Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren...

50
Anorexia nervosa Perspektive Fertilität Dr. I. Baus, Prof. Dr. P. Stute Herausgeber: G. Griesinger, P.M. Holterhus

Transcript of Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren...

Page 1: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

Anorexia nervosa

Perspektive Fertilität

Dr. I. Baus, Prof. Dr. P. Stute

Herausgeber:G. Griesinger, P.M. Holterhus

Page 2: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

2

Wichtiger Hinweis: Die in diesem Buch aufgeführten Angaben zur Medikation wurden sorgfältig geprü!. Dennoch können Heraus-geber, Autor und Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. In jedem Fall und insbe-sondere auch bei Abweichungen von den Empfehlungen erfolgen das therapeutische Vorgehen und auch die Verschreibung von Medikamenten in eigener Verantwortung des Arztes.

Mit freundlicher Unterstützung von FERRING Arzneimittel GmbH. Auf die Inhalte und Gestaltung dieses Buches hat die FERRING Arzneimittel GmbH keinen Einfluss und trägt dafür keine Verantwortung.

Impressum

Herausgeber: Prof. Dr. med. G. Griesinger, Prof. Dr. med. P. M. HolterhusCopyright: Herausgeber, alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: biomedpark Medien GmbHSchneidmühlstr. 21, 69115 HeidelbergTel.: +49 (0) 6221 / 13 747 0www.biomedpark.deLektorat & Layout: Kirsten Külker, satz & satz, Berlin

ISBN: 978-3-9816544-9-31. Auflage, Heidelberg 2017

Page 3: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

3

Vorwort der Herausgeber

Die Anorexia nervosa ist eine primär psychiatrische Erkrankung mit erheblicher Prävalenz und Inzidenz. Sie führt zugleich zu relevanten und sehr komplexen Folgen für die hypothalamisch-hypophysäre Hormonregulation. Neben einer erheblichen Morbidität, aber auch Mortalität stellt die Anorexia nervosa nicht zuletzt eine der häufigsten Ursachen für weiblich bedingte Infertilität durch den hypo gonadotropen Hypogonadismus dar und trägt wesentlich zum Patientengut reproduktionsmedizinischer Praxen und Kliniken bei. Im Rahmen der Buchreihe „Perspektive Fertilität“ war dies für die Herausgeber die Motivation, das Thema in einem eigenen Buch zu fokussieren.

Da die Erkrankung ihren Ursprung bereits im Kindesalter, insbesondere im Pu-bertätsalter hat, sollte ein inhaltlicher Bogen von der pädiatrischen Endokrinologie bis hin zur speziellen Reproduktionsmedizin gespannt werden. Die Herausgeber sind sehr dankbar, zwei ausgesprochen erfahrene Autorinnen auf diesem Gebiet für das vorliegende Manuskript gewinnen zu können. Frau Dr. med. Inka Baus ist Fachärztin für Kinderheilkunde und arbeitet seit vielen Jahren als Kinderendokri-nologin und Diabetologin mit dem Zertifikat Kinder- und Jugendgynäkologie im Bereich Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie des Universitätsklinikums Schleswig Holstein am Campus Kiel. Seit vielen Jahren zählt die Behandlung von Jugendlichen mit Anorexia nervosa zu ihren klinischen Schwerpunkten in der Spe-zialsprechstunde. Frau Prof. Dr. med. Petra Stute ist Fachärztin für Frauenheilkunde mit dem Schwerpunkttitel für Gynäkologische Endokrinologie und Reprodukti-onsmedizin. Als Leitende Ärztin verantwortet sie seit 2009 den Bereich der Gynä-kologischen Endokrinologie an der Frauenklinik am Inselspital in Bern, Schweiz. In diesem Kontext betreut sie interdisziplinär mit der Psychiatrie und Ernährungs-medizin Jugendliche und Frauen mit Anorexia nervosa. Das vorliegende Büchlein bietet sowohl einen umfassenden als auch zugleich fokussierten Überblick zur Thematik Anorexia nervosa aus kinderendokrinologischer und aus reproduktions-medizinischer Sicht mit aktueller Literatur und vielen wertvollen Praxishinweisen. Neben Literaturdaten und Hinweisen auf Leitlinien lassen die beiden Autorinnen ihre individuelle klinische Erfahrung einfließen.

Prof. Dr. med. Griesinger Prof. Dr. med. Holterhus

Page 4: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

4

Vorwort Dr. Baus

In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe der 15- bis 19-jährigen Mädchen gekommen. Kinder- und Jugendärzte sowie pädiatrische Endokrinologen können durch Früherkennung und Einleitung von Behandlungsangeboten einen wichtigen Teil zur Versorgung von Jugendlichen mit Essstörung beitragen.

In der Praxis zeigt sich, dass Übergänge zwischen einem vorübergehend au!äl-ligen Essverhalten und einer Essstörung fließend sind. Daher ist eine Kooperation aller an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen notwendig, um die Betro!enen frühzeitig zu erreichen und hierdurch die Therapie und Prognose zu verbessern.

Essstörungen manifestieren sich in verschiedenen Formen. Neben der Ano-rexia nervosa, der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung gibt es eine grö-ßere Gruppe von „nicht näher bezeichneten Essstörungen“, die zu einer Störung der normalen Regulation des Essverhaltens durch Hunger und Sättigung führen.

Essstörungen können mit normalem Gewicht, Untergewicht oder auch, wie die Binge-Eating-Störung, mit Übergewicht und Adipositas einhergehen. Charak-teristisch für Essstörungen sind erhebliche Gewichtsschwankungen über die Zeit.

Sowohl das Untergewicht als auch Gewichtsschwankungen können endokri-ne Funktionen im Sinne von Anpassungsmechanismen auf Unterernährung ver-ändern. Für die Betro!enen ist vermutlich die Entwicklung einer Amenorrhö die au!älligste Hormonstörung, wobei langfristig die erhöhte Osteoporoseinzidenz und damit ein erhöhtes Frakturrisiko die Gesundheit beeinträchtigt.

Dieses Buch möchte allen an der Betreuung von Patienten mit einer Anorexia nervosa beteiligten Berufsgruppen die komplexen endokrinologischen Anpas-sungsmechanismen auf einen Hungerzustand darstellen, sodass Hormonverände-rungen wie z. B. das Low-T3-Syndrom, eine hypothalamische Amenorrhö oder ein Hypercortisolismus entsprechend eingeordnet werden können.

Die endokrinologische Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Anorexie ist aufgrund der komplexen Hormonveränderungen eine Herausforderung, wobei letztlich eine möglichst rasche Gewichtsnormalisierung die wichtigste Säule der Therapie ist.

Dr. med. Inka Baus

Page 5: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

5

Vorwort Prof. Stute

Die Anorexia nervosa ist ein komplexes psychiatrisch-metabolisch-endokrines Krankheitsbild, das vor allem jugendliche Mädchen betri!t.

Aufgrund der Komplexität ist ein interdisziplinärer Diagnostik- und Therapie-ansatz sinnvoll, der durch eine potenziell mangelnde Krankheitseinsicht der Er-krankten o"mals erschwert realisierbar ist.

Das Ziel des Buches ist es, verständlich auf die Ätiologie und vor allem hor-monelle Dysregulation der Anorexia nervosa im Jugend- und Erwachsenenalter einzugehen, die Indikationen für eine di!erenzierte Diagnostik festzulegen und dem behandelnden Arzt /der behandelnden Ärztin – unabhängig von seiner/ ihrer medizinischen Fachexpertise (Hausarzt, Psychiater, Pädiater, Gynäkologen etc.) – eine Strategie für das Management der Anorexia nervosa an die Hand zu geben.

Prof. Dr. med. Petra Stute

Page 6: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

6

Inhaltsverzeichnis I. Pädiatrische Endokrinologie 08

1. Anorexia nervosa (AN) 081.1 Definition 081.2 Diagnostische Kriterien 091.3 Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen mit AN 101.4 Epidemiologie AN Adoleszenz 121.5 Verlauf der AN 131.6 Fragebogen zur Erfassung von Essstörungen 131.7 Empfohlene „Basis“-Diagnostik bei Verdacht auf eine Essstörung 141.8 Klinik der AN bei Jugendlichen 14

2. Endokrinologische Veränderungen 162.1 Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse 16

2.1.1 Pathogenese Amenorrhö 17 2.1.2 Uterus und Ovarialvolumina bei hypothalamischer Amenorrhö 18 2.1.3 Regulatoren der GnRH-Pulsatilität: Leptin und Grhelin 19

2.2 Hypothalamus-Hypophsyen-Wachstumshormon-IFG1-Achse 192.3 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse 202.4 Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsenachse 20

3. Prädiktoren der Amenorrhödauer 22

4. Wachstum bei AN 25

5. Verminderte Knochendichte bei AN 265.1 Häufigkeit bei Erwachsenen mit AN 265.2 Häufigkeit bei Adoleszenten mit AN 26

5.2.1 Frakturhäufigkeit bei Adoleszenten mit AN 265.3 BMD und gestörte Knochenmikroarchitektur 275.4 Änderung der Knochendichte im Verlauf einer AN 27

Page 7: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

7

5.5 Welche Faktoren beeinflussen die Knochendichte bei Patientinnen mit einer Anorexia nervosa? 275.6 Östrogentherapie bei verminderter Knochendichte 28

5.6.1 Physiologische Östrogenersatztherapie bei Jugendlichen mit AN 29

5.7 AN, Cortisol, Depression und Knochendichte 30

6. Therapie mit Calcium und Vitamin D 32

Schlusswort 33

Literatur 34

II. Gynäkologische Endokrinologie 40

1. Endokrine Dysregulation bei Anorexia nervosa 40

2. Therapie 412.1 Pharmakotherapie 41

3. Sterilität bei Anorexia nervosa 423.1 Ovarielle Stimulationstherapie 423.2 Gonadotropin-Stimulation 423.3 Pulsatile GnRH-Stimulation 43

4. Hormonersatztherapie (HRT) 45

Literatur 47

Page 8: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

8

I. Pädiatrische EndokrinologieDr. med. Inka Baus

1. Anorexia nervosa (AN)

Unter einer Essstörung werden meist die Krankheitsbilder Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN) und Binge-Eating-Störungen (BED) zusammengefasst. Sehr häufig sind auch atypische Essstörungen, die jedoch durch die Klassifikationssys-teme nicht erfasst werden.

In dem folgenden Beitrag liegt der Fokus auf den endokrinologischen Verän-derungen und der Knochengesundheit bei weiblichen Jugendlichen mit einer Ano-rexia nervosa.

1.1 DefinitionAnorexia nervosa (AN) ist eine primär psychiatrische Erkrankung mit weitreichen-den endokrinologischen Konsequenzen für die Pubertätsentwicklung, das Wachs-tum und die Knochengesundheit.

Unterernährung führt zu einer Beeinträchtigung der Hypophysenachsen. Be-tro!en ist neben der Gonaden-, der Nebennierenrinden- und der Schilddrüsenach-se auch die Wachstumshormonachse. Die Interaktionen zwischen dem hieraus resultierenden Hypogonadismus, dem Hypercortisolismus, dem IGF1- und dem Leptinmangel, der Wachstumshormonresistenz sowie der verminderten Knochen-dichte sind komplex.

Merkmale einer AN nach der Leitlinie Diagnostik und Therapie der EssstörungenAls „Anorexia nervosa“ wird eine Erkrankung bezeichnet, bei der durch restriktives Essverhalten und andere Verhaltensweisen ein Gewichtsverlust selbst herbeige-führt wird und Untergewicht entsteht oder aufrechterhalten bleibt. Das Körper-gewicht liegt mindestens 15 Prozent unter dem für Geschlecht, Größe und Alter zu erwartenden Gewicht bzw. bei Erwachsenen unterhalb von einem BMI (Bo-dy-Mass-Index) von 17,5 kg / m2. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Verwendung des BMI bzw. das Gewichtskriterium von 17,5 kg / m2 nicht angebracht. Vielmehr wird als Definitionskriterium hier ein Unterschreiten des zehnten Altersperzentils

Page 9: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

9

vorgeschlagen [1]. Betro!ene zeigen trotz bestehenden Untergewichts eine deutliche Angst, zu

dick zu sein, und /oder ein ausgeprägtes Bestreben nach „Schlankheit“. [2, S. 70 ]. Bei der Anorexie werden zwei Subtypen unterschieden. Beim restriktiven Typ wird der Gewichtsverlust durch kalorienarme Ernährung und vermehrte körperliche Ak-tivität erreicht. Bei dem Binge-purging -Typ treten regelmäßig Heißhungerattacken auf und /oder die Betro!enen führen Erbrechen herbei oder gebrauchen Laxantien oder Diuretika [2, S. 36].

In der Leitlinie sind Kriterien für eine AN aus dem DSM-4 (Statistical Manual of Mental Disorders-4) und aus dem ICD10 angeführt. DSM-5 (ab Mai 2013) findet noch keinen Eingang. Im Verlauf der Erkrankung sind Übergänge zwischen verschiede-nen Formen der Essstörungen häufig, die von den Klassifikationssystemen nicht berücksichtigt werden. 1.2 Diagnostische KriterienKriterien der Anorexia nervosa nach DSM-4-TR (2000)• Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körperge-

wichts zu halten: dauerha"er Gewichtsverlust, Gewicht < 85 Prozent des zu er-wartenden Gewichts

• ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme und davor, „dick zu werden“ (trotz Untergewichtes)

• Körperwahrnehmungsstörung, Überbewertung von Gewicht und Figur• Leugnen des Schweregrades des Untergewichtes• Amenorrhö (Kriterium entfällt im DSM-5, ab Mai 2013)• restriktiver Typus: keine Essanfälle, kein Erbrechen, kein Laxantien- oder Diure-

tikamissbrauch• Binge-Purging-Typus: regelmäßig Essanfälle und „purging-Verhalten“ (Erbre-

chen, Laxantien o. ä.)

Diagnostische Kriterien Anorexia nervosa ICD-10 (1993) F 50.0 • Körpergewicht mind. 15 Prozent unter dem erwarteten Gewicht oder Bo-

dy-Mass-Index #17,5 kg / m2 (nicht auf Kinder- und Jugendliche anwendbar! Anmerkung Autor)

Page 10: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

10

• der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch: – Vermeidung hochkalorischer Speisen und /oder – selbstinduziertes Erbrechen – selbstinduziertes Abführen – übertriebene körperliche Aktivität – Gebrauch von Appetitzüglern, Diuretika u. a.

• Körperschemastörung; überwertige Idee, zu dick zu sein / zu werden; es wird eine sehr niedrige Gewichtsschwelle festgelegt

• endokrine Störung (Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse), findet Aus-druck z. B. in Amenorrhö

• bei Beginn vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert, z. B. Wachstumsstopp, primäre Amenorrhö

F 50.00 (AN ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme) • kein Erbrechen, kein Abführmittel- oder Diuretikamissbrauch

F 50.01 (AN mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme)• selbstinduziertes Erbrechen, Abführmittelmissbrauch o. Ä.; evtl. treten auch

Ess anfälle auf [2, S. 127].

1.3 Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen mit ANBei Kindern und Jugendlichen ist die Verwendung des BMI-Grenzwertes von 17,5 kg / m2 als Gewichtskriterium (gilt für Erwachsene) nicht angebracht. Vielmehr wird als Definitionskriterium hier ein Unterschreiten des 10. BMI-Altersperzentils vorgeschlagen [1, 2].

Nicht selten beginnt die AN in diesen Altersstufen mit einem harmlos wirken-den Diätverhalten (o": Weglassen von Süßigkeiten, vegetarische Ernährung). Aus-löser können ein erster Auslandsaufenthalt, ein erstes Verliebtsein oder der Beginn zunehmender körperlicher Veränderungen in der Pubertät sein.

Anerkennende Rückmeldungen anderer – als Reaktion auf eine Gewichtsab-nahme – und vermehrte Aufmerksamkeit können als positive Verstärker wirksam werden. Sie tre!en auf ein geringes Selbstwertgefühl und eine ausgeprägte Verun-sicherung in der Phase des Erwachsenwerdens. Es stellt sich das Gefühl ein, dass

Page 11: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

11

eine erneute Gewichtszunahme unbedingt vermieden werden muss. Eine Kontrol-le des Gewichts wird o" gleichgesetzt mit einem Gefühl, das eigene Leben wieder unter Kontrolle zu haben. Manchmal findet sich eine mehr oder weniger bewusste Angst vor den Anforderungen des Erwachsenwerdens bei gleichzeitig hohen Anfor-derungen an die eigene Leistungsfähigkeit [2, S. 71].

Bei Erkrankungsbeginn in der Kindheit oder zu Beginn der Adoleszenz wird die Gewichtsabnahme beziehungsweise fehlende Gewichtszunahme fast ausschließ-lich durch restriktives Essverhalten und /oder verstärkte körperliche Aktivität er-zielt. Binge-Purging-Verhalten ist in dieser Altersgruppe deutlich seltener. Bei der AN gibt es häufig eine Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen, vor allem mit Depressionen, Angststörungen oder Zwangserkrankungen [2, S. 71].

Die Prognose von jungen Patientinnen hat sich in den letzten zwei Dekaden deutlich verbessert und scheint in den meisten Fällen günstiger zu sein als die bei erwachsenen Patientinnen. In jüngeren Zehnjahres-Katamnesen fanden sich bei Nachuntersuchungen von im Jugendalter erstmals stationär behandelten Patien-tinnen keine Todesfälle mehr [2, S. 74]. Zielgewicht nach Empfehlung der Leitlinie Diagnostik und Therapie der Ess-störungen Für Kinder und Adoleszente werden BMI-Perzentilen-Tabellen verwendet. Als Richtwert für das anzustrebende Zielgewicht wird in der Regel das 25., mindestens jedoch das 10. Altersperzentil genannt.

Das Unterschreiten des 10. BMI-Perzentils ist als Kriterium für Untergewicht definiert. Ein Wert unterhalb des 3. BMI-Perzentils wird als extremes Untergewicht definiert und stellt eine Indikation für eine stationäre Behandlung dar.

Nach der Leitlinie sprechen u. a. folgende Kriterien für eine stationäre Behand-lung bei Kindern und Jugendlichen: [2, S. 84]• Untergewicht < 3. BMI-Perzentil • fehlender Erfolg einer ambulanten Behandlung• anhaltender Gewichtsverlust • unzureichende Gewichtszunahme • negative soziale oder familiäre Einflussfaktoren • ausgeprägte Komorbidität

Page 12: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

12

RealimentationIm ambulanten Rahmen nehmen Patientinnen mit AN bei einem Ausgangs-BMI von 15,6 kg / m2 durchschnittlich 0,08 BMI-Punkte pro Woche zu (dies entspricht 260 g / Woche bei 1,65 m Körpergröße), bei stationärer Behandlung 0,20 BMI-Punk-te (entspricht 530 g / Woche; Anfangs-BMI 14,6 kg / m2). Eine Altersabhängigkeit bzgl. der Gewichtszunahme (< 18 Jahre vs. > 18 Jahre) besteht nicht [2, S. 91].

1.4 Epidemiologie AN AdoleszenzDie Inzidenz einer AN wird in amerikanischen Studien bei Mädchen im Alter zwi-schen 15 und 19 Jahren mit 40–100 pro 100 000 angegeben. In dieser Gruppe wer-den auch die höchsten Inzidenzraten gefunden. Etwa 40 Prozent aller Neuerkran-kungen manifestieren sich in diesem Alter [3].

Bei Jungen in der gleichen Altersstufe liegt die Inzidenz dagegen nur bei 1 – 4 pro 100 000.

Die Inzidenzrate für restriktive Essstörungen bei fünf- bis zwölfjährigen Kindern liegt (mit anscheinend steigender Tendenz) bei 1 – 2,5 pro 100 000 [4].

Für Deutschland liegen entsprechende Daten nicht vor.Während die Gesamtinzidenzrate über die letzten Dekaden stabil war, zeigt

sich in der Hochrisikogruppe der 15- bis 19-jährigen Mädchen eine Veränderung. Eine repräsentative Studie aus den Niederlanden konnte einen signifikanten In-zidenzanstieg der AN in dieser Altersgruppe von 56,4 pro 100 000 Personenjahre (Untersuchungszeitraum 1985–1989) auf 109,2 pro 100 000 Personenjahre (Unter-suchungszeitraum 1995–1999) nachweisen [5].

Suizid ist eine der Hauptursachen eines vorzeitigen Todes bei AN. Über Suizi-dalität bei Adoleszenten mit AN gibt es nur wenige Studien. Suizidgedanken finden sich bei etwa der Häl"e der adoleszenten AN, einen Suizidversuch unternehmen etwa drei bis sieben Prozent [4].

Prävalenz der AN bei Adoleszenten und erwachsenen FrauenDie Prävalenzraten für AN liegen bei Frauen grundsätzlich wesentlich höher als bei Männern. Für Frauen mit AN liegt die Punktprävalenz im Risikoalter zwischen 15 und 35 Jahren bei 0,4 Prozent. Zwillinge haben generell ein höheres Risiko, an einer AN zu erkranken. In Zwillingskohorten liegt die Prävalenz nach den DSM-4-Kriterien zwischen 1,2 und 2,2 Prozent. Nach Streichen des Diagnosekriteriums Amenorrhö

Page 13: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

13

im DSM-5 (Statistical Manual of Mental Disorders-5) ist die Prävalenz einer AN deut-lich höher. Die Lebenszeitprävalenz an AN erkrankten Frauen, diagnostiziert nach DSM-5, beträgt ca. vier Prozent [6]. 1.5 Verlauf der ANDer Verlauf einer AN ist langwierig. Etwa 30 Prozent der Patientinnen entwickelten nach Entlassung ohne vollständige Genesung ein Rezidiv. Die meisten Patientin-nen wurden jedoch in einem Beobachtungszeitraum von zehn bis 15 Jahren voll-ständig gesund und haben einen regelmäßigen Zyklus.

Fast 76 Prozent der AN-Patientinnen erfüllen die Kriterien einer völligen Gene-sung. Der Zeitraum bis zur völligen Genesung ist lang: zwischen 57 und 79 Mona-ten. Von den AN-Patientinnen entwickelten 30 Prozent innerhalb der ersten fünf Jahre eine Binge-Eating-Störung [7].

1.6 Fragebogen zur Erfassung von EssstörungenDer SCOFF-Fragebogen [8] wurde im Rahmen der KiGGS-Studie (Studie zur Ge-sundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) zur Erfassung von Essstö-rungen bei Kindern und Jugendlichen angewendet. Das Akronym „SCOFF“ leitet sich aus den Fragen der englischen Version ab.

Der Fragebogen besteht aus fünf Fragen, die die Kernsymptome von Anorexia und Bulimia nervosa charakterisieren:

1. Übergibst du dich, wenn du dich unangenehm voll fühlst? 2. Machst du dir Sorgen, weil du manchmal nicht mit dem Essen aufhören kannst?3. Hast du in der letzten Zeit mehr als sechs Kilo in drei Monaten abgenom-

men? 4. Findest du dich zu dick, während andere dich zu dünn finden? 5. Würdest du sagen, dass Essen dein Leben sehr beeinflusst?

Werden zwei dieser fünf Fragen mit „Ja“ beantwortet, kann auf den Verdachtsfall einer Essstörung geschlossen werden. Bezogen auf seine Aussagefähigkeit, wies der SCOFF-Fragebogen in einer Validierungsstudie eine 100-Prozent-Sensitivität für Anorexie und Bulimie auf, bei einer Falsch-Positiv-Rate von 12,5 Prozent. Eine Unterscheidung der Au!älligen in Anorektiker bzw. Bulimiker ist allein mit den An-gaben aus dem SCOFF-Fragebogen nicht möglich [9].

Page 14: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

14

Der Fragebogen kann in der Praxis hilfreich sein, um Kinder und Jugendliche mit Verdacht auf eine Essstörung frühzeitig zu erkennen und einer entsprechenden psychiatrischen Diagnostik zuzuführen. 1.7 Empfohlene „Basis“-Diagnostik bei Verdacht auf eine Essstörung • körperliche Untersuchung inkl. Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur,

Größe, Gewicht• Labor: Blutbild, Elektrolyte, Transaminasen, Amylase, Lipase, Kreatinin, Cal-

cium, Phosphat, Magnesium, Schilddrüsenwerte, alkalische Phosphatase, Phosphat, Vitamin D

• EKG• ggf. EEG, MRT

1.8 Klinik der AN bei JugendlichenKlinisch fallen bei Jugendlichen mit AN neben reduziertem subkutanem Fettge-webe und Muskelmasse kühle, livide verfärbte Hände auf. Weitere Befunde siehe Tabelle 1. Bei häufigem Erbrechen kann es zu Zahnschmelzdefekten, vergrößerten Speicheldrüsen, einer Ösophagitis und schweren Flüssigkeits- und Elektrolytent-gleisungen (siehe Tabelle 1) mit Entwicklung einer metabolischen Alkalose kom-men.

Eine Azidose spricht möglicherweise für einen Laxantienabusus. Eine Kreati-ninerhöhung kann auf eine Niereninsu!izienz hindeuten. Häufiger ist jedoch eine gestörte Osmoregulation bei Polydypsie, die erfolgt, um den Hunger zu mildern.

Neurologische Au!älligkeiten, z. B. Konzentrationsdefizite, können im Zusam-menhang mit einer bei ausgeprägtem Untergewicht assoziierten Hirnatrophie auf-treten [10].

Page 15: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

15

körperlicher Untersuchungsbefund

trockene Haut

Lanugo-Behaarung

Akrozyanose

niedrige Körpertemperatur

Haarausfall

Dehydratation

Verzögerung von Wachstum und Pubertät

kardiovaskuläres System

Bradykardie

EKG-Au!älligkeiten (o" verlängertes QT-Intervall)

Perikarderguss

Ödeme (vor oder während Realimentation)

Gastrointestinaltrakt verzögerte Magenentleerung

Pankreatitis

Obstipation

Labor Leukozytopenie

Thrombozytopenie

Anämie

Hypokaliämie, Hyponatriämie, Hypomagnesiämie, Hypocalziämie, Hypophosphatämie (während Realimentation)

niedrige Glukose

AST und ALT – Erhöhung (bei starkem Fasten oder Beginn der Realimentation)

Hypercholesterinämie

Tab. 1 Symptome bei Jugendlichen mit AN [11].

Page 16: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

16

2. Endokrinologische Veränderungen

Eine AN führt zu typischen endokrinologischen Au!älligkeiten. Diese sind Konse-quenzen des Hungerzustands und werden als Anpassungsmechanismen zur Ener-gieeinsparung angesehen [4].

Schilddrüsenachse fT3, n ( ) fT4, TSH n oder ( )

Gonadenachse

FSH

LH Pulsatilität

Östrogene

Androgene

Nebennierenrindenachse Cortisol

n ( ) DHEAS

Wachstumshormon (GH) GH, IGF1 (GH-Resistenz)

appetitregulierende Hormone Leptin, Ghrelin (Fasten)

Tab. 2 Endokrinologische Veränderungen bei AN [12].

Abkürzungen:

fT3 = freies Trijodthyronin; fT4 = freies Thyroxin; FSH = follikelstimulierendes Hormon; LH = luteinisierendes Hor-mon; DHEAS = Dehydroepiandrosteron; GH = Wachstumshormon; IGF1 = Insulin-like growth Factor Typ I

!= erhöht"= erniedrigtn = normal

2.1 Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-AchseBei Patientinnen mit einer Anorexie liegt in der Regel ein hypogonadotroper Hypo-gonadismus mit primärer oder sekundärer Amenorrhö vor. Die Gonadotropinaus-schüttung ist bei gestörter GnRH-Sekretion vermindert.

Die resultierende funktionelle hypothalamische Amenorrhö ist mit einem Östrogenmangel, basal und nach GnRH-Stimulation, niedrigen Gonadotropinen (LH und FSH) sowie fehlender pulsatiler LH- Sekretion verbunden.

Die Gonadotropinsekretion wird unter anderem durch Leptin und Ghrelin re-guliert. Leptin stimuliert, Ghrelin inhibiert die Gonadotropinsekretion. Ein ernied-

Page 17: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

17

rigtes Leptin und erhöhtes Ghrelin tragen so vermutlich zum Hypogonadismus bei AN bei.

Zusätzlich führt der häufig bei einer AN vorhandene Hypercortisolismus zu einer Suppression der GnRH-Sekretion mit einer weiteren Verstärkung des Hypo-gonadismus [13].

2.1.1 Pathogenese AmenorrhöDie funktionelle Integrität der Hypothalamus-Hypophysen-Ovar-Achse ist von ei-ner ausreichenden Energieversorgung abhängig.

Bei gesunden Mädchen ist präpubertär kaum eine LH-Fluktuation nachweis-bar, die Gonadotropinspiegel sind niedrig. Frühpubertär kommt es zunächst zu einem nächtlichen Anstieg der Gonadotropine und zu nächtlicher LH-Pulsatilität. Die nicht schlafassoziierten Tagesphasen zeigen noch eine niedrige LH-Pulsatilität. Spätpubertär entwickelt sich eine 24-stündige LH-Pulsatilität [14].

Bei einer funktionellen hypothalamischen Amenorrhö im Rahmen der Essstö-rung kommt es zunächst zum Ausfall der zirkadianen LH-Pulse. Bei anhaltender Belastung kommt es auch zum Verlust der nächtlichen LH-Pulse. Durch psychische Belastung kann es zusätzlich zu einem Prolaktinanstieg mit weiterer Hemmung der pulsatilen GnRH-Freisetzung kommen.

Eine Dysregulation der GnRH-Pulsatilität wurde erstmals 1974 von Boyar et al. [15] bei Adoleszenten mit AN und Amenorrhö beschrieben. Hierzu wurde die LH-Sekretion in 20-Minuten-Intervallen über 24 Stunden untersucht.

Acht der neun Patientinnen (17–23 Jahre) zeigten ein „unreifes“ LH-Sekreti-onsmuster, vergleichbar mit präpubertären oder pubertären Mädchen, entspre-chend einer Regression (bei sekundärer Amenorrhö) oder einem Stillstand (bei primärer Amenorrhö) der Reifung des LH-Sekretionsmusters.

Bei einer Patientin mit spontaner Remission und Erreichen des Zielgewichtes kam es im Verlauf zu einer Reifung des LH-Sekretionsmusters von frühpubertär zu matur (Abbildung 1). Die Beziehung zwischen Körpergewicht und Reifung des LH-Sekretionsmusters unterstützt die Hypothese, dass das Gewicht ein wichtiger Faktor der Menarche ist.

Page 18: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

18

Untersucht man das LH-Sekretionsmuster nach partiellem oder komplettem Er-reichen des Idealgewichtes, so zeigen Frauen mit einem adulten LH-Sekretions-muster insgesamt weniger klinische Symptome als diejenigen mit weiterhin im-maturem LH-Sekretionsmuster. Eine Korrelation zwischen Grad der Unreife des LH-Sekretionsmusters mit Dauer der Erkrankung, Gewicht oder Fettmasse konnte jedoch nicht nachgewiesen werden [16].

2.1.2 Uterus und Ovarialvolumina bei hypothalamischer AmenorrhöAdoleszente mit einer funktionellen hypothalamischen Amenorrhö (FHA) haben infolge des Hypogonadismus erwartungsgemäß geringere Uterus- und Ovarialvo-lumina. In einer Studie zeigten Adoleszente (mittleres Alter 16,3 ± 1,2 Jahre, n = 45) mit FHA und einem BMI von 17,8 ± 1,8 kg / m2 im Vergleich zu einer Kontrollgrup-pe (BMI 20,4 kg / m2) ein signifikant kleineres Uterusvolumen (14,7 ± 6,3 cm3 vs. 31,7 ± 10,6 cm3), ein geringeres Ovarialvolumen (9,3 ± 3,6 cm3 vs. 13,8 ± 4,3 cm3) und niedrigere LH-Spiegel (2,70 ± 2,59 vs. 6,01 ± 2,44) [17].

Abb. 1 Plasma luteinisierendes Hormon (LH), Konzentration gemessen alle 20 Minuten über 24 Stunden bei Anorexia nervosa (oberes Feld) und nach klinischer Remission (unteres Feld). Letzteres zeigt ein normales adultes Sekretionsmuster [15].

Page 19: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

19

2.1.3 Regulatoren der GnRH-Pulsatilität: Leptin und Grhelin Leptin Leptin ist einer der wichtigsten Regulatoren der GnRH-Pulsatilität.

Leptin ist ein im Fettgewebe gebildetes Zytokin und wirkt auf Hypothalamus, Hypophyse und Gonaden. Leptin korreliert positiv mit Parametern des Ernäh-rungsstatus (BMI, Fettmasse, Insulin). Hohe Leptinspiegel wirken appetithem-mend, niedrige appetitsteigernd [13].

Bei AN ist als Reaktion auf den Hungerzustand und die reduzierte Fettmasse sowohl die basale als auch die pulsatile Leptinsekretion erniedrigt. Leptin stimu-liert die GnRH- Sekretion, niedriges Leptin hat einen inhibierenden E!ekt auf die GnRH- Sekretion und trägt so zum Hypogonadismus bei AN bei [13].

Das bei Unterernährung niedrige Leptin wiederum beeinflusst ernährungsabhän-gige Hormone wie das Wachstumshormon (GH) und das Cortisol. Die GH-Pulsfrequenz wird erhöht, die Halbwertzeit des Cortisols erniedrigt. Leptin scheint auch die Schilddrü-senhormone zu beeinflussen. So verminderte die Gabe von rh-Leptin einen Abfall der TSH-Sekretion im akuten Hungerzustand und erhöhte die Bildung von fT4 und T3 [18]. LeptintherapieStudien mit normalgewichtigen Frauen und hypothalamischer Amenorrhö be-richteten über das Wiedereintreten der Menses mit assoziierter Verbesserung der Knochenumbaumarker bei fünf der acht Frauen, bzw. 70 Prozent in einer weiteren Studie, nach Leptintherapie. Allerdings hatten die Frauen weniger Appetit und nah-men Gewicht ab, sodass dieser Therapieansatz bei AN nicht geeignet ist [18, 19].GhrelinEin weiterer Regulator der GnRH-Pulsatilität ist das Ghrelin.

Ghrelin ist ein appetitstimulierendes Hormon. Es wird vorwiegend aus Magen-parietalzellen sezerniert, fördert die Sekretion von GH und ACTH und inhibiert die Gonadotropinsekretion. Adoleszente mit AN haben als weitere adaptive Antwort auf einen Hungerzustand höhere Ghrelinwerte als Normalgewichtige, assoziiert mit einem niedrigen BMI und geringerer Fettmasse [13, 20].

2.2 Hypothalamus-Hypophsyen-Wachstumshormon-IFG1-Achse Im Hungerzustand ist das IGF1 erniedrigt und das Wachstumshormon (GH) erhöht, wobei der Ernährungsstatus (BMI, Körperfett) invers mit der GH-Konzentration kor-reliert. Niedrige IFG1-Werte und hohe GH-Werte sprechen für eine nahrungsabhän-gig erworbene GH-Resistenz [20].

Page 20: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

20

GH erfüllt zwei Funktionen: Im Hungerzustand mobilisiert GH freie Fettsäuren und antagonisiert Insulin, wodurch die hepatische Glukoneogenese aktiviert wird. Folge ist eine erhöhte Verfügbarkeit von Glukose.

Außerdem erhöht GH abhängig von adäquater Energiezufuhr die IGF1-Syn-these und Sekretion. Im Hungerzustand entwickeln Leber und periphere Gewebe jedoch eine GH-Resistenz für die GH-vermittelte IGF1-Synthese. Das daraufhin erniedrigte IGF1 führt durch den negativen Feed-back-Mechanismus zu einer Sti-mulation der hypophysären GH-Sekretion. Die Plasmakonzentration von GH steigt, was zu einer erhöhten Verfügbarkeit von Glukose und Fettsäuren für den Energie-sto!wechsel führt.

Zusätzlich ist die IGF1-Synthese in der Leber direkt von der Insulinkonzent-ration abhängig. Bei inadäquat niedrigen Insulinkonzentrationen ist sowohl die basale IGF1-Synthese als auch die IGF1-Antwort auf GH beeinträchtigt [21]. Mögli-cherweise kommt zusätzlich ein E!ekt hoher Cortisolwerte auf die GH-IGF1-Achse bei AN zum Tragen [20].

2.3 Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenachseDie Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse ist bei Patientinnen mit einer AN stimuliert. Der Hypercortisolismus scheint eine direkte Folge der Unterer-nährung zu sein: Diejenigen mit dem niedrigsten BMI, der geringsten Nüchternglu-kose und den niedrigsten Insulinspiegeln haben die höchsten Cortisolspiegel. Das spricht dafür, dass der Cortisolanstieg adaptiver Mechanismus zur Vermeidung einer Hypoglykämie im Zustand verminderter Energieverfügbarkeit ist [22].

Ähnlich wie das Wachstumshormon wirkt Cortisol gluconeogenetisch. Erhöh-tes Cortisol und GH zusammen halten bei AN den Blutzucker im Normbereich. Zu-sätzlich wird Cortisol als ein möglicher Mediator von Verlust an Knochendichte und Depression bei AN angesehen (siehe Kapitel Osteoporose) [13, 22].

2.4 Hypothalamus-Hypophysen-SchilddrüsenachseEine ausgeprägte Gewichtsabnahme bei AN ist durch ein „sick-euthyroid-syn-drome“, auch als low T3-Syndrome bekannt, charakterisiert. Hierbei ist das T3 (Trijodthyronin) erniedrigt und das rT3 (reverses Trijodthyronin) erhöht. Zwei Re-aktionen scheinen hier zum Tragen zu kommen: Zum einen hemmt der Kohlenhy-dratmangel durch die Typ-1-Dejodase im Hungerzustand die Dejodierung von T4 zu T3, wodurch weniger T3 gebildet wird [23].

Page 21: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

21

Zum anderen wird durch vermehrte Dejodierung aus T4 das sto!wechselinak-tive rT3 gebildet. Das erhöhte rT3 supprimiert über den negativen Feed-back-Me-chanismus eine vermehrte Thyreotropin (TSH)- Sekretion. Das TSH ist bei AN meist normal oder leicht erniedrigt. Die TSH-Antwort im TRH-Test ist abgeschwächt. Das T4 ist in der Regel normal, selten auch mal gering erniedrigt [13].

Das erniedrigte T3 ist vermutlich eine Anpassung an den Hungerzustand, um den Sto!wechsel zu reduzieren. So zeigen Patienten mit einer AN typische Symp-tome einer Hypothyreose wie eine Bradykardie oder Hypothermie, wodurch der Energieverbrauch verringert wird [24]. Mit zunehmender Gewichtsnormalisierung steigt das T3 in den Normbereich an [25, 26].

Ein Low-T3-Syndrom sollte nicht mit Levothyroxin behandelt werden, da dies zu einer unerwünschten Gewichtsabnahme führen kann [25].

Bei diskrepanten Schilddrüsenwerten, die nicht mit einem Low-T3-Syndrom vereinbar sind, kommt di!erenzialdiagnostisch eine Hashimoto-Thyreoiditis in Be-tracht, zumal es Hinweise gibt, dass Autoimmunerkrankungen bei Essstörungen häufiger sind [27].

Bei gesicherter Hypothyreose in Rahmen einer primären Schilddrüsenerkrankung kann auch bei Patienten mit AN eine Therapie mit Levothyroxin indiziert sein [28].

In der Leitlinie wird eine Thyroxinsubstitution nach besonders enger Indikati-onsstellung empfohlen. Nur bei eindeutiger Klinik einer Hypothyreose sollte Thy-roxin in sehr niedrigen Dosen substituiert werden [2, S. 293].

Fazit:Sämtliche Hormonveränderungen bei AN sind sehr wahrscheinlich eine Reaktion auf den Hungerzustand, mit dem Ziel, während der akuten Phase der Erkrankung Energie zu sparen [13]. • Die erhöhten GH- und Cortisolspiegel sichern die Energieversorgung bei ver-

minderter Energieverfügbarkeit. • Das erniedrigte Leptin und das erhöhte Ghrelin wirken appetitsteigernd und sti-

mulieren GH und Cortisol. Gleichzeitig supprimieren das erniedrigte Leptin und das erhöhte Ghrelin die Gonadotropinsekretion. Das führt langfristig, durch eine eingeschränkte Fertilität, ebenfalls zu Energieeinsparungen.

• Durch die Entwicklung eines „sick-euthyroid-syndromes“ wird zusätzlich Ener-gie gespart. Eine Thyroxin-Substitution sollte daher nur nach besonders enger Indikationsstellung erfolgen.

Page 22: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

22

3. Prädiktoren der Amenorrhödauer

Die Normalisierung des Menstruationszyklus ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Gesundung als Hinweis für eine Normalisierung der endokrinen Funktio-nen. Eine lang dauernde Amenorrhö bei AN beunruhigt die Patientinnen und ihre Familien.

Ein möglichst rasches Wiedereintreten der Menses ist zusätzlich erstrebens-wert, da eine längere Amenorrhö negativen Einfluss auf die Knochendichte hat. Die Adoleszenz ist in diesem Zusammenhang besonders kritisch, da 60 Prozent der Peak bone mass in diesem Zeitraum erworben wird [29].

Ein Risikofaktor für das verzögerte Eintreten der Menstruation trotz Gewichts-normalisierung ist ein prämenarchaler Krankheitsbeginn [30].

In einer Kohortenstudie wurden 100 Adoleszente (mittleres Alter 16,9 Jahre) mit AN über zwei Jahre bzgl. des Wiedereintritts der Menses untersucht.

Die Gewichtsabnahme vor Studienbeginn betrug 13,0 ± 6,5 kg über einen Zeit-raum von 17,1 ± 16,6 Monaten. Eine Amenorrhö lag im Mittel seit 11,3 ± 11,6 Mona-ten vor.

Während der Studie erfolgten bis zum Wiedereintreten der Menses (definiert als zwei oder mehr spontane Menstruationszyklen) dreimonatliche Messungen von Körpergewicht, Fettmasse, LH, FSH und Östradiol. Die Therapie beinhaltete eine Kombination aus medizinischer-, Ernährungs- und psychiatrischer Intervention.

Die Dauer bis zum Wiedereintreten der Menses betrug 9,4 ± 8,2 Monate nach Erstvorstellung und erforderte ein um etwa 2,5 kg höheres Gewicht als bei Ausblei-ben der Menses. Das mittlere standard body weight (SBW: definiert als Median des Gewichts für Größe und Alter nach Tabellen des Center for Health Statistics, Rock-ville, USA) lag bei Wiedereintreten der Menses bei 91,6 (± 9,1) Prozent und bei 86 Prozent der Patientinnen trat die Menses innerhalb der folgenden sechs Monate nach Erreichen dieses Gewichtes wieder ein.

Dabei zeigte sich eine erhebliche individuelle Variabilität: Bei 48 Prozent der Patientinnen trat die Mensis bei einem SBW < 90 Prozent wieder ein.

Nach einjähriger Beobachtungsdauer war es bei insgesamt 68 Prozent der Patientinnen zum Wiedereintreten der Menses gekommen, 32 Prozent blieben amenorrhoisch. Zwischen den beiden Gruppen gab es keine signifikanten Unter-schiede bzgl. BMI oder Körperfett.

Page 23: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

23

Allerdings wiesen Patientinnen, bei denen nach einem Jahr noch eine Amo-norrhö bestand, zu Beginn der Studie niedrigere basale LH- und FSH-Werte auf sowie im Verlauf niedrigere basale LH- und Östradiol-Werte. Als bester Parameter zur Abschätzung der wiedereingetretenen Menses zeigte sich in der Studie ein Öst-radiolwert > 30 pg / ml. Bei diesem Cut-o! konnten 90 Prozent der Patientinnen mit wiedereintretender Menses korrekt vorhergesagt werden sowie 81 Prozent, die amenorrhoisch blieben [29].

Bei einer sekundären Analyse der Autoren wurde nicht mehr das standard body weight, sondern altersentsprechende BMI-Perzentilen zur Festlegung des Zielge-wichtes für das Wiedereintreten der Menses verwendet.

Bei 50 Prozent der Patientinnen mit wiedereingetretener Menses lag der BMI zwischen dem 14. und 39. Perzentil. Die Autoren schlugen daraufhin, abhängig von Ursprungsgewicht, Pubertätsstatus und Wachstum, einen altersabhängigen BMI zwischen dem 14. und 39. Perzentil als „Zielgewicht“ vor [31].

Eine brasilianische Arbeitsgruppe untersuchte kürzlich ebenfalls verschiede-ne Parameter bei 22 Adoleszentinnen (12–16 Jahre) mit AN oder anderen nicht spezifizierten Essstörungen (Eating Disorder Not Otherwise Specified, EDNOS) und Amenorrhö mit der Frage eines Prädiktors bzgl. des Wiedereintretens der Menses nach Gewichtszunahme. Neben dem BMI wurde Leptin, LH, Östradiol und IGF1 in fünfwöchentlichen Abständen über einen Zeitraum von 20 Wochen bestimmt. Bis auf LH stiegen alle Hormonwerte im Verlauf unter Gewichtszunahme signifikant an (Tabelle 3).

Trotz guter Gewichtszunahme mit einem BMI zwischen dem 35. und 50. Perzentil kam es nur bei 59 Prozent der Patientinnen innerhalb von 20 Wochen zur Menses. Einige Patientinnen erreichten ein normales Körpergewicht ohne Wiedereintritt der Menses.

Vergleicht man die Hormonwerte der Patientinnen mit wiedereingetretener Menses mit den Werten der Patientinnen ohne Menses, so zeigte in dieser Arbeit nur das IGF1 eine signifikante Di!erenz (Tabelle 4).

Die Daten decken sich mit anderen Studienergebnissen und bestätigen, dass der BMI allein kein guter Prädiktor für den Wiedereintritt der Menses ist. Neben dem hier dargestellten IGF1 als Prädiktor für den Wiedereintritt der Menses wurde in anderen Studien [32] das Leptin als Prädiktor favorisiert. Leptin-Werte > 1,85 ng /ml seien die Voraussetzung für einen LH-Anstieg zur Wiedererlangung des Mens-truationszyklus [33].

Page 24: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

24

1. Woche 20. Woche P

BMI kg/m2 16,07 ± 1,4 18,9 ± 0,7 < 0,001*

Leptin 3,9 ± 4,9 11,8 ± 7,6 0,01

IGF-1 295,3 ± 100 386,6 ± 44,3 < 0,001*

LH 3,9 ± 4,8 6,8 ± 3,2 0,2

Östradiol 15,4 ± 20,4 52,3 ± 26 0,021*

*p < 0,05

Tab.3 Unterschiede zwischen der 1. und 20. Studienwoche für BMI und Hormonparameter (mean ± SD) [33].

M NM P

BMI kg / m2 20 ± 0,15 18,5 ± 2,2 0,08

Leptin 17,2 ± 2,4 10 ± 4,0 0,6

IGF-1 454 ± 7,9 367,4 ± 133 0,02*

LH 12,3 ± 0,5 3,0 ± 7,9 0,08

Östradiol 71,5 ± 1,3 27,3 ± 37,2 0,6

*p < 0,05 Tab. 4 Unterschiede zwischen Patientinnen, bei welchen die Menses wieder eingetreten ist (M) oder nicht (NM) und Hormoparameter (mean ± SD).

Fazit:• Sechs Monate nach Erreichen des Zielgewichtes, das etwa 2,5 kg höher lag als

das Gewicht bei Einsetzen der Amenorrhö, traten bei ca. 86 Prozent der Patien-tinnen die Menses wieder ein.

• Bei 50 Prozent der Patientinnen mit wieder eingetretener Menses lag der BMI zwischen dem 14. und 39. Perzentil.

• Mögliche Prädiktoren für den Wiedereintritt der Menses sind neben dem BMI, das Östradiol, das Leptin und das IGF1. Allerdings ist die Normalisierung der Parameter nicht immer mit dem Wiedereintritt der Menses verbunden.

Page 25: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

25

4. Wachstum bei AN

Eine Wachstumsverzögerung ist eine bekannte Komplikation bei AN. Bei erfolgrei-cher Gewichtszunahme kommt es zu Aufholwachstum, wobei ein komplettes Auf-holwachstum o" nicht erreicht wird.

Unter der Fragestellung, welchen Einfluss der Pubertätsstatus auf das Wachs-tum bei AN hat, wurden in einer Studie 16 prämenarchale Mädchen (9–16 Jahre) nach Pubertätsstatus in zwei Gruppen (A: Tanner 1–2 und B: Tanner 3–4) eingeteilt.

Patientinnen in Gruppe A waren bei Erstvorstellung kleiner, zeigten im Verlauf jedoch ein Aufholwachstum: Verbesserung des Körperhöhen (KH)-SDS bei Erstvor-stellung –1,02 ± 1,18 SDS auf –0,25 ± 0,95 SD im Verlauf.

Patientinnen der Gruppe B waren bei Erstvorstellung größer und zeigten im Verlauf kein Aufholwachstum: Veränderung des KH-SDS von –0,44 ± 1,28 auf –0,57 ± 1,09.

Die „Near-final adult height“ (NFAH) ist also in beiden Gruppen ähnlich, un-abhängig vom Beginn der AN in der frühen oder mittleren Pubertät. Bei Erreichen der NFAH lag in beiden Gruppen die mittlere Körperhöhe 4,1 ± 3,6 cm unterhalb der familiären Zielgröße. Trotz Realimentation wurde die genetische Zielgröße nicht erreicht [34].

Auch in einer israelischen Studie waren die Körperhöhen bei Patientinnen mit AN sowohl bei Erstvorstellung (–0,285 ± 1,0 SDS) als auch bei Entlassung (–0,271 ± 1,02 SDS) im Vergleich zum Normalkollektiv signifikant erniedrigt.

Hier zeigte sich jedoch eine geringe Abhängigkeit von Pubertätsstatus und Endlänge. Bei Patientinnen, deren Menarche weniger als ein Jahr vor Erstvor-stellung eintrat, war das Wachstum stärker beeinträchtigt als bei Älteren (KH SDS –0,38 ± 1,01 vs. –0,19 ± 0,92) [35].

Page 26: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

26

5. Verminderte Knochendichte bei AN

5.1 Häufigkeit bei Erwachsenen mit ANEntwickelt sich eine Anorexie während der Adoleszenz, kann keine normale peak bone mass, also keine maximale Knochendichte, erreicht werden. Adoleszente mit AN haben eine niedrigere BMD (bone mineral density) als Frauen, die erst im Er-wachsenenalter eine AN entwickeln [36, 37].

Eine erniedrigte BMD ist mit einem erhöhten Frakturrisiko assoziiert. In einer dänischen Kohortenstudie mit erwachsenen AN-Patientinnen stieg das Frakturrisi-ko nach Diagnosestellung etwa auf das Zweifache an und war noch zehn Jahre danach signifikant erhöht [38].

In der Gruppe junger erwachsener Patientinnen mit AN findet sich bei 92 Pro-zent eine Osteopenie (T-Score von #1,0 SD) und bei 38 Prozent eine Osteoporose (T-Score #–2,5 SD). Zugrunde gelegt wurde in dieser und den im Verlauf zitierten Studien die WHO-Definition für Osteopenie / Osteoporose für postmenopausale Frauen [39]. (Zur Definition einer Osteoporose bei jungen und /oder prämenopau-salen Frauen siehe Beitrag Frau Prof. Stute.)

Da eine Reduktion der BMD um –1 SD am Schenkelhals bei Gesunden mit ei-nem fast dreifach erhöhten Frakturrisiko assoziiert ist, hat die hohe Prävalenz einer Osteopenie und Osteoporose bei AN einen erheblichen Einfluss auf die Knochen-gesundheit [40].

5.2 Häufigkeit bei Adoleszenten mit ANIn einer retrospektiven französischen Studie mit 39 Adoleszenten (< 18 Jahre) mit AN zeigte sich mittels DXA, dass 51 Prozent unter einer Osteopenie (Z-Score < –1 SD – > –2,5 SD) und immerhin fünf Prozent unter einer Osteoporose (Z-Score < –2,5 SD) litten [41].

5.2.1 Frakturhäufigkeit bei Adoleszenten mit ANIn der ersten Studie über Frakturhäufigkeit mit 310 adoleszenten AN-Patientinnen (12–22 Jahre) war die Lebenszeitprävalenz bezogen auf Frakturen um 59,8 Prozent höher als in der Kontrollgruppe (31,0 % vs. 19,4 %, p = 0,02). Die Frakturen traten unabhängig von einer erniedrigten aBMD (areal bone mineral density) oder BMAD (bone mineral apparent density) auf. Somit ließ eine einzelne aBMD-Messung kei-nen Rückschluss auf ein erhöhtes Frakturrisiko zu [42].

Page 27: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

27

5.3 BMD und gestörte KnochenmikroarchitekturDie fehlende Korrelation zwischen Frakturhäufigkeit und BMD ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass eine BMD-Messung mittels DXA keine ausreichende Be-wertung der Knochenfestigkeit zulässt. Bei einer DXA-Messung wird nicht zwischen kortikalem und trabekulärem Knochen di!erenziert und somit eine gestörte Mikro-architektur der trabekulären Knochen nicht adäquat abgebildet.

Die Mikroarchitektur des trabekulären Knochens trägt jedoch wesentlich zur Knochendichte bei. Bei frühen oder milden Formen einer AN finden sich bereits ab-normale trabekuläre Strukturen, während der BMD noch im Normbereich liegt [39].

Andersherum zeigen Adoleszente mit AN trotz einer Gewichtszunahme nach ei-nem Jahr nicht den erwarteten Anstieg an Knochenzuwachs (niedrigere BMD an Wir-belsäule und Hü"e im Vergleich zu gesunden Jugendlichen). Allerdings normalisieren sich unter Gewichtszunahme die zuvor typischerweise erniedrigten Knochenumbau-marker Osteocalcin und Deoxypyridinolin. Dieser Anstieg der Knochenumbaumarker kann als möglicher früher Indikator für eine Verbesserung der Knochenmikroarchi-tektur und einen Anstieg des BMD im Verlauf gesehen werden [44].

5.4 Änderung der Knochendichte im Verlauf einer ANBei normalgewichtigen Adoleszenten nimmt die Knochendichte im Verlauf noch weiter zu. Im Gegensatz dazu wird bei Adoleszenten mit einer AN bei fortbeste-hender Erkrankung eine kontinuierliche Abnahme der Knochendichte beobachtet. In einer prospektiven Studie mit 75 jungen Frauen mit AN wurde die Knochendich-te im Verlauf untersucht. Bei Patientinnen ohne Gewichtszunahme, mit Amenorrhö und ohne Einnahme von Kontrazeptiva zeigte sich eine kontinuierliche Abnahme der Knochendichte von ca. 2,5 Prozent pro Jahr.

Bei Patientinnen mit Gewichtszunahme und wiedereingetretener Menses fand sich hingegen eine jährliche Zunahme der BMD um 3,1 Prozent an der Wirbelsäule und 1,8 Prozent an der Hü"e [45].

5.5 Welche Faktoren beeinflussen die Knochendichte bei Patientinnen mit einer Anorexia nervosa?

An möglichen prädiktiven Faktoren einer verminderten Knochendichte wurden in Studien folgende Parameter untersucht: Alter bei Erkrankungsbeginn, Reifestatus, BMI, Amonorrhödauer, IGF1 und Leptin.

Page 28: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

28

Der BMI [34] und die Amenorrhödauer sind an erster Stelle als Prädiktoren der Knochendichte zu nennen [46–48]. Nur in einer Studie korrelierte lediglich das Alter bei Erkrankungsbeginn mit der Knochendichte [41].

IGF1 und Leptin scheinen unabhängig vom BMI Pädiktoren der ossären Mik-roarchitektur zu sein [43, 48], wobei steigende IFG1-Werte mit einem Anstieg der Knochenumbaumarker (c-terminales Propeptid Typ I Prokollagen, Osteocalcin) korrelieren [44].

Zwischen Cortisol und Knochenumbaumarkern konnte eine streng inverse Beziehung nachgewiesen werden. Somit ist auch der Hypercortisolismus ein mög-licher Mediator des AN-induzierten Knochenverlustes [22].

Fazit:Die beschriebenen Prädiktoren BMI, Amenorrhödauer, Alter bei Erkrankungsbe-ginn, IGF1, Leptin und Cortisol dürfen sicherlich nicht isoliert betrachtet werden. Letztlich führen die komplexen Hormonveränderungen mit erniedrigtem IGF1, Leptin und Östrogen sowie erhöhtem Cortisol dazu, dass es trotz Gewichtsnorma-lisierung und Wiedereintritt der Menses bei vielen AN-Patientinnen nicht zu einer Normalisierung der Knochendichte kommt. 5.6 Östrogentherapie bei verminderter Knochendichte Eine häufige Frage an Gynäkologen und Pädiater ist, ob bei Patientinnen mit AN eine Östrogentherapie zur Verbesserung der Knochendichte empfohlen werden sollte.

Bei perimenopausalen Frauen gibt es eine gute Evidenz für eine Verbesserung der BMD durch eine Hormonersatztherapie, jedoch nicht für Frauen mit AN.

Die verminderte Knochendichte bei Patientinnen mit AN ist durch eine erhöh-te Knochenresorption bei vermindertem Knochenaufbau gekennzeichnet [11].

Bei der postmenopausalen Osteoporose ist dagegen neben der Knochenre-sorption auch die Knochenaufbaurate erhöht. Somit kann ein Östrogenmangel, der ursächlich für die postmenopausale Osteoporose ist, die Knochensto!wech-selsituation der AN-Patientinnen nicht allein erklären [2, S. 295].

Empfehlung gemäß Leitlinie: „Bisherige Interventionsstudien mit Östro-gen-Gestagen-Präparaten konnten keine signifikanten E!ekte (auf die Knochen-dichte) erzielen. Daher sollte gegenwärtig eine Östrogen-Gestagen-Applikation nur

Page 29: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

29

jenen AN-Patientinnen vorbehalten bleiben, bei denen nach Gewichtsrestitution die Regelblutung ausbleibt. Die Anwendung ist jedoch kontraindiziert vor dem Abschluss des Längenwachstums, da sie zu einem vorzeitigen Schluss der Epiphy-senfugen führen kann.“

Ein aktueller systematischer Review zeigte bezüglich der E!ekte von oralen Kontrazeptiva eine geringe Qualität und di!erente Resultate. Die meisten Studien konnten keinen Benefit dieser Therapie auf die BMD nachweisen [49].

So fand sich in einer Studie mit anorektischen Patientinnen, die eine Hormon-ersatztherapie erhielten, nach zwei Jahren kein signifikanter Unterschied in der BMD. Eine Verhinderung von Knochenverlust nach zweijähriger HRT konnte nicht nachgewiesen werden.

Eine alleinige Gewichtszunahme hingegen führte zu einem deutlichen Anstieg der BMD. Patientinnen mit einem BMI $17 kg / m2 zeigten einen signifikanten An-stieg der Hü"-BMD auf + 4,4 ± 6,7 gegenüber Patientinnen mit einem BMI < 17 kg /m2 mit einer Hü"-BMD von –0,5 ± 6,01 [50].

Erklären lässt sich der mangelnde E!ekt der Östrogentherapie auf die Kno-chendichte vermutlich durch die Östrogenwirkung auf das IGF1: Orales Östrogen führt zu einem GH-Anstieg, jedoch zu einem signifikanten IGF1-Abfall. Durch ora-les Östrogen wird die hepatische IGF1-Produktion supprimiert. Eine transdermale Östrogenapplikation hingegen führt zu einem IGF1-Anstieg bei unverändertem GH [51].

Die Hypothese wird durch die Ergebnisse einer Studie unterstützt, in der eine Kombinationstherapie aus rhIGF-1 plus oralem Kontrazeptivum (OC) einen besse-ren E!ekt auf den BMD zeigte als rhIGF-1 oder OC allein [52].

5.6.1 Physiologische Östrogenersatztherapie bei Jugendlichen mit ANVor dem Hintergrund des unzureichenden E!ektes einer „Standard-Östrogen-Ges-tagen-Therapie“ auf die Knochendichte wurde 2011 von einer Arbeitsgruppe erst-mals der E!ekt einer „physiologischen“ Östrogentherapie untersucht.

Hierzu wurden 110 Jugendliche mit AN und 40 normalgewichtige Kontrollen in zwei Gruppen eingeteilt. Diejenigen mit einem Knochenalter $15 Jahre (n = 96) wurden über 18 Monate entweder mit 100 %g 17ß-Östradiol transdermal (plus zy-klischem Progesteron) oder Placebo therapiert. Mädchen mit einem Knochenalter < 15 Jahre wurden über 18 Monate entweder oral mit ansteigenden Dosen Ethi-

Page 30: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

30

nyl-Östradiol (3,75 %g täglich vom 0.–6. Monat, 7,5 %g täglich vom 6. – 12. Monat, 11,25 %g täglich vom 12.–18. Monat) oder einem Placebo therapiert. (Zum Ver-gleich: Mikropillen enthalten meist 30 %g Ethinyl-Östradiol.)

Die BMD, gemessen mittels DEXA, war bei den Patientinnen mit AN niedriger als bei den Kontrollen, jedoch stiegen im Verlauf die BMD-Z-Scores an Wirbelsäule und Hü"e bei den mit Östrogenen therapierten Patientinnen an. Die Daten spre-chen dafür, dass eine physiologische Östrogenersatztherapie mit niedrigen Östro-gendosen und eine transdermale Östrogenapplikation in der Pubertät das IGF1 nicht supprimiert und einen positiven E!ekt auf den Knochen hat [46].

Auch eine Studie mit zwölf Ullrich-Turner-Patientinnen (14 ± 1,7 Jahre), die zwölf Monate mit transdermalem Östrogen (in den ersten sechs Monaten 25 %g 17ß-Östradiol / Tag , in den folgenden sechs Monaten 37,5 %g / Tag) therapiert wur-den, konnte im Vergleich zu mit konjungiertem oralem Östrogen (in den ersten sechs Monaten 0,3 mg / Tag, in den folgenden sechs Monaten 0,3 / 0,625 mg im täg-lichen Wechsel) therapierten Ullrich-Turner-Patientinnen eine Verbesserung des BMD-Z-Scores (0,7 ± 0,1 vs. 0,3 ± 0,1; P = 0,03) nachweisen [53].

Fazit:Eine physiologische Östrogenersatztherapie, vorzugsweise transdermal, könnte ein vielversprechender Ansatz sein, um der Entwicklung einer Osteoporose bei der adoleszenten AN vorzubeugen. Allerdings bedarf es einer Bestätigung der Ergeb-nisse durch weitere Studien [54].

5.7 AN, Cortisol, Depression und KnochendichteBekannt ist eine hohe Komorbidität bei AN mit Depression und Ängstlichkeit. In-teressanterweise sind erhöhte Cortisol-Konzentrationen mit Ängstlichkeit und De-pression assoziiert und korrelieren negativ mit der BMD.

In der Literatur gibt es diverse Arbeiten über Depression als potenziellen Risi-kofaktor für eine verminderte Knochendichte. In einer Studie mit 45 Frauen (13–23 Jahre) mit AN fand sich bei denjenigen mit Depression ein stärkerer Verlust an Knochendichte. Es zeigten sich inverse Korrelationen zwischen Cortisolspiegel und Knochendichte einerseits sowie Knochendichte und Angst / Depression an-dererseits. Die Beziehung zwischen Cortisol, Angst- und depressiver Symptomatik ist komplex und noch nicht gelöst. Eine Möglichkeit ist, dass Hypercortisolismus

Page 31: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

31

zu psychiatrischen Symptomen und einem Verlust an Knochendichte bei AN führt. Alternativ könnte eine AN mit Angst / Depression zu erhöhten Cortisolspiegeln füh-ren, die zu einem Verlust an Knochendichte beitragen [55].

Page 32: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

32

6. Therapie mit Calcium und Vitamin D

In einer Metaanalyse mit 408 AN-Patientinnen und 519 gesunden Kontrollen war ohne Supplementation sowohl das 25-Hydroxyvitamin D (25OH-D) als auch das 1,25-Dihydroxyvitamin D (1,25OH-D) bei AN-Patientinnen signifikant niedriger als bei gesunden Kontrollen [56].

Untersucht man den BMD und das 25OH-D bei Patienten mit einer Essstörung, so finden sich widersprüchliche Ergebnisse. Teils konnte keine Assoziation zwi-schen der Höhe der 25OH-D Spiegel und BMD gezeigt werden [57].

Andere Autoren hingegen zeigten einen deutlichen Zusammenhang zwischen 25OH-D und BMD Hü"e auf. In einer Kohorte von 89 AN-Patientinnen mit Ame-norrhö ohne Vitamin-D-Supplementation lag bei 16,9 Prozent das 25OH-D < 12,0 ng / ml, bei 36 Prozent < 20 ng / ml und bei 58,45 Prozent < 30 ng / ml. In der Gruppe mit einem 25OH-D < 20 ng / ml war das Parathhormon höher und der BMD niedriger als in der Gruppe mit höheren 25OH-D-Spiegeln. Bei Patienten mit einem 25OH-D < 12 ng / ml war der BMD Hü"e signifikant niedriger als in der Gruppe mit einem 25OH-D > 20 ng / ml [58].

Allerdings waren bei anorektischen Patientinnen trotz einer Calcium- und Vita-min-D-Supplementation die Knochenumbaumarker erniedrigt [44], sodass zumin-dest ohne eine zeitgleiche Verbesserung des Ernährungszustandes kein wesentli-cher E!ekt auf die Knochendichte zu erwarten ist.

Weitere Studien sind notwendig, um die Rolle der Vitamin-D-Supplementation bei AN zur Verbesserung der Knochengesundheit zu klären.

Die Empfehlungen bzgl. einer Ca-Vit.-D-Substitution bei AN-Patientinnen sind unterschiedlich.

Kinder und Erwachsene sollten nach der Consensus-Empfehlung 2016 zur Prä-vention einer Rachitis oder Osteomalazie über die Nahrung oder Supplementation 600 IU Vit. D und 500 mg Calzium / Tag aufnehmen [59]. Manche Autoren empfeh-len bei AN-Patienten eine Substitution mit 400 IU Vitamin D und 1 000 bis 1 500 mg Calcium pro Tag [60]. Andere Autoren schlagen eine Calciumsupplementation nur bei unzureichender Aufnahme vor, jedoch die Einnahme eines Multivitaminpräpa-rates mit 400 IE Vit. D/ Tag [47].

In der Leitlinie wird lediglich angemerkt, dass eine ergänzende Substitution von Calcium und Vitamin D unterstützend wirken kann [2, S. 295].

Page 33: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

33

Zusammenfassend sollte eine ausreichende Calciumaufnahme kritisch hinterfragt werden und ggf. Calcium substituiert werden. Ergänzend ist eine Vitamin-D (25OH-D)-Bestimmung empfehlenswert. Bei nachgewiesenem Vita-min-D-Mangel sollte eine Therapie mit Vitamin D und Calcium erfolgen [61].

Schlusswort

Die endokrinologische Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Anorexie ist aufgrund der komplexen Hormonveränderungen eine Herausforderung. Eine Östrogenersatztherapie mit niedrigen Östrogendosen oder eine transdermale Östrogenapplikation könnte ein vielversprechender Ansatz sein, um der Entwick-lung einer Osteoporose bei der adoleszenten AN vorzubeugen.

Unter dem Aspekt, dass ein Östrogenmangel in der Adoleszenz mit späteren neuropsychologischen Defiziten verbunden sein kann, sind weitere Untersuchun-gen zur Optimierung der Östrogentherapie und zur Vermeidung von Spätfolgen erforderlich.

Informationsmaterial

Essstörungen kompetent und multiprofessionell behandelnInformationen für Ärztinnen und Ärzte 1. Auflage, Stand: Dezember 2013 Bundesministerium für Gesundheit, BerlinBestellnummer: BMG-V-10020E-Mail: [email protected] unter: www.bundesgesundheitsministerium.de

ESS-Störungen, Suchtmedizinische Reihe Band 3, DHSDeutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. Westenwall 4, 59065 Hamm Tel. +49 238190150E-Mail: [email protected]

Page 34: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

34

Literatur

1. Herpertz-Dahlmann B, Hagenah U, Vloet T, Holtkamp K. Adolescent eating disorders. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiatr. 2005; 54:248-67.

2. AWMF-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen. Stand: 12.12.2010, AWMF-Register: 051/026, Klasse: S3.

3. Smink FR, van Hoek D, Hoek HW. Epidemiology of Eating Disorders: Inci-dence, Prevalence and Mortality Rates. Curr Psychiatry Rep. 2012; 14:406–41.

4. Herpertz-Dahlmann B. Adolescent Eating Disorders, Update on Definiti-on, Symptomatology, Epidemiology and Comorbidity. Child Adolesc Psy-chiatric Clin A AM. 2015; 24:177-96.

5. van Son GE et al. Time trends in the incidence of eating disorders: a pri-mary care study in the Netherlands. Int J Eat Disord. 2006; 39(7):565–9.

6. Smink FR, van Hoeken D, Hoek HW. Epidemiology, course, and outcome of eating disorders. Curr opin psychiatry. 2013; 26(6): 534-8.

7. Strober M, Freeman R, Morell W. The long-term course of severe ano-rexia nervosa in adolescents: survival analysis of recovery, relapse, and outcome predictors over 10-15 years in a prospective study. Int J Eat Dis-ord. 1997 Dec; 22(4):339-60.

8. Morgan JF, Reid F, Lacey H. The SCOFF questionnaire: assessment of a new screening tool for eating disorders. BMJ. 1999; 319:1467–8.

9. Hölling H, Schlack R. Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bun-desgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz. 2007; 50:794-9.

10. Mehler Ph S, Brown C. Anorexia nervosa-medical complications. J Eat Disord. 2015; 3:11.

11. Herpertz-Dahlmann B. Adolescent eating disorders: definitions, symp-tomatology, epidemiology and comorbidity. Child Adllesc Psychiatr Clin A Am. 2009; 18(1):31-47.

12. Miller KK. Dysregulation in Anorexia Nervosa Update. J Clin Endocrinol Metab. 2011; 96(10):2939-49.

13. Singhal V, Misra M, Klibanski A. Endocrinology of anorexia nervosa in young people: recent insights. Curr Opin Endocrinol Diabetes Obes. 2014; 21(1):64-70.

Page 35: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

35

14. Leidenberger F, Strowitzki Th, Ortmann O (Hrsg). Klinische Endokrino-logie für Frauenärzte. 5.Auflage. Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. 2014.

15. Boyar RM, Katz J, Finkelstein JW, Kapen S, Weiner H, Weitzman ED, Hellman L. Immaturity of the 24-Hour Luteinizing Hormone Secretory Pattern. N Engl J Med Oct; 1974; 291:861-5.

16. Katz JL, Boyar R, Ro!warg H, Hellman L, Weiner H. Weight and circadi-an luteinizing hormone secretory pattern in anorexia nervosa. Psychosom Med. 2008; 40(7):549-67.

17. Bumbuliene Z, Klimasenko J, Sragyte D, Zakareviciene J, Drasutiene G. Uterine size and ovarian size in adolescents with functional hypothala-mic amenorrhoea. Arch Dis Child. 2015; 15.pii:archdischild-2014-307504.

18. Welt CK, Chan JL, Bullen J, Murphy R, Smith P, DePaoli AM, Karalis A, Mantzoros CS. Recombinant Human Leptin in Women with Hypothala-mic Amenorrhea. N Engl J Med. 2004; 351(10):987-97.

19. Sienkiewicz E, Magkos F, Aronis KN et al. Long-term metreleptin treat-ment increases bone mineral density and content at the lumbar spine of lean hypoleptinemic women. Metabolism. 2011; 60:1211-21.

20. Misra M, Miller KK, Kuo K, Gri!in K, Stewart V, Hunter E, Herzog D, Kli-banski A. Secretory dynamics of leptin in adolescent girls with anorexia nervosa Mand healthy adolescents. J Physiol Endocrinol Metab. 2005;

289:E373-E381. 21. Clemmons D. Clinical utility of measurements of insulin-like growth fac-

tor1. Nat Clin Pract Endocrinol Metab. 2006; 2(8):436-46.22. Misra M, Miller KK, Almazan C, Ramaswamy K, Lapcharoensap W,

Worley M, et al. Alterations in cortisol secretory dynamics in adolescent girls with anorexia nervosa and e!ects on bone metabolism. J Clin En-docrinol Metab. 2004; 89(10):4972-80.

23. Harris ARC, Fang SL, Vagenakis AG, Braverman LE. E!ect of starvation, nutriment replacement, and hypothyroidism on in vitro hepatic T4 to T3 conversion in the rat. Metabolism. 1978; 27:1680-90.

24. Warren MP. Endocrine manifestations of eating disorders. J Clin Endocri-nol Metab. 2011; 96:333-43.

25. Leslie RD, Isaacs AJ, Gomez J et al. Hypothalamo-pituitary-thyroid func-tion in anorexia nervosa: influence of weight gain. Br Med J. 1978; 2:526-8.

Page 36: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

36

26. Misra M, Klibanski A. Neuroendocrine consequences of anorexia nervosa in adolescents. Endocr Dev. 2010; 17:197-214.

27. Raevuori A et al. The Increased Risk for Autoimmune Diseases in Patients with Eating Disorders. PLoS One. 2014; 9(8):e104845.

28. Kizilkan MP, Kanbur N, Akgül S, Alikasifoglu A. An Adolescent Boy with Comorbid Anorexia Nervosa and HashimotoThyroiditis. J Clin Res Pediatr Endocrinol. 2016; 8(1):92-5.

29. Golden NH, Jacobson MS, Schebendach J, Solanto, M, Hertz St, Shen-ker IR. Resumption of Menses in Anorexia nervosa. Arch Pediatr Adolesc Med. 1997; 151:16-21.

30. Herpertz-Dahlmann B. Neue Aspekte bei der Behandlung der adoleszen-ten Anorexia nervosa. Psychother Psych Med. 2015; 65:17-19.

31. Golden NH, Jakobson MS, Sterling WM, Hertz St. Treatment goal weight in adolescents with anorexia nervosa: use of BMI percentiles. Int J Eat Dis-ord. 2008; 41(4):301-6.

32. Ballau! A, Ziegler A, Emons G, Sturm G, Blum WF, Remschmidt H, He-bebrand J. Serum leptin and gonadotropin levels in patients with ano-rexia nervosa during weight gain: Mol Psychiatry. 1999; 4:71-5.

33. Cominato L, da Silva MM, Steinmetz L, Pinzon V, Fleitlich-Bilyk B, Damiani D. Mensrual Cycle Recovery in Patients with Anorexia Nervosa: The Importance of Insulin-Like Growth Factor-1. Horm Res Paediatr; 2014; 82(5):319-23.

34. Lantzouni E, Frank GR, Golden NH, Shenker RI. Reversibility of Growth Stunting in early onset Anorexia nervosa: A prospektive Study J Adolesc Health. 2000; 31(2):162-5.

35. Modan-Moses D, Yaroslavsky A, Kochavi b, Toledano A, Segev S, Bala-wi F, Mitrany E, Stein D. Linear Growth and Final Height Characteristics in Adolescent Females with Anorexia Nervosa PLOS one. 2012; 7:(9)1-8.

36. Misra M, Klibanski A. Anorexia nervosa and bone. J Endocrinol. 2014; 221:R163–76.

37. Ballabriga A. Morphological and physiological changes during growth: an update. Eur J Clin Nutr. 2000; 54(1):S1-6 Review.

38. Vestergaard P, Emborg C, StrØving RK, Hagen C, Mosekilde L, Brixen K. Fractures in patients with anorexia nervosa, bulimia nervosa, and other

Page 37: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

37

eating disorders – a nationwide register study. Int J Eat Disord. 2002; 32(3):301-8.

39. Greenspoon S, Thomas E, Pitts S, Gross E, Mickely D, Miller K, Herzog D, Klibanski A. Prevalence and predictive factors for reginonal osteopenia in women with anorexia nervosa Ann Intern Med. 2000; 21;133(10):790-4.

40. Johnell O. Predictive value of BMD for hip and other fractures. J Bone Mi-ner Res. 2005; 20(7):1185-94.

41. Nicaise D, Beaumesnil M, Chaillou E, Wagner AC, Avarello G, Audran M, Giniès JL. Adolescent with anorexia nervosa: consequences on bone mineralization. Arch Pediatr. 2012; 19(1):17-21.

42. Faje AT et. al. Fracture risk and areal bone mineral density in adolescent females with anorexia nervosa. Int J Eat Disord. 2014; 47(5):458-66.

43. Bredella MA, Misra M, Miller KK, Klibanski A, Gupta R. Trabecular struc-ture analysis of the distal radius in adolescent patients with anorexia ner-vosa using ultra high resolution flat panel based volume CT. J Musculos-kelet Neuronal Interact. 2008; 8(4):315.

44. Soyka LA, Misra M, Frenchmann A, Miller KK, Grinspoon S, Schoenfeld DA, Klibanski A. Abnormal bone mineral accrual in adolescent girls with anorexia nervosa. J Clin Endocrinol Metab. 2002; 87(9):4177-85.

45. Miller KK, Lee EE, Klibanski A. Determinants of Skeletal Loss and Reco-very in Anorexia Nervosa. J Clin Endocrinol Metab. 2006; 91(8):2931-293.

46. Misra M, Katzman D, Miller KK, Mendes N, Snelgrove D, Russell M, Goldstein M, Ebrahimi S, Clauss L, Weigel Th, Mickley D, Schoenfeld D, Herzog DB, Klibanski A. Physiologic Estrogen Replacement Increases Bone Density in Adolescent Girls with Anorexia Nervosa. J Bone Miner Res. 2011; 26(10):2430-8.

47. Golden NH. Eating disorders in adolescense: what is the role of hormone replacement therapy? Curr Opin Obstet Gynecol. 2007; 19:434-9.

48. Trombetti A, Richert L, Herrmann FR, Chevalley T, Graf JD, Rizzoli R. Selective determinants of low bone mineral mass in adult women with anorexia nervosa. Int J Endocrinol. 2013; 2013:897193.

49. Lebow J, Sim L. The influence of estrogen therapies on bone mineral density in premenopausal women with anorexia nervosa and amenorr-hea. Vitam Horm. 2013; 92:243-57.

Page 38: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

38

50. Legroux-Gerot I, Vignau J, Collier F, Cortet B. Factors Influencing Chan-ges in Bone Mineral Density in Patients with Anorexia Nervosa-related Os-teoporosis: The E!ect of Hormone Replacement Therapy. Calcif Tissue Int. 2008; 83(5):315-23.

51. Weissberger AJ, Ho KK, Lazarus L. Contrasting e!ects of oral and trans-dermal routes of estrogen replacement therapy on 24-hour growth hor-mone (GH) secretion, insulin-like growth factor I, and GH-binding protein in postmenopausal women. J Clin Endocrinol Metab. 1991; 72(2):374-81.

52. Grinspoon S, Thomas L, Miller K, Herzog D, Klibanski A. E!ects of re-combinant human IGF-I and oral contraceptive administration on bone density in anorexia nervosa. Journal of Clinical Endocrinology and Meta-bolism. 2002; 87(6):2883-91.

53. Nabhan ZM, Dimeglio LA, Qi R, Perkins SM, Eugster EA. Conjugated oral versus transdermal estrogen replacement in girls with Turner syndrome: a pilot comparative study. J Clin Endocrinol Metab. 2009; 94(6):2009-14.

54. Herpertz-Dahlmann B. Neue Aspekte bei der Behandlung der adolszen-ten Anorexia nervosa. Psychother Psych Med. 2015; 65:17-19.

55. Lawson EA, Donoho D, Klibanski A et al. Hypercortisolemia Is Associa-ted with Severity of Bone Loss and Depression in Hypothalamic Amenorr-hea and Anorexia Nervosa J Clin Endocrinol Metab. 2009; 94(12):4710-6.

56. Veronese N, Solmi M, Rizza W, Manzato E, Sergi G, Santonastaso P, Ca-regaro L, Favaro A, Correll CU. Vitamin D status in anorexia nervosa: A meta-analysis. Int J Eat Disord. 2015; 48(7):803-13.

57. Modan-Moses D, Levy-Shraga Y, Pinhas-Hamiel O, Kochavi B, Enoch-Levy A, Vered I, Stein D. High prevalence of vitamin D deficiency and insu!iciency in adolescent inpatients diagnosed with eating disor-ders. Int J Eat Disord. 2015; 48(6):607-14.

58. Gatti D, El Ghoch M, Viapiana O, Ruocco A, Chignla E, Rossini M, Ido-lazzi L, Adami S, Dalle Grave R. Strong relationship between vitamin D status and bone mineral density in anorexia nervosa. Bone. 2015 Sep; 78:212-5

59. Munns CF, Shaw N, Kiely M et al. Global Consensus Recommendations on Prevention and Management of Nutritional Rickets. J Clin Endocrinol metab. 2016 Feb; 101(2):394–415

Page 39: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

39

60. Holtkamp K, Herpertz-Dahlmann B. Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter, Dtsch Arztebl. 2005; 102:1-2

61. Chesdachai S et al. Vitamin D Deficiency in Anorexia Nervosa. In: Vitamin D, A Clinical Casebook. Herausgegeben von Tangpricha V, Springer Inter-national Publishing Switzerland, 2016; S. 25-31

Page 40: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

40

II. Gynäkologische EndokrinologieProf. Dr. med. Petra Stute

1. Endokrine Dysregulation bei Anorexia nervosa

Die Anorexia nervosa (AN) ist mit zahlreichen endokrinen Veränderungen verbun-den, welche mehrheitlich als Adaptation an das Energiedefizit zu verstehen sind und somit der Aufrechterhaltung der Sto!wechselhomöostase dienen. Abbildung 1 zeigt die Veränderungen der wichtigsten Hormonachsen [1].

Abb. 1 Endokrine Dysregulation bei AN zur Aufrechterhaltung der Euglykämie und Energieversorgung für vitale Funktionen, die jedoch den Knochensto!wechsel ungünstig beeinflussen (modifiziert nach [1]).

Abkürzungen:

CRH = Kortikotropin-Releasing-Hormon; ACTH = adrenokortikotropines Hormon; GH-IGF-1-Achse = Wachs-tumshormon-Insulin-like-growth-factor-1-Achse; GHBP = GH-bindendes Hormon; GLP-1 = Glukagon-li-ke-Peptid-1; GIP = glukoseabhängige insulinotrope Hormone; LH = luteinisierendes Hormon; PYY = Peptid YY; TSH = Thyroidea-stimulierendes-Hormon; T3 = Trijodthyronin; T4 = Tetrajodthyronin = Thyroxin

Page 41: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

41

2. Therapie

Die Therapieziele sind• Anheben der Energiereserve bzw. des Körpergewichtes• Beheben der Zyklusstörung• Verbesserung der KnochendichteWenn man den „spontanen“ Verlauf der Genesung abwarten würde, dann wäre dieser als zeitliche Sequenz mit dem Erreichen bestimmter Meilensteine verbun-den (Abbildung 2).

Abb. 2 Zeitliche Sequenz der Genesung von Energiestatus, Menstruationszyklus und Knochensto!wechsel bei adäquater Therapie (modifiziert nach [2]).

2.1 PharmakotherapieIdealerweise führt die Gewichtszunahme zu einer spontanen Rückkehr des Mens-truationszyklus. Deswegen kommt der nicht pharmakologischen Therapie (psychi-atrische Behandlung, Ernährungs- und ggf. Sportberatung) eine zentrale Bedeu-tung zu. Doch wie viel Zeit darf man sich dafür nehmen?

In einer Studie bei 73 Frauen mit AN und einem mittleren Alter von 17 Jahren war eine Amenorrhödauer von 20 Monaten die Grenze, jenseits der die schwersten Fälle mit Osteopenie und Osteoporose gesehen wurden [3]. Die Amenorrhödauer ist also entscheidend für die Knochengesundheit und wahrscheinlich auch für z. B. Koronargefäße, Kognition und Psyche.

Die Autorin dieses Beitrags plädiert daher für einen großzügigen Einsatz einer Hormontherapie, auch wenn diese nicht kausal ist und nicht alle AN-assoziierten endokrinen und metabolischen Veränderungen zu kompensieren vermag.

Page 42: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

42

3. Sterilität bei Anorexia nervosa

Frauen mit Anorexia nervosa (AN) können eine chronische Anovulation auf der Basis eines hypogonadotropen Hypogonadismus entwickeln. Das Ziel einer Sterilitätstherapie ist daher die Induktion eines Follikelwachstums. Wenn keine weiteren Sterilitätsfaktoren vorliegen, stellt die hypogonadotrope Anovulation eine Sterilitätsursache mit einer exzellenten Prognose dar. Die Schwangerscha"-schancen pro Zyklus sind denen eines gesunden Paares vergleichbar und liegen somit je nach Alter der Frau bei ca. 30 Prozent (< 30 Jahre) und ca. 20 Prozent (35–40 Jahre).

3.1 Ovarielle StimulationstherapieBei einem hypogonadotropen Hypogonadismus stehen Gonadotropine oder hy-pothalamisches Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH), nicht aber Clomiphen oder Aromatasehemmer, für die ovarielle Stimulationstherapie zur Verfügung. Zu den eingesetzten Gonadotropinen zählen hypophysäres follikelstimulieren-des Hormon (FSH) oder humanes Menopausen-Gonadotropin (HMG). Alternativ kommt pulsatil verabreichtes GnRH in Frage. Sonografische Kontrollen sind wäh-rend einer ovariellen Stimulationstherapie obligat, um ein multifollikuläres Folli-kelwachstum nicht zu verpassen. Die Paare müssen darauf hingewiesen werden, dass kein oder nur ein geschützter Geschlechtsverkehr bis zum Ausschluss eines multifollikulären Follikelwachstums stattfinden darf.

Im Folgenden wird die ovarielle Stimulation beschrieben, wie sie üblicherwei-se durchgeführt wird, wenn ein Verkehr zum optimalen Zeitpunkt oder eine intrau-terine Insemination angestrebt werden. Für Stimulationsprotokolle im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation wird auf entsprechende Fachliteratur verwiesen [4].

3.2 Gonadotropin-StimulationGonadotropine wurden initial aus dem Urin postmenopausaler Frauen extra-hiert: humanes Menopausen-Gonadotropin (HMG). HMG enthält FSH und LH im Verhältnis von 1 : 1. Es folgten Weiterentwicklungen zu hoch aufgereinigtem uri-närem FSH (uFSH). Seit 1996 steht außerdem rekombinantes FSH (rFSH, > 99 % Reinheit) zur Verfügung. Im Gegensatz zu rFSH besitzt gereinigtes uFSH eine LH-Restaktivität.

Page 43: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

43

Frauen mit AN und sehr niedrigen LH-Serumspiegeln (< 0,5 IU/ L) benötigen neben FSH auch LH. Hier bietet sich die Gabe von HMG an. Wird dennoch rhFSH gewählt, dann ist ggf. die zusätzliche Gabe von humanem Choriongonadotropin (hCG) oder LH indiziert, um eine adäquate Estradiolsynthese und Follikulogene-se aufrechtzuerhalten [5]. Wird kein LH zugefügt, so kann zwar durch Steigern der FSH-Dosis auch eine ausreichende Follikulogenese erzielt werden, o" kommt es dadurch jedoch zu einem multifollikulären Wachstum.

Die Startdosis von FSH beträgt meistens 50 IE / Tag, beginnend zwischen dem zweiten und fün"en Zyklustag. Zur Vermeidung eines polyfollikulären Wachstums sollte mit einer Dosis von 50 IE / Tag gestartet und die Dosis nur langsam, d. h. bei einer fehlenden Follikulogenese, um 25 IE bis maximal um 50 Prozent der vorher-gehenden Dosierung auf max. 150 IE / Tag gesteigert werden. Die Startdosis von HMG beträgt meistens 75 IE HMG / Tag, das bei einer unzureichenden Follikuloge-nese nach zehn bis 14 Stimulationstagen um 25 IE oder maximal 50 Prozent der vorhergehenden Dosis gesteigert werden kann [4]. Die Ovulation wird mit HCG, z. B. 5 000 IE, induziert, da ein physiologischer LH-Peak nicht spontan erfolgt. Die Lutealphase sollte wegen der fehlenden LH-Sekretion mit Progesteron, z. B. mit va-ginal 2 x 200 mg mikronisiertem Progesteron pro Tag, bis zur Menstruation bzw. bis zur zwöl"en Schwangerscha"swoche substituiert werden. Besser ist die Gabe von HCG in der Lutealphase, z. B. je nach verfügbarem Präparat von 1 500 – 2 500 IE HCG am dritten, sechsten und neunten Tag nach der Ovulation, um somit die Bildung eines intakten Gelbkörpers zu ermöglichen. Wird die Patientin schwanger, so übernimmt das plazentare HCG diese Funktion und die HCG-Gabe kann gestoppt werden [1].

3.3 Pulsatile GnRH-StimulationAlternativ zur ovariellen Stimulation mit Gonadotropinen kann nach einem posi-tiven LH-RH-Test GnRH pulsatil subkutan, selten intravenös, verabreicht werden. Durch die pulsatile GnRH-Stimulation bleiben die resultierenden FSH- und LH-Se-rumkonzentrationen innerhalb des physiologischen Bereichs, sodass das Risiko für eine multifollikuläre Reifung und ein Überstimulationssyndrom niedrig ist. Im Gegensatz dazu reduziert eine kontinuierliche GnRH-Gabe die Gonadotropinse-kretion. In Anlehnung an die physiologische GnRH-Pulsationsfrequenz wird bis zur Entwicklung eines reifen Follikels ein Puls (75 ng / kg [6]) pro 60–90 min. subkutan, selten auch intravenös, appliziert.

Page 44: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

44

Nach der Ovulation, die meist induziert wird (siehe oben), kann GnRH in einer reduzierten Frequenz von einem Puls pro 120 min. zur Unterstützung der Gelbkör-perbildung fortgeführt werden. Damit wird bis zum Beginn der HCG-Produktion eine ausreichende LH-Sekretion zur Vermeidung einer vorzeitigen Luteolyse si-chergestellt. Alternativ wird in der Lutealphase HCG appliziert, z. B. je nach verfüg-barem Präparat 1 500 – 2 500 IE HCG am dritten, sechsten und neunten Tag nach der Ovulation [4]. Unter der Behandlung mit GnRH ovulieren ca. 90 Prozent der Patien-tinnen mit einem hypogonadotropen Hypogonadismus. Die Schwangerscha"srate beträgt ca. 30 Prozent pro Zyklus [1, 7].

Page 45: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

45

4. Hormonersatztherapie (HRT)

Unter einer HRT versteht man den Einsatz von Östrogenen allein (bei Frauen ohne Uterus) bzw. von Östrogenen und Gestagenen (bei Frauen mit Uterus). Systemisch wirksame Östrogene gibt es in unterschiedlichen Dosierungen (hoch, mittel, nied-rig und ultraniedrig) und Anwendungsformen (Tablette, Gel, Pflaster).

Östrogentyp Dosierung

hoch mittel niedrig ultraniedrig

mikronisiertes Östradiol (E2) oral 4 mg 2 mg 1 mg (0,25–) 0,5 mg

E2-valerat oral 2 mg 1 mg (0,25–) 0,5 mg

konjugierte equine Östrogene (CEE) oral

0,9* / 1,25 mg 0,625 mg 0,3 / 0,45 mg –

E2 transdermal Pflaster 100 %g 50 %g 25 %g 14 %g

(nur USA)

E2 transdermal Gel 2–3 mg 1–1,5 mg 0,5–0,75 mg < 0,5 mg

Tab. 1 Systemisch wirksame Östrogendosierungen.* 0,9 nur in den USA erhältlich.

Bei den Gestagenen (Syn. Progestogen) werden mikronisiertes Progesteron und synthetische Gestagene (Syn. Progestine) unterschieden (Tabelle 2). Dydrogeste-ron nimmt eine Sonderposition ein. Es ist ein sogenanntes Retroprogesteron, ein Stereoisomer von Progesteron, das nicht zentral wirksam ist. Die Gemeinsamkeit der Gestagene ist ihre Fähigkeit, ein zuvor Östrogen-geprimtes Endometrium se-kretorisch zu transformieren. Es gibt jedoch keinen Klassene!ekt der Progestage-ne! Die Gestagendosis richtet sich nach der verabreichten Östrogendosis und nach dem Applikationsregime (sequenziell oder kontinuierlich-kombiniert) [4].

Page 46: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

46

NortestosteronderivateProgesteron-

derivate (Pregnane)

19-Norproges-teronderivat

(Norpregnan)Spirolakton-

derivat

Norethisteron• Norethisteron (NET) (1. Generation) • Norethisteronenantat

(NETenantat) (1. Generation) • Norethisteronazetat

(NETA) (1. Generation)• Lynestrenol (LYN) (1. Generation) • Dienogest (DNG)

• Cyproteron-azetat (CPA)

• Chlormadi- nonazetat

(CMA)

• Nomege-strolazetat (NOMAC)

• Drospi-renon (DRSP)

Norgestrel• Levonorgestrel (LNG)

(2. Generation) • Norgestimat (NGM) (3. Generation) • Gestoden (GSD) (3. Generation)• Desogestrel (DSG) (3. Generation) • Norelgestromin

(NGMN) (3. Generation) Tab. 2 Synthetische Gestagene [8].

Die Vorteile eine HRT (z. B. hinsichtlich Knochen, Kognition, Herzgesundheit) über-wiegen bei Frauen mit AN die potenziellen Risiken (z. B. venöse Thromboembolien bei oraler Östrogentherapie) [9].

Absolute Kontraindikationen einer HRT sind Schwangerscha", ungeklärte vaginale Blutungen, Mamma- und Endometriumkarzinom sowie arterielle und venöse Thromboembolien. Relative Kontraindikationen stellen z. B. eine akute Lebererkrankung, eine chronische schwere Leberfunktionsstörung, Gallensteine, bestimmte Fettsto!wechselstörungen, Bluthochdruck und Migräne dar.

Page 47: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

47

Literatur

1. Homburg R, Eshel A, Armar NA, Tucker M, Mason PW, Adams J et al. One hundred pregnancies a"er treatment with pulsatile luteinising hormone re-leasing hormone to induce ovulation. BMJ. 1989; 298(6676):809-12.

2. De Souza MJ, Nattiv A, Joy E, Misra M, Williams NI, Mallinson RJ et al. 2014 Female Athlete Triad Coalition Consensus Statement on Treatment and Return to Play of the Female Athlete Triad: 1st International Conferen-ce held in San Francisco, California, May 2012 and 2nd International Con-ference held in Indianapolis, Indiana, May 2013. Br J Sports Med. 2014; 48(4):289.

3. Sterling WM, Golden NH, Jacobson MS, Ornstein RM, Hertz SM. Meta-bolic assessment of menstruating and nonmenstruating normal weight adolescents. Int J Eat Disord. 2009; 42(7):658-63.

4. von Wol! M, Stute P. Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktions-medizin: Das Praxisbuch. 1. Auflage. Schattauer GmbH, Stuttgart. 2013.

5. European Recombinant LHSG. Human recombinant luteinizing hormo-ne is as e!ective as, but safer than, urinary human chorionic gonadotro-pin in inducing final follicular maturation and ovulation in in vitro ferti-lization procedures: results of a multicenter double-blind study. J Clin Endocrinol Metab. 2001; 86(6):2607-18.

6. Martin K, Santoro N, Hall J, Filicori M, Wierman M, Crowley WF. Jr. Clinical review 15: Management of ovulatory disorders with pulsati-le gonadotropin-releasing hormone. J Clin Endocrinol Metab. 1990; 71(5):1081A-G.

7. Martin KA, Hall JE, Adams JM, Crowley WF. Jr. Comparison of exo-genous gonadotropins and pulsatile gonadotropin-releasing hormone for induction of ovulation in hypogonadotropic amenorrhea. J Clin En-docrinol Metab. 1993; 77(1):125-9.

8. Kuhl H. Pharmacology of Progestogens. J Reproduktionsmed Endokri-nol. 2011; 8.

9. European Society for Human R, Embryology Guideline Group on POI, Webber L, Davies M, Anderson R, Bartlett J et al. ESHRE Guideline: ma-nagement of women with premature ovarian insu!iciency. Hum Reprod. 2016; 31(5):926-37.

Page 48: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

48

Dr. med. Inka BausUniversitätsklinikum Schleswig-HolsteinKlinik für Kinder- und JugendmedizinArnold-Heller-Strasse 324105 Kiel

Prof. Dr. med. Petra Stute Leitende ÄrztinStv. Leiterin der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und ReproduktionsmedizinInselspital Bern Frauenklinik E!ingerstrasse 102CH-3010 Bern, SchweizTel.: +41 (0) 31-632 1303 (Sekretariat)Fax: +41 (0) 31-632 1305 (Sekretariat)E-Mail: [email protected]

Page 49: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

49

Page 50: Perspektive Fertilität Anorexia nervosa - ferring.at · 4 Vorwort Dr. Baus In den letzten Jahren ist es zu einem signifikanten Anstieg der Inzidenz der Anorexia nervosa in der Gruppe

ISBN 978-3-9816544-9-3