedoch aufgrund des derzeit (noch?) weit überwiegenden

weiblichen Anteils Betroffener verzichten.

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2. Historischer Überblick

Das Symptom der Bulimie “BULIMOS” (gr.: Bous = Rinderkopf und Limos = Stierhunger,

lat.: Fames bovina = Ochsenhunger) war bereits den alten Griechen bekannt und hatte

ursprünglich zwei Bedeutungen:

1. großer, unerträglicher Heißhunger (Ziokles v. Karystos, 4.Jhd.v.Chr.)

2. Schwäche, Ohnmacht mit teilweise vorausgegangenem Heißhunger (Xenophon,

griechischer Schriftsteller im 4/3.Jhd.v.Chr.).

Im 2. Jhd.n.Chr. bezeichnete Galen, ein römischer Arzt griechischer Herkunft,

Heißhungeranfälle mit oft anschließendem spontanen Erbrechen als “FAMES CANINA” (lat.

fames = Hunger; canis = Hund), abgeleitet von KYNOREXIE (gr. kyon, kynos = Hund;

orexis = Verlangen).

Im 18. Jhd.n.Chr. waren die Bezeichnungen BULIMIA CANINA und BULIMIA EMETICA

(gr. emein = sich erbrechen), im 19.Jhd. der Begriff HYPEROREXIE (gr. hyper = über;

orexis = Verlangen) für das Symptom des Heißhungers mit anschließendem Erbrechen, ohne

Bezug auf die Bedeutung des Körperumfanges, gebräuchlich (Horstkotte-Höcker, 1987).

Das Syndrom der Bulimia nervosa, wie wir es heute verstehen, wurde erstmals 1909 durch die

Psychoanalyse in einer Fallbeschreibung einer normalgewichtigen, hysterischen Patientin mit

kurzzeitiger bulimischer Phase von Ludwig Biswanger dargestellt. Als eigenständiges

Krankheitsbild wurde das Syndrom 1979 von Russel und Slade in England sowie von Igoin in

Frankreich beschrieben (Janssen, Senf & Meermann,1997).

Im 20. Jahrhundert herrschte eine Begriffsvielfalt: HYPOREXIE, HYPERPHAGE

ESSSTÖRUNG, CHAOTISCHES DIÄTSYNDROM, BULIMAREXIA, DYSOREXIE,

BULIMIA etc.

1980 wurde das Syndrom unter der Bezeichnung BULIMIA NERVOSA von der American

Psychiatric Association in der Neuauflage des “Diagnostic and Statistical Manual of Mental

Disorders” (DSM) aufgenommen und als eigenständige psychische Störung, abgegrenzt von

der Anorexia nervosa, in der diagnostischen Kategorie der Essstörungen klassifiziert

(Horstkotte- Höcker, 1987).

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3. Epidemiologie

Die Ursache dafür, dass konkrete Angaben zur Prävalenz der Bulimia Nervosa, d.h. zur

Häufigkeit der Krankheit zu einem bestimmten Zeitpunkt, fehlen, liegt zu einem Teil an

mangelnden Daten aufgrund unzureichender Studien und uneinheitlicher diagnostischer

Kriterien und zum anderen Teil an der Tabuisierung dieser Krankheit. Bulimisierende sind

nämlich im Gegensatz zu anorektischen und adipösen Patientinnen äußerlich meist nicht

auffällig. Sie versuchen zudem, ihr abnormes, äußerst schambesetztes Essverhalten zu

verheimlichen, so dass von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden kann.

Laut epidemiologischen Studien liegt die Prävalenz der Bulimia nervosa für weibliche

Adoleszente zwischen 1,0% und 3,0%, der Anteil der Männer liegt bei circa einem Zehntel

davon (Buddeberg-Fischer 2000). Janssen, Senf und Meermann (1997,) schätzen die

Häufigkeit aller Formen von Essstörungen bei jungen Frauen auf 4,5% und bei Männern

weltweit auf circa 1%.

Auch hinsichtlich der Inzidenz, der Anzahl der Neuerkrankungen innerhalb eines bestimmten

Zeitraumes, gibt es zu wenige und zu ungenaue statistische Angaben. Buddeberg-Fischer

(2000) beschreibt jedoch ein Ansteigen der Rate bei den 20- bis 24jährigen im städtischen

Bereich in den vergangenen Jahren. Janssen et al.(1997) geben einen Anstieg der Inzidenz

von 0,45 Personen auf 100 000 Einwohner pro Jahr in den Jahren 1950 - 1970 auf 1,12- bis

4,06 Personen in den Neunzigern an.

Da für subklinische Essstörungen oder ihre Vorformen verbindliche Kriterien fehlen, gibt es

eine große Bandbreite der Prävalenzrate, die in der Risikogruppe der 15-bis 24jährigen

Frauen mit 1,3 - 13% beschrieben wird (Buddeberg-Fischer, 2000).

Eine in den vergangenen Jahren an Wiener Schulen bei 3684 SchülerInnen im Alter von ca.

13 –18 Jahren durchgeführte Studie zum Thema Essstörungen und Diätverhalten ergab, dass

bereits mehr als 44% der Mädchen und ca. 19-23% der Burschen im Alter von 13 Jahren

Diäterfahrung haben (Strobich 1999). Da Diäten als wichtigster Risikofaktor für das Auftreten

von Essstörungen gelten, stimmt dieses Ergebnis bedenklich.

So leiden in Österreich mindestens 6500 Frauen im Alter von 20 bis 30 Jahren an Bulimia

nervosa, die Neuerkrankungen pro Jahr schätzt Rathner (1999) auf mehr als 900.

Essstörungen stellen ein zunehmendes Gesundheitsproblem dar, wobei die Übergänge von

noch gesundem, gezügelten Essen zu subklinischen und manifesten Erkrankungen

schleichend sind.

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4. Das Krankheitsbild der “Bulimia nervosa”

4.1. Diagnostik

Eine gute Kenntnis der diagnostischen Kriterien erhöht die Zuverlässigkeit der

Diagnosestellung und hilft, die Behandlungsbedürftigkeit zu erkennen und die Betroffenen

einer entsprechenden Therapie zuzuführen.

Die Bulimia nervosa ist charakterisiert durch Heißhungeranfälle mit Kontrollverlust,

Aufnahme großer Mengen von Nahrungsmitteln in kurzer Zeit und anschließenden

kompensatorischen Maßnahmen zur Gewichtskontrolle, wie selbstinduziertem Erbrechen,

übermäßigem Sport, Laxantien-(Abführmittel) und Diuretika-(Entwässerungsmittel)-

Missbrauch.

4.1.1. Diagnostik nach ICD-10

Im ICD-10 (Internationale Diagnosen-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation) ist die

Bulimia nervosa im Kapitel F 5 “Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen

Störungen und Faktoren” unter F 50 “Essstörungen” mit anderen psychosomatischen und

verwandten Störungen zusammengefasst und wird über folgende Kriterien definiert:

gesteigerte, krankhafte Furcht vor Gewichtszunahme, wobei das Gewicht deutlich

unter dem Optimalgewicht liegt

Anwendung gegensteuernder Maßnahmen,

mögliche Verleugnung der Problematik und

medizinische Komplikationen.

Charakteristisch für die Bulimia Nervosa sind

Heißhunger- und Fressanfälle, gefolgt von

selbstinduziertem Erbrechen oder Laxantien- bzw. Diuretkamißbrauch

Frequenz: mindestens zweimal pro Woche

(ICD-10, 1996).

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4.1.2. Diagnostik nach DSM IV

Im DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) werden die

Essstörungen im Gegensatz zum ICD 10 aber auch zu früheren Auflagen des DSM, wo sie

noch unter Störungen im Kindes- und Jugendalter zusammengefasst wurden, als eigenes

Krankheitsbild dargestellt. Weitere wesentliche Unterschiede sind:

übermäßiger Einfluss von Figur und Gewicht auf die Selbstbewertung

Kontrollverlust während des Anfalls

neben Laxantien und Diuretika werden auch andere Medikamente berücksichtigt

es erfolgt eine Spezifizierung der Heißhungeranfälle hinsichtlich kompensatorischer

Verhaltensweisen mit der Differenzierung in einen “Purging” Typ (Erbrechen,

Laxantien- und Diuretika-Missbrauch um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern)

und einen “Non-purging” Typ (Fasten, exzessiver Sport zur Gewichtskontrolle)

(purge = reinigen, säubern, freimachen)

ein wichtiges graduelles Kriterium stellt der Zeitfaktor dar (Mindestzeitraum der

Symptomatik von drei Monaten)

im Gegensatz zum ICD 10 kann das Gewicht in einem Bereich von leicht unter- bis

übergewichtig liegen.

Insgesamt wird im DSM IV der erweiterten Diagnostik der Essstörungen - unter besonderer

Berücksichtigung der differentialdiagnostischen Abgrenzung der “Bulimia Nervosa” von der

“Anorexia Nervosa” und den “Nicht näher bezeichnete Essstörungen” wie dem Binge Eating

Disorder - Rechnung getragen und das typische Krankheitsbild der Bulimia Nervosa weiter

spezifiziert (DSM IV, 1998).

4.1.3. Differentialdiagnosen

Die Bulimia nervosa nimmt mit ihrem “purging” und “non-purging” Typus eine zentrale

Stellung unter den Essstörungen ein. Da die Übergänge zwischen den einzelnen Störungen

fließend sind und sich die Symptomatik im Laufe der Erkrankung verschieben kann, kommt

der Differenzierung eine große Bedeutung zu.

Abzugrenzen ist einerseits die Anorexia nervosa, besonders mit dem “Binge eating/Purging”

Typus, charakterisiert durch:

starkes Untergewicht von weniger als 85% des zu erwartenden Gewichtes

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intensive Angst vor Gewichtszunahme

Störung der Körperwahrnehmung mit mangelnder Einsicht und übertriebener

Bedeutung der Figur auf den Selbstwert sowie

Ausbleiben der Menstruation aufgrund von Hormonstörungen in Folge des

Gewichtsverlustes

beim “Binge-eating/Purging” Typus kommt es zusätzlich zu regelmäßigen

Fressanfällen (binge eating) und/oder “purging”-Verhalten.

beim restriktiven Typus wird der Gewichtsverlust hauptsächlich durch Diäten und

Sport erzwungen.(DSM IV,1998).

.

Differentialdiagnostisch bedeutsam ist andererseits die “Binge-Eating Störung”, die im DSM

IV unter „307.50 Nicht näher Bezeichnete Essstörung” beschrieben wird und für die

Heißhungeranfälle mit Aufnahme großer Nahrungsmengen in kurzer Zeit

Kontrollverlust

und daraus resultierendem starken Unbehagen typisch sind

im Gegensatz zur Bulimia nervosa werden jedoch Maßnahmen zur Vermeidung einer

Gewichtszunahme nicht ergriffen, sodass in vielen Fällen ein Übergewicht resultiert.

Das Bild gleicht in vielem dem Bulimischen. Die Essanfälle ähneln einander, und ein

vermehrtes Auftreten psychischer und zwischenmenschlicher Probleme wird bei

Übergewichtigen mit Binge-eating Störung ebenfalls beschrieben (De Zwaan, 1997).

Abnormes Essverhalten kann aber auch ein Symptom einer somatischen (Hirntumor) oder

psychiatrischen Erkrankung sein, weswegen eine medizinische Abklärung zu Therapiebeginn

unerlässlich ist.

4.2. Prognose

Erfahrungsgemäß verstreichen vom ersten Auftreten eines bulimischen Symptoms bis zum

Einsetzen einer spezifischen Behandlung circa sieben Jahre, wobei sich jedoch insgesamt

lediglich etwa 20% Prozent aller Bulimisierenden in eine Therapie begeben. Dass circa 80%

unbehandelt bleiben, liegt sowohl am ausgeprägten Scham- und Schuldgefühl als auch an der

Einstellung der Betroffenen, dass es keine entsprechende Hilfe gibt.

Circa 50% aller Bulimisierenden werden nach mehr als 5 Jahren symptomfrei, bei 20%

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bestehen die Kriterien einer Bulimia nervosa weiterhin und der Rest wechselt zwischen

symptomfreien Intervallen und bulimischen Schüben oder leidet an einer subklinischen Form

(De Zwaan, 2001).

Besserungen und Spontanremissionen, die - besonders bei jüngeren Patientinnen - auch

unabhängig von einer Therapie auftreten, sind abhängig vom Ausmaß der Grundstörung und

lassen sich durch die Entwicklung, Stärkung bzw. Erlangung personaler Fähigkeiten erklären.

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5. Symptomatik

5.1. Somatische Veränderungen

Bei längerem Bestehen führt die Bulimie zu bestimmten charakteristischen körperlichen

Veränderungen, die sich zum Großteil nach Ende der Erkrankung zurückbilden und im

folgenden näher ausgeführt werden.

5.1.1. Veränderungen im Bereich des oberen Verdauungstraktes

Viele Bulimisierende leiden an einer Schwellung und Vergrößerung der Speicheldrüsen,

wobei die Ursache noch unklar ist.

Die vermehrte Kohlenhydratzufuhr beim Essen und eine erhöhte Magensäurekonzentration

im Mundbereich, bedingt durch das anschließende Erbrechen, führen zu einem gehäuften

Auftreten von Zahnkaries und Schmelzdefekten, besonders an den Zahninnenseiten der

Vorderzähne. Da sich Bulimisierende üblicherweise nach einem Eß- Brechanfall die Zähne

putzen, verstärken sie diesen Effekt noch durch zusätzliche mechanische Schädigung der

Zahnsubstanz. Des weiteren sind sie besonders anfällig für Zahnfleischschwund mit

Freilegung der Zahnhälse und dadurch bedingt erhöhter Sensibilität mit

Temperaturempfindlichkeit der Zähne und Zahnhälse.

5.1.2. Verschiebungen im Elektrolythaushalt und die Auswirkungen auf den

Kreislauf

Häufiges Erbrechen, Durchfall oder vermehrte Urinproduktion aufgrund einer Einnahme von

harntreibenden Medikamenten können Verschiebungen im Salz- und Wasserhaushalt des

Körpers mit einer Verminderung des Kalium bewirken und in der Folge

Herzrhythmusstörungen, Darmträgheit mit chronischer Verstopfung und allgemeine

Muskelschwäche auslösen. Während der Entleerungen, sei es durch Erbrechen, Durchfall oder

vermehrter Harnausscheidung, kommt es zu einem Verlust von Körperflüssigkeit, der

wiederum Kreislaufprobleme, niederen Blutdruck, Verschlechterung von Koordination,

Gleichgewicht und Muskelfunktion bewirkt.

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5.1.3. Veränderungen im endokrinen System

Es gibt Hinweise, dass intermittierende Hungerzustände, die bei Bulimisierenden durch

Diäthalten und Erbrechen hervorgerufen werden, eine Hyperreaktivität der Nebennierenrinde

bewirken können. Da in der Nebennierenrinde circa 40 verschiedene Hormone gebildet

werden, die einem sehr sensiblen Regulationsmechanismus unterliegen, können Störungen in

diesem System sehr vielfältige klinische Auswirkungen haben und betreffen Zucker- und

Eiweißstoffwechsel, Herz- und Kreislaufsystem (Herzkraft- und Gefäßfunktion), Magen

(Magensaftproduktion), Niere (Wasserausscheidung) und Gehirn.

Der Menstruationszyklus ist auch durch äußere Reize beeinflussbar. Durch wiederholtes

Fasten und den damit verbundenen Gewichtsschwankungen kann eine Störung der

Hormonproduktion auslöst werden, was zu menstruellen Unregelmäßigkeiten und in seltenen

Fällen zum Ausbleiben der Menstruation und Unfruchtbarkeit führen kann.

Vereinzelt weisen Bulimisierende eine Schilddrüsenunterfunktion mit allgemeiner

Verlangsamung des Stoffwechsels, niederem Blutdruck, Tendenz zu Gewichtszunahme etc.

auf.

5.1.4. Gastroenterologische Störungen

Durch die verzögerte Magenentleerung verweilen aufgenommene Nahrungsmittel länger im

Magen, sodass häufig bereits nach Verzehr geringer Mengen ein Völle - und Sättigungsgefühl

auftritt. Wiederholtes Erbrechen sauren Mageninhaltes begünstigt die Entstehung einer

Entzündung der Speiseröhre mit Auftreten von Geschwüren und Verengungen am

Mageneingang, in seltenen Fällen bis zur Ausbildung von Schleimhauteinrissen der

Speiseröhre. Die Bulimisierende spürt dies als Sodbrennen, stößt sauren Mageninhalt auf oder

hat Magenschmerzen.

5.1.5. Neurologische Befunde

Einzelne Elektroencephalogramme (Registrierungen der Hirnstromwellen) weisen eine

Änderung der Grundaktivität auf.

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5.1.6. Bulimia nervosa und Schwangerschaft

Bulimische Symptomatik in der Schwangerschaft kann beim Neugeborenen zu einem

verminderten Apgar-Index (Vitalitätsbeurteilung von Neugeborenen) mit verringertem

Geburtsgewicht und zu Stillproblemen führen.

5.1.7. Bulimia nervosa bei Stoffwechselerkrankungen

Diabetes mellitus und Bulimia nervosa treten überdurchschnittlich häufig gemeinsam auf,

wobei hier des öfteren Insulin zur Gewichtskontrolle missbraucht wird (Horstkette-Höcker

1987; Janssen, Senf & Meermann, 1997; Pschyrembel, 1986).

5.1.8. Der Einfluss von Süßstoff auf die Bulimia nervosa

Um Kalorien einzusparen ersetzen Bulimisierende gerne Zucker durch Süßstoff und

bevorzugen künstlich gesüßte Produkte. Dies führt zu einer Stimulation der

Bauchspeicheldrüse mit Insulinausschüttung und daraus resultierend zu zusätzlichem

Heißhunger nach Süßem, was wiederum einen Fressanfall auslösen kann.

5.2.äußere Anzeichen für das Vorliegen einer Bulimia Nervosa

Für die ärztliche sowie psychotherapeutische Praxis ist die Kenntnis sichtbarer Anzeichen für

das Vorliegen einer Bulimia nervosa wesentlich, welche nun näher beschrieben werden.

Ein Großteil der Bulimisierenden induziert das Erbrechen durch Manipulation mit den

Fingern an Gaumen und Rachen, wodurch sie Hautabschürfungen und Druckstellen an

Handrücken und Rückseiten der Finger bekommen können, die bei längerem Bestehen zu

Verhornungen und Schwielen führen. Durch diese Manipulation können sich schmerzhafte

Einrisse und Schrunden an den Mundwinkeln bilden.

Die Druckerhöhung beim Würgen begünstigt das Auftreten von punktförmigen Blutungen an

Gaumen, Gesicht und Augenbindehäuten. Durch die Schwellung der Speicheldrüsen wirkt das

Gesicht runder und erscheint als Pyramiden- oder Hamstergesicht (Janssen, Senf &

Meermann, 1997; Langsdorf, 1995).

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Verhaltensauffälligkeiten wie gieriges Verschlingen großer Nahrungsmengen und Unruhe,

sobald der Essanfall unterbrochen wird, können erste äußere Anzeichen für das Bestehen

einer Bulimia nervosa sein. Weitere Hinweise sind das regelmäßige Aufsuchen einer Toilette

nach dem Essen mit anschließendem längeren Aufenthalt im Bad sowie rasch wechselnde

Diät- und Fressphasen mit widersprüchlichen Eßgewohnheiten. Verbunden damit können

große Gewichtsschwankungen oder ein niedriges Körpergewicht trotz Verzehrs großer

Nahrungsmittelmengen sein. Charakteristisch ist auch eine kritische Einstellung zu Figur und

Gewicht mit übertriebenem Schlankheitsideal (Wolfrum & Pappenfuss,1993).

5.3. Psychische Veränderungen

In Persönlichkeitstests (MMPI) wurden bei Frauen mit einer Bulimia nervosa erhöhte

psychopathologische Merkmale festgestellt (Williamson, et al. 1985, zit. nach Bauer,

Anderson & Hyatt, 1994). Die Ergebnisse der Studien lassen vermuten, dass Bulimisierende

verstärkt neurotische, ängstliche, depressive, impulsive und manipulative Merkmale

aufzuweisen haben (Keys et al., 1985, zit. nach Bauer, Anderson & Hyatt, 1994).

5.3.1. Depressive Störungen

Die Bulimie tritt häufig kombiniert mit depressiven Episoden auf, wobei noch nicht geklärt

werden konnte, ob die Depression ein Symptom der Bulimia nervosa darstellt oder,

umgekehrt, die Bulimia nervosa als Folge einer affektiven Störung zu sehen ist (Keys et al.,

1985, zit. nach Bauer, Anderson, Hyatt 1994; DSM IV, 1998).

Bei 30% der Bulimisierenden kann gleichzeitig die Diagnose einer depressiven Störung

gestellt werden (De Zwaan, 1996).

5.3.2. Angststörungen und Zwänge

Buddeberg-Fischer (2000) beschreibt eine hohe Komorbidität mit Angst- und

Zwangserkrankungen. Die Bulimia nervosa kann dazu dienen, Ängste nicht zuzulassen und

nicht spüren zu müssen.

Zu den zentralen Kennzeichen des Krankheitsbildes gehört weiters auch der Perfektionismus.

Man erkennt oft eine mangelhafte Impulskontrolle, die zu Trieb- und Affektdurchbrüchen

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führen kann, sowie eine grundsätzliche Neigung zum Agieren (Janssen, Senf & Meermann,

1997).

5.3.3. Substanzmissbrauch

Bei etwa einem Drittel ist Bulimia nervosa mit Alkohol-, Medikamenten- und

Drogenmissbrauch assoziiert (DSM IV, 1998; Buddeberg-Fischer, 2000). Wenn man die

Bulimia nervosa als Suchterkrankung mit der Substanz Nahrungsmittel bezeichnet, so

verschiebt sich bzw. weitet sich das Suchtverhalten in diesen Fällen auf andere

Substanzgruppen aus.

Das Phänomen Sucht kann dabei verstanden werden „als Antwort auf mangelndes

Genährtwerden und als Ausdruck, sich von bedrängenden und bedrohlichen Aspekten der

Wirklichkeit abzugrenzen, indem im Suchtverhalten Entlastung gesucht wird“ (Kolbe, 1997,

S.203). Die Grundeinstellung der Süchtigen zum Leben ist dabei eine unrealistische,

fordernde, mit dem Bestreben, Leid aus dem Wege zu gehen.

5.3.4. Persönlichkeitsstörungen

Bulimische Erkrankungen entstehen gehäuft auf dem Boden einer Persönlichkeitsstörung.

Man kann davon ausgehen, dass ca. 1/3-1/2 der Bulimisierenden Persönlichkeitszüge

besitzen, die die Kriterien für eine oder mehrere Persönlichkeitsstörungen erfüllen. Die

Borderline Störung wird dabei am häufigsten diagnostiziert (DSM IV, 1998).

Sehr häufig liegt dem bulimischen Syndrom auch eine histrionische Persönlichkeitsstörung

zugrunde (Längle 1994-1998, Tutsch 1998).

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6. Ätiologie

Faktoren, die Auftreten und Aufrechterhaltung der bulimischen Symptomatik begünstigen,

sind äußerst vielfältig und unterliegen großen individuellen Unterschieden. Dennoch gibt es

einige prädisponierende Faktoren, die als gesichert gelten.

6.1. Biologische Faktoren

Zahlreiche Untersuchungen weisen die Wirkung von Serotonin, einem chemischen

Überträgerstoff im zentralen Nervensystem und seine Beeinflussung des Essverhaltens nach.

Ein erhöhter Serotoninspiegel führt zu einer Verminderung von Hungergefühl und

Nahrungsaufnahme. Bei Bulimisierenden konnte in experimentellen Untersuchungen eine

Aktivitätsverminderung im serotonergen System festgestellt werden (Jacobi, Thiel & Paul,

1996). Die pharmakologische Therapie der Bulimia nervosa mit der Gabe von

Serotoninagonisten basiert auf dieser Wirkung.

Für eine genetische Disposition sprechen Zwillingsuntersuchungen bei Bulimisierenden, die

bei eineiigen Paaren deutlich höhere Erkrankungsraten der Schwestern zeigen als bei

zweieiigen (Jacobi, Thiel & Paul, 1996; Jannsen, Senf & Meermann, 1997).

Die Set-Point-Theorie besagt, dass die Anzahl der Fettzellen einerseits durch Vererbung,

andererseits durch die frühe Ernährung festgelegt wird. Somit hat jede Person eine definierte

Gewichtskurve, die im Laufe des Lebens lediglich durch bestimmte Faktoren (Grundumsatz,

Hormone, Alter etc.) beeinflusst wird und die der Körper zu halten versucht. In vielen Fällen

liegt der Set-Point jedoch über dem von Gesellschaft und Mode diktierten Idealgewicht und

kann als „persönliches Idealgewicht“ bezeichnet werden. Folglich stellt jedoch jedes darunter

liegende Gewicht ein „persönliches Untergewicht“ dar. Um dieses zu halten, wird der

Grundumsatz im Sinne eines verminderten Energieverbrauches eingeschränkt, der auch noch

nach Abschluss der Diät erhalten bleibt. Wenn jedoch dem Körper wieder ausreichend

Nahrung zugeführt wird, kommt es zu einer Gewichtszunahme im Sinne des Jo-Jo-Effektes

(Jacobi, Thiel & Paul, 1996; Bauer, Anderson & Hyatt, 1994).

6.1.1. Diät

Diät-halten stellt den wichtigsten Risikofaktor für das Auftreten von Essstörungen dar. Durch

das Fasten kommt es auch zu Veränderungen des emotionalen Zustandes wie ängstliche oder

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depressive Verstimmung, Antriebsverminderung und Stimmungsschwankungen. In der Studie

von Keys, Brozek, Henschel, Mickelsen und Tayler (1950), in der Männer sechs Monate auf

Diät gesetzt wurden, konnten des weiteren Konzentrationsstörungen, erhöhte Irritierbarkeit

mit Temperamentsausbrüchen, Müdigkeit und Apathie bis zur sozialen Isolation beobachtet

werden (Bauer, Anderson & Hyatt, 1994).

6.2. Soziokulturelle Faktoren

Gesellschaftlich überlieferte Wert- und Moralvorstellungen und diesbezügliche

Veränderungen innerhalb der letzten Jahrzehnte spielen bei der Entwicklung von

Essstörungen eine wesentliche Rolle.

Mit der Erfindung der Waage im 19.Jahrhundert kam es zu einem Wandel des bis dahin

gültigen weiblichen Schönheitsideales, welches mollig und mütterlich weich gewesen war.

Ärzte riefen zur Mäßigung auf und erstellten Essenspläne, die im 20.Jahrhundert streng

genormt waren. Diese kamen unter anderem als starre Fütterungsvorschriften für Säuglinge

zur Anwendung und fanden in nicht enden wollenden Vorschlägen für weitere

Reduktionsdiäten ihre Fortsetzung.

Es entstand besonders in den westlichen Industrienationen ein neues Schlankheitsideal,

welches in den 60er Jahren in der “Twiggy – Welle” seinen ersten Höhepunkt erreichte. Das

Bestreben vieler Frauen, dem neuen Schönheitsideal zu entsprechen, trug wesentlich zur

Entstehung und Verbreitung von Essstörungen bei. Mit der Veränderung der traditionellen

Frauenrolle wurden neue Bedingungen und Anforderungen an die Frauen gestellt.

Zunehmend mehr Frauen fanden bzw. finden sich in diesem Spannungsfeld zwischen

tradierten und aktuell gültigen Idealen nicht zurecht. Dem Nahrungsüberschuss steht ein

immer strenger werdendes Schlankheitsdiktat gegenüber. Frauen, für deren berufliche

Tätigkeit Figur und Gewicht eine wesentliche Rolle spielen, wie Balletttänzerinnen, Models,

Flugbegleiterinnen, Leichtathletinnen, etc. haben ein deutlich höheres Risiko für die

Ausbildung einer Essstörung (Janssen, Senf & Meermann, 1997, Jakobi, Thiel & Paul, 1996).

6.3. Familiäre Faktoren

Viele Studien (Kinzl, 1998, zit. nach Amann & Wipplinger, 1998) belegen einen

Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und der Entwicklung von Essstörungen.

Aufgrund unterschiedlicher Studiendesigns sowie Untersuchungsgruppen schwanken die

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angegebenen Zahlen, es wird jedoch angenommen, dass etwa 30% der von einer Essstörung

Betroffenen sexuelle Missbrauchserfahrungen haben.

Als charakteristisch für Familien von Bulimisierenden werden weiters eine mangelnde

Abgrenzung der Mitglieder untereinander und eine rasch wechselnde Rollenverteilung

beschrieben. Die Familien sind sehr den Konventionen verhaftet. Das Familienklima ist

häufig von einer Scheinharmonie geprägt, Konflikte werden nicht ausgetragen, sondern

verdrängt. Nach Janssen, Senf und Meermann (1997), Focks (1997) und Horstkotte-Höcker

(1987) ist das Familienbild geprägt von abwesenden Vätern und überfürsorglichen Müttern,

die jedoch die wirklichen Bedürfnisse der Kinder nicht erkennen und nicht auf die Person des

Kindes eingehen bzw. sie für die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche gebrauchen. Besorgnis und

Zuneigung werden über das Essen zum Ausdruck gebracht (Jacobi, Thiel & Paul, 1996). “In

einer solchen Umgebung kann Nichtessen mit Kritik an der Mutter und Essen als Ausdruck

von Glück und Liebe angesehen werden“ (Bruch, 1997b, S.77).

Vielfach leiden die Mütter der Betroffenen selbst unter Gewichts- bzw. Essproblemen, ebenso

ist die Rate an psychischen Störungen wie Alkoholismus, Depression und

Zwangserkrankungen in diesen Familien erhöht. (Horstkotte-Höcker, 1987; Janssen, Senf,

Meermann, 1997; Focks, 1994).

6.4. Äußere Belastungen

Bedrückende Lebensereignisse, wie Schulprobleme, Schwierigkeiten im Beruf, familiäre oder

partnerschaftliche Konflikte, aber auch persönliche Veränderungen wie Auszug aus dem

Elternhaus, Partnerwahl, Berufswahl u.ä., können zu einer Überforderung führen. Die

Betroffenen fühlen sich den äußeren Ansprüchen nicht gewachsen und besitzen nicht

ausreichend Ressourcen, um Konflikte adäquat lösen zu können. Als Folge können Störungen

im Essverhalten auftreten (Bauer, Anderson & Hyatt, 1994; De Zwaan,1996).

6.5. Prädisponierende Persönlichkeitsmerkmale

Es gibt kaum Studien, die prädisponierende Persönlichkeitsmerkmale nachweisen. Nach dem

DSM IV (1998) erfüllen jedoch ein Drittel bis die Hälfte der Personen mit Bulimia nervosa

Kriterien für eine oder mehrere Persönlichkeitsstörungen, wobei die Diagnose Borderline am

häufigsten gestellt wird. Tutsch (persönl. Mitschrift) beschreibt histrionische

Persönlichkeitsmerkmale als prädisponierende Faktoren.

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Im Zusammenhang mit der Bulimia nervosa stehen auch affektive Störungen und

Angststörungen.

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7. Ätiologie der Bulimie aus existenzanalytischer Sicht

7.1. Grundmotivationen

Die Existenzanalyse unterscheidet drei personale und eine existentielle Grundmotivation -

auch personal–existenzielle Funktionsräume genannt, die „jene vier existentiellen

Grundbedingungen des Menschen beschreiben, ohne die dem Menschen ein Existieren im

vollen Sinne des Wortes nicht möglich ist“ (Längle,1998, S.22). Es handelt sich dabei um

„die Gesamtheit jener Kräfte und Beweggründe, die das menschliche Handeln bestimmen“

(Längle, pers. Mitschrift), bedingt durch innere Bedürfnisse und äußere Werte. Wenn diese

Grundbedingungen nicht erfüllt sind oder Störungen und Defizite in einem bzw. mehreren

personal-existentiellen Funktionsräumen bestehen, ruft dies existentielle Grundgefühle wie

Verunsicherung, Belastung, Einsamkeit und Leere hervor, „die bei Anhalten bzw.

zunehmender Schwere immer mehr psychisch unterschichtet werden und zu reinen

zuständlichen Gefühlen auswachsen, die im weiteren zu Erstarrungen (Fixierungen) führen

und somit psychische Störungen auslösen“ (Längle, 1998, S.22).

Bei Personen, die an Bulimia nervosa leiden, können folgende Defizite und Schwächen im

Bereich der personalen Fähigkeiten beschrieben werden:

7.1.1. Die erste Grundmotivation: „der Seinsgrund“

Längle beschreibt das Hineingeborensein des Kindes in die Welt, die ihm entgegentritt, die

ihm Widerstand leistet, die ihm Raum auftut, als ontologischen Grund unseres Lebens. Das

Kind macht die Erfahrung, dass „es ist“. Der Seinsgrund ist daher immer vorhanden. Das

Dasein ist so selbstverständlich, dass es häufig nicht beachtet wird und der Zugang zu ihm

verloren gehen kann. Der Seinsgrund wird im existentiellen Sinn über das Fühlen erschlossen,

das Denken kann diese Erfahrung nur intensivieren. Auch unter grausamen

Lebensbedingungen bleibt das Sein erhalten, „man kann aus dieser Welt nicht herausfallen.“

Das Dasein braucht jedoch Lebensraum und ist an die Bedingungen dieser Welt geknüpft. Die

Erfahrung des Angenommenseins ist eine wesentliche Voraussetzung, um sich selbst, die

individuellen Lebensumstände, die eigenen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und sich

ausreichend Raum zu verschaffen und bei Bedarf auch verteidigen zu können.

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Als Folge von bedrohten Lebensräumen können Ausweichen in die Phantasiewelt oder

Aggression entstehen. (Längle, 1999)

Physische und psychische Bedrohungen können durch den Verlust von haltgebenden

Strukturen die Sicherheit der eigenen Existenz erschüttern. Die Missachtung und Verletzung

der Intimität des Kindes – wie im Falle von sexuellem Missbrauch - stellt eine derartige

Bedrohung dar, und kann Angst und Hilflosigkeit bis hin zur Ohnmacht auslösen. Das

Erleben der Ausweglosigkeit und des Ausgeliefertseins kann ein Gefühl der Bodenlosigkeit

hervorrufen. Es droht „die Zerstörung bzw. der Verlust von Halt und von geordneten

Strukturen, die den Boden für das „Sein- können“ abgeben (Längle, 1996, S.4).

Unter den Bulimisierenden gibt es einige, die nicht ausreichend Schutz und Verlässlichkeit

erfahren haben, um das Grundvertrauen, oder wie Frankl es bezeichnet, das „Urvertrauen ins

eigene Dasein“ zu erlangen. Die Betroffene fühlt keinen Halt und kann den für sie

notwendigen Raum nicht verteidigen. Sie kann die Bedingungen und Umstände, in denen sie

lebt, nicht annehmen und auch nicht als Boden für ihr künftiges Handeln, als Ausgangsfläche,

auf der sie ihr weiteres Leben baut und entfaltet, verwenden. Sie ist geprägt von großem

Misstrauen und tiefer Verunsicherung.

Bewältigungsstrategien, wie Verleugnung, Vermeidung und Flucht sollen eine vermeintliche

Sicherheit aufrecht erhalten. (Längle, 1996, 2000 b, Tutsch 1998).

Susanne, 26 Jahre alt, ist schlank, studiert und übernimmt daneben diverse Jobs. Sie lebt

alleine und zurückgezogen und hat wenige Freunde.

Susanne ist ein Einzelkind und gemeinsam mit der Großmutter und den Familien der

Schwestern ihrer Mutter in einem großen Haus aufgewachsen. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt ist

bei der Mutter ein chronisches Leiden aufgetreten, unter dem die Mutter sehr gelitten hat.

Susanne schämt sich- wie auch die Mutter- dafür, versucht es zu verheimlichen und fühlt sich

(nicht zuletzt aufgrund von Bemerkungen der Familie) dafür verantwortlich und schuldig.

Die Mutter opferte sich für ihre Ursprungsfamilie auf, der Vater war kaum zuhause. Susanne

ist irgendwie mitgelaufen und musste sich aus Rücksicht der Großmutter gegenüber immer

zurücknehmen. Bis zum sechzehnten Lebensjahr teilte sich mit der Großmutter ein Zimmer,

obwohl im Haus genügend Platz gewesen wäre. Mit fünf Jahren bekam sie massive

Schlafstörungen, mit denen sie jedoch alleine gelassen wurde. Körperliche Nähe und

Zärtlichkeit hat es kaum gegeben.

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Vom siebzehnten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr hat Susanne regelmäßig gegessen

und erbrochen. In diese Zeit fiel auch ein stationärer Aufenthalt in einer psychosomatischen

Klinik wegen wiederholter Selbstmorddrohungen und Selbstbeschädigung. Danach kam es zu

einer Besserung der Symptomatik.

Selbstmordabsichten sind nicht mehr vorhanden, die bulimische Symptomatik mit Essen und

Erbrechen ist abgeklungen. Ihr Gewicht kontrolliert sie derzeit mit exzessivem Sport.

Seit circa fünf Jahren leidet sie unter Panikattacken, begleitet vom Gefühl, sich nicht bewegen

zu können, wie gelähmt zu sein. Sie hat Angst, ihren Beruf später einmal nicht ausüben zu

können, nicht belastbar zu sein, es einfach nicht zu schaffen, verrückt zu werden. Sie fürchtet

sich davor, alleine in ihrer Wohnung zu liegen, sich nicht rühren zu können und auch keine

Hilfe rufen zu können.

Im Alltag können sie einerseits kleine Unannehmlichkeiten gänzlich aus dem Gleichgewicht

bringen, während sie andererseits in anstrengenden und belastenden Situationen

(Trekkingurlaube) erstaunlich belastbar ist. Sie fühlt sich häufig angegriffen und verteidigt

sich sehr massiv. Auffallend sind ihre äußerst wechselhaften Stimmungen, sowie heftige

Gefühlsausbrüche. Sie neigt dazu, Bedürfnissen sofort nachzugeben und Impulse unmittelbar

auszuagieren. Polarisierungen und Übertreibungen relativieren sich oft bei genauerer

Betrachtung.

Susanne hat sich durch die Erkrankung und Bedürftigkeit der Mutter sowie die Abwesenheit

des Vaters als nicht angenommen erlebt und immer wieder im Stich gelassen gefühlt. Ihr

wurde weder ausreichend Raum gegeben noch Schutz geboten, um sich geborgen zu fühlen

und Halt zu finden. Sie kann sich selbst nicht annehmen. Ihr Vertrauen ist zutiefst erschüttert,

ihr Leben geprägt von Verunsicherung und Angst.

7.1.2. Die zweite Grundmotivation: “der Lebenswert“

Die erste Motivation schafft den schützenden Raum für das Leben, doch das bloße Dasein

genügt nicht. Wir wollen, dass unser Leben gut ist, dass es lebenswert ist. Fundamental für

die Erfüllung dieser Grundmotivation ist die Erfahrung von anderen Menschen, „dass es gut

ist, dass es mich gibt!“

Durch die Liebe und Zuwendung der Eltern entsteht ein Funke, an dem sich die eigene Liebe

für das eigene Leben entzünden kann. Beziehungen sind ebenso grundlegend und notwendig

für das Leben wie der geschützte Lebensraum. Um die eigene Liebe zum Leben entfalten zu

können, muss man jedoch selbst das „Ja“ zum Leben aussprechen. Nur dann werden auch das

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Erlebte und das Erleben wertvoll.

Tutsch (1998) bezeichnet den „Grundwert eines Menschen als Basis, dass er als ´Liebender´

und nicht als ´Bedürftiger´ in die Welt hinausgehen kann“.

Fehlende Zustimmung zum eigenen Leben führt dazu, dass andere Einflüsse bestimmend

werden. Der Wunsch, anderen überall genügen zu wollen, und ein daraus resultierender

Autoritätsgehorsam können zu Stress, Ermüdung, Belastung und Freudlosigkeit führen. Das

Leben wird leer und kalt, es kommt zum inneren Rückzug und kann in eine mitunter schwere

Depression münden (Längle, 1999).

Viele Bulimisierende stehen in mangelndem Bezug zu ihrem Grundwert, der die tiefste

Beziehung zu ihrem Leben spiegelt. Die Grundfrage des Lebens- “mag ich auch leben?”- wird

nicht bejaht.

Es kommt zu einem inneren Beziehungsverlust. Die Betroffene orientiert sich an

Wunschvorstellungen und empfindet sich und ihr Leben, so wie es ist, als wertlos. Gefühle

von Unsicherheit, Minderwertigkeit und Hoffnungslosigkeit herrschen vor und beeinflussen

Denken und Handeln. Aus dem Gefühl heraus, nicht liebenswert zu sein, baut sie eine

Fassade auf, hinter der sie sich versteckt. Dahinter ist sie jedoch sehr verletzbar. Anderen

gegenüber fühlt sie sich einerseits verpflichtet, andererseits besteht eine große Bedürftigkeit

bis hin zur Abhängigkeit. Diese starke Sehnsucht nach Liebe, Nähe und Zuwendung

verhindert jedoch, Andere und Anderes in ihrem Eigenwert zu erkennen, um ihrer selbst

willen zu mögen und nicht nur zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Mängel zu

(ge)brauchen. (Längle, 1994, 2000 b, Tutsch, 1998)

Charakteristisch für die Familien Bulimisierender ist eine Inkonstanz in Beziehungen. Die

Betroffene hat die Brüchigkeit von Beziehungen erfahren. Zuwendung und Nähe wurden ihr

nur unzureichend und wechselhaft vermittelt. Sie hat sich als nicht oder nicht beständig

gemocht erlebt und kann nicht glauben, dass man sie liebt. Da erst die Erfahrung der

Zuwendung durch andere die Möglichkeit schafft, zu spüren, „daß es gut ist zu sein“ (Längle,

1999, p.24), das eigene Leben zu bejahen und den Wert seines eigenen Daseins zu fühlen,

empfindet sie sich als wertlos, als Belastung und kann sich an äußeren Werten nicht erfreuen.

In ihrem Innersten glaubt sie, dass es besser wäre, wenn es sie nicht gäbe.

Elisabeth ist 31 Jahre alt, von attraktivem, gepflegten Äußeren, ruhig und zurückhaltend. Sie

arbeitet als Angestellte in leitender Position.

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Erste Erfahrungen mit dem Bulimisieren hatte sie mit circa siebzehn Jahren. Seit dem 23.

Lebensjahr leidet sie an Multipler Sklerose, die sich durch verminderte Belastbarkeit,

Gangunsicherheit, hervorgerufen durch Koordinationsstörungen und Schwäche in den Beinen,

Sensibilitätsstörungen und Infektanfälligkeit zeigt. Seit dem Auftreten der Erkrankung

bulimisiert sie mehr oder weniger täglich mindestens einmal, mit deutlicher Zunahme an

Wochenenden und Feiertagen.

Sie lebt alleine und hat zur Zeit eine Beziehung mit einem Mann, der mit zwei Kindern in

aufrechter Ehe lebt. Freunde hat sie so gut wie keine, ihre äußerst beschränkte Freizeit

verbringt sie bei ihren Eltern oder bulimisierend.

In der Firma ist sie angesehen und beliebt und übernimmt -weit über ihr Aufgabengebiet

hinaus- viele zusätzliche Tätigkeiten, nicht zuletzt, um dem Alleinsein zu entfliehen.

Mit dem Auftreten der Multiplen Sklerose hat sie ihre Hobbys, die vor allem sportlicher Natur

waren, sowie Discobesuche aufgegeben. Ihr Leben empfindet sie als freudlos und sehr

belastend. Aus Angst, anderen zur Last zu fallen, zieht sie sich privat immer mehr zurück und

empfindet sich selbst und ihr Leben als wertlos. „Eigentlich wäre es egal, wenn es mich nicht

mehr gebe. Ich würde sowieso niemandem abgehen und so wenigstens meinen Eltern nicht

mehr zur Last fallen.“

Sie sehnt sich nach Liebe, Nähe und Wertschätzung und hält ihre unbefriedigende Beziehung

aus Bedürftigkeit nach Zuwendung aufrecht. Sie ist sich selbst gegenüber sehr streng,

entwertet sich immer wieder, kann nichts wirklich annehmen und glaubt, sich ihr Dasein

durch Leistungen verdienen zu müssen.

Wenn ihr alles zuviel wird, zieht sie sich ins Krankenhaus zurück und bezeichnet den

stationären Aufenthalt als „nahezu Urlaub mit Vollpension, wo sich alle um sie kümmern und

sie nie alleine ist“.

Elisabeth hat regelmäßigen Kontakt zu ihren Eltern. Ihren Vater, der eine Firma besitzt,

schildert sie als dominant, launisch und beherrschend. Wenn er zuhause war, mussten sich die

Kinder (eine jüngere Schwester) ruhig und unauffällig verhalten. Er hatte immer Freundinnen,

unter denen die Mutter, Hausfrau und im Betrieb tätig, sehr litt. Die Mutter ist aufopfernd und

immer auf Frieden bedacht. Durch die viele Arbeit hatte sie jedoch nur wenig Zeit für die

Töchter und konnte aufgrund ihrer eigenen Bedürftigkeit nicht emotional auf sie eingehen.

Elisabeth war ein braves Kind, erbrachte immer ausgezeichnete schulische Leistungen im

Gegensatz zu ihrer klügeren Schwester.

Sie lebt ihre Schwäche und Bedürftigkeit in der Erkrankung. Spannungen und Frustrationen,

weil sie sich selbst immer wieder übergeht, missachtet und abwertet, baut sie beim

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Bulimisieren ab. Werte, die ihr wichtig waren und sind, lebt sie nicht, mit Verweis auf ihre

Erkrankung. Mit dieser Behinderung mag sie nicht leben. Sie nimmt sich selbst nicht wichtig,

stellt sich immer zurück und empfindet ihr Leben als wertlos und mühsam.

7.1.3. Die dritte Grundmotivation: „Selbstwert“

Sind die ersten zwei Grundmotivationen erfüllt, hat also eine Person ihren Lebensraum

ausgefüllt und empfindet ihren Lebenswert, kann sie leben und will auch leben.

In der dritten Motivationsebene geht es um die besondere persönliche Note, um die

Anerkennung der ganz spezifischen Art und Weise des Erlebens, Denkens, Fühlens und

Handelns. Jeder Mensch ist einzigartig und unverwechselbar. Er will ganz er selbst sein und

muss zu sich selbst stehen können. Aus der Frage, wo seine eigenen Grenzen sind bzw. was

erlaubt ist, entwickelt sich sein Sinn für Gerechtigkeit und Ethik.

Erfährt jemand von anderen wenig Achtung in seinem So-Sein, wird es ihm schwerfallen,

sich selbst in seinen Stärken aber auch Schwächen anzunehmen. So verhalten sich

beispielsweise Kinder „brav“ oder vollbringen gute Leistungen, um geliebt zu werden.

Kritisch für Beziehungen wird es, wenn das Gefühl entsteht, die Daseinsberechtigung bzw.

die Achtung von anderen durch Leistung erkaufen zu müssen (Längle, 1999).

Muss jemand um die Anerkennung des eigenen So-Seins kämpfen, können daraus ungefragte

Rechtfertigungen, zu schnelles Nachgeben, Anpassen an andere und histrionische,

narzisstische sowie paranoide Störungen resultieren (Tutsch, 1998).

Gelingt es jedoch, „Ja zu sich“ zu sagen und sich die Treue zu halten, wird das Leben

authentisch (Längle, 1999).

Charakteristisch für die Bulimisierende ist ein geringer Selbstwert, mangelnde Achtung und

Wertschätzung des Eigenen, ausständige Zustimmung zu sich selbst und ein Nein auf die

Frage “darf ich so sein, wie ich bin”.

Die Bulimisierende glaubt nicht so sein zu dürfen, wie sie im Grunde wirklich ist. Sie

übergeht daher ihre eigenen Gefühle und wertet ihre Bedürfnisse ab. Sie stellt ihre Wünsche

zugunsten der Erwartungen anderer zurück und steht nicht zu sich selbst. Dies führt zu einem

Verlust der Freiheit bis hin zur Selbstverleugnung. Eigenes und Fremdes können nicht mehr

klar voneinander abgegrenzt werden. Das Wollen weicht dem Müssen. Ersatzwerte und

Handlungen sollen die innere Spannung und Leere verdrängen. (Längle, 1994, Guth,1993)

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Dieses „Getriebensein führt zu einem apersonalen Verhalten, in dem sich die Person selbst

nicht mehr gerecht wird”. (Längle,1993, S.22)

Die Mehrzahl der Bulimisierenden berichtet, als Kind unter Trennungsängsten gelitten zu

haben. In diesen Fällen boten die Eltern zwar Halt, Raum und Schutz, sodass Grundvertrauen,

der ersten Grundmotivation entsprechend, entstehen konnte und vermittelten Nähe, was sich

positiv auf die Entwicklung des Grundwertes im Sinne der zweiten Grundmotivation

auswirkte. Wertschätzung und Aufmerksamkeit als Voraussetzungen zur Ausbildung der

dritten Grundmotivation, des Selbstwertes konnten jedoch nur in unzureichendem Maß

erfahren werden.

Bei den Betroffenen führt dies zu einem ausgeprägten Gespür für Gefälliges und einer

erstaunlichen Wendigkeit im Bestreben, Zuwendung und Liebe zu erringen. Das Erspüren

und Erkennen eigener Bedürfnisse wird jedoch nicht gefördert. Innere Verlassenheit und

Einsamkeit sind die Folge.

Gabi ist achtzehn Jahre alt, sehr groß und schlank. Sie absolviert ein Gymnasium mit

angeschlossener Tanzausbildung, erbringt gute schulische Leistungen und ist auch beim

Tanzen äußerst ehrgeizig und erfolgreich. Seit kurzem lebt sie mit einer Mitschülerin in einer

Mietwohnung, zuvor in einem der Schule angeschlossenen Internat.

Seit ungefähr zwei Jahren isst und erbricht sie circa ein- bis zweimal pro Woche, wobei dies

im Internat nicht ungewöhnlich ist. Für ihr Berufsziel, Tänzerin, ist ein zarter, kraftvoller

Körper unerlässlich, Gewichtszunahmen werden von den Ausbildnern genau wahrgenommen

und auch kommentiert.

Gabi ist sehr begeisterungsfähig, mitreißend, unternehmungslustig und spontan. Sie ist

kontaktfreudig, mit vielen wechselnden Beziehungen, und entweder gerade himmelhoch-

jauchzend oder zu Tode betrübt. Sie hält es nur schwer aus, nicht die Beste zu sein, kann

Kritik sehr schwer annehmen und zieht sich dann tief verletzt zurück.

Gabi fühlt sich unter Druck gesetzt und fürchtet, die notwendigen Leistungen nicht erbringen

zu können. Sie fühlt sich ausgelaugt und überfordert. Da sie nur ungern alleine ist, füllt sie

ihre Zeit mit Aktivitäten.

Sie ist die jüngere von zwei Schwestern. Bis zur Scheidung der Eltern, in ihrem fünften

Lebensjahr, war sie Papas Prinzessin. Seitdem hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater.

Die Mutter ist wegen eines Gebrechens vorzeitig in Pension und Gabi wuchs sehr behütet und

beschützt auf. Es bestand ein inniges Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, das sich mit

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Beginn der Pubertät änderte. Seitdem kann Gabi ihrer Mutter nichts mehr recht machen. Ihr

wird die Schwester, die ruhig, besonnen und immer vernünftig ist, als gutes Beispiel

vorgehalten. Dabei versucht Gabi alles, damit ihre Mutter stolz auf sie sein kann.

Gabi sehnt sich danach, in ihrem Sosein gesehen und geschätzt zu werden. Da sie jedoch nie

gelernt hat, zu sich selbst zu stehen, versucht sie Anerkennung und Achtung zu erringen,

indem sie es den Anderen recht macht und ihre eigenen Bedürfnisse dabei übergeht.

7.1.4. Die vierte Grundmotivation „die Lebenserfüllung“

Der Mensch strebt nach Erfüllung dieser drei Grundmotivationen. Dadurch wird er in seiner

Autonomie bestärkt und gefestigt. Er wird frei, für sich einzustehen und zu tun, was er für

richtig und gut hält. Damit bewegt ihn aber auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit seines

Tuns. (Tutsch,1998)

Frankl bezeichnet die Suche nach Sinn als die primäre Motivation des Menschen. Sie ist die

zentrale Frage erfüllter Existenz und stellt eine existentielle Motivation dar: „Ich bin da, aber

wozu ist es gut? Was soll ich tun?“

Der Mensch ist ein Wesen auf der Suche nach Sinn. Auf die Spur von Sinn bringt ihn

nun das Gewissen. So lässt es sich denn als das in ihn >eingebaute< Sinn- Organ

definieren. Es lässt die jeweilige Sinnmöglichkeit aufleuchten hinter der

Wirklichkeit..... (Frankl, 1992b S.59).

Sinn kann also nicht gegeben werden, er liegt bereits in der Welt vor. „Nicht wir dürfen nach

dem Sinn des Lebens fragen - das Leben ist es, das Fragen stellt (...) Wir sind die, die zu

antworten haben (...)“(Frankl, ebd.,S.88 f).

Sinn ist nichts Endgültiges, sondern muss immer wieder neu gefunden werden. Längle

beschreibt Sinn als „wertvollste Möglichkeit in jeder Situation“ (Längle, 2000, S.8).

Viele Menschen sind jedoch nicht offen für den Sinn, den etwas für sie hat. Sie halten an

Vorstellungen fest, anstatt ihr eigenes Leben zu vollziehen. So entsteht eine Sinnleere, die

sich unter anderem als unerträgliche Langeweile zeigt. Ihr wird oft mit einem Streben nach

Macht, Lust, Erfolg und Aktionismus begegnet. Das inadäquate Verhalten ruft jedoch Gefühle

der Verzweiflung, Sinnlosigkeit und existentieller Frustration hervor und kann in Sucht oder

Suizidalität münden (Längle,1994-1998, Tutsch, 1998).

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Die Bulimisierende lebt sehr oft in einer Wunschhaltung ohne sich mit ihrer aktuellen

Situation auseinander zu setzen. Sie macht ihr Glück und ihre Zufriedenheit von äußeren

Bedingungen abhängig und bleibt passiv in einer unreifen und unrealistischen

Erwartungshaltung. Sie empfindet das Leben als sinnlos, wenn es nicht ihren Vorstellungen

entsprechend verläuft. Sie spürt nicht, dass sie in einer Welt steht, die etwas von ihr erwartet

und verlangt und erkennt nicht die Möglichkeiten, die sich ihr bieten. „Sich dem zuwenden,

was noch offen ist, in der Welt, was zu tun ist, ist Sinn. Ist der Sinn des Existierens“ (Längle,

2000, S.39). Anstatt sich von Werten anziehen zu lassen, strebt sie nach einem angenehmen

Zustand, der in eine Sinnentleerung und letztendlich ins existentielle Vakuum führen kann.

Essen wird dabei zu einem wichtigen Ersatzmittel (Längle, 1993, 2000 b, Guth, 1993).

Das folgende Gedicht wurde von einer Bulimisierenden verfasst und beschreibt die

Bedürfnisse entsprechend den Grundmotivationen:

Einmal

innehalten und verweilen

ohne ständig

zu flüchten

ohne ständig

zu suchen

Einmal

nicht 100% funktionieren

ohne deshalb

zu verzweifeln

ohne dafür

bestraft zu sein

Einmal

Geborgenheit erleben

ohne dafür

andere zu brauchen

ohne dafür

abhängig zusein

Einmal

bei mir sein

mir selbst vertrauen

mich einfach annehmen

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33

7.2. Die zugrundeliegenden Störungen der Bulimia nervosa auf Basis der

Grundmotivationen

Wie bereits beschrieben, können dem äußeren Erscheinungsbild der Bulimia nervosa, Essen

und Erbrechen, sehr komplexe psychische Störungen zugrunde liegen. Ihr Ausmaß und ihre

Vielschichtigkeit sind für die existenzanalytische Diagnostik und Therapie der Erkrankten

maßgebend. Die Persönlichkeitsstruktur Bulimisierender ist sehr heterogen. Die Bandbreite

der zugrundeliegenden Störungen reicht - je nach Intensität des Störbildes und Tiefe der

betroffenen Persönlichkeitsschicht - von einer leichten Störung, im Sinne einer Neurose, über

die histrionische Persönlichkeitsstörung bis hin zur Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Defizite lassen sich also in allen personalen Funktionsräumen finden und bestimmen den

Schweregrad der Erkrankung .

Der Bulimia nervosa oder Ess-Brechsucht, liegt, wie bereits aus der deutschen Bezeichnung

hervorgeht, immer ein Suchtverhalten zugrunde. Als Suchtmittel werden hier Nahrungsmittel

missbraucht. Während es der/dem Hungrigen jedoch um die Nahrung selbst geht, geht es der

Bulimisierenden um Erleben, Spüren, Bedürfnisbefriedigung und Spannungsabbau.

Geschmack und die Qualität der Lebensmittel gehen verloren und damit auch deren

Eigenwert. „Verlust der Freiheit bei einem Überhandnehmen des Getriebenseins (Vermeidung

von Unlust/Problemen und Suchen von Lust/Entspannung) und die Entwicklung eines

apersonalen Verhaltens“ (Längle, Probst, 1993, S.74) durch einen Sinn- und Werteverlust

sind die Folge.

Auch wenn die Störung phänomenologisch auf der dritten Ebene, der des Selbstwertes, zu

Tage tritt, lässt sie sich nicht darauf beschränken, betrifft immer auch die vierte Ebene und

erstreckt sich sehr oft auf den Grundwert (2.GM) und sogar auf die Basis des Seins (1.GM).

Auf dieser Grundannnahme möchte ich drei Ausprägungsformen der zugrundeliegenden

Störungen, auf deren Boden die Bulimia nervosa entstehen kann, beschreiben.

7.2.1. Persönlichkeit mit histrionischen Merkmalen

Mangel an Wertschätzung führt dazu, dass die Betroffene sich nur dann als wertvoll und

liebenswert empfindet, wenn sie ihre eigenen Wünsche zugunsten der Anderen zurückstellt

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und den real an sie gestellten oder auch nur selbst vermuteten Erwartungen entspricht.

Dadurch kann sie das Eigene nicht entwickeln, Selbstannahme und Aufbau einer inneren

Beziehung sind defizitär. Die Angst nicht zu genügen, löst Verhaltensphantasien und

Trennungsängste aus.

Sie lebt in der Gewissheit, dem von ihr nach außen präsentierten Bild nicht zu entsprechen,

das sie aus Angst, Respekt und Anerkennung zu verlieren, aufrecht zu halten versucht. Aus

dem Gefühl heraus, für die anderen nicht gut genug zu sein, schafft sie es nicht, zu sich selbst

zu stehen. Sie spürt und erkennt ihre Bedürfnisse, gesteht sie sich jedoch nicht zu und tritt

nicht für sie ein. Für das Unvermögen, Eigenes zu vertreten, verachtet sie sich wiederum. Ihre

Fertigkeit, Bedürfnisse der anderen rasch zu erkennen, verstärkt noch das Bemühen, allen und

allem gerecht zu werden. Dabei verleugnet und verliert sie sich selbst immer wieder. Sie hat

nicht gelernt, sich selbst gegenüberzutreten und sich (ein) zuschätzen.

Bei der Bulimisierenden sind die notwendigen personalen Kompetenzen vorhanden,

Belastungen führen jedoch zu einer Blockade dieser Fähigkeiten. Essen stellt eine

Möglichkeit dar, sich abzulenken, sich etwas Gutes zu tun. Dabei baut sie Spannungen (wenn

auch nur vorübergehend) ab, verdrängt zugrunde liegende Gefühle wie Enttäuschung,

Kummer, Trauer, Angst etc. und schiebt die Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen

auf. Sie ist nicht bereit, sich selbst und ihre Situation ernst zu nehmen, sowenig wie sie bereit

ist, die zugeführte Nahrung zu behalten, die Nährstoffe aufzunehmen und zu verdauen.

Das Defizit liegt im Bereich der dritten Grundmotivation, des Selbstwertes. Grundvertrauen

im Sinne der ersten Grundmotivation und Grundwert entsprechend der zweiten

Grundmotivation sind jedoch in ausreichendem Maße ausgebildet.

7.2.2. Histrionische Persönlichkeitsstörung

Hinter einer strahlenden Fassade macht sich Leere breit. Werte werden nicht mehr als solche

empfunden, Einsamkeit und Verzweiflung sind die Folgen. Für die Betroffene wird das nach

außen geführte Leben anstrengend und unerträglich - zum Kotzen. Sie fühlt sich

unverstanden, verkannt, ausgeschlossen, unter Druck gesetzt und unfrei. Ihr wirkliches Leben

spielt sich im Geheimen ab. Essen wird für sie zum Ersatz mit dem Zweck, die Leere zu

füllen und die Einsamkeit nicht zu spüren. Unangenehme Gefühle schiebt sie nicht nur

beiseite, sondern lässt sie erst gar nicht zu und klammert so die Außenwelt aus.

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In ihrer Bedürftigkeit stopft sie Nahrungsmittel in sich hinein, wie eine Verhungernde. Und in

der Tat ist sie das auch. Sie hungert nach Wertschätzung, ohne sich selbst zu schätzen und

nach Anerkennung, ohne sich selbst ernst zu nehmen. Sie sehnt sich nach Zuwendung, ohne

sich selbst zu mögen und wünscht sich Wärme und Geborgenheit.

Ein wesentliches Merkmal ist „die Unfähigkeit, Hunger und andere Körperempfindungen zu

erkennen, und fehlendes Bewußtsein darüber, dass es das eigene Leben zu leben gilt“(Bruch,

1997 b, S.68).

Die Betroffene fühlt sich verpflichtet, sich anzupassen. Sie schafft es nicht, ihre Situation zu

überblicken, sich zu distanzieren und rigide Verhaltensmuster zu verlassen.

Ihre Wahrnehmung ist einseitig, deformiert, das Erleben geprägt durch fehlenden Halt, der

wiederum die Angst verstärkt, in ihrem Sosein nicht angenommen und gelassen zu werden.

Ihr Verhalten wirkt übertrieben, dramatisch und inadäquat.

Sie ist sich selbst verloren gegangen und so inszeniert sie „im Mittel der Äußerlichkeit

beeindruckende, impressionistische Gesamtwirkungen, um dem psychischen Nichtsein zu

entgehen“ (Längle, 1999, S.17).

Die Störung tritt hier vordergründig im Bereich der dritten Ebene, des Selbstwertes, zutage.

Wie jedoch bei sämtlichen Persönlichkeitsstörungen sind alle vier Grundbedingungen der

Existenz betroffen, wobei sich ein weiterer Schwerpunkt in der ersten Ebene, dem bedrohten

Grundvertrauen finden lässt (Längle, 1999, Tutsch, 1998).

7.2.3. Borderline- Störung

Die Borderline- oder emotional instabile Persönlichkeitsstörung beginnt im frühen

Erwachsenenalter und nimmt mit den Jahren zu. Sie ist gekennzeichnet durch Instabilität,

Intensität und Aggressivität.

Die Betroffene zeigt sich unabhängig, stark, ehrgeizig, zielstrebig, in ihrem Inneren aber ist es

leer und grau. „Die bulimische Patientin ist so gespalten in ein öffentliches,

perfektionistisches und ein heimlich gieriges, verabscheutes Selbst“ (Habermas und

Müller,1986, S.324).

Im Bemühen, dem Alleinsein zu entkommen, geht sie sehr dichte, intensive Beziehungen ein,

die jedoch gekennzeichnet sind durch wechselhafte Überidealisierung und Abwertung. Sie

sucht ein Gegenüber, kennt aber nur Verschmelzung oder Abtrennung und erlebt sich dabei

als sehr abhängig.

Ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist äußerst mangelhaft ausgebildet. Ihre Bedürfnisse müssen

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unmittelbar befriedigt werden, da sie einen Aufschub nicht ertragen kann. Mit ihrer hohen

Impulsivität und mangels anderer Problemlösungsstrategien neigt sie zu Substanzmissbrauch,

unter anderem Essen und Erbrechen, um sich frustrierenden Situationen zu entziehen.

Ihre Stimmung ist unberechenbar, von Affekten beherrscht und schwankt zwischen depressiv,

angsterfüllt, reizbar, wütend, etc.

Sie weiß nicht, wer sie ist und was ihr wichtig ist. So passt sie sich zwar den äußeren

Umständen an, akzeptiert jedoch die Bedingungen, unter denen sie lebt, nicht wirklich. Dies

bewirkt Verunsicherung, Angst und führt zu Ablehnung, Aggression und Wut.

Die zentralen Merkmale zeigen sich auch hier auf der dritten Ebene, gehen aber immer mit

einem mangelnden Grundwert (2. Ebene) und einem gestörtem Grundvertrauen (1. Ebene)

einher. (Längle, 1994-1998, Tutsch, 1998)

8. Der Weg in die Bulimia nervosa

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Unabhängig von der darunter liegenden Störung, gestaltet sich der Einstieg in die Bulimia

nervosa bei vielen Betroffenen auf ähnliche Art und Weise.

Zu Beginn der Essstörung, meist in der Pubertät, besteht in vielen Fällen bei den Mädchen ein

leichtes Übergewicht oder aber die subjektive Empfindung, zu dick zu sein. Sehr oft wird

dieses Gefühl (ob begründet oder unbegründet) durch nebensächliche Bemerkungen im

Familien- oder Freundeskreis ausgelöst und trifft die Betroffene zu einem Zeitpunkt starker

körperlicher Veränderungen und der damit verbundenen Unsicherheit bezüglich ihrer

beginnenden Weiblichkeit und ihrer eigenen Identität.

8.1. Essen und Gewichtskontrolle

Sie entschließt sich zur Durchführung einer (ersten) Diät, hält diese auch erfolgreich durch

und erreicht das gewünschte Gewicht. Im Anschluss daran kommt es jedoch häufig zu einer

Gewichtszunahme, oft sogar über das Ausgangsgewicht hinaus. Der Körper befindet sich

während der Diät in einem Zustand relativer Unterernährung und passt seinen Stoffwechsel

mit einer Einschränkung des Grundumsatzes an. Nach Abschluss der Diät stellt sich der

Körper erst wieder mit einiger Verzögerung um.

Dies ist oft der Beginn eines Circulus vitiosus mit Fastenkuren und anschließenden

Hungeranfällen, denen immer öfter nachgegeben wird, gefolgt von noch restriktiverem

Fasten. Die Betroffene ignoriert das natürliche Hungergefühl, gibt dem Bedürfnis nach

Nahrung nicht nach bzw. zögert es hinaus, bis es zu einem Kontrollverlust kommt, in dem sie

in immer kürzerer Zeit immer größere Nahrungsmengen aufnimmt. Die Abstände zwischen

den einzelnen Essanfällen werden kürzer, mit deren Zunahme geht auch die Fähigkeit

verloren, Sattsein zu spüren.

Das physiologische Gleichgewicht von Hunger- und Sättigungsgefühl wird aufgehoben. Die

Gedanken kreisen immer öfter um Nahrung, Kalorien, Gewicht und Reduktion desselben.

Durch die unregelmäßige Nahrungsaufnahme kann es zu Verdauungsstörungen kommen, die

die Betroffene mit Laxantien zu beheben versucht. Anfangs nur als Regulativ verwendet,

missbraucht die Bulimisierende das Mittel jedoch bald zur Gewichtskontrolle und erhöht die

Dosis oft bis zu einem Vielfachen der medizinisch empfohlenen, wobei sie beträchtliche

Nebenwirkungen wie Bauchkrämpfe, gestörte Nachtruhe etc. in Kauf nimmt (Langsdorff,

1995).

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8.2. Selbstinduziertes Erbrechen

In diese Zeit fällt auch meistens das erste selbstinduzierte Erbrechen, das anfangs noch große

Schwierigkeiten bereiten kann. Die Idee ergibt sich oft aufgrund eigener Erfahrungen der

Erleichterung nach unwillkürlichem Erbrechen bei starker Übelkeit bzw. nach ausgiebiger

Völlerei, aber auch als geheimer Tipp von Freundinnen. Die Vorteile des Erbrechens

gegenüber dem Laxantienabusus liegen darin, dass die Entledigung des Verzehrten rascher

und effizienter erfolgt, der Vorgang an und für sich schmerzlos ist und dass der Betroffenen

das Gefühl des “Unverzüglich-ungeschehen-machen-Könnens” gegeben wird.

Mit zunehmender Brecherfahrung verfeinert die Bulimisierende die Methode und unterwirft

ihren Nahrungsmittelverzehr dem Brechdiktat, um so für einen reibungslosen Ablauf zu

sorgen. Als Gleitmittel trinkt sie viel Flüssigkeit, am besten Milchprodukte und

kohlensäurehältige Getränke, aber auch Alkohol. Kohlenhydratreiche Nahrungsmittel, wie

Süßigkeiten, werden aufgrund ihrer raschen Resorption erst zum Schluss gegessen.

Die Bulimisierende unterscheidet strikt zwischen “guten” und “schlechten” Nahrungsmitteln.

Zu den guten und erlaubten werden kalorienarme, leicht verdauliche, ballaststoffreiche, aber

auch teure Speisen, wie z.B. Salate, Obst, Gemüse, Mager- und Diätprodukte sowie

Delikatessen gezählt. Unter die schlechten und verbotenen werden minderwertige,

dickmachende, ungesunde und preisgünstige Lebensmittel wie z.B. Nudeln, Kartoffeln,

weißes Gebäck, fette Fleisch- und Käsesorten, bestimmte Zubereitungsarten und Süßigkeiten

subsummiert (Bauer, Anderson & Hyatt, 1994).

“Schlechte” Nahrungsmittel konsumiert die Betroffene - soweit möglich - fast ausschließlich

im Rahmen eines Eß- Brechanfalles, wobei der Entschluss zum Bulimisieren entweder von

vornherein oder aber erst nach Überschreitung einer bestimmten, kritischen, meist sehr

kleinen oder normalen Essensmenge gefasst wird. Im ersten Fall kauft die Bulimisierende

bereits mit der entsprechenden Absicht “verbotene” Nahrungsmittel ein, sofern sie nicht

bereits einen Vorrat angelegt hat. Im zweiten Fall verlässt sie im Rahmen eines Essens

plötzlich ihre üblichen “gesunden” Gewohnheiten und Vorlieben und beginnt “unkontrolliert”

(nicht immer auch für andere erkennbar) zu essen, will eventuell unerwartet nach einem

auswärtigen Essen nach Hause gehen, um dort uneingeschränkt und unbeobachtet ihrer Sucht

nachgeben und nachgehen zu können.

Zu diesem Zeitpunkt empfindet die Bulimisierende noch keinen allzu großen Leidensdruck

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und ist sich der Gefahr, in der sie sich befindet, auch gar nicht bewusst. Sie sieht ihr Problem

lediglich im Gewicht und ihrer (äußeren) Attraktivität. Sie will abnehmen bzw. ihr Gewicht

halten, Erbrechen und Abführen scheinen probate Mittel dafür zu sein. Sie glaubt, dass sich

nach Erreichen ihres persönlichen Idealgewichtes Zufriedenheit einstellen und die

Symptomatik von selbst aufhören werde. Trotz der Unzufriedenheit mit Gewicht und

Aussehen steht zu diesem Zeitpunkt die Erleichterung darüber im Vordergrund, scheinbar

ohne Reue essen zu können.

8.3. Chronifizierung

Unbemerkt verselbständigt sich die Symptomatik, die Diäten werden restriktiver, weitere

Versuche immer verbissener, Kontrollverluste mit Ess-Brechanfällen häufen sich.

Langsam wird der Bulimisierenden die Abnormität ihres Verhaltens, ihres Umganges mit

Nahrungsmitten und letztendlich mit sich selbst bewusst. Die anfängliche Erleichterung

weicht Gefühlen von Verzweiflung, Ekel über ihr eigenes Tun, Minderwertigkeit und

Selbstverachtung. Der Suchtcharakter wird jedoch noch immer nicht erkannt. Sie versucht mit

dem Erbrechen aufzuhören, bemerkt jedoch bald eine Gewichtszunahme, der sie mit noch

kontrollierterem Essverhalten begegnet, welches wiederum zu Heißhunger und letztlich zu

Essdurchbrüchen mit anschließenden Brechattacken führt. Aus Scham und Angst entdeckt zu

werden, wird sie sehr vorsichtig und einfallsreich und unternimmt alles, um ihre

vermeintliche Schwäche zu vertuschen.

Die Betroffene ist in dem Teufelskreis zwischen dem Wunsch, das Bulimisieren zu beenden

und der Angst vor einer Gewichtszunahme gefangen und sucht in ihrer Verzweiflung Trost

und Belohnung im Essen.

In diesem Stadium suchen viele Betroffene eine professionelle Hilfe, da sie selbst keinen

Ausweg mehr sehen können.

In dem folgenden Gedicht beschreibt eine Bulimisierende ihre Gefühle:

Wut ergreift mich

Wut und Verzweiflung

Kann sie nicht loslassen

Nicht ohne sie leben

Diese Sucht

Was wäre ich nur ohne sie?

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Ohne schmale Schultern

Ohne schmale Hüften

Ohne ständiges Grübeln

Was erlaubt &was verboten

Leichter wäre das Leben

Lebenswerter & freudvoller

Genauso intensiv & außergewöhnlich

Bin aber überzeugt

Ohne Sucht träge zu sein

Ohne diese Sucht

Nicht mehr intensiv fühlen zu können

Nicht mehr vor Ideen sprühen zu können

Klammere mich an diesen Wahn

Mache mir das Leben schwer

Schwer indem ich mich leichter mache

Denn was wäre ich sonst?

Wäre genauso liebenswert

Wenn nicht sogar mehr

Wäre genauso akzeptiert

Wenn nicht sogar mehr

Wäre aber viel lebensfroher

Wäre aber viel energiegeladener

Wäre aber viel liebevoller zu mir

Ohne dieses absurde Verhalten

Ohne diese Selbstzerstörung

Lediglich um den Preis

Ja zu sagen zum Leben

Einem wirklichen Leben

In dem Gewicht Nebensache

9. Therapie

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9.1.Allgemeines über Existenzanalyse

„Die Existenzanalyse ist die Analyse auf ein lebenswertes Leben hin“ (Längle, 1994, S11).

Sie geht dabei von den aktuellen Lebensumständen aus und durchleuchtet sie auf wertvolle

Möglichkeiten. Die Person soll dadurch zu freien Entscheidungen, verantwortetem Handeln

und einem erfüllten, sinnvollen Leben finden.

Frankl beschreibt den Menschen als einheitlich-ganzheitliches Wesen. Leib, Seele und Geist

sind nicht nur Teile eines Ganzen, sondern eine untrennbare Einheit. Sie stellen jedoch

verschiedene Seinsformen dar und werden als somatische (körperliche), psychische

(seelische) und noetische (geistige oder spezifisch humane) Dimension bezeichnet. Die

psychische und die somatische Ebene sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich

dabei gegenseitig im Sinne einer Verstärkung (psychophysischer Parallelismus). Darüber

hinaus besitzt der Mensch jedoch die Fähigkeit, sich mit sich und der Welt geistig

auseinander zu setzen und Stellung zu nehmen. Dies befähigt ihn, mit seinen Gefühlen,

Trieben, Eigenschaften etc. umzugehen. Erst damit gelangt die Person vom Vegetieren in die

Existenz. Diese noetische oder spezifisch humane Seinsweise wird in der Existenzanalyse als

personal-existentielle Dimension bezeichnet, in der die Hingabefähigkeit, die

Selbsttranszendenz, als Ausdruck der persönlichen Lebenskraft wurzelt. (Frankl, 1992a,

Längle, 1988, 1994-1998).

9.1.1. Der Personenbegriff

Als Person ist der Mensch offen und frei für Austausch, zugleich aber auch gebunden an sich

und in Beziehung mit sich selbst. Er ist frei Bedingungen gegenüber, jedoch nicht frei von

den welthaften und vitalen Bedingtheiten, die die Welt vorgibt.

Die Person ist ansprechbar. Durch ihre Offenheit erfährt sie ihr Gegenüber und kann in ihrem

Tiefsten bewegt werden. Das personale Erleben zeigt sich darin, wie und was sie anspricht,

wie viel sie erreicht, wie sehr es sie betrifft, welchen Eindruck etwas hinterlässt und welches

Gefühl sich dazu einstellt. Dieses Erleben wird als primäre Emotion bezeichnet, welche sich

weitgehend der Kontrolle des Intellekts entzieht. Sie fällt jedoch auf Erfahrungen, die die

Person bereits gemacht hat, auf Verfassung und Stimmung, in der sie sich befindet, auf

grundsätzliche Einstellungen. Aufgrund der Lebendigkeit der Person löst sie einen Impuls

aus.

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Die Person kann verstehen und erkennen, worum es geht und kann dazu innerlich Position

beziehen. In dieser Stellungnahme bringt sie sich mit ihrer Authentizität und ihrem tiefsten

Gespür ins Spiel. Dazu muss sie sich jedoch aus ihrer Betroffenheit lösen und in eine gewisse

Distanz zu sich selbst kommen. Erst dann kann der neue Inhalt in bereits bestehende

Wertebezüge integriert werden, neue Bedeutung erlangen und neue Möglichkeiten eröffnen.

(Längle, 1994-1998, 2000b).

In der Antwort bringt sich die Person zum Ausdruck - sei es durch eine bestimmte Haltung

oder aber ein Handeln. Hier zeigt sie sich, stellt sich dem Leben, setzt sich für Werte ein.

Der personale Ausdruck nimmt in der Passage durch die vier Filter („wieviel- wem–

wann- wie“) Bezug zur äußeren Wirklichkeit und grenzt schützend, schamvoll die

Intimität der Person von ihr ab. Er stellt daher kein „blindes Ausagieren“ dar, sondern

ist ein Antworten gemäß der Einschätzung der Realität. Der personale Ausdruck ist

abgestimmt mit den Gegebenheiten, Möglichkeiten und Erfordernissen der realen

Welt. Dadurch bekommt er die Charakteristik eines „existentiellen Sinns“ (Längle,

2000b, S.27).

Die Person kann sich nur in der Begegnung erfahren und auch nur so erfahren werden. Sie

lässt sich nicht auf Faktisches zurückführen und ebenso wenig umfassend beschreiben.

Da die Person jene Dynamik ist, die mich im Vorfindlichen nie zur Ruhe kommen

läßt, da sie jene Kraft ist, die lösen kann von Fixierungen auf mich selbst und andere,

da sie nie fassbar im statischen Sinne ist, sondern immer akthaftes Geschehen, bleibt

alle theoretische Erörterung eine Rückfrage an die Authentizität und Lebendigkeit des

Therapeuten. (Funke, 1993, S.8 )

9.1.2. Der Krankheitsbegriff

Die Existenzanalyse misst dem Krankheitsbegriff nur eine untergeordnete Bedeutung bei. „Im

Zusammenhang mit Krankheit interessiert ja den Existenzanalytiker im wesentlichen die

Wechselwirkung zwischen dem Freien im Menschen und der Bedingtheit alles Menschlichen

- die Reaktion der Person auf die Erkrankung ihres Psychophysikums.“ (Längle, 1992, S.361)

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Längle definiert den psychisch Kranken als jemanden, der „durch die Wechselwirkung

psychischer mit physischen Störungen wiederholt auf gleiche Art darin behindert“ ist, „das zu

erkennen, zu tun oder zu erleben, was er selbst (in der Situation und später) als gut und richtig

empfindet“.( Längle, ebd, S355).

Krankheit stellt einen Mangel oder Verlust personaler Fähigkeiten dar, hervorgerufen durch

Defizite im Bereich der personal-existentiellen Funktionsräume. Dies führt zu einem einseitig

fixierten oder gehemmten Austausch zwischen der Person und ihrer Welt durch mangelhafte

Wertberührung, blockierte Integration der Emotion, fehlender Stellungnahme, inadäquaten

Antwortverhalten und verhindert die Verwirklichung des als sinnvoll Erspürten. (Längle,

1994-1998).

9.2. Die existenzanalytische Therapie

„Die psychophysische Anlage und, neben der vitalen Anlage, die soziale Anlage

machen zusammen die naturale Stellung des Menschen aus; sie aber ist nicht das

letztlich Entscheidende. Letztlich entscheidend ist vielmehr die geistige Person- die

personale Einstellung zur naturalen Stellung. Wo es aber um Einstellung geht, ist

allemal auch eine existentielle Umstellung möglich“ (Frankl, 1990, S.239).

Eine Behandlung lediglich des Syndroms „Bulimia nervosa“ würde eine symptomatische

Behandlung darstellen, das heißt eine Therapie einzelner Erscheinungen der Erkrankung,

jedoch nicht der Erkrankten. Die Existenzanalyse stellt jedoch die Person in den Mittelpunkt,

eine existenzanalytische Therapie kann daher nie symptomorientiert, sondern wird immer

personorientiert sein. Dabei unterscheidet man eine „allgemein unspezifische“ von einer

„spezifischen Behandlung“.

9.2.1. Die allgemein unspezifische Behandlung

„Die allgemein unspezifische Therapie soll dem Hilfesuchenden Möglichkeiten zur

Bewältigung seiner Lebenssituation eröffnen und ihm dabei helfen, in einen neuen

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Umgang mit seinem Problem zu kommen. Wesentliche Ziele dabei sind: „Stop der

Eskalation des Negativen (...) Hereinnahme des Faktischen in die

Lebensgegebenheiten (...) und realistische Neuorientierung“. Hier tritt „das Personal-

Existentielle des Menschen in Erscheinung und in Vollzug“ (Längle, 1992 S.362).

In der ersten Phase der Behandlung geht es um den Beziehungsaufbau zwischen Therapeut/in

und Patientin. Die Haltung der/des Therapeutin/en soll achtungs- und respektvoll, verstehend

und (aus)haltend sein. Sie/er soll der Hilfesuchenden genügend Raum geben zum Kennen-

lernen des Eigenen mit allen Besonderheiten und Einschränkungen und sie „in Fühlung und

Dialog mit sich“ (Längle, 1997, S.1) bringen. Die Patientin soll sich in ihrem So-sein mit

ihren individuellen Stärken und Schwächen als angenommen erleben.

Oft schämt sich die Bulimisierende und traut sich nicht, ihre Bulimie direkt anzusprechen.

Manchmal gibt sie indirekte Hinweise oder gesteht ein generelles Essproblem ein, während

sie eine gleichzeitig bestehende aktuelle Symptomatik leugnet oder verharmlost. Damit

blendet sie sich selbst und dies umso mehr, je schlechter es ihr gerade geht. Der/die

TherapeutIn soll darauf eingehen, konkret und ohne Scham nachfragen, rational über die

Symptome sprechen und sie wertfrei annehmen.

Die Bulimisierende versteckt sich einerseits hinter ihrer Bulimie, andererseits fühlt sie sich

davon beherrscht. Immer aber entzieht sie sich damit dem „Leben“. So ist auch erklärbar, dass

eine Therapie Ängste auslösen und als Bedrohung empfunden werden kann.

Erst wenn sich die Betroffene mit und in ihrem Symptom ernstgenommen fühlt und spürt,

dass sie hier trotz und mit ihrer Bulimie sein darf, wird sie sich als angenommen erfahren und

Vertrauen fassen können als Grundbedingung, um sich öffnen und zeigen zu können, und als

Basis für jegliche weitere Therapie. Dazu bedarf es der ehrlichen Zuwendung der/des

Therapeutin/en mit der Bereitschaft zu einer kontinuierlichen, dichten Zusammenarbeit.

Existenzanalytisch wird hier besonders auf die dritte Grundmotivation Bezug genommen.

Dabei geht es vorerst nicht um Stellungnahme sondern um Anerkennung dessen, was ist und

wie es ist.

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9.2.2. Die spezifische Therapie

Die spezifische Therapie ist ursachenbezogen, ihr liegt ein existenzanalytisches Vorgehen

zugrunde. Sie ist persönlichkeitsorientiert und bearbeitet die Wurzeln der

Krankheitsentstehung, „das Unerfülltsein der Person in ihrem Erleben und Handeln und in

ihren Einstellungen“ (Längle, 1993a, S.151). Die Schwerpunkte liegen in der Arbeit mit

Wahrnehmungen, Haltung, Stellungnahmen, Ausdruck und Verhaltensweisen, bezogen auf

die der Krankheit oder Störung zugrundeliegenden Defizite.

Dabei werden je nach Schwere der vorliegenden Grundstörung, Tiefe der erreichten

Persönlichkeitsschicht und Intensität des Störbildes die entsprechenden personal-

existentiellen Funktionsräume bearbeitet.

Erstrecken sich Defizite bis in den Bereich der ersten Grundmotivation, des „Dasein

könnens“, ist der Rahmen für die Existenz eines Menschen nicht gegeben. Die Bulimisierende

fühlt sich nicht angenommen und hat nicht genügend Geborgenheit und Sicherheit erfahren,

um Vertrauen in sich und die Welt entwickeln zu können.

Susanne (Kapitel 7.1.1) hat in ihrer frühen Kindheit wenig Halt und Schutz erfahren. Es hat

kaum Orte gegeben, an denen sie sich geborgen und sicher gefühlt hat. In der Therapie wird

ihr ein Raum geschaffen, in dem sie sich wohlfühlen und „sein“ kann. Aus dieser Erfahrung

des „Angenommen-Werdens“ baut sie Vertrauen auf, das als Basis für die Suche nach

haltgebenden Strukturen in ihrem Leben dient.

Die zentralen Themen in der Therapie sind: Halt, Raum, Schutz und Vertrauen.

Wo wird sie angenommen ?

Wo fühlt sie sich sicher ?

Wo hatte sie Orte, wo sie geschützt war ?

Wo fühlt sie sich jetzt zu Hause ?

Von wem erlebt sie sich als angenommen ?

Was gibt ihr Halt in ihrem Leben (Tätigkeiten, Beziehungen,...) ?

Wieviel Halt findet sie in sich selbst ?

Wen und was kann sie annehmen ?

Kann sie ihre Lebensumstände annehmen ?

Kann sie ihren Körper annehmen ?

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Wie steht sie zu ihrem Leben ?

Wie getragen und gehalten fühlt sie sich in dieser Welt ?

Hat sie genügend Raum?

Was sind ihre Ängste ?

Da bei Susanne eine tiefgreifende Störung vorliegt und sich nie Vertrauen entwickeln konnte,

wird die Therapie sehr langwierig sein. Um Grundvertrauen aufzubauen, bedarf es wegen der

tiefen Verunsicherungen und Ängste einer intensiven Bearbeitung der ersten

Grundmotivation.

Susanne findet zunehmend Halt und Sicherheit im Studium und seit kurzem beginnt sie auch,

soziale Beziehungen aufzunehmen. Mit 21 Jahren hat sich die bulimische Symptomatik von

Essen und Erbrechen auf die Ausübung exzessiven Sports verschoben, den sie noch immer -

wenn auch nicht mehr ganz so ehrgeizig - betreibt. Susannes Vertrauen in sich selbst ist noch

sehr schwach ausgebildet, weshalb nach wie vor Angstzustände auftreten.

Die zweite Grundmotivation bezieht sich auf das Leben und ist die Quelle für Erleben,

Handeln und Emotionalität. Sie ist das Empfinden, Spüren und Ahnen, dass es letztlich

eigentlich gut ist, zu sein und deshalb die Zustimmung zum eigenen Dasein oder Leben zu

geben (Längle, 1994-1998). Ist sie nicht gegeben, fühlt sich die Betroffene als nicht

liebenswert und kann sich nicht an Werten erfreuen.

Elisabeth (Kapitel 7.1.2.) wurde von ihrer Mutter zwar gut versorgt, die notwendige

Zärtlichkeit und Nähe wurde ihr jedoch nicht im nötigen Ausmaß geschenkt. Auch ihr Vater

konnte gefühlsmäßig nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen, sondern vermittelte ihr noch dazu

das Gefühl, sie nicht zu mögen.

Zugang zum Grundwert, dem „Wertsein-Mögen, Leben-Mögen“ findet man, indem man

folgendes Thema in der Therapie bearbeitet:

Zuwendung:

Mag ich mich und was mag ich an mir ?

Wo spüre ich die Nähe zu mir ?

Von wem erhalte ich Zuwendung ?

Was gibt mir heute Wärme ?

Wieviel Nähe halte ich aus?

Wen mag ich?

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Wie geht es mir, wenn wir einander nahe sind?

Wie ist es für mich, dass ich lebe?

Ist es gut, dass es mich gibt?

Elisabeth empfindet ihr Leben als wertlos und mühsam und möchte so nicht leben. Es ist

wichtig, dass sie sich mit ihrer Krankheit und der daraus resultierenden Behinderung

auseinandersetzt, sich eingesteht, was sie dadurch verloren hat und was dies in ihrem Leben

verhindert. In der Therapie wird daran gearbeitet, die Trauer über den Verlust und den damit

verbundenen Schmerz zuzulassen und zu empfinden.

Das wesentliche Ziel der Therapie ist, dass Elisabeth eine neue Einstellung zu ihrem Leben

bekommt, dass sie lernt, ihre Behinderung zu integrieren und wieder Freude zu entwickeln.

Sie soll auf Dinge achten, die sie mag, sich bewusst Ruhe und Zeit nehmen und sich etwas

gönnen. Die therapeutische Beziehung soll durch Wärme und Zuwendung getragen sein.

Langsam kommt Elisabeth in einen liebevolleren Umgang mit sich selbst. Sie hat ihre

Wohnung sorgsam hergerichtet und hat ihrer Behinderung entsprechend wieder begonnen,

Sport auszuüben. Vorsichtig beginnt sie, Beziehungen zu ihren ArbeitskollegInnen

aufzunehmen. Die bulimische Symptomatik besteht zwar nach wie vor, wird jedoch immer

mehr hinterfragt.

Die dritte Grundmotivation, der „Selbstwert“ ist die Intimfrage der Existenz und bezieht sich

auf das Fühlen des Eigenen, das Erkennen und Achten des Besonderen von anderen und

einem selbst. Mangelnder Selbstwert führt dazu, dass das Eigene nicht anerkannt und

geschätzt wird, und bewirkt eine mangelhafte Abgrenzung gegenüber dem Fremden.

Gabis Selbstwert (Kapitel 7.1.3.) konnte sich nicht gut entwickeln, da sie in ihrer Familie

vorwiegend für ihre Leistungen geschätzt wurde. Sie hat nie gelernt, ihre eigenen Stärken und

Schwächen zu erkennen und dafür einzutreten. Aus diesem Grund versucht sie, sich

anzupassen und es allen recht zu machen. Damit übergeht sie sich selbst.

In der Therapie wird die Arbeit am Selbstwert in den Mittelpunkt gestellt.

Zentrale Themen sind dabei:

Die Wertschätzung

Wo kann sie so sein, wie sie ist ?

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Bei wem kann sie so sein, wie sie ist ?

Von wem fühlt sie sich geschätzt, wie geht sie damit um ?

Was schätzt sie an sich ?

Was mag sie an ihrem Körper, an ihrem Verhalten ?

Abgrenzung

Wann darf sie sie selbst sein ?

Verteidigt sie ihr Eigenes ?

Steht sie zu sich selbst ?

Gabi machte in der Therapie die Erfahrung, einfach sie sein zu dürfen, ohne Angst vor

Abwertung und Geringschätzung. Dadurch kann sie ihre vermeintlichen Schwächen besser

annehmen und dazu stehen. Bei mangelnden Leistungen sowie Kritik von vertrauten Personen

stellt sie sich nicht mehr zur Gänze in Frage, sondern ist zunehmend in der Lage, sich damit

auseinander zu setzen. Das Verteidigen des Eigenen bereitet ihr noch immer Probleme, doch

vertritt sie nun schon manchmal ihre Meinung. Im Zuge der Therapie hat die bulimische

Symptomatik abgenommen, sie hat gelernt, mit Spannungen und Unlustgefühlen besser

umzugehen und ihr Essverhalten, ihren Bedürfnissen entsprechend, umzustellen. (Längle,

1993a, Längle, 1994-1998)

Die vierte Grundmotivation oder der Wille zum Sinn ist die tiefste Motivation des Menschen.

Es geht darum, wie man sein Leben zum Einsatz bringt, welche Werte man verwirklicht. Sie

ist eine innere Bereitschaft, Sinn zu suchen und zu verwirklichen.

Aber es geht nicht darum, das wir dem Patienten einen Daseinssinn geben, sondern

den Patienten instand setzen, den Daseinsinn zu finden, dass wir sozusagen sein

Gesichtsfeld erweitern, so dass er des vollen Spektrums personaler und konkreter

Sinn- und Wertmöglichkeiten gewahr wird.(...).Tatsächlich sieht die Existenzanalyse

im Verantwortlichsein das Wesen menschlichen Daseins, die Essenz der Existenz.“

(Frankl, 1986, p75).

Da Suchtverhalten, wie die Bulimie, mit einem Sinn- und Werteverlust einhergeht, wird in der

Therapie immer auch am konkreten Sinn und an der Verwirklichung des als jetzt wertvoll

Empfundenen gearbeitet. Die Bulimisierende soll erkennen, worum es in ihrem Leben geht

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und was ihr wichtig ist. Sie soll die Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Sie soll

entscheiden, was sie leben will.

Sinn ist also jeweils der konkrete Sinn einer konkreten Situation. Er ist jeweils „die

Forderung der Stunde“. Sie aber ist jeweils an eine konkrete Person adressiert. Und

genauso wie jede einzelne Situation etwas Einmaliges ist – genauso ist jede einzelne

Person etwas Einzigartiges.

Jeder Tag, jede Stunde wartet also mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden

Menschen wartet ein anderer Sinn. So gibt es einen Sinn für jeden, und für einen

jeden gibt es einen besonderen Sinn (Frankl, 1991, S. 30).

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10. Schlussfolgerung

Die Idee zu meiner Arbeit entstand aus dem Anliegen, Bulimisierende frühzeitig zu erkennen

und besser zu verstehen. Obwohl es genügend Bücher zu diesem Thema gibt, findet sich

bislang nur wenig existenzanalytische Literatur.

M. Gollinger zeigt in ihrer Arbeit über Essstörungen Hintergründe und familiäre Dynamiken

der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa auf und stellt existenzanalytische und

psychoanalytische Behandlungsmöglichkeiten vor.

Mir war es wichtig, das Krankheitsbild der Bulimia nervosa sowohl aus dem medizinischen

als auch aus dem psychotherapeutischen Blickwinkel zu beschreiben, um so die

Bulimisierende in ihrer Ganzheit (Körper, Seele und Geist) darzustellen.

Noch immer begegnen manche ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen den Betroffenen mit zu

wenig Verständnis und verstärken somit deren Schuldgefühle und Isolation. Mit meinem

Versuch, die Person der Bulimisierenden zu erkennen und zu beschreiben, habe ich

festgestellt, das sie noch vielfältiger und uneinheitlicher ist, als ich erwartet habe.

Im existenzanalytischen Sinne ist die Bulimia nervosa Symptom einer psychischen Störung,

daher gibt es keine „typische Bulimikerin“. Vielmehr handelt es sich dabei um Frauen mit

unterschiedlichen Störungen und Defiziten im Bereich der Grundmotivationen. Da in der

Existenzanalyse nicht die Erkrankung, sondern die Erkrankte therapiert wird, sind Ausmaß,

Art und Dauer der Therapie individuell sehr unterschiedlich.

Die Beschreibung existenzanalytischer Methoden und ihre Anwendung bei Bulimisierenden

erscheint mir sehr wichtig, hätte jedoch den Rahmen dieser Arbeit gesprengt.

Die Prävalenzrate der Bulimia nervosa hat in den letzten Jahren stetig zugenommen und die

Prognose wird mit zunehmender Dauer der Erkrankung schlechter. Deshalb wird eine

Früherkennung immer notwendiger.

Wünschenswert wäre, dass die Bulimisierende als Erkrankte anerkannt und akzeptiert wird,

da noch immer viele Vorurteile in Bezug auf die Bulimia nervosa vorherrschen und diese als

Wohlstandsneurose abgetan wird.

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