Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013...

15
Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 1 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Krankheitsbild Grundlagen der Behandlung Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten Gestufte Behandlungskonzepte Behandlungsziele Beispiel eines Behandlungsverlaufes Krankheitsbild Die Anorexia nervosa ist charakterisiert durch ein ausgeprägtes Untergewicht (weniger als 85% des nach Alter und Körpergröße zu erwartenden Gewichtes; ein BMI = Bodymaßindex unter 17,5 kg / m²). Unter dieser Erkrankung leiden meist junge Mädchen und Frauen, aber auch Männer können an Magersucht erkranken. In der ICD 10 ein (International Classification of Diseases) die Internationale Statistische Klassifikation der Krankhei- ten und verwandter Gesundheitsprobleme werden die Essstörungen folgendermaßen beschrieben: F50.- Essstörungen Exkl.: Anorexia o.a.A. (R63.0) Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler (R63.3) Fütterstörung im Kleinkind- und Kindesalter (F98.2) Polyphagie (R63.2) F50.0 Anorexia nervosa Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heran- wachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika. Exkl.: Appetitverlust ( R63.0 ) Psychogener Appetitverlust ( F50.8 ) F50.1 Atypische Anorexia nervosa Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Anorexia nervosa erfüllen, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können die Schlüsselsymptome wie deutliche Angst vor dem zu Dicksein oder die Amenorrhoe fehlen, trotz eines erheblichen Gewichtsverlustes und gewichtsredu- zierendem Verhalten. Die Diagnose ist bei einer bekannten körperlichen Krankheit mit Gewichtsverlust nicht zu stellen.

Transcript of Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013...

Page 1: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 1 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

►Krankheitsbild ►Grundlagen der Behandlung ►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten ►Gestufte Behandlungskonzepte ►Behandlungsziele ►Beispiel eines Behandlungsverlaufes ►Krankheitsbild Die Anorexia nervosa ist charakterisiert durch ein ausgeprägtes Untergewicht (weniger als 85% des nach Alter und Körpergröße zu erwartenden Gewichtes; ein BMI = Bodymaßindex unter 17,5 kg / m²). Unter dieser Erkrankung leiden meist junge Mädchen und Frauen, aber auch Männer können an Magersucht erkranken. In der ICD 10 ein (International Classification of Diseases) die Internationale Statistische Klassifikation der Krankhei-ten und verwandter Gesundheitsprobleme werden die Essstörungen folgendermaßen beschrieben: F50.- Essstörungen

Exkl.: Anorexia o.a.A. (R63.0) Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler (R63.3) Fütterstörung im Kleinkind- und Kindesalter (F98.2) Polyphagie (R63.2)

F50.0 Anorexia nervosa

Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heran-wachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika.

Exkl.: Appetitverlust ( R63.0 ) Psychogener Appetitverlust ( F50.8 )

F50.1 Atypische Anorexia nervosa

Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Anorexia nervosa erfüllen, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können die Schlüsselsymptome wie deutliche Angst vor dem zu Dicksein oder die Amenorrhoe fehlen, trotz eines erheblichen Gewichtsverlustes und gewichtsredu-zierendem Verhalten. Die Diagnose ist bei einer bekannten körperlichen Krankheit mit Gewichtsverlust nicht zu stellen.

Page 2: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 2 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

F50.2 Bulimia nervosa

Ein Syndrom, das durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert ist. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und Erbrechen oder Gebrauch von Abführmitteln. Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der Anorexia nervosa, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht. Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen. Häufig lässt sich in der Anamnese eine frühe-re Episode einer Anorexia nervosa mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren nach-weisen. Bulimie o.n.A. Hyperorexia nervosa

F50.3 Atypische Bulimia nervosa

Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Bulimia nervosa erfüllen, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können wiederholte Essanfälle und übermäßiger Ge-brauch von Abführmitteln auftreten ohne signifikante Gewichtsveränderungen, oder es fehlt die typische übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht.

F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen

Übermäßiges Essen als Reaktion auf belastende Ereignisse, wie etwa Trauerfälle, Unfälle und Geburt. Psychogene Essattacken

Exkl.: Übergewicht (E66.-)

F50.5 Erbrechen bei anderen psychischen Störungen

Wiederholtes Erbrechen bei dissoziativen Störungen (F44.-) und Hypochondrie (F45.2) und Erbrechen, das nicht unter anderen Zustandsbildern außerhalb des Kapitels V klassifiziert werden kann. Diese Subkategorie kann zusätzlich zu O21.- (exzessives Erbrechen in der Schwangerschaft) verwendet werden, wenn haupt-sächlich emotionale Faktoren wiederholte Übelkeit und Erbrechen verursachen. Psychogenes Erbrechen Exkl.: Erbrechen o.n.A. ( R11 ) Übelkeit ( R11 )

F50.8 Sonstige Essstörungen Pica bei Erwachsenen Psychogener Appetitverlust

Exkl.: Pica im Kindesalter ( F98.3 )

Page 3: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 3 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

F50.9 Essstörung, nicht näher bezeichnet

Krankheitsbild Magersüchtige Patientinnen führen die Gewichtsabnahme durch Fasten, Erbrechen, körperliche Aktivität sowie Einnahme von Abführmitteln, Appetitzüglern und Diuretika (harntreibende Mittel) herbei. Sie beschäftigen sich intensiv mit dem eigenen Gewicht, verleugnen das Untergewicht sowie ihre körperliche Schwäche und die Gefähr-lichkeit der Erkrankung. Häufig haben die Patientinnen ein Idealbild von völliger Unabhängigkeit und Autonomie. Sie verleugnen ihre eigenen seelischen und körperlichen Bedürfnisse nach Nähe und Nahrung sowie auch ihre Be-dürfnisse nach Unterstützung, Versorgung und Hilfe. Deshalb zeigen sie häufig ein widersprüchliches Muster von hilfesuchenden und hilfeabweisenden Verhaltensweisen. Bei der Entstehung und der Aufrechterhaltung einer Ma-gersucht spielen psychische, biologische, gesellschaftliche und familiäre Faktoren in unterschiedlicher Weise zu-sammen. In jedem Einzelfall muss individuell geklärt werden, welche Faktoren eine Rolle spielen. Ablösungskonflik-te vom Elternhaus, Schwierigkeiten im Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, das herrschende Schönheits- und Schlankheitsideal, Selbstwertprobleme, Ängste vor anstehenden Entwicklungsschritten, insbesondere vor konflikt-haften Auseinander-setzungen und Selbstbehauptung, Schwierigkeiten sich zu wehren und sich abzugrenzen kön-nen eine Rolle spielen. Etwa die Hälfte der Patientinnen erreicht eine Heilung, etwa ¼ ist nach der Behandlung gebessert, 10 % der Patien-tinnen weisen einen chronischen Verlauf mit dem Vollbild einer Anorexie auf. Selbst bei günstigem Verlauf dauert es im Schnitt 6 Jahre, bis es zu einer Heilung einer Anorexie kommt. Die Anorexie gehört immer noch zu den gefährlichsten Erkrankungen junger Mädchen und Frauen mit einer 10fach – gegenüber der Normalbevölkerung – erhöhten Wahrscheinlichkeit an der Erkrankung zu sterben. Allerdings ist Magersucht nicht gleich Magersucht: innerhalb der Gruppe der Anorexie-Patientinnen gibt es sehr unterschiedliche Krankheitsbilder und –verläufe, wobei insbesondere die Bereitschaft und Fähigkeit, Hilfe anzu-nehmen und die Teufelskreise der Erkrankung durchbrechen zu wollen, von ausschlaggebender Bedeutung ist.

►Grundlagen der Behandlung Das zentrale Problem in der Behandlung von Patientinnen mit Magersucht ist es, die oft hilflos mit ihrer Familie verstrickte Patientin und ihre Familie dafür zu gewinnen, einen Weg zu suchen und zu finden, sowohl Essverhalten und Gewicht zu normalisieren als auch die Probleme und Konflikte in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft kon-sequent zu bearbeiten und anzugehen. Die Forschung und die klinische Erfahrung (und der gesunde Menschenver-stand) zeigen eindeutig, dass die Psychotherapie Hand in Hand gehen muss mit einer Gewichtszunahme und einer Normalisierung des Essverhaltens. Magersüchtige Patientinnen sind häufig innerlich zerrissen und voller Widersprüche. In ihnen tobt häufig ein verzweifelter Kampf zwischen Anteilen, die leben, lieben, arbeiten und genießen wollen, die sich zu einer selbständigen, selbstbewussten Persönlichkeit, die sowohl zu Nähe als auch zu Auseinanderset-zungen im Umgang mit den Mitmenschen in der Lage ist, entwickeln wollen und einem mehr oder weniger bewuss-ten verzweifelten, ängstlichen, traurigen, oft auch rachsüchtigen und destruktiven, misstrauischen Anteil, der Angst hat vor den anstehenden Entwicklungsschritten, der sich vielleicht sogar verweigert, jede Hilfe und Unterstützung ablehnt und das Leben und die Liebe fürchtet oder hasst. Dieser innere Konflikt in den Patientinnen führt häufig zu einem widersprüchlichen Verhalten im Umgang mit An-gehörigen und Ärzten und Therapeuten.

Page 4: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 4 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Diese sehen einen Menschen, der einerseits über seinen körperlichen Zustand und die Gefühle, die er dadurch aus-löst, extreme Hilflosigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Fürsorge und den Wunsch zu helfen auslöst, der aber andererseits verbal, seine Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit betont und die Gefahren der Erkrankung verleugnet, das krankhafte Essverhalten verheimlicht und Hilfsangebote nicht oder in widersprüchlicher Weise wahrnimmt, häufig nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ oder im Extremfall: „Du hast keine Chance, nutze sie!“. Unsere therapeutische Strategie ist es nun, uns mit dem gesunden Anteil zu verbünden, mit ihm zu verhandeln, so lange, bis wir einen klaren, stimmigen, für die Patientin und uns annehmbaren therapeutischen Auftrag mit klaren, gemeinsam abgestimmten Zielen als Grundlage für die Behandlung haben. Therapie ist ein Prozess der selbstgewählten und selbstbestimmten Entwicklung, den ein Arzt oder Therapeut un-terstützen kann, indem er dem Patienten hilft, sich mit seinen Widersprüchen und Konflikten auseinander zu set-zen, sich besser zu verstehen und Fähigkeiten zu entwickeln, um anstehenden Entwicklungsaufgaben zu meistern. In der Regel geht es bei diesen Entwicklungsaufgaben z.B. um Ablösungsprozesse von den Eltern, um die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen und zusammenzuraufen, sich abzugrenzen, zu wehren, sich zu behaupten, sich auf Liebesbeziehungen einzulassen, sich in Liebesbeziehungen hingeben zu können, ohne sich zu verlieren, eine sichere Geschlechtsidentität zu entwickeln, und es geht darum, eine berufliche Identität zu entwi-ckeln und sich im Lebenskampf behaupten zu können. Häufig verwechseln die Patientinnen auf Grund schlechter Erfahrungen Kontrolle und Fürsorge. Sie wünschen sich unbewusst Unterstützung und Hilfe, fürsorgliche Anteilnahme, erleben dies aber bewusst als Kränkung oder sehr schnell als Fremdbestimmung, gegen die sie sich wehren müssen. ►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten Für Patientinnen, die unter einem lebensbedrohlichen Untergewicht leiden und dennoch die Notwendigkeit einer Behandlung verleugnen, sieht der Gesetzgeber vor, dass eine Behandlung auch gegen ihren Willen erfolgen kann, wenn eine akute Selbstgefährdung vorliegt. Ansonsten sind uns Ärzten und Therapeuten die Hände gebunden, eine Therapie gegen den Willen des Patienten ist nicht möglich. Hier ist es sinnvoll, zwischen Maßnahmen, die der sozialen Kontrolle dienen und therapeutischen Maßnahmen zu unterscheiden:

Eine Zwangsbehandlung als Ausdruck sozialer Kontrolle auf dem Boden entsprechender Gesetze (PsychKG, Vormundschaft) sieht unsere Gesellschaft vor, wenn Menschen sich oder andere in Lebensgefahr bringen. Eine solche Behandlung gegen den Willen der Patientin ist in der Rhein-Klinik nicht möglich.

Therapie setzt voraus, dass die Patientin sich entschieden hat, sich bei der Überwindung ihrer Krankheit hel-fen zu lassen und uns dafür einen Auftrag gibt.

► Gestufte Behandlungskonzepte Auch wenn es eine konsequente Behandlung letzten Endes immer eine Kombination von Psychotherapie und Un-terstützung bei der Überwindung der Essstörung voraussetzt (Siehe unten: Warum erfordert eine konsequente Psychotherapie einer Magersucht auch eine Bereitschaft der Patientin, gleichzeitig eine Normalisierung ihres Ge-wichtes anzustreben?) so haben wir doch die Erfahrung gemacht, dass es notwendig und sinnvoll ist, langsam aber sicher Schritt für Schritt vorzugehen.

Page 5: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 5 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Deshalb haben wir ein mehrstufiges Behandlungskonzept entwickelt, dass dem Motivationsstand der Patientin Rechnung trägt und gewährleistet, dass diese in jeder Phase der Behandlung nur selbstverantwortliche und selbst-bestimmte Entwicklungsschritte vollzieht. A) Ambulante Voruntersuchung Die ambulante Voruntersuchung dient der Abstimmung der Erwartungen der Patientin und unserer Behandlungs-möglichkeiten, -grenzen, -ziele und -bedingungen. Bei dieser lebensbedrohlichen Erkrankung und der oft verzweifelten Hilflosigkeit aller Beteiligten möchten wir die Hemmschwelle für eine Kontaktaufnahme so niedrig wie möglich gestalten. Deshalb überlassen wir es der Patientin, ob sie selbst oder ein Familienangehöriger mit ihrem Einverständnis einen Termin in unserer Ambulanz vereinbart. Die Patientin kann nach ihrem Gutdünken alleine oder auch mit ihrer Familie oder mit ihrem Partner zu diesem Vorgespräch kommen. Auch die Eltern einer magersüchtigen Patientin, die sich noch nicht entschließen kann, Hilfe in der zu Rhein-Klinik suchen, können mit uns ein Beratungsgespräch vereinbaren, um zu erörtern, wie sie die Patientin zu einer Zusam-menarbeit bzw. einem ersten Gespräch gewinnen können. Im Rahmen unseres analytisch-systemischen Ansatzes ist es unser Anliegen, dass alle Beteiligten – die Patientin, ihre Familie – wenn möglich und gewünscht – und das Behandlungsteam – zu einem guten Team zusammenwach-sen, das sich gegenseitig bei der schwierigen Aufgabe, diese Erkrankung zu überwinden, unterstützt. Wir bieten auch eine ambulante Gruppe an für Patientinnen, die auf eine Behandlung in der Rhein-Klinik warten, und Patientinnen, die diese hinter sich haben und auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Das Ziel dieser Gruppe ist es, die Übergänge ambulant-stationär-ambulant zu erleichtern. Durch den Austausch der „neuen“ und der „alten“ Patientinnen kann eine noch unschlüssige Patientin sich ein Bild machen, ob unser Behandlungsansatz ihr zusagt oder nicht. Es handelt sich um eine „gemischte“ Gruppe mit Patientinnen mit verschiedenen Krankheits-bildern. Die Teilnahme an dieser ambulanten Gruppe kann in dem ambulanten Vorgespräch vereinbart werden. B) 1-2 wöchige Behandlung Für Patientinnen, die hochgradig ambivalent sind, die von Angehörigen oder Ärzten zu uns geschickt werden und noch keinerlei Motivation in sich spüren, ihr Essverhalten zu normalisieren und sich der Auseinandersetzung der äußeren und inneren Konflikte zu stellen, bieten wir eine 1-2 wöchige Behandlung an: Eine „Schnupperwoche“ für die Patientin, die es ihr erlaubt, sich ein Bild von unseren Behandlungsangeboten zu machen und eine diagnostische Woche für uns, die es uns erlaubt, einzuschätzen, ob wir mit unserem Konzept und unseren Möglichkeiten und Grenzen dieser Patientin angemessen helfen können. Behandlungsrahmen: Die Patientin wird vom Stationsarzt, Oberarzt und Chefarzt untersucht. Sie wird über unsere Behandlungskonzepte informiert. Sie informiert uns über ihre Vorstellungen und wir versuchen zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Die Patientin erhält durch Teilnahme an den Einführungsgruppen der Pflege( sie vermittelt die notwendigen Infor-mationen über die Abläufe auf der Station) sowie an den Visiten, der Großgruppe (eine einmal wöchentlich statt-findende Gruppe der Patienten mit Stationsteam unter der Leitung von Chef- oder Oberärztin, in der aktuelle Prob-leme auf der Station besprochen werden), der Infogruppe (eine einmal wöchentlich stattfindende Gruppe unter

Page 6: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 6 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

der Leitung von Chef- oder Oberärztin in der Themen „rund um Psychosomatik und Psychotherapie“ erörtert wer-den) und der Stationsversammlungen (hier werden unter Leitung der Pflege organisatorische Fragen geregelt) und insbesondere auch durch den Austausch mit Mitpatienten die Möglichkeit, sich ein Bild von unserem Behandlungs-konzept zu machen. Die Pflegekräfte begleiten und unterstützen sie in der Bezugspflege. Darüber hinaus kann die Patientin sich bei der Stationspflegeleiterin und der Diätassistentin – gegebenenfalls auch im Rahmen unserer pflegerischen Essstörungsgruppe, in der einmal pro Woche alle Patientinnen mit Essstörungen, die Stationspflegeleiterin, die Diätassistentin und /oder ein Mitarbeiter der Küche und der Hauswirtschaft die kon-kreten Fragen der Nahrungszusammenstellung erörtern - über unsere Möglichkeiten, sie bei einer sinnvollen Er-nährung zu unterstützen, informieren. Oft ist auch ein Familiengespräch sehr sinnvoll, in dem bisherige Lösungsversuche und die Möglichkeiten der Fami-lie, eine positive Entwicklung, die allen Familienmitgliedern gut tut, zu unterstützen, besprochen werden. Wir bieten gerne so genannte „lösungsorientierte systemische“ Paar- oder Familiengespräche an, in denen es da-rum geht, zu untersuchen, wie ein Paar oder eine Familie gemeinsam gute Lösungen suchen und finden kann und wie Angehörige die Patientin unterstützen können, ohne sich selbst zu überfordern oder ihre berechtigten Interes-sen aus dem Auge zu verlieren. C) 4-6-wöchige Behandlung Patientinnen, die „eigentlich“ Hilfe suchen, aber noch keine konkreten therapeutischen Ziele und Aufträge haben, sowohl im Hinblick auf ihr Gewicht als auch im Hinblick auf ihre seelischen und zwischenmenschlichen Probleme bieten wir eine zeitlich klar begrenzte 4-6-wöchige Behandlung an. Behandlungsrahmen:

Für Patientinnen, deren Angst vor einer Gewichtszunahme oder einer Psychotherapie so groß ist, dass sie sich eine Unterstützung bei der Normalisierung ihres Essverhaltens und ihres Gewichtes sowie bei der Lösung ihrer seelischen und zwischenmenschlichen Probleme noch nicht vorstellen können, beinhaltet diese Be-handlung Einzelgespräche, Bezugspflegegespräche und die Teilnahme an den Stationsangeboten (Visiten, Großgruppe, Infogruppe) ohne Verpflichtung zur Gewichtszunahme. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass die Patientin sich nicht in einem kritischen Ernährungszustand, der unbedingt der „Auffütterung“ bedarf, befindet. Themen der Einzelgespräche, Bezugspflegegespräche, der oft sinnvollen Familiengespräche und last not least der Gespräche mit den Mitpatienten sind die Fragen: Wofür ist die Magersucht gut? Welche wichtige Funktion hat sie in dem seelischen und zwischenmenschli-chen Haushalt der Patientin? Welche vermeintlichen „Gefahren“ sind mit einer Gesundung verbunden? Vor welchen ängstigenden Entwicklungsschritten schützt die Magersucht die Patientin? Wie könnte ein stimmi-ger Gesundungsprozess im weiteren Verlauf gestaltet werden, wie könnten sinnvolle Aufträge und Ziele im Rahmen einer weiteren stationären Behandlung, die dann auch die Normalisierung des Essverhaltens und des Gewichtes anstrebt, definiert werden?

Für Patientinnen, die etwas weniger Angst haben und bereit und in der Lage sind, sich auf erste Erfahrungen mit stationärer Psychotherapie einzulassen, sich aber noch nicht in der Lage fühlen, sich auf eine konsequen-te Gewichtszunahme einzulassen, beinhaltet diese Behandlung die oben aufgeführten Inhalte und Bedingun-gen sowie zusätzlich die Teilnahme an den Kleingruppen - eine Kombination aus Gesprächsgruppen und sog. nonverbalen Gruppen (Konzentrative Bewegungstherapie und Kunsttherapie) (tiefenpsychologisch fundier-te Gruppenverfahren, die im verbalen Austausch und mit Hilfe körperorientierter oder kunsttherapeutischer Ansätze die Auseinandersetzung mit innerseelischen, körperlichseelischen und zwischenmenschlichen

Page 7: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 7 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Problemen, sowie die Entwicklung von Fähigkeiten gut mit sich und anderen umzugehen und die Aktivierung eigener Ressourcen fördern ) sowie ggfs. Skillsgruppe (Skills sind nützliche Fertigkeiten zur Regulierung von Stress, Emotionen, Selbstwert und zwischenmenschlichen Interaktionen).

D) 8-10wöchige Behandlung Erst wenn

die Patientin sich überzeugt hat, dass unser Therapieangebot das geeignete ist, um ihr zu helfen, die anste-henden Entwicklungsschritte zu meistern,

sie uns einen eindeutigen Auftrag gibt, sie bei der seelischen und körperlichen Stabilisierung zu unterstützen,

sie unsere Bedingung einer kontinuierlichen Gewichtszunahme von 500 g pro Woche akzeptiert

sie zu einer aktiven Teilnahme an einem psychotherapeutischen Einzel- und Gruppentherapieprozess, ggfs. auch mit Familientherapie bereit ist,

sie bereit ist, konsequent ihr selbstschädigendes, einen therapeutischen Prozess verunmöglichendes Verhal-ten wie Hungern, Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln und Diuretika zu unterlassen und unsere Hilfe und Unterstützung bei der Unterlassung dieses Verhaltens anzunehmen,

ist eine kombinierte psychosomatische Behandlung mit ärztlicher, pflegerischer und diätetischer Unterstützung einer geregelten Nahrungsaufnahme, störungsspezifischen Essstörungsgruppen, physiotherapeutischen Maßnah-men und psychotherapeutischen Verfahren (Einzel- und Gruppentherapie, Konzentrative Bewegungstherapie, Kunsttherapie, Familientherapie) in unserer Abteilung sinnvoll. Diese erfolgt in einem 8-10wöchigen Rahmen. Wenn in diesem Zeitraum keine ausreichende Stabilisierung möglich ist (z.B. weil die bei 500g/Woche in 10 Wo-chen mögliche Gewichtszunahme von 5 kg nicht ausreicht, um ein ausreichendes stabiles Gewicht (BMI von 18) zu erzielen) und der körperlich-seelische Zustand der Patientin noch nicht stabil genug für eine ambulante Behandlung ist, kann eine stationäre Intervallbehandlung, also mehrere stationäre Behandlungen in sinnvollen Abständen, die im Einzelfall bestimmt werden müssen, indiziert sein. Wichtig ist uns

dass die Patientin zu jedem Zeitpunkt der Behandlung das klare, eindeutige Gefühl hat, dass sie die Auftrag-geberin ist und entscheidet, ob sie den nächsten Schritt mit uns gehen will oder ob sie sich entscheidet, ihren Weg – in welcher Weise auch immer- alleine weiterzugehen.

dass WIR die Verantwortung haben für ein medizinisch-therapeutisches, hochwertiges Angebot in einem für uns als sinnvoll und nützlich erachteten Rahmen und daran geknüpften Bedingungen, um dieses Angebot in Anspruch nehmen zu können. Dieses Angebot kann sinnvolle Veränderungen und Entwicklungen lediglich an-regen.

dass DIE PATIENTIN sich darüber im Klaren ist, dass nur sie wissen kann, was gut für sie ist und dass sie die Verantwortung für Veränderung oder Nicht-Veränderung und ihre Entwicklung hat.

Wenn unsere Patientin uns einen klaren Auftrag erteilt, unsere Bedingungen akzeptiert und mit uns gut defi-nierte therapeutische Ziele aushandelt, werden wir uns nach bestem Wissen, Gewissen und Kräften bemü-hen, sie und ihre Familie bei dem sicher anstrengenden und schwierigen Genesungsprozess zu unterstützen.

Mit dieser Vorgehensweise wollen wir unfruchtbare Machtkämpfe vermeiden. Wir lassen uns ganz bewusst nicht in eine Interaktion verwickeln, in der wir zu wissen glauben, was gut für die Patientin sei (ein Muster, zu dem diese leicht einlädt, indem sie Sorge und Angst, sowie das Bedürfnis zu helfen, bei ihrem Gegenüber

Page 8: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 8 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

auslöst) sondern machen ein Angebot, das die Patientin darauf überprüfen kann, ob es für sie gut ist. Wir zeigen ihr damit unsere Möglichkeiten aber auch unsere Grenzen auf.

Dieses Behandlungssetting ist geeignet für Patientinnen, die sowohl motiviert sind, bis zu einem normalen BMI zuzunehmen, als auch Veränderungen in ihren Einstellungen und Verhaltensänderungen im Umgang mit sich selbst und ihren Mitmenschen anzustreben. Diese Patientinnen haben sich entschieden, ihr selbstzerstö-rerisches Essverhalten aufzugeben und sich von uns helfen zu lassen, dieses Essverhalten und ihr Gewicht zu normalisieren, indem sie kontinuierlich ca. 500g pro Woche zunehmen.

Patientinnen, die zu einer 8-10wöchige Behandlung bereit, haben verstanden, dass Therapie das Ziel hat, dass der Patient versteht und umsetzt, was er tun kann, damit es ihm in der Auseinandersetzung mit seinem Umfeld besser geht! Sie sind bereit, sich in den Therapien aktiv einzubringen, um die eigenen Ressourcen und die schwierigen Beziehungs- und Bewältigungsmuster kennen zu lernen und den Mut zu finden, in der Auseinandersetzung mit Team und Mitpatienten die eigenen Ressourcen einzusetzen und bekömmlichere Beziehungs- und Bewältigungsmuster zu entwickeln.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer ambulanten und einer stationären Behandlung besteht darin, dass im stationären Rahmen mehrere Behandlungsansätze kombiniert werden können: Einzel- und Gruppen-therapie, Skillsgruppen, Paar- und Familientherapie, physikalische Therapie und ggfs. medikamentöse Be-handlung. Während in der ambulanten Psychotherapie die im Gespräch zwischen Therapeut und Patient gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen direkt in dem möglicherweise schwierigen familiären und beruflichen Umfeld umgesetzt werden müssen, wird in der stationären Behandlung ein Übungsfeld, eine „Spielwiese“ „mitgelie-fert“ mit ständigem „Coaching“ durch ein erfahrenes Team und Austausch mit den Mitpatienten.

Behandlungsrahmen: Wir schließen mit unseren Patientinnen, die uns den Auftrag zu dieser Behandlung geben, einen schriftlichen Ver-trag, in dem eine wöchentliche Gewichtszunahme (in der Regel 500g) und ein Zielgewicht (in der Regel in 10 Wo-chen) +5 kg vereinbart werden. Die Behandlung umfasst sowohl eine aktive Unterstützung bei der Normalisierung der Essgewohnheiten und der Gewichtszunahme durch ärztliche, pflegerische und diätetische Maßnahmen mit störungsspezifischen Essstö-rungsgruppen als auch eine intensive Psychotherapie mit Einzelgesprächen, Kleingruppen (analytisch-systemische verbale Gruppen, Konzentrative Bewegungstherapie oder Kunstgruppen) Großgruppen, Infogruppen, Skillsgrup-pe, bei Motivation und Bedarf Familiengespräche. (zur Erläuterung der Verfahren siehe oben) Bei Patientinnen, bei denen traumatische Erfahrungen, wie sexuelle Gewalterfahrungen bei der Essstörung eine Rolle spielen, kann auch eine traumaspezifische Behandlung mit EMDR (für weitere Informationen siehe z.B. www.emdr-institut.de indiziert sein. Diese erfordert allerdings als Voraussetzung eine weitgehende Stabilisierung der Symptomatik und die Fähigkeit, Emotionen und Spannungen zu regulieren. Hier erweist sich oft unsere Skillsgruppe nach DBT (Dialektisch behaviorale Therapie) als hilfreich. In der Skills-

Gruppe lernen die Patienten Fertigkeiten und Fähigkeiten kennen zum Thema Achtsamkeit, Umgang mit Gefühlen,

Selbstwert, Stresstoleranz und zwischenmenschliche Fertigkeiten. Grundlage der Gruppenarbeit ist die Erstellung

von Spannungsprotokollen und das Entdecken sowie die Übung individueller Skills zur Reduktion von Anspannungs-

zuständen einerseits und Verhinderung von Anspannungszuständen und daraus resultierendem dysfunktionalem

Verhalten andererseits.

Page 9: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 9 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Störungsspezifische Essstörungsgruppen:

Die Patientinnen nehmen an einer wöchentlichen therapeutischen, einer pflegerischen und einer Selbsthilfe- Essstörungsgruppe (ohne therapeutische oder pflegerische Leitung) teil. An diesen Essstörungsgruppen nehmen Patientinnen mit allen Formen von Essstörungen teil: Anorexia nervosa, Bulimie, Binge-Eating-Störung.

In der therapeutischen Essstörungsgruppe wird eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit der Essstö-

rung gefördert.

Sie hat den Fokus: was ist diese Woche im Umgang mit der Essstörung gut gelaufen, worauf bin ich stolz,

was könnte hilfreich für die anderen sein?

Und was war schwierig, wo brauche ich noch Unterstützung von den anderen Experten? (die Mitpatienten

und das Team).

In der pflegerischen Essstörungsgruppe essen die Patientinnen einmal pro Woche gemeinsam mit unserer

Stationspflegeleiterin. Es gibt eine Nachbesprechung und Abstimmung zwischen ihr, der Patientin, der Kü-

che und der Hauswirtschaft. Der Fokus liegt auf dem konkreten Unterstützungsbedarf.

In der von den Patientinnen selbst geleiteten „Selbsthilfegruppe“ werden die Themen vertieft.

Durch die Kombination dieser drei Gruppen wird das Spannungsfeld von Autonomiebestrebungen und

dem mehr oder weniger verleugneten Wunsch nach Unterstützung abgebildet und genutzt.

Dadurch wird beständig die Botschaft transportiert: die Überwindung der Magersucht setzt sowohl eigene

Entwicklungsschritte als auch die Hilfe anderer voraus..

Auch Rivalität und Konkurrenz wie sie häufig zwischen magersüchtigen Patientinnen auftreten können:

„Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist die Dünnste im ganzen Land“ - werden in der Essstörungsgruppe

frühzeitig angesprochen und bearbeitet.

Besonders wichtig ist, dass durch die Zusammenarbeit in den störungsspezifischen Gruppen auf der

Station ein „Netzwerk“ gegenseitiger Unterstützung entsteht.

Weitere unterstützende Maßnahmen:

Die Patientinnen führen eine Gewichtskurve, in dem die vereinbarte Gewichtszunahme einen oberen grü-nen Bereich und einen unteren roten Bereich bei Unterschreitung der vereinbarten Gewichtszunahme markiert. So wird die Entwicklung für die Patientin und das Team deutlich visualisiert

Die Patientinnen werden täglich gewogen. Grund für diese Maßnahme ist die Überlegung, dass es nicht das eigentliche Ziel ist, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, sondern der Patientin zu helfen, sich kontinuier-lich gesund und ausreichend zu ernähren. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass weniger häufige Ge-wichtskontrollen dazu führen können, dass die Patientinnen einige Tage in der Woche ihr magersüchtiges Essverhalten zeigen, um dann durch zusätzliche Kalorienzufuhr in den Tagen vor den Wiegen das ge-wünschte Gewicht zu erzielen.

Page 10: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 10 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

In Einzelfällen, wenn wir das Gefühl haben, dass der Anteil, der die Behandlung durch Rückfälle in das Symptomverhalten sabotieren will, noch sehr virulent ist, versuchen wir durch eine konsequente Grenzset-zung diese Dynamik zu erschweren. Da wir wissen, dass die Patientinnen sehr viel Kompetenz haben, ihr Gewicht sehr zielgenau zu steuern, gehen wir davon aus, dass sie sich entschieden haben, ihr magersüchti-ges Verhalten vorerst nicht aufzugeben, wenn sie mehr als 7 Tage an einem Stück, oder insgesamt 14 Tage im roten Bereich liegen.

Dann erfolgt die Entlassung - mit der Möglichkeit, jederzeit wiederzukommen, wenn die Motivationslage sich geändert hat.

Warum erfordert eine konsequente Psychotherapie einer Magersucht auch eine Bereitschaft der Patientin, gleichzeitig eine Normalisierung ihres Gewichtes anzustreben? Zunächst einmal hat die Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass die Kombination von Psychotherapie und Unter-stützung bei der Normalisierung des Essverhaltens die besten Erfolge zeigt. Es gibt aber auch gewichtige und einleuchtende, therapeutisch fundierte Überlegungen für eine Behandlungsstra-tegie, die als Voraussetzung für die Psychotherapie einer Magersucht die Bereitschaft, kontinuierlich zuzunehmen, fordert: Hungern, sich zu Tode hungern, stellt ein extrem selbstschädigendes Verhalten dar. Die Patientinnen delegieren sozusagen - mehr oder weniger bewusst - die Fürsorge, die Sorge und die Verantwor-tung für ihren Körper an ihre Angehörigen und Ärzte. Solange dieses selbstzerstörerische Muster der Verantwortungsabgabe bestehen bleibt, ist ein selbstbestimmter Therapieprozess mit dem Ziel gesünderer Einstellungen und Verhaltensweisen nicht möglich. Unfruchtbare Machtkämpfe zwischen besorgten Ärzten und Eltern und der sich auf ihr Selbstbestimmungsrecht berufenden Patientin, ihr selbstzerstörerisches Verhalten beizubehalten, sind unausweichlich. Voraussetzung für einen selbstbestimmten Therapieprozess und ein tragfähiges Arbeitsbündnis ist die bewusste und klare Entscheidung, alles zu tun, um dieses selbstzerstörerische „Spiel“ zu beenden und dafür offen und ehrlich die notwendige Unterstützung des therapeutischen Teams in Anspruch zu nehmen. Ein weiterer Grund ist die Funktion der Magersucht in dem seelischen Haushalt der Patientinnen. Mit der Magersucht wird ein trügerisches Gefühl von Macht, von Triumph über den Körper (und die Angehörigen) erzeugt und Konflikte und ängstigende Gefühle und Bedürfnisse z.B. im Zusammenhang mit einem weiblichen Kör-per oder auch tiefliegende Gefühle der Verzweiflung , Trauer, Wut und Sehnsucht werden in den Hintergrund ge-drängt oder ganz verdrängt. Erst die Aufgabe des Symptoms der Magersucht bzw. die Bereitschaft, die therapeutisch verlangten Grenzen und Bedingungen zu akzeptieren, kann die verdrängten Gefühle und Konflikte mobilisieren, sodass sie in der Behand-lung erlebt, verstanden und bearbeitet werden können. ► Behandlungsziele Das Ziel einer stationären Krankenhausbehandlung, die eine Behandlungsepisode in einem Gesamtbehandlungs-plan, der je nach Bedarf ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlungseinheiten umfassen kann, darstellt, ist eine körperliche und seelische Stabilisierung mit den Mitteln des Krankenhauses. Diese sollte ausreichend sein, um der Patientin zu ermöglichen, den Prozess der Normalisierung ihres Essverhaltens nach der Entlassung mit Hilfe der in der Regel notwendigen ambulanten Psychotherapie fortzusetzen.

Page 11: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 11 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Zu Beginn der Behandlung steht vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Erkrankung und den zu Grunde liegenden Problemen das Ziel der Klärung des Überweisungskontextes und der Motivation der Patientin. Klärung des Überweisungskontextes bedeutet, dass wir die Frage klären, wer will was von wem? Kommt die Patientin mit einem eigenen Wunsch und Auftrag oder ist sie mehr oder weniger gegen ihren Willen von Angehörigen oder behandelnden Ärzten in die Klinik geschickt worden? Wir stellen z.B. die Frage: Zu wie viel Prozent kommen Sie zu uns, weil Sie sich dazu entschieden haben und zu wie viel Prozent, weil ihre Eltern oder ihr Arzt, es von Ihnen erwarten? Klärung der Motivation bedeutet, dass wir uns ein genaues Bild machen müssen über die meist widersprüchliche Motivationslage der Patientin. Häufig tobt in ihr ein gnadenloser Kampf zwischen Kräften, die sich ein selbstbestimmtes und gesundes Leben wün-schen und auf Hilfe und Unterstützung hoffen und Kräften, die aus Angst, Verzweiflung, Wut oder destruktiver Ra-che an der Symptomatik festhalten und keinerlei Hilfe zulassen wollen. Es gibt Patientinnen, die mit der Entscheidung zu uns kommen, aus den Teufelskreisen der Erkrankung aussteigen zu wollen und bereit sind, hier jede Hilfe und Unterstützung anzunehmen. Andere Patientinnen wiederum sind widersprüchlich und zerrissen, was sich bezüglich ihrer Motivation und ihres Wunsches nach Hilfe in einem „Wasch mich, aber mach mich nicht nass – Verhalten“ äußert. Hier müssen wir gemeinsam mit der Patientin einen Therapieplan entwickeln, der diesen Ängsten Rechnung trägt, aber auch die gewünschte Entwicklung ermöglicht. Im Folgenden lesen Sie die Aussagen von zwei magersüchtigen Patientinnen, die wir gebeten haben, die Gründe, die gegen eine Therapie sprechen bzw. verdeutlichen, wofür die Magersucht gut ist, aufzuschreiben. Frau H.T., 46 Jahre, seit 25 Jahren magersüchtig, schreibt: Gründe die gegen eine Therapie sprechen: 1. Ich muss mein Symptom aufgeben und damit meine bisherigen Möglichkeiten die Welt zu ertragen. 2. Das „Nein“, was ich bisher über die Körpersprache und mit mir selber ausgemacht habe, muss ich nun durch

Auseinandersetzungen in die Beziehung bringen. Das erfordert von mir viel Kraft. Ich muss mich der Angst aussetzen, angegriffen und zurechtgewiesen zu werden, evtl. Für mein „Nein“ abgelehnt und allein gelassen zu werden.

3. Mein „Nein“, zu Beziehungen kann ich nicht beibehalten, muss mich zumindest auf die Beziehungen mit dem Therapeuten einlassen, was alle Ängste von

abgelehnt werden

zu enttäuschen

selber enttäuscht und verlassen werden

zu dumm zu sein

zugeben zu müssen, Fehler zu machen

mich im anderen zu verlieren

mich minderwertig zu fühlen

nicht zu genügen

den anderen auf die Nerven fallen

mich als gierig und unersättlich zu erkennen

in einen Streit zu geraten, den ich vernichtend erlebe

Page 12: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 12 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

mich ausgeliefert fühlen

Macht über mich zu verlieren

mich mit der Unsicherheit auseinandersetzen – wie viel darf ich nehmen, was muss ich geben?

verletzt zu werden

für lästig und aufdringlich befunden zu werden

zu langweilig und uninteressant zu sein

mich zu blamieren

mich zu schämen

die Kontrolle zu verlieren

Gefühle zu fühlen, die nicht erwidert werden. 4. Ich muss den Teil in mir den ich verleugnet habe, den ich versucht habe, auszuhungern, begegnen, den Teil

den ich an mir nicht mag und ihn auch noch in der Beziehung mit jemand anderen aushalten. 5. Ich muss mir und anderen eingestehen, dass ich es nicht alleine schaffe, dass ich Hilfe brauche und muss

auch dann dabei bleiben, wenn es besonders für meine Arbeitskollegen unbequem wird und sie mich verun-sichern wollen.

6. In meiner Schwäche liefere ich mich den Kollegen aus, was mich angreifbar, verletzbar und manipulierbar macht.

7. Meine bisherige Art, wie ich mich und meine Umgebung wahrgenommen habe, könnte sich als Illusion her-ausstellen und mir den Grund unter den Füßen entziehen.

8. Ich habe Angst vor den Veränderungen, weil ich nicht weiß, wohin sie mich führen. Das was ich hatte, war wenigstens vertraut und gab mir eine gewisse Sicherheit.

9. Ich habe Angst in ein Raster gesteckt zu werden, das für mich nicht passt und mich einengt und festlegt. 10. Die Spannungszustände könnten in der Therapie größer werden und ich kann nicht zu alten Methoden zu-

rückgreifen. Wo bleibe ich damit? 11. Ich werde von einem Menschen so abhängig, das ich nur noch von einer Stunde zur anderen lebe und das

Leben dazwischen als schrecklich leer erlebe. 12. Ich tue mich schwer damit, dass ich Dinge die in der Therapie aufgerissen werden, solange mit mir herumtra-

gen muss, um sie erst in der nächsten Stunde loswerden zu können. 13. Weiß der Therapeut, was er tut? Es kann auch schief gehen. 14. Es wird wehtun!!! 15. Ich muss das Risiko eingehen, ihm zu vertrauen, ohne zu wissen, was dabei herauskommt. 16. Ich muss einen Seelenstriptease vollbringen, was mit viel Scham und Angst verbunden ist. 17. Werde ich diesmal wieder in etwas verstrickt, was sich nur in einem zerstörerischen Befreiungsakt lösen

lässt? 18. Ich muss mich vermehrt Auseinandersetzungen stellen. 19. Mit der Entwicklung meines Willens werden jede Menge Ängste auftauchen. 20. Man kann mir als „Gesunde“ noch mehr aufladen, wenn ich es nicht schaffe „Nein“ zu sagen. 21. Ohne meine „Essstörung“ fehlt mir die äußere Kontrolle über meinen inneren Seelenzustand. Es wird damit

für mich viel schwerer greifbar. 22. In der Therapie kann ich meine bisherige Strategie, die Dinge heimlich und für mich alleine zu erledigen, nicht

beibehalten. Mit dem Offenlegen sind sie für andere auch viel leichter zu enttarnen. Etwas offen auszutra-gen, bedeutet auch immer kritisiert werden zu können, bedeutet auch einen Klaps auf die Finger zu bekom-men, zurechtgewiesen und gerügt zu werden.

Page 13: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 13 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

23. Ich muss mich mit meinen Gefühlen zeigen, was Scham und neue Ängste auslösen kann. Die Gefühle könn-

ten mich überschwemmen, aber genauso gut könnten auch gar keine da sein, was in mir das Gefühl entste-hen ließe, dem Anderen unnötige Zeit gestohlen zu haben.

Diese Patientin hat sich schließlich für eine Therapie entschieden und hat ihr Gewicht langsam aber sicher auf Nor-malgewicht gesteigert.“ Und das bei einer schon 25 Jahre andauernden „chronifizierten“ Magersucht! Die 20-jährige K. S. schreibt: Wozu ist die Magersucht gut? „Fangen wir bei der Familie an: Durch meine Essstörung haben wir für uns entdeckt, wie wertvoll wir füreinander sind. Wir unternehmen Ausflüge zusammen, sehen uns Filme an usw., wobei es von allen Beteiligten mit Begeiste-rung aufgenommen wird, statt von einem aufgezwungen zu sein. Meine Eltern haben sich im Kampf gegen den „gemeinsamen Feind“ angenähert. Mama fing an, nicht nur mir, sondern auch ihr Verhalten zu hinterfragen. Ich fühle mich nun in meinen Problemen ernst genommen. Sie werden nicht mehr als Hirngespinste betrachtet. Papa kümmert sich mehr um das Familienleben. So fürchte ich innerlich, dass, sobald ich ein Normalgewicht erreiche, dieses Gefühl der Kostbarkeit des Familienle-bens zurückgeht. Es kann ja folgendes sein: Ich brauche meine Eltern weniger als Unterstützung und lasse mich seltener blicken. Mein Vater flüchtet wieder an seinen Fernseher, meine Mutter versinkt in Selbstmitleid und macht mir wieder andauernd Vorwürfe, und mein Bruder hängt nur mit den Kumpels herum. Durch meine Magersucht habe ich meine Eltern dazu gezwungen, mir ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, mehr Anlehnung und Rat anzubieten. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Beistand ist etwas, das ich mir innerlich immer gewünscht habe. Ich habe mich nach außen hin aber genau gegensätzlich verhalten: Schroff, abweisend, verschlossen, weil ich mich vor der damit verbundenen Nähe fürchtete. So bekomme ich den Beistand, ohne mich öffnen zu müssen oder darum zu bitten. Das fällt schwer, denn damit würde ich zeigen, wie abhängig ich bin… Deshalb fürchte ich, dass ich ohne Essstörung von den Eltern nicht mehr unterstützt werde; da ich nicht danach frage und Distanz signalisiere. Die Magersucht ist ferner dazu da, dass ich mir selber jeden Tag aufs Neue beweisen kann, dass mein Ehrgeiz und meine Disziplin noch da sind. Es sind Eigenschaften, über die ich mich gerne definiere und bei denen ich jedoch in ständiger Angst und Unsicherheit lebe, dass sie verschwinden, sobald ich aufhöre, sie jeden Tag auf die Probe zu stellen. Ich fürchte, dass, sobald die Begrenzung des Essens vorbei ist, mein Essverhalten ins Gegenteil umschlägt – Frustes-sen. Dies ist auch ein Gespenst der Vergangenheit. Mir hat das Leben bis jetzt keine Freude bereitet. Ich war immer in der Planung und immer in Sorgen und Gedan-ken und nie in der Gegenwart. Ich habe Phasen der Antriebslosigkeit, in denen alles sinnlos erscheint, und die Hilflosigkeit und Wut, deren ich mir selbst nicht bewusst war, mussten irgendwie zum Ausdruck kommen. Dann habe ich gehungert. Wenn ich nicht mehr hungere, muss ich mich dieser Freudlosigkeit stellen. Ich hungere, wenn ich mich schlecht fühle. Oft habe ich Schwierigkeiten, mich mitzuteilen, habe ein starkes Mittei-lungsbedürfnis. Es staut sich auf. Ich hungere, um das Empfinden dumpf zu stellen.

Page 14: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 14 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Ich hungere, um mir einen Tag mit weniger Aktion zu gönnen. Meine Hauptangst ist, wenn ich normalgewichtig bin, würde kein Grund mehr bestehen, auf meinen Körper zu hören und aufzupassen. Wie geht es mir? Das wäre egal, ich bin „normal“, muss also „normal“ funktionieren. Ich habe die Magersucht gebraucht, um auf mich hören zu lernen“. Es hat sich uns bewährt, nicht unreflektiert und ohne sorgfältige Abstimmung der „armen magersüchtigen Patien-tin“ helfen zu wollen und zu wissen, was für sie gut ist, - das führt in der Regel nur zu Widerstand, Trotz und Ver-weigerungsverhalten (nicht nur bei magersüchtigen Patientinnen, sondern bei den meisten Menschen!), sondern sorgfältig und respektvoll zu klären, ob die Patientin uns einen Auftrag geben will, der auch uns sinnvoll und durch-führbar erscheint – oder nicht. Die Behandlungsziele sind demnach gestuft:

- Klärung der Motivation eine konsequente körperlich-seelische Entwicklung anzustreben,

- Klärung der Lebensziele und Therapieziele, Abstimmung klarer und widerspruchsfreier Aufträge.

- Klärung der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Gewichtszunahme. Wenn die Voraussetzung gut abgestimmter Therapieziele und Therapieaufträge erfüllt ist, kann die psychothera-peutische Arbeit im engeren Sinne mit folgenden Zielen beginnen:

Erforschung der individuellen lebensgeschichtlich bedingten Muster des Umgangs mit Gefühlen, Bedürfnis-sen, Wünschen, Konflikten, Belastungen, Erwartungen, Anforderungen

Vermittlung seelisch-körperlicher Zusammenhänge und Wechselwirkungen

Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von belastenden Lebenserfahrungen

Verbesserung der Gefühl- und Körperwahrnehmung

Wahrnehmung der Belastungsgrenzen

Abbau von überfordernden Leistungsidealen

Verbesserung der Entspannungsfähigkeit

Verbesserung der Fähigkeit, Hilfe annehmen zu können, Schwächen und Hilfsbedürftigkeit als Teil einer Per-sönlichkeit, die immer sowohl Stärken als auch Schwächen hat, selbstverständlich zu akzeptieren

Verbesserung von Kommunikation, Abgrenzung- und Konfliktfähigkeit ►Beispiel eines Behandlungsverlaufes: Eine 22 jährige Patientin, in Ausbildung zur Bürokauffrau, Frau A. litt seit 6 Jahren unter einer Anorexie. Sie war 1,60m groß, wog 40 kg, d.h. der Bodymaßindex wies mit 15.6 auf das deutliche Untergewicht hin (Normalbereich 18,5.24, 9). Sie kam zur ambulanten Erstuntersuchung in Begleitung ihrer Mutter. Die Patientin selbst erschien abweisend, ein-silbig, unzugänglich und zeigte kein Interesse an einer stationären Behandlung. Die Mutter war verzweifelt, hilflos. Alle bisherigen Bemühungen der Eltern und des Hausarztes waren erfolglos geblieben. Wir informierten die Patientin ausführlich über unsere Behandlungsvorstellungen, insbesondere darüber, dass wir sorgfältig mit ihr jeden Behandlungsschritt abstimmen werden und die Behandlung nur dann durchführen, wenn wir von ihr einen stimmigen Auftrag erhalten und schlugen ihr einen 1-2wöchigen „unverbindlichen“ Aufenthalt in der Rhein-Klinik vor. Darauf konnte sich die Patientin einlassen.

Page 15: Anorexia nervosa oder Magersucht Rhein-Klinik · Anorexia nervosa oder Magersucht Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl Seite 3 von 15 Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische

Anorexia nervosa oder Magersucht

Stand: 14.05.2013 Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl

Seite 15 von 15

Rhein-Klinik Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Dieser einwöchige Aufenthalt führte dazu, dass die Patientin sich grundsätzlich eine Behandlung bei uns vorstellen konnte. Allerdings waren ihre Vorstellungen über ihre Ziele noch sehr widersprüchlich und ihre Fähigkeit und Be-reitschaft, sich auf einen konstruktiven Entwicklungsprozess einzulassen, noch wenig entwickelt. Wir vereinbarten deshalb mit ihr eine weitere stationäre Behandlung von ca.6 Wochen. In diesem zeitlich klar begrenzten Aufenthalt luden wir sie ein, mit uns untersuchen, welche mehr oder weniger bewussten Gründe, sie für ihr magersüchtiges Verhalten hat und welche Befürchtungen sie mit einem Gesun-dungsprozess verbindet. Ziel dieser zeitlich klar begrenzten Behandlung war es auch, Frau A. erleben zu lassen, wie stationäre Psychothera-pie die zwischenmenschlichen Prozesse in der Stationsgemeinschaft nutzt, um die Zusammenhänge zwischen Symptomen und innerseelischen und zwischenmenschlichen Problemen deutlich zu machen und die Fähigkeiten zu fördern, diese zu lösen. Das Behandlungsangebot für Frau A. umfasste therapeutische Einzelgespräche, eine Betreuung durch eine Bezugs-pflegekraft, Anwendungen in der Physikalischen Therapie mit Massagen und Krankengymnastik sowie Großgrup-pen, Infogruppen und Stationsversammlungen. Frau A. nahm dann auch die Möglichkeit eines Familiengesprächs mit den Eltern und ihrer Schwester in Anspruch. Am Ende dieses Aufenthaltes wog Frau A 43 kg, das entspricht einem Bodymaßindex von 16,8. Frau A. hatte eine stimmige Motivation für eine Psychotherapie, die auch die körperliche Stabilisierung und Norma-lisierung des Gewichtes einschließt, entwickelt. Sie fühlte sich gefestigt genug, ihr Gewicht zu halten, sah sich aber noch nicht in der Lage, selbstständig eine weite-re notwendige Gewichtszunahme zu erreichen. Frau A. begann eine ambulante Psychotherapie bei einer Therapeutin mit Erfahrungen mit Essstörungen und folgte unserer Empfehlung einer wöchentlichen Vorstellung und Gewichtskontrolle bei ihrem Hausarzt, der ihre Thera-peutin regelmäßig über die Gewichtsentwicklung informierte. Nach ca. einem halben Jahr hatte sie noch ein halbes Kilo zugenommen und fühlte sich in den Auseinandersetzun-gen in der Familie etwas sicherer. Sie schreckte aber nach wie vor einer Partnerschaft, die sie sich eigentlich ersehnte, aber der sie sich nicht so recht gewachsen fühlte, zurück. Auch in ihrer Ausbildung als Bürokauffrau litt sie noch unter Versagensängsten und ihrer Neigung, Konflikten aus dem Weg zu gehen. In Abstimmung mit ihrer Therapeutin stellten wir die Indikation für eine weitere stationäre Behandlung von 10 Wo-chen. Frau A., die Vertrauen in das Behandlungsteam und die Behandlungsmethoden entwickelt hatte, konnte sich sehr motiviert auf die Behandlung einlassen. Mit Unterstützung der Essgruppen, ihres Stationsarztes und ihrer Bezugs-pflege – und den Mitpatienten! gelang es ihr, kontinuierlich zuzunehmen. Am Ende der Behandlung wog sie 48 kg, dies entspricht einem BMI von 18,7. In den Einzel- und Gruppentherapien sowie in der Skillsgruppe setzte sie sich intensiv mit den durch die körperlichen Veränderungen und die zwischenmenschlichen Erfahrungen von Nähe und Auseinandersetzung ausgelösten Gefühle und Konflikte auseinander, stärkte ihre zwischenmenschlichen und kom-munikativen Fähigkeiten, verbesserte ihre Beziehung zu sich selbst und entwickelte zunehmend zuversichtliche Zukunftsperspektiven. Im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung setzte sie sowohl die ambulante Psychotherapie als auch die regelmäßigen Gewichtskontrollen bei ihrem Hausarzt fort.