Abteilung Kommunikationslehre im Institut für ... Tagebuch... · derungen anderer Systeme fit zu...

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Die erkundeten Gebiete der Kommunikativen Welt Veröffentlichungen Buch Nachwort CD Anfang Alle Arbeiten in chronologischer Reihenfolge Einführung 114 Hinweise zur Benutzung des Skripts Der Aufbau der Vorlesung und ihre theoretischen Grundgedanken 4 Kapitel 1 117 Die Abgrenzung des Beratungsgesprächs von anderen Gesprächstypen Beratung als Integration von Selbsterfahrung und Umweltbetrachtung Instruktion und Beratung 112 Beratung und soziale Selbstreflexion 115 Selbsterfahrung 1 Soziale Selbsterfahrung und Selbstreflexion 116 4 Kapitel 2 125 Die geschichtliche Ausdifferenzierung der modernen Beratungslehre und -praxis 4 Kapitel 4 143 Die personen - und interaktionszentrierten Beratungsansätze A: Freud und seine Nachfolger B: Rogers und die Klientenzentrierte Gesprächsführung 156 C: Das Beratungskonzept des NLP 168 4 Kapitel 3 133 Die Grundprobleme der Beratung und ihre Behandlung in den verschiedenen Schulen 4 Kapitel 5 171 Die gruppenzentrierten Beratungsansätze A: Lewin und die Anfänge der Gruppendynamik (T-Labs, Soziometrie, Gruppenberatungsmodelle) B: Der Ablauf fallbezogener Beratung (Supervision, Balintgruppen, Coaching) 179 4 Kapitel 6 185 Die institutionszentrierten Beratungsansätze A: Von der Gruppendynamik zur Organisationsentwicklung (OE) und Institutionsberatung (French/Bell) B: Ablauf und Methoden der modernen OE (Moreno/French und Bell) 192 C: Literaturhinweise zur Struktur landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Beratung 198 4 Kapitel 7 199 Integrative Beratungsansätze A: Grundgedanken der Systemischen Beratung und deren Interventionsrepertoire B: Supervision und Leitungsberatung mit Programmwechsel (Ablaufschema und Indikation) 114 4 Kapitel 8 126 Moderation und Metaplan 4 Kapitel 9 133 Beratung als kulturelle Innovation Widerstand und Veränderung 138 4 Gliederung des Skripts Grundlagen des Beratungsgesprächs Seite Übersicht Abteilung Kommunikationslehre im Institut für Gartenbauökonomie der Universität Hannover Prof. Dr. M. Giesecke© Grundlagen des Beratungsgesprächs Skript WS 1999/2000

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Die sechs erkundeten Gebiete der Kommunikativen Welt VeröffentlichungenBuch NachwortCD Anfang

Alle Arbeiten in chronologischer Reihenfolge

Einführung 114Hinweise zur Benutzung des SkriptsDer Aufbau der Vorlesung und ihre theoretischen Grundgedanken

4

Kapitel 1 117Die Abgrenzung des Beratungsgesprächs von anderen Gesprächstypen

Beratung als Integration von Selbsterfahrung und Umweltbetrachtung Instruktion und Beratung 112

Beratung und soziale Selbstreflexion 115

Selbsterfahrung 1

Soziale Selbsterfahrung und Selbstreflexion 116

4

Kapitel 2 125Die geschichtliche Ausdifferenzierung der modernen Beratungslehre und -praxis

4

Kapitel 4 143Die personen - und interaktionszentrierten Beratungsansätze

A: Freud und seine Nachfolger B: Rogers und die Klientenzentrierte Gesprächsführung 156

C: Das Beratungskonzept des NLP 168

4

Kapitel 3 133Die Grundprobleme der Beratung und ihre Behandlung in den verschiedenen Schulen

4

Kapitel 5 171Die gruppenzentrierten Beratungsansätze

A: Lewin und die Anfänge der Gruppendynamik (T-Labs, Soziometrie, Gruppenberatungsmodelle)

B: Der Ablauf fallbezogener Beratung (Supervision, Balintgruppen, Coaching) 179

4

Kapitel 6 185Die institutionszentrierten Beratungsansätze

A: Von der Gruppendynamik zur Organisationsentwicklung (OE) und Institutionsberatung(French/Bell)

B: Ablauf und Methoden der modernen OE (Moreno/French und Bell) 192

C: Literaturhinweise zur Struktur landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Beratung 198

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Kapitel 7 199Integrative Beratungsansätze

A: Grundgedanken der Systemischen Beratung und deren Interventionsrepertoire

B: Supervision und Leitungsberatung mit Programmwechsel (Ablaufschema und Indikation) 114

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Kapitel 8 126Moderation und Metaplan

4

Kapitel 9 133Beratung als kulturelle Innovation Widerstand und Veränderung 138

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Gliederung des SkriptsGrundlagen des Beratungsgesprächs

Seite

Übers icht

Abteilung Kommunikationslehre im Institut für Gartenbauökonomie der Universität HannoverProf. Dr. M. Giesecke©

Grundlagen des Beratungsgesprächs

Skript W

S 1999/2000

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Verzeichnis der Abbildungen:Abb.1: Die Ebenen des BeratungsprozessesAbb.2: Parameter zur Charakterisierung des BeratungsgesprächsAbb.3: Drei Grundmodelle der BeratungAbb.4: Rollenkategorien des Beraters unter dem Gesichtspunkt: direktiv- non-

direktivAbb.5: Allgemeines Ablaufschema von InstruktionenAbb.6: Vergleich von Beratung und UnterrichtAbb.7: Allgemeine Voraussetzungen von Beratung als Wissensvermittlung

und PraxisanleitungAbb.8: SelbsterfahrungAbb.9: Ziele der individuellen SelbstreflexionAbb.10: Soziale Selbstreflexion in der BeratungAbb.11: Voraussetzungen und Erfolgsbedingungen selbstreflexiver BeratungAbb.12: Allgemeines Ablaufschema sozialer Selbstreflexion sozialer SystemeAbb.13: Normalform des Ablaufs der Selbstthematisierung in SupervisionenAbb.14: Normalform der dynamischen Dimension von Inszenierungen in

SupervisionenAbb.15: Integratives Ziel der BeratungAbb.16: Kommunikative Kooperationsformen und ihre professionelle

AusdifferenzierungAbb.17: Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Lernens durch

Selbsterfahrung, Instruktion und SupervisionAbb.18: Grundprobleme der Beratung und Lösungsmöglichkeiten aus

kommunikationswissenschaftlicher SichtAbb.19: Vielfältige direktive und nicht-direktive Rollen und Methoden interner

und externer BeraterAbb.20: Das Verhältnis zwischen Berater, Ratsuchenden und BeratungssystemAbb.21: Affektive psychosoziale Kompetenzen in drei grundlegenden

InteraktionskonstellationenAbb.22: Ungeeignetes Beraterverhalten und die Empfehlungen von Rogers

(Antwortstile)Abb.23: Klassische Formen des selbstreferentiellen LernensAbb.24: Normalformerwartungen in Supervisions- und BalintgruppenAbb.25: Der Prozeß der OrganisationsentwicklungAbb.26: Dimensionen von Systemen auf dem Spezialitätsniveau der

Allgemeinen SystemtheorieAbb.27: Die Analyse von Organisationen als vierdimensionaler SystemeAbb.28: Die Beratung als informationsverarbeitendes SystemAbb.29: Der Ablauf der TeamberatungAbb.30: Differenzierung der Supervisionsformen nach der KlientelAbb.31: Phasen des Supervisionsprozesses: Vom Erstkontakt bis zur

AuswertungssitzungAbb.32: Organisationsentwicklung als LernprozeßAbb.33: Allgemeine Symptome für WiderstandAbb.34: „Widerstand“ – vier GrundsätzeAbb.35: Die sieben Phasen der Veränderungskurve

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111314

15161618192021

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103105116119120

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EinführungHinweise zur Benutzung des Skripts

Die Vorlesung 'Grundlagen des Beratungsgesprächs' soll mindestens zwei Aufgaben

erfüllen: einmal gibt sie einen Einblick in die Art und Weise, wie Gespräche aus einer

kommunikations- und informationstheoretischen Sicht betrachtet werden können. Sie

führt insoweit in die Grundbegriffe und Modellvorstellungen der Kommunikationslehre

ein. Aber sie tut dies am Beispiel eines bestimmten Gesprächstyps (oder:

Kommunikations- und Informationssystems), eben der Beratung (i.w.S.).

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Damit kann sie ihre zweite Aufgabe erfüllen, die Grundlagen einer allgemeinen Be-

ratungslehre zu vermitteln. Sie gibt einen Überblick über die Vielfalt der Beratungs-

ansätze und deren jeweilige Stärken, Schwächen, Einsatzbereichen usf.

Beide Aufgaben lassen sich selbstverständlich in einer einsemestrigen Vorlesung

nicht befriedigend lösen. Einmal erschließt sich der Sinn der Modelle und Axiome

erst in der Praxis und durch die Selbsterfahrung. Und zum anderen können in der

Vorlesung die kommunikationstheoretischen Modellvorstellungen nur kurz beleuchtet

sowie nur wenige Beratungsansätze genauer dargelegt werden.

Diesen Mängeln wird im Studium zum einen durch die Trainingskurse (T-LABs) und

zum anderen durch weitere Vorlesungen und Seminare abgeholfen.

Das Skript bietet an den meisten Stellen mehr, an einzelnen Stellen allerdings auch

weniger Stoff als die Vorlesung. Es soll auch zur theoretischen Ergänzung der Trai-

ningslaboratorien und der weiteren Veranstaltungen im Fach Kommunikationslehre

dienen. Erfahrungsgemäß leistet es gute Dienste bei der Vor- und Nachbereitung der

verschiedenen T-LABs.

Für diejenigen Studentinnen und Studenten, die sich jetzt oder später mit einem

Thema intensiver befassen möchten, sind im Skript zusätzlich an verschiedenen

Stellen Hinweise auf Texte in einem Reader enthalten. Hierbei handelt es sich um

einen speziellen Ordner mit kopierten Texten, der in der Bibliothek unserer Abteilung

steht.

Der Aufbau der Vorlesung und ihre theoretischen Grundgedanken

Die Vorlesung folgt im wesentlichen der Gliederung, die in diesem Skript vorange-

stellt ist.

Ich unterscheide deutlich zwischen den

- personen- und interaktionszentrierten,

- den gruppenzentrierten,

- den institutionenzentrierten, sowie

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- den integrativen

Beratungsansätzen.

Natürlich sind auch andere Systematisierungen möglich. (Vgl. Kap. 1) Die gewählte

Unterscheidung bietet sich für das Fach ‘Kommunikationslehre’ an, weil ihr auch eine

Typologie von Gesprächsformen zugrundeliegt. Zweitens gibt sie die historische

Entwicklung der wichtigsten Beratungskonzepte gut wieder. Zu Beginn ging man von

der Annahme aus, daß man einzelne Personen berät und konzentrierte sich folglich

auf den Gegenüber und bestenfalls auf die Interaktion zwischen dem Berater und

seinen/m Klienten. Besonders gut entwickelt hat dieses Konzept die psy-

choanalytische Schule, die Transaktionsanalyse, die themenzentrierte Interaktion

und natürlich auch die von Carl Rogers ausgehende 'Klientenzentrierte

Gesprächsführung'.

Da sich aber das soziale Leben nicht auf Zweierbeziehungen reduzieren läßt, stellte

sich sehr bald die Erkenntnis ein, daß Ratsuchenden mit Mehr-Personen-Situationen

konfrontiert sind und daß es deshalb sinnvoll ist, in Mehr-Personen-Situationen

Beratungen durchzuführen. In der Erforschung und Operationalisierung solcher

Ansätze hat Kurt Lewin große Verdienste. Die gruppendynamischen Schulen und

viele Supervisionsansätze haben dieses Beratungskonzept operationalisiert.

Nun läßt sich aber nicht alle soziale Wirklichkeit auf Gruppen reduzieren, vielmehr

müssen wir davon ausgehen, daß die Menschen auch in besonderen aufga-

benbezogenen, institutionellen Zusammenhängen miteinander kooperieren. Sie sind

Elemente von Organisationen oder von Institutionen. Will man ihre Rolle in diesen

sozialen Gebilden klären, so reichen weder interaktionszentrierte noch gruppenzen-

trierte Sozial- und Beratungsmodelle aus. Man benötigt spezielle Konzepte der In-

stitutionsberatung oder der Organisationsentwicklung.

Erst in den letzten 10 bis 20 Jahren ist z. B. auf der Grundlage der Systemtheorie die

Möglichkeit entstanden, diese verschiedenen Beratungsansätze, die sich im Laufe

der Zeit für spezielle Probleme ausdifferenziert haben, wieder miteinander zu ver-

knüpfen. Beispiele solcher Versuche sind die systemische Beratung von M. Selvini-

Palazzoli (u.a.: Hinter den Kulissen der Organisation. Stuttgart 19842), die mit Pro-

grammwechsel arbeitenden Teamsupervisionen oder das sogenannte systemisch

evolutionäre Management.

Viertens schließlich spielt sich das soziale Leben und damit auch die Beratung nicht

nur in Zweierbeziehungen, Gruppen und Institutionen ab, sondern sie findet auch

immer in einem spezifischen gesellschaftlichen und kulturellem Rahmen statt. Diese

Tatsache wird zwar von keiner Beratungsschule geleugnet, aber die wenigsten ha-

ben die Möglichkeit, die spezifischen gesellschaftlichen Dimensionen des Bera-

tungsprozesses zu thematisieren. Aussichtsreiche Chancen scheinen sich auch hier

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erst durch die Anwendung ökologischer und allgemeiner informationstheoretischer

Gedanken zu eröffnen.

Die Abb. 1, auf die in anderen Zusammenhängen immer wieder zurückzukommen

sein wird, versucht die Einbettung der Person des Beraters und des Klienten in die

verschiedenen sozialen Systeme anschaulich zu machen. In den einzelnen Vorle-

sungen wird erläutert, was auf den verschiedenen Ebenen in der Beratung jeweils

passiert.

Berater Informations-system AKlient

Interaktion

austauschbare Positionen Beziehungsinformationen

Gruppenposition gruppendynamische Info

formale Rollen institutionelle Info

gesellschaftliche Stellung gesellschaftliche Informationen

Gruppen

Institution

Gesellschaft

Abb. 1: Die Ebenen des Beratungsprozesses

Kapitel 1

Die Abgrenzung des Beratungsgesprächs von

anderen Gesprächstypen

Beratung als Integration von Selbsterfahrung und Umweltbetrachtung

Beratung ist ein überkomplexes Phänomen, das sich vielfältig verstehen und be-

schreiben läßt.

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Im Fach ‘Kommunikationslehre’ wird die Beratung in erster Linie als ‘Gespräch’ ver-

standen. Wir wollen wissen, wie sich das Beratungsgespräch von anderen Formen

von Gesprächen unterscheidet, was seine Spezifik ausmacht. Deshalb lautet der Ti-

tel von Veranstaltung und Skript: Grundlagen des Beratungsgesprächs.

Gespräche unterscheiden sich durch die Art und Weise, in der sie 3 miteinander zir-

kulär verknüpfte Grundprobleme behandeln:

- Kollektive Wahrnehmung und Informationsverarbeitung (� Kommunikation)

- Regulation der zwischenmenschlichen Beziehung (� Interaktion)

- Lösung sozialer Aufgaben (� Kooperation)

Unter diesen modelltheoretischen Gesichtspunkten können die Beratungsgespräche

sowohl von anderen Arten von Gesprächen abgegrenzt als auch intern in verschie-

dene Typen differenziert werden.

Betrachtet man Beratungsgespräche als informationsverarbeitende soziale Systeme,

so nehmen sie eine Mittelstellung zwischen jenen Systemen ein, die ausschließlich

Umweltinformationen verarbeiten wollen und jenen, die sich bloß mit den eigenen

Daten und Programmen beschäftigen wollen. Die beiden Pole werden zum einen von

den neuzeitlichen beschreibenden Naturwissenschaften und zum anderen von den

verschiedenen Schulen der Selbsterfahrung und Therapie gebildet. Beratung ver-

knüpft distanzierte Umweltbetrachtung mit Selbstbeobachtung und -reflexion. Sie ist

insoweit komplexer und verlangt mehr Flexibilität (Programmwechsel) als die klassi-

sche wissenschaftliche Tätigkeit einerseits und die konventionellen Formen von

Selbsterfahrung und Therapie andererseits.

Die verschiedenen Beratungsformen unterscheiden sich untereinander durch ihre

unterschiedlich große Entfernung von den Polen.

Die gleiche Mittelstellung nimmt die Beratung auch in interaktiver Hinsicht ein. Auf

der einen Seite kann man sich das traditionelle Interaktionssetting mit der klaren

Asymmetrie zwischen Experte und Laie vorstellen. Auf der anderen Seite steht die

symmetrische Beziehung zwischen gleichberechtigten Positionen. Zeitweise muß in

der Beratung die Asymmetrie zugunsten gleichberechtigter Interaktion aufgehoben

werden. Wechselseitige Identifikation und Rollentausch machen eine Spezifik jeder

Beratungsform aus.

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Schließlich läßt sich die Beratung durch die Kooperationsaufgaben definieren, deren

Lösung sie anstrebt. Auf der einen Seite geht es um Instruktion (Wissensvermittlung)

und auf der anderen Seite um eine Verbesserung der Selbstregulationsfähigkeit.

Während es in der traditionellen therapeutischen Selbsterfahrung praktisch aus-

schließlich darum geht, dem Patienten zu helfen, seine Selbstregulationsfähigkeiten

wiederherzustellen, hat die Instruktion lediglich die Reproduktion der Gesellschaft

oder ihrer Subsysteme im Auge. Der Schüler lernt ‘für das Leben’, um für die Anfor-

derungen anderer Systeme fit zu sein. Abgeprüft werden Fähigkeiten, die für die

Funktionsweise anderer Systeme nützlich sind - nicht z. B. die Persönlichkeitsent-

wicklung. Entsprechend findet kaum ‘echte’ Kooperation statt: der Laie ‘paced’ den

Experten, hört zu, macht nach u. ä. Ein Abwechseln von Pacing und Leading kenn-

zeichnet demgegenüber die gemeinsame Problemlösung in Beratungen.

In der Praxis mögen diese Extreme selten anzutreffen sein - als ideologische Ziele

hat man sie lange propagiert und in den entsprechenden Fachbüchern beschrieben.

In der Gegenwart nehmen selbstreferentielle Anteile in instruktiven Settings und in-

struktive Anteile in Selbsterfahrungssettings zu. Wenn man die entstehenden inte-

grativen Gesprächsformen als Beratungsgespräche begreift, dann wird die wach-

sende Nachfrage nach ‘Beratungen’ in unserer Zeit verständlich.

Man kann auch sagen: Eine übertriebene Form der Arbeitsteilung, die sich in der In-

dustriegesellschaft herausgebildet hat, wird nun wieder zurückgefahren.

Festhalten kann man jedenfalls, daß die Fähigkeit zum kontrollierten Programm- und

Rollenwechsel in zahlreichen beruflichen und alltäglichen Lebensbereichen zunimmt.

Beratungskompetenz im Sinne dieses flexiblen Umgangs mit gegensätzlichen Stilen

der Informationsverarbeitung, der Interaktion und der Kooperation wird zu einer

allgemeinen kulturellen Qualifikation. Sie qualifiziert immer weniger für einen

speziellen Beruf - und wird andererseits zur Voraussetzung erfolgreichen Handelns

in vielen Berufen.

Die Abb. 2 faßt die verschiedenen Parameter, mit denen Beratungsgespräche von

anderen Gesprächstypen abgegrenzt werden können, zusammen.

Die meisten in der Fachliteratur anzutreffenden Beratungstypologien lassen sich

nach diesen Parametern verstehen. Der nachfolgende Vorschlag von Ed Schein

(Abb. 3) kann überdies zeigen, unter welchen Voraussetzungen die verschiedenen

Gesprächstypen Erfolg versprechen - oder überhaupt nur anwendbar sind.

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Abb. 2: Parameter zur Charakterisierung des Beratungsgesprächs

Parameter zur Charakterisierung des Beratungsgesprächs

Umweltbeobach-tung und-

beschreibung

Selbstbeobach-tung und-

beschreibung

AsymmetrischeBeziehung/direktive

Beiträge

SymmetrischeBeziehung/non-

direktive Beiträge

Instruktion Therapie

a) Kommunikative Parameter

b) Interaktive Parameter

c) Kooperative Parameter

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Abb. 3: Drei Grundmodelle der Beratung

(Nach E. H. Schein, 1987)

Grundmodell(was es ist)

Grundannahmen, Voraussetzungen(... daß es funktioniert)

Beratung als Beschaffung von Information undProfessionalität(Wissensvermittlung)

a) der Klient hat das Problem richtig diagnostiziertb) Klient hat Professionalität bzw. Spezialisten-

tum des Beraters richtig beurteilt.Der Klient weiß,• was das Problem ist;• welche Lösung benötigt wird;• woher die Lösung kommen kann.Der Berater beschafft die benötigten Informatio-nen und erarbeitet die Lösungen.

a) Klient hat Problem und welche Art Lösungbenötigt wird, richtig kommuniziert.

b) Klient hat die Konsequenzen der Informations-beschaffung bzw. der verlangten durchgedachtund akzeptiert.

Beratung im Rahmen der Arzt-Patient-Hypothese(Problem lösen durch Experten)

a) Der Diagnoseprozeß selbst wird als nützlichund hilfreich angesehen.

• Der Klient spürt bzw. leidet unter bestimmtenUnzulänglichkeiten oder Problemen, deren Ur-sachen sowie mögliche Lösungsansätze ihmaber unbekannt sind.

• Der Berater übernimmt die Verantwortung füreine richtige Diagnose (Erfassung) des Pro-blems und dessen angemessene Lösung

• Klient ist abhängig vom Beratungsprozeß biszur Lösungsfindung.

b) Der Klient hat die Symptome (Indikatoren)richtig interpretiert und den Bereich, inwelchem das Problem auftritt, richtig lokalisiert.

c) Der indizierte Problembereich (Person oderGruppe) gibt die notwendigen Informationenfür eine zutreffende Diagnose; er manipuliertnicht, sondern ist kooperativ.

d) Klient versteht die Diagnose und den Lö-sungsvorschlag des Beraters richtig und ist be-reit, ihn anzuwenden.

e) Klient kann nach der Beraterintervention alleinwunschgemäß weiter funktionieren.

Das Prozeß-Beratungs-Modell/ProcessConsultation(Kooperative Problemlösung)

a) Klient spürt Wunsch nach Veränderung (Pro-blembewußtsein), hat aber das Problem nichtim Griff (Ursache - Lösung).

• Der Klient hat das Problem und behält wäh-rend des ganzen Beratungsprozesses die volleVerantwortung dafür.

• Berater hilft dem Klienten, die prozeßhaftenEreignisse seiner Umwelt wahrzunehmen,richtig zu interpretieren und zu verstehen undihnen angemessen zu begegnen (handeln).

• Stärkstes Involvement (Betroffen- und Betei-ligtsein) des Klienten, sich selber zu helfen undvermeidet, vom Klienten in eines der vor-angehenden Modelle gebracht zu werden.

b) Klient kennt Möglichkeit der Lösung nicht odernur unzureichend; dies auch bezüglich derFrage, wer ihm helfen könnte.

c) Das Problem ist so beschaffen, daß der Klientnicht nur jemanden braucht, der die Problem-ursachen und -lösungen herausfindet, sonderndaß der Klient durch die aktive Teilnahme amDiagnoseprozeß profitiert.

d) Klient hat „konstruktive“ Absichten; er ist durchZiele und Werte motiviert, die der Berater ak-zeptieren kann und ist in der Lage, eine sog.„helfende Beziehung“ einzugehen.

e) Der Klient ist letztlich der einzige, der wirklichweiß, welche Interventionsform für ihn jetzthilfreich ist. Er kontrolliert also die Situation.

f) Der Klient ist fähig zu lernen, wie er seineOrganisationsprobleme erkennen und lösenkann.

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In der Abb. 4 wird der Zusammenhang zwischen den Interaktionsbeziehungen (Rol-

len) und den verschiedenen Interventionsformen des Beraters deutlich. Ich nehme

die Charakterisierung der Interaktionskonstellation unter dem Gesichtspunkt: direktiv

- nondirektiv im Kapitel 3 wieder auf. (Vgl. Abb. 20)

Abb. 4: Rollenkategorien des Beraters unter dem Gesichtspunkt: direktiv-non-direktiv

Mögliche Rollen des Beraters

stimuliert

Reflexion

Prozeß-

Spezialist

erhellt Sach-

verhalte

entdeckt

Alternativen

unterstützt

Problem-

lösung

Trainer/

Ausbilder

Fachmann

für...

Anwalt

Ebenen der Berateraktivität im Problemlösungsprozeß

Non-direktiv Direktiv

wirft Fragen

auf, die zum

Nachdenken

anregen

Prozeßbe-

obachtung

und Be-

gleichung,

gibt

Gelegenheit

für Feed-

back und

Evaluation

sammelt

relevante

Daten und

regt die

Auseinan-

dersetzung

damit an

sucht nach

Alternativen,

Ressourcen

und hilft bei

deren

Bewertung

schlägt

Alternativen

vor, hilft zu

einer Ent-

scheidung

zu kommen

trainiert den

Klienten und

plant dessen

Weiterent-

wicklung

(Lerngele-

genheiten)

stellt Wissen

zur

Verfügung

und etabliert

eine

bestimmte

Vorgehens-

weise

stellt Regeln

und

Richtlinien

auf, führt

Methoden

ein und lenkt

den

Problem-

lösungs-

prozeß

bearbeitet nach M. Kubr (19862) (Hg.):Management consulting : a guide to the

profession. Geneva : International Labour Office, 1986

Klient

Berater

Instruktion und Beratung

Da Beratungsgespräche im Spannungsfeld zwischen Instruktion und Selbsterfahrung

liegen, ist es sinnvoll, sich die Besonderheiten dieser beiden gegensätzlichen

Gesprächsformen in Erinnerung zu rufen.

Das Unterrichtsgespräch ist Gegenstand einer eigenen Vorlesung. Ich fasse seine

Grundstrukturen kurz thesenförmig zusammen und stelle dann in der Abb. 5 das

Ablaufschema von Instruktionsgesprächen dar.

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❑ Die kulturelle Funktion von Unterricht und Instruktion ist die Reproduktion der Ge-

sellschaft auf der Ebene der Programme/Software/human ressources/Fähigkeiten,

Fertigkeiten, Wissen.

Die Reproduktion der Technik/hardware/Natur verlangt, daß die komplementären

Fähigkeiten von Generation zu Generation wieder neu in den psychischen und so-

zialen Systemen erzeugt werden.

❑ Gezielte Instruktionen verkürzen die zur Erfahrungsgewinnung notwendige Zeit.

Das umständliche Selbermachen von Erfahrungen wird bis zu einem gewissen

Grade durch die Präsentation der Ergebnisse der Wahrnehmung und Informati-

onsverarbeitung vorheriger Generationen ersetzt.

❑ Diejenigen, die über die gesellschaftlich ausgearbeiteten Programme verfügen,

bezeichnet man als Experten/Lehrer usw., diejenigen, die über das Wissen/die

Fertigkeiten/Fähigkeiten nicht verfügen und es/sie lernen sollen, als

Laien/Schüler/Studenten usw.

Diese Asymmetrie auf der Ebene der Information ist konstitutiv für Instruktionen.

Der Experte soll nicht lernen und erfährt auch meist nur bei Krisen mehr, als er

schon wußte.

❑ Voraussetzung für Instruktionen ist, daß die Gesellschaft das Problem des Laien

schon gelöst hat und daß der Experte diese Lösung kennt. (Ad-hoc-Lösungen, die

nicht kulturell erarbeitet und erprobt sind, bezeichnet man besser als ‘Rat-

schläge’).

Das in Instruktionen weitergegebene Wissen muß sozial akzeptiert: wahr, erprobt

sein.

Daraus ergeben sich Legitimationsprobleme für das Wissen und für den Experten,

die durch institutionelle Verfahren gelöst werden (Approbation, Prüfung).

❑ Aus den beschreibenden Naturwissenschaften wird das Verständnis übernommen,

daß es ein richtiges Wissen gibt, das unabhängig von den konkreten Situationen

und den beteiligten Personen vermittelt werden kann.

❑ Die vermittelten Programme sind reproduktiv, nicht kreativ.

❑ Die Instruktion ist gelungen, wenn das Kompetenzdefizit zwischen Experte und

Laie im vorgesehenen Umfang verringert ist. Diesen Fall stellt der Experte fest.

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Abb. 5: Allgemeines Ablaufschema von Instruktionen

Phasen Experte Laie1.Systemkonstitution Kompetenzdefizit feststellen/Rollen (Experte und Laie)

festlegen2. Vorstrukturieren - Eingrenzen der Defizite und

feststellen der Ressourcen- Hilfsmittel bereitstellen- Muster für die Problem- lösung liefern

Signalisieren des Vorwissens

Zuhören

3. Durchführen Vormachen, Problem lösenKorrigieren, Helfen

ZusehenNachmachen

4. Verbale Rekon-struktion/ Modellbil-dung

Erklären, Zuhören, Nachfragen

5. Selbstrefle-xion/Controlling

Feststellen, ob das Kompetenzdefizit beseitigt, das Problemgelöst ist

�6. Systemauflö-sung/Umschalten

Auflösung der Instruktion oder erneutes Durchlaufen des Ab-laufschemas

Die traditionelle Beratungslehre hat ebenfalls häufig versucht, ihren Gegenstand von

Unterricht und Instruktion abzugrenzen. Ein Beispiel liefert das in der Abb. 6 wieder-

gegebene Schema von Prof. Schmiel.

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Abb. 6: Vergleich von Beratung und Unterricht

Beratung UnterrichtBerater

Um Beratung Nachsuchender (zumeist Einzelner)

Inanspruchnahme freiwillig

Subjekterfüllte, spannungsgeladene, individuellausgeformte Problemsituation

Beratungsproblem, aktuell, individuelle Lösungs-bedingungen

Selbstbestimmung des Beratungsinteressentendurch das selbstgegebene Beratungsproblem unddurch Entscheidungsfreiheit

Ziel: Lösung des aktuellen Problems entspre-chend den speziellen Bedingungen. Keine pri-märe Bildungs- und Erziehungsabsicht

Kein Führungsverhältnis

Kontaktform: In der Regel Einzelgespräch

Relativ freie Ablaufform

Generationsunterschied zwischen den Partnernselten

Wegfall der Erziehungsmittel

Entscheidungsfreiheit des Beratenen

Lehrer

Schüler (zumeist größere Personenzahl)

Inanspruchnahme erst nach Erfüllen der Schul-pflicht freiwillig

Sachgerichtete Lernsituation

Lehrplan (Curriculum), systematisch aufgebaut,über einen längeren Zeitraum geplant

Fremdbestimmung durch Lehrplan

Ziel: Planmäßige Förderung der Schüler beimErlernen von Fertigkeiten, Kenntnissen, Fähig-keiten, Einstellungen im Rahmen einer umfas-senden Bildungs- und Erziehungsaufgabe

Führungsverhältnis durch Bildungsgefälle

Kontaktform: In der Regel Gespräch eines einzel-nen (Lehrer, Schüler) mit der Lerngruppe

Stundenplan

Generationsunterschied zwischen Lehrern undSchülern häufig vorhanden

Einsatz von Erziehungsmitteln (Lob, Tadel, Kritik,Strafe usw.)

Keine vergleichbare Entscheidungsfreiheit beimSchüler

(Nach: ‘Das Beraten. Ein Beitrag zur Beratung im Handwerk’ von Prof. Dr. Martin

Schmiel, Köln 1972 (= Berufsbildung im Handwerk - Reihe A, herausgegeben von

Prof. Dr. Martin Schmiel, Forschungsinstitut im DHI, Heft 33)

Eine integrative Beratungslehre wird auf die Programme der Wissensvermittlung und

Praxisanleitung nicht verzichten können. Sie braucht noch zusätzliche und

grundverschiedene Methoden, aber es gibt eine Vielzahl von Aufgaben im

Beratungsgespräch, die sich am besten nach dem Vorbild der Instruktion lösen

lassen. In der Abb. 7 skizziere ich Voraussetzungen und Erfolgsbedingungen von

instruktiven Methoden in der Beratung.

Abb. 7: Allgemeine Voraussetzungen von Beratung als Wissensvermittlung

und Praxisanleitung

Der Klient weiß,

• was das Problem ist,

• welche Lösung benötigt wird;

• woher die Lösung kommen kann.

Es gibt Experten, die die Lösung des Problems kennenhat Erfolg, wenn der Klient Abweichungen, die selbstreflexive Kom-

petenz erforderna) das Problem richtig diagnostiziert hat

b) die Fähigkeiten des Beraters richtigbeurteilt hat

c) und der Berater auf gleichen Kanälenmit gleicher Wellenlänge senden

d) die angebotenen Problemlösungenakzeptieren und umsetzen kann

e) die Konsequenzen der Problemlösungdurchgedacht und akzeptiert hat

Diffuses Problembewußtsein, Klient lei-det/will verändern aber woran/was?Klient hat Erwartungen an den Berater,die mit dessen Selbsteinschätzung nichtübereinstimmen. Er weiß nicht, wer ihmhelfen kann.Klient und Berater bekommen keinenKontakt zueinander, mißverstehen sichhäufig.Mögliche Lösungen des Problems wer-den abgewehrt, lösen Ängste aus etc.(weil sie Veränderungen von Klientenverlangen).Die Lösung des Problems wird dieSchwierigkeiten voraussichtlich noch ver-stärken/nicht berücksichtigte Nebenef-fekte.

Beratung und soziale Selbstreflexion

Leichter fiele die Abgrenzung vermutlich, wenn die Strukturen von Selbsterfahrung

ähnlich klar wie jene der Instruktion benannt werden könnten. Dies scheint gegen-

wärtig kaum möglich. Einschlägige Ablaufmuster findet man in der Literatur selten.

Ein Ziel der Vorlesung ist es, diese Strukturen herauszuarbeiten.

Einige Charakteristika sollen jedoch schon vorab skizziert werden. Zunächst muß

zwischen der individuellen Selbsterfahrung und der sozialen Selbstreflexion unter-

schieden werden. Beide sollen als Sonderfälle von Informationsverarbeitung be-

trachtet werden.

15

Selbsterfahrung

Selbsterfahrung ist ein Oberbegriff für verschiedene Formen der Informationsverar-

beitung über Menschen und soziale Systeme durch dieselben. Alle Informations- und

Kommunikationssysteme beobachten nicht nur ihre Umwelt sondern auch sich

selbst. Bei Menschen geschieht dies zumeist unbewußt und nebenbei. Ein Ergebnis

der Selbstwahrnehmung sind (latente) Selbstbeschreibungen. Diese Beschreibungen

und die Mechanismen, nach denen sie zustande gekommen sind, können bei kom-

plexen psychischen und sozialen Systemen nochmals wahrgenommen werden. Sol-

che Metaprozesse: Wahrnehmung der Wahrnehmung, Beschreibung der Beschrei-

bung werden häufig als (Selbst-)Reflexion bezeichnet. Ziel der Reflexion kann die

Ermittlung von Glaubenssätzen, Wahrnehmungsroutinen, individuellen

Normalformen der Informationsverarbeitung usf. sein. Über die Reflexion gelangt

man auch zu Identitätskonzepten von Individuen und Gemeinschaften.

Selbsterfahrung i. d. S. steht also in Opposition sowohl zur Umweltbeobachtung und

-beschreibung als auch zur (Selbst) Reflexion.

Abb. 8: Selbsterfahrung

❐ Oberbegriff für verschiedene Formen der Informationsverarbeitung über Menschen

und soziale Systeme durch dieselben.

❐ Im Gegensatz zu

- Umweltbeobachtung und –beschreibung

sowie

- (Selbst) Reflexion als Wahrnehmung der Wahrnehmung, der Selbstbeschreibung

usw.

Abb. 9: Ziele der individuellen Selbstreflexion

u.a.− Klärung von vorhandenem Vorwissen− Klärung von bewußten und unbewußten Wahrnehmungs- und Handlungspro-

grammen− Erkennen von Selbstbildern/Identitätskonzepten/Glaubenssätzen− Erkennen von Werten, die für das Individuum handlungsleitend und orientierungs-

relevant sind

Soziale Selbsterfahrung und Selbstreflexion

Alle sozialen Gruppen, Institutionen und Gemeinschaften vergleichen die aus ihrer

Umwelt aufgenommenen Informationen mit den eigenen Programmen (Erwartungen,

Vorerfahrungen, Routinen usf.). Sie können als kybernetische Systeme auf eine

beständig mitlaufende Selbstwahrnehmung und auf korrigierende Interventionen

nicht verzichten. Sobald eingehende Informationen über die Umwelt mit den

individuellen Sollwerten in Konflikt geraten, entsteht Handlungs- und/oder

16

17

Selbstreflexionsbedarf. Ziel der Selbstreflexion ist zunächst die Klärung und dann

ggf. die Änderung der handlungsleitenden und orientierungsrelevanten Normen des

Systems. Sie hat also das Ziel, die Selbstregulationsfähigkeit zu erhalten, zu

verbessern oder wieder herzustellen.

Soziale Selbsterfahrung und Selbstreflexion ist also die Bezeichnung der Selbster-

fahrung, bzw. Selbstreflexion von sozialen Systemen: Zweiergespräche, Gruppen,

Familien, Teams, Institutionen u. a.. Gemeint ist nicht die individuelle Reflexion

sozialen Geschehens durch eine einzelne Person - das wäre Umwelterkundung

eines psychischen Systems - sondern die Beobachtung bzw. Reflexion der

Prozesse, Strukturen, Selbstbilder und Umweltbeziehungen eines sozialen Systems

durch eben dieses System.

Natürlich treten die einzelnen Menschen als Sensoren, Prozessoren, Reflektoren,

Speicher und Effektoren des sozialen Informationssystems auf. Insofern ist die indi-

viduelle Selbstwahrnehmung und -reflexion zumindest einiger Mitglieder des Sozial-

systems Voraussetzung einer Gruppen-, Familien-, Team- etc. -reflexion. Aber die

Programme und Leitbilder des sozialen Systems decken sich keineswegs immer mit

den Vorstellungen, die die beteiligten Individuen von ihnen haben. Nur diejenigen

Wahrnehmungen, die von den anderen Mitgliedern aufgegriffen und zur Lösung der

Systemaufgaben genutzt werden, sind soziale Wahrnehmungen. Dazu müssen sie

irgendwie ausgedrückt, den anderen zugänglich gemacht werden. Dies setzt verbale

oder nonverbale Kommunikation voraus. In diesen Gesprächen entwickelt sich eine

Eigendynamik, die es verbietet, die soziale Informationsverarbeitung mit der intrapsy-

chischen in eins zu setzen. Welche Wahrnehmungen sozial ratifiziert, welche Infor-

mationen gespeichert und im sozialen Handeln genutzt werden, dies zu bestimmen,

liegt nicht in der Hand einer einzelnen Person.

Normalerweise thematisieren soziale Systeme ihre Prozesse und Strukturen nur

dann, wenn in der Zusammenarbeit Krisen auftauchen. Ansonsten orientieren sie

ihre Aufmerksamkeit auf die Umwelt und die Aufgaben, zu deren Bewältigung sie

entstanden sind. Die Selbstbilder und die Erwartungen über die normalen Arbeits-

abläufe entwickeln sich nebenbei und sie bleiben latent. Soziale Selbstreflexion setzt

ein, wenn diese latenten Erwartungen selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung

und Reflexion des betreffenden Systems gemacht werden. Dies setzt Wahrnehmung

der Wahrnehmung, Kommunikation über Kommunikation, Reflexion von Infor-

mationsverarbeitungsprozessen, Verbalisieren von nonverbalen Äußerungen und

andere reflexive Prozesse voraus. Während dieser Selbstthematisierungsphase ist

der normale Arbeitsablauf in dem betreffenden Sozialsystem unterbrochen.

Ziel der Selbstthematisierung in Beratungsprozessen ist es immer, die Selbstregula-

tionsfähigkeit des (psychischen oder sozialen) Systems zu erhalten, zu verbessern

oder wieder herzustellen, indem die Gemeinsamkeiten, d. h. die konstitutiven Pro-

zesse und Strukturen des Klientensystems bewußt gemacht und gegenüber stören-

18

den Umwelteinflüssen abgegrenzt werden. Die Normen, nach denen die Beziehun-

gen zwischen den Rollen gestaltet werden, die Programme, nach denen Informatio-

nen gesammelt und bewertet und die Muster, nach denen miteinander kooperiert

wird, machen die Identität von sozialen Systemen aus. Und diese Konzepte sind der

Gegenstand sozialer Selbstreflexion sozialer Systeme. (Daneben können natürlich

auch Identitätskonzepte von Individuen Gegenstand sozialer Selbstreflexion sein.

Dies geschieht beispielsweise in Gruppentherapien und mit charakteristischen Be-

schränkungen auch in Supervisionen.)

Abb. 10: Soziale Selbstreflexion in der Beratung

❐ Ziele:

Klärung der bewußten und latenten Selbstbilder, Programme, Umwelteinschät-

zungen, nach denen das Klientensystem handelt, wenn es sich blockiert fühlt.

Entwicklung geeigneter Selbstbilder und Programme.

❐ Interaktionskonstellation:

Klientensysteme leiden unter defizienter Selbsteuerungsfähigkeit.

Der Berater ist Spezialist für individuelle und soziale Selbsterkundung. Der Klient

ist Experte für seine Programme.

❐ Selbstverständnis:

Der Klient ist voller Informationen, die es ihm aber teilweise erschweren, mit sei-

ner Umwelt zurecht zu kommen.

Die vorhandenen zumeist latenten Informationen blockieren seine Selbsteue-

rungsfähigkeit. Neue Informationen können nicht genutzt werden, weil ‘Speicher-

plätze’ besetzt sind, Wahrnehmungsgewohnheiten ihre Aufnahme erschweren

etc. Der Experte wird gebraucht, um dysfunktionale Informationskonstellationen

zu erkennen und die Programme umzubauen.

❐ Spezifische Technik:

Spiegelungsphänomene erleichtern und deuten. Selbsterfahrung als Mittel zur

Umwelterkundung einsetzen - und umgekehrt. Minimalstrukturierung, offene Fra-

gen.

❐ Erfolgskriterium:

Veränderung des Klientensystems. Es benutzt Programme, die es ihm erleichtern,

mit sich selbst und mit seiner Umwelt zurecht zu kommen.

Die Programme Selbstwahrnehmung und –thematisierung werden in der Beratung in

der Regel erst dann eingesetzt, wenn direktiven Methoden wie die Wissensvermitt-

lung und der Hinweis auf Krisen nichts fruchten. Explizite soziale Selbstwahrneh-

mung und –reflexion haben Voraussetzungen und brauchen ein besonderes Setting.

Einige wichtige Erfolgsbedingungen sind in der nachfolgenden Abbildung (11)

19

zusammengestellt. Natürlich setzt das Programm ‚Soziale Selbstreflexion‘

entsprechende Fähigkeiten sowohl vom Berater als auch von dem/den Klienten

voraus. Sind diese Fähigkeiten und Voraussetzungen nicht vorhanden, so müssen

sie hergestellt und u. U. speziell eingeübt werden (Sensitivity Training).

Abb. 11: Voraussetzungen und Erfolgsbedingungen selbstreflexiver Beratung

Voraussetzung: Beratungssysteme, die sich selbst beobachten können

Beratungen haben Erfolg, wenn Verhalten bei Abweichungena) der Klient an der Zweckmäßigkeit der

bislang eingesetzten Typisierun-gen/Programme zweifelt. (Leidens-druck)

b) Klient und Berater zur Selbstreflexionbereit und in der Lage sind

c) der Klient dem Berater vertraut, daßdieser die über ihn gewonnenen Infor-mationen nicht gegen ihn verwendet

d) der Berater dem Klient als Spiegeldient

e) Widersprüche zwischen den Zielen;unzureichende und dysfunktionaleProgramme/Identitätskonzepteerkannt werden.

Neue Selbstbeschreibungen/Programmeerarbeitet und die Blockaden überwundenwerden.

Wenn er nicht (mehr) daran zweifelt, hatsich das Problem gelöst

Sensitivity training

Vertrauen herstellen oder anderes Bera-tungssetting suchen

Themenwechsel, Wechsel des Beraters

Die soziale Selbstreflexion in der Beratung erfolgt nach einem allgemeinen Ablauf-

schema, welches die Abb. 12 zusammenfaßt. Natürlich muß es für die verschiedene

Zwecke und Systemtypen jeweils präzisiert werden. Eine Spezialisierung ist bei-

spielsweise die Normalform von Selbstthematisierungen (Vgl. Abb. 12) und von In-

szenierungen (Vgl. Abb. 14) in Supervisionen und ähnlichen Arbeitsgruppen. Sie

werden ausführlich im Kap. 6.2 in Giesecke/Rappe-Giesecke ‘Supervision als Me-

dium kommunikativer Sozialforschung’ beschrieben. Eine andere Spezifizierung bie-

tet das Modell der T-Gruppen.

20

Abb. 12: Allgemeines Ablaufschema sozialer Selbstreflexion sozialer Systeme

1. Voraussetzung:

Materialproduktion (gemeinsames Handeln/Erzählen) und

Abweichung von den Normalformerwartungen der Beteiligten (Wiederholung von

Szenen/Interaktionskrisen/Veränderung der Umwelt etc.)

2a. Wahrnehmung der abgelaufenen Prozesse, Systemstrukturen, System-Umwelt-

beziehungen: Personen teilen ihre affektiven und kognitiven Beobachtungen mit

(Blitzlicht); Kommentare, Feed-back, Standpunkt- und Perspektiventausch zwi-

schen den Beteiligten,

2b. Bewerten;

2c. Ziel ist die gemeinsame Selbstbeschreibung

3. Selbstreflexion von 1. und 2. und Strukturvergleich: Systematische Rekonstruk-

tion der verschiedenen Dimensionen des Geschehens, Feststellen von Struktu-

rähnlichkeiten (Spiegelungen, Inszenierungen) zwischen der Phasen Diagnose.

4. Einigung auf ein (verbessertes) Selbstbild, (andere) Interaktionsnormen, Ab-

lauferwartungen, Maximen für den Umgang mit Krisen, Visionen; Prüfung der ver-

änderten Identitätsbeschreibung (Ökocheck)

5. Gemeinsames Handeln nach dem neuen Programm/Identitätskonzept

21

Abb. 13: Normalform des Ablaufs der Selbstthematisierung in Supervisionen

Kooperative Probleme Beiträge der Gruppe des Repräsentanten des Problems Beiträge des LeitersVorphase, 0. Phase

1. ProgrammwechselEinigung über dieNotwendigkeit einesProgrammwechsels zurSelbstthematisierung

Kommentare zur krisenhaften Situation, Stellungnahmen zum Wechsel desProgramms und zur Art des Problems (Problem der G, von einzelnen GM, derInstitution, des Falls)Ratifizierung des Programmwechsels

Stoppen der Interaktion, Aufforderung,sich für das Programm zu entscheiden,in dem man das Problem bearbeiten willÜberprüfung der RatifizierungInitiieren des Übergangs zu Phase 2

2. AushandlungsphaseEinigung auf ein Arbeitsthema, einevorläufige Formulierung des Problemsder G. auf einen oder mehrereRepräsentanten des Problems und einenoder mehrere Beiträge zu diesem Thema

Sondieren der Vertrauensbasis in der Gfür die Behandlung dieses Problems

Vorschläge für die Formulierung eines Arbeitsthemas, für einen oder mehrereRepräsentanten des Problems und für einen oder mehrere Beiträge zumGruppenthemaRelevanz prüfen, Nachfragen Beitrag ankündigen, Relevanz

andeuten, Problem formulieren, kurzeOrientierung geben

Interesse am Beitrag bekunden, Sondieren der Vertrauensbasis in derratifizieren G, eigenes Interesse an Bearbeitung

des Beitrags prüfen, ratifizieren

Ratifizierung aller Positionen prüfenÜbergang zu Phase 3 initiieren

3. MaterialproduktionHerstellen eines kollektiven Phantasmasüber eine oder mehrere Sichtweisen derGruppensituation (imp. präs. Fut.)

Zuhören, Rezeptionssignale geben,kurze Nachfragen stellen

Abwicklung einer Erzählung über daseigene Erleben einer kritischenGruppeninteraktion

Zuhören, Rezeptionssignale geben,kurze Nachfragen stellenPrüfung der Bearbeitbarkeit derErzählung (auf Vollständigkeit) ggf.Auffordern zur Vervollständigung derErzählungInitiieren des Übergangs zu Phase 4

4. ProblembearbeitungRekonstruktion des Erlebens derkritischen Gruppensituation durch alleGM und ihrer Bewertung einschließlichder des Leiters

Nachfragen stellen, Rekonstruktion desErlebens und der Bewertung desProblems und der Gruppensituationdurch den Erzähler

Nachliefern von situationsgebundenenund nachträglichen Interpretationeneigenen und fremden Verhaltens undErlebens

22

Kooperative Probleme Beiträge der Gruppe des Repräsentanten des Problems Beiträge des LeitersBeiträge aller GM und des Leiters zu ihren situationsgebundenen und nachträglichen Interpretationen des Geschehens und vonweiteren in diesem Zusammenhang relevanten Gruppensituationen. Darstellung von eigenem Verhalten und Vermutungen überdas Erleben der anderen (Probeidentifikationen), Beobachtungen und Bewertungen eigenen und fremden Verhaltens.Nachfragen nach neuen Aspekten, Nachliefern von weiterem Material. Inszenieren des Gruppenproblems in der momentanenGruppensituation und Interpretieren dieser Inszenierung. Darstellung ausgelöster Gefühle und Assoziationen, Konstruktionalternativer Verhaltens- und Erlebensmöglichkeiten

Initiieren des Übergang zu Phase 55. Typisierung des Problems

Einigung auf eine Typisierung des(durch die Bearbeitung veränderten)Problems der G

Vorschläge zur Typisierung der Beziehungen in der G, Beschreiben undParaphrasieren des Problems der G, Reformulieren des Arbeitsthemas,Argumentationen über diese Vorschläge

Typisierungsvorschläge machen

6. Verständigung über die Bedeutung des ProblemsVerständigung über die Bedeutung desProblems für:1. die Beziehungen in der G2. den krisenhaften Ablauf derFallarbeit/alternativ die Krisen bei derinstitutionsanalytischen Arbeit Ratifizierung der Deutung und Darstellung eigener Interpretationen des Geschehens

Ratifizierung der Interpretation, Darstellung eigener Wahrnehmungen undInterpretationen

Zusammenfassen der ausgehandeltenProblematik. Deutung desgruppendynamischen undpsychodynamischen Aspekts derBeziehungen in der G

Interpretation des Zusammenhangszwischen dem Problem der G und derKrise bei der Fallarbeit/bei derInstitutionsanalyse

7. Selbstreflexion des AblaufsVerständigung über die Bedeutungdieser Sitzung/des Programmwechselsfür den hist. Gruppenprozeß

Kommentieren der Arbeit der G undInterpretation der Funktion dieserSitzung und des Programmwechsels fürden (unbewußten) Gruppenprozeß

8. ProgrammwechselVerständigung über den Abschlußdieses Programms und den Wechsel zurFallarbeit/Institutionsanalyse bzw. Wahldieses Programms für die nächsteSitzung

Ratifizierung des Abschlusses der Problembearbeitung und einesProgrammwechsels

Beendigung der Bearbeitung desGruppenproblems vorschlagen

Überprüfen der Ratifizierung9. Abschlußphase

Auflösung der Gruppensitzung Verabschieden und Verlassen der Sitzung Beenden der Sitzung

23

Abb. 14: Normalform der dynamischen Dimension von Inszenierungen in Supervisionen

Phase Kooperative Probleme Kommunikative Probleme Interaktive ProblemePräsentation des Falls (0. Phase) Herstellen eines kollektiven Phantasmas

über einen Ausschnitt aus derBiographie/beruflichen Interaktion einesGM

Verständigung über ein biographisches(berufsabhängiges) Problem eines GM,welches dieses beschäftigt und von ihmnicht verarbeitet werden konnte

Herstellen der für das Erzählen typi-schen verschiedenen (unterschiedlichen)Interaktionsbeziehungen

1. Inszenierung des Falls Rekonstruktion des Verhaltens undErlebens der Figuren der Erzählungdurch den Spielern unbewußt blei-bendes Nachspielen mit verteiltenRollen

Verständigung zwischen G und Erz überein nicht sprachlich-begrifflichrepräsentierbares Erleben des Erz unddas vermutete Erleben des Klienten

Differenzierung der G in "Spieler" miterlebender und "Beobachter" mitbetrachtend bewertender Perspektiveauf das Gruppengeschehen. Herstellenvon asymmetrischen/komplementärenBeziehungen zwischen den Spielern, dietypisch für die erzählte Professional-Klient-Interaktion sind

2. Stoppen der Inszenierung Einigung über den Abschluß/Abbruchder Inszenierung und Einigung darüber,daß es sich bei der vergangenenInteraktion um eine Inszenierunggehandelt hat

Verständigung über die aktuelle Grup-pensituation unter selbstreflexiverPerspektive

Konstituierung einer Asymmetriezwischen Spielern und Beobachtern derInszenierung

3. Reflexion der Inszenierung Rekonstruktion des Zusammenhangszwischen Inszenierung und Fall. Her-ausarbeiten a) des beiden zugrundelie-genden Beziehungsmusters, b) deridentischen sozialen Strukturen

Weiterverarbeitung der aus der Insze-nierung gewonnenen informativenDaten in einem anderenRelevanzsystem: a) dem psychoanaly-tischen und b) dem systemtheoretischen

Reduktion der Asymmetrie zwischenSpielern und Beobachtern durch dieReflexion der gespielten Rolle und dasMitteilen von Beobachtungen

4. Programmwechsel: Umschalten aufFallarbeit

Einigung über den Abschluß der Ins-zenierung und die Rückkehr zur Fall-arbeit

Verständigung über den Wechsel derProgramme, die Selbstregulation desAblaufs

Herstellen der für die Selbstregulationtypischen Beziehungen und danach derfür die Fallarbeit typischen Asym-metrien

G Gruppe; Erz Erzähler; GM Gruppenmitglieder

24

Wenn man das Beratungsgespräch als Integration von instruktiven und

selbstreflexiven Methoden organisiert, kommt man zur folgenden, allgemeinen

Zielformulierung:

Abb. 15:

Integratives Ziel der Beratung

ist die Wiederherstellung der Selbstregulations- und Funktionsfähigkeit des Klienten-

systems durch

• Reorganisation der vorhandenen Informationen und Vermittlung neuen Wissens,

• Aktivierung der fehlgeleiteten Ressourcen

Die geschichtliche Ausdifferenzierung dermodernen Beratungslehre und -praxis

(Kapitel 2)

Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist soziale Kommunikation eine Form

kooperativer Informationsverarbeitung. Man kann auch sagen: Kommunikation ist ein

Spezialfall der Informationsverarbeitung. Sie wird erforderlich, wenn die einzelnen

Individuen, die für sie notwendigen Erfahrungen nicht allein gewinnen oder interpre-

tieren können. Sie suchen sich dann Gesprächspartner, bilden soziale Systeme, in

denen sie gemeinsam wahrnehmen und reflektieren.

25

Sowohl lebensgeschichtlich als auch historisch differenzieren sich diese Kooperati-

onsformen und die dabei verwendeten Medien zunächst immer mehr aus. Was zu

Beginn unentwirrbar miteinander verknüpft war, hat sich am Ende abgetrennt und

spezialisiert. Dies ist der Gang nicht nur der Technik und der Kultur, sondern eben

auch der Kommunikation. Arbeitsteilung führt zu Spezialisierung und Professionali-

sierung.

Abb. 16: Kommunikative Kooperationsformen und ihre professionelle

Ausdifferenzierung

Kooperationsformen

Ziel Erfolgskrite-rium

Rollen Informationsgewin-nung

prof. Ausdiffe-renzierung

Beschreiben Ermöglichen vonWiedererkennender Umwelt/Wie-derholen vonHandlungen(reproduktiv)

AusgleichendesKompetenzdefi-zits

Experte: Laie(asymmetrisch)

Betrachten (visuell)der physikalischenUmwelt (äußereSinne)

Instruktion/Fach-buch, Schule,Wissenschaft

Argumentie-ren

Verändern vonBewertungen/Perspektiven

Überzeugen Experte: Ex-perte

ReflexionvorhandenerInformationen ausverschiedenenQuellen

Gericht, Parla-ment (Kirche)

Erzählen Kollektives Verar-beiten autobiogra-phischer Erfahrun-gen/Teilen vonemotionalen Erfah-rungen

Entlastung;Identifikationmit dem Erle-ben desGegenüber

egalitär(Mensch)

Empathie; in diepsychische/vegetative Innenwelthineinhören

Therapie,'schöne' Literatur

Zu den wichtigsten kommunikativen Kooperationsformen, die in unserer Kultur von

jedem Heranwachsenden ausdifferenziert werden müssen, gehört das Erzählen, das

Beschreiben und das Argumentieren. Jede dieser Kommunikationsformen hat an-

dere Ziele und Erfolgskriterien; sie führt zu unterschiedlichen Rollenbeziehungen

zwischen den Kommunikationspartnern, entwickelt unterschiedliche Formen der Er-

26

fahrungsgewinnung und zieht unterschiedliche Formen der Institutionalisierung und

Professionalisierung nach sich.

Einen kurzen Überblick über die Merkmale der drei kommunikativen Kooperations-

formen gibt die Abb. 16

Die distanzierte, betrachtende Erfahrungsgewinnung und die beschreibende Weiter-

gabe des so gewonnenen Wissens ist die Keimzelle sowohl der neuzeitlichen Wis-

senschaft als auch der wichtigsten Institutionen der Aus- und Weiterbildung: der

Schule, der Universität und der Fachliteratur. Ich bezeichne dieses ganze Paradigma

abkürzend als 'Instruktion'. (Vgl. das Skript ‘Unterrichtslehre’)

Diese Form der Kommunikation führt immer zur Reproduktion des Verhaltens, des

Wissens und des Erlebens des Redners, also zu einer Verdoppelung von schon vor-

handenen Informationen, zur Reproduktion von fertigen, gesellschaftlich akzeptierten

Wissen. Die Instruktion hat eine asymmetrische Beziehungsstruktur (komplementäre

Rollen): Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Beamter und Klient etc. Sie stellt sich

allen Beteiligten im wesentlichen als ein überlegtes Einwirken des Experten auf den

Laien, also als eine intentionale Handlung dar. Entsprechend werden auch ihre Er-

folgsbedingungen im wesentlichen monokausal verortet: die Instruktion ist gelungen,

wenn das Kompetenzdefizit, also der Wissensunterschied zwischen den Beteiligten,

im gewünschten Umfang verringert werden kann. Da nur der Experte den erforderli-

chen Wissensvorsprung hat, liegt bei ihm die Hauptlast; dem Laien kann im Falle des

Mißerfolges eigentlich nur mangelnde Reflexionsfähigkeit ('Dummheit') zugeschrie-

ben werden.

Wann immer in dem instruktiven Paradigma von 'Wissen' die Rede ist, dann liegt die-

sem Begriff ein aus den beschreibenden Naturwissenschaften der Neuzeit entlehntes

Verständnis zugrunde. Man geht davon aus, daß es ein richtigen Wissen gibt, daß

unabhängig von der konkreten Situation und von den beteiligten Personen vermittelt

werden kann. Man ist davon überzeugt, daß dieses Wissen in vorgelagerten Institu-

tionen vielfältig geprüft wurde und mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten kann.

Gerade das objektive Wissen ist es ja, was man dem Experten zugute hält. Und als

'objektiv' oder als 'wahr' gilt solches Wissen, welches unabhängig von den speziellen

Subjekten zu allen Zeiten und an allen Orten gilt. Voraussetzung dafür ist, daß es in

einer ebenfalls asymmetrischen Beziehung gewonnen wurde, auf deren einen Seite

der wissenschaftliche Experte und auf deren anderen Seite die Untersuchungsob-

jekte oder die zu untersuchende Umwelt stehen. Die Methodologie ist darauf aus,

möglichst wenig Wechselwirkung zwischen diesen beiden Polen zuzulassen und

statt dessen die Forschung als eine einseitige, unbeeinflußte Beobachtungshandlung

des Wissenschaftlers/Beobachters ablaufen zu lassen. Es geht eben um eine distan-

zierte, unpersönliche Form der Erfahrungsgewinnung. (Hierzu mehr in der Veran-

staltung 'Methoden der Kommunikativen Sozialforschung' im 5. Semester!)

27

Dies alles ist beim 'Erzählen' und den sich daraus entwickelnden therapeutischen

Interaktionsformen ganz anders. Hier geht es nicht um die äußere, sichtbare Umwelt,

sondern um das Selbst, die Innenwelt der beteiligten Menschen. Es sollen gerade die

Erfahrungen der erzählenden Person kollektiv verarbeitet werden. Das setzt voraus,

daß auch die subjektiven Bewertungen, die Emotionen, in welcher sprachlichen oder

gestischen oder mimischen Form auch immer, ausgedrückt werden. Der Gegenüber

tritt als Mensch gleich dem Erzähler auf. Er kann über die inneren Empfindungen des

Erzählers zunächst ja auch nicht besser Bescheid wissen als dieser selbst. Im Ge-

genteil: Nur insoweit, als der Erzähler etwas von sich Preis gibt, kann der Zuhörer

etwas über dessen (psychischen) Informationen erfahren. Jeder Beteiligte bleibt Ex-

perte für sich und Laie für den Gegenüber. Neue Erkenntnis kommt in diesem Setting

zustande, indem die geäußerten Informationen gemeinsam reflektiert werden. Es

wird also nicht über die Umwelt, sondern über das, was man in der Interaktion ge-

meinsam erzeugt hat, nachgedacht. Aus diesem Grunde nennt man diese Kommuni-

kationsform auch 'selbstreferentiell' oder 'selbstreflexiv'. Selbstreferentielle Kommu-

nikation setzt einen beständigen Tausch der Rollen voraus. In den einzelnen Phasen

wird der Experte zum Laien, der sich z. B. über die Probleme erst aufklären lassen

muß, und der Laie also zum besseren Kenner der Materie; dann wieder wird der Laie

zum Zuhörer und so fort. Im Gegensatz zur Instruktion muß geradezu vermieden

werden, daß sich die Intentionen eines Einzelnen ungebrochen durchsetzen, weil es

bedeutete, daß dieser in dem Gespräch nichts dazugelernt hätte - und folglich die

Informationen der übrigen Gesprächsteilnehmer brach gelegen haben. Je größer die

Anzahl der Beteiligten, um so bedauerlicher wäre ein solcher Ablauf. Zumal in Grup-

pengesprächen, wie z.B. in Teambesprechungen sollte das Ergebnis, wenn man sich

denn darauf geeinigt hat, das selbstreferentielle und kooperative Paradigma zu nut-

zen, deshalb immer etwas sein, was sich erst im Hier und Jetzt des Gesprächsab-

laufs durch die vereinten Anstrengungen aller Beteiligten herausbildet. Es liegt auf

der Hand, daß dieses Ergebnis nichts sein kann, was von Außen als fertiges Produkt

übernommen wird, also auch kein vorab gegebenes 'objektives Wissen' - und sei es

durch die Wissenschaften noch so bewährt. Vielmehr setzt hier die Einigung Selbst-

beobachtung voraus und diese kann jedes System nur individuell und mit je spezifi-

schen Ergebnissen leisten. Das in solchen Gesprächen gewonnene 'Wissen' gilt aus

diesem Grunde auch nicht als eine Information über die Umwelt, sondern als eine

solche über das System selbst. Ganz im Gegensatz zum traditionellen Verständnis

der beschreibenden Wissenschaften erscheint die Erkenntnis nicht als Produkt der

Umweltbeobachtung, sondern als Produkt der Selbstbeobachtung des sozialen Sy-

stems.

28

Die professionellen Ausdifferenzierungen der beschreibenden und der erzählenden

Kommunikation, also das schulische und wissenschaftliche Lernen und Lehren ei-

nerseits und die verschiedenen Formen der Therapie andererseits, haben lange Zeit

ziemlich unverbunden nebeneinander gestanden. 'Instruktion und Beratung' wurde

von der neuzeitlichen Gesellschaft immer positiv bewertet, 'Therapie' galt als eine

Veranstaltung für Kranke. Entsprechend haben sich Schule und Wissenschaft gegen

'therapeutische' Formen der Erfahrungsgewinnung und Kommunikation abgeschottet.

In der letzten Zeit hat man allerdings erkannt, daß es vielfältige Übergänge zwischen

diesen Interaktionsformen gibt. Phasenweise spielt selbstreflexives Lernen in der

Wissenschaft eine Rolle, und andererseits kommt man ohne die distanzierte be-

trachtende Erkenntnis auch in vielen therapeutischen Konstellationen nicht aus.

Diese Erkenntnis hat vor allem für die verschiedenen Formen der 'Beratung' weitrei-

chende Folgen. Sie führt zu einem klaren Verständnis ihrer Aufgaben und Besonder-

heiten.

Die Beratung als komplexe kommunikative Kooperationsform

Aus der Sicht der Kommunikationslehre ist die Beratung eine spezielle Art sozialer

Informationsgewinnung und -verarbeitung. Und zwar handelt es sich um eine Koope-

rationsform, die Leistungen der Instruktion und des Beschreibens einerseits und des

Erzählens und des therapeutischen Gesprächs i. w. S. andererseits miteinander ver-

knüpft. Sie ermöglicht die Integration von distanzierter Umweltbetrachtung und

selbstreflexiver sozialer Erfahrungsgewinnung. (Was das im einzelnen bedeutet, wird

die Vorlesung Schritt für Schritt klären!)

Natürlich ist eine solche Definition normativ. Sie geht von der Beschreibung der am

meisten entwickelten und erfolgreichen Formen von Beratung aus. Aufgrund der

professionellen Ausdifferenzierung deckt sich dieses Beratungskonzept auch nicht

mehr mit den alltagsweltlichen Vorstellungen von 'Beratung', wie sie z. B. in Zusam-

menfügungen wie 'Ringberatung', 'Steuerberatung', 'Pflanzenschutzberatung' u. ä.

zum Ausdruck kommen. Hinzu kommt, daß gerade das Wortfeld 'Beratung' in der

deutschen und in anderen Sprachen viele auch gegensätzliche Bedeutungen trans-

portiert. (Vgl. Volker Hoffmann: Beratungsbegriff und Beratungsphilosophie im Feld

des Verbraucherhandelns. Eine subjektive Standortbestimmung und Abgrenzung. In:

Die Qualität von Beratungen für Verbraucher; Frankfurt/New York 1985, S. 26-47

(Campus Forschung Bd. 462) sowie H. Albrecht u.a.: Landwirtschaftliche Beratung

Bd. 2, Arbeitsunterlagen, Abschnitt C 8; Eschborn 1988, S. 199-201 (Handbuchreihe

Ländliche Entwicklung) Entsprechend werden sich die alltäglichen Vorerfahrungen

29

der Studentinnen und Studenten in dem Phänomen 'Beratung' und das in dieser

Vorlesung und in diesem Fach überhaupt gelehrte Modell nicht sogleich decken.

Das sollte aber nicht verwundern und schon gar nicht als kritischer Einwand herge-

holt werden. Wenn sich Umgangssprache und Fachterminologie, Alltagsbegriffe und

die Modelle der Wissenschaften deckten, wäre die Wissenschaft nur eine Verdop-

pelung des Alltags. Weil dies nicht das Ziel sein kann, deshalb bedarf es bei den

Studierenden aller Disziplinen, zumal am Studienanfang, großer Anstrengungen, sich

von den umgangssprachlichen Selbstverständlichkeiten zu lösen und diese immer

wieder neu zu hinterfragen. Der 'Eigentums'- Begriff des Juristen ist ebensowenig

jener der Umgangssprache, wie es das Konzept der 'Zelle' des Biologen oder der

Begriff der 'Rentabilität' des Ökonomen ist. Und ebenso verhält es sich im Fach

Kommunikationslehre. Wenn im Alltag des Gartenbaus irgend etwas als 'Beratung'

bezeichnet wird, dann ist das aus der Sicht unserer Disziplin nicht mehr - aber auch

nicht weniger - als ein Datum, welches der Modellierung bedarf, nicht eine 'Descrip-

tio'. Und wenn man genauer wissen will, wie Gespräche funktionieren, wie erfolgrei-

che Beratungen ablaufen oder wie man selbst in solchen Gesprächen agiert, dann

bedarf es der Mikroanalyse. Um die bislang verborgenen Mechanismen zu erkennen,

muß man alternative Standpunkte einnehmen und das heißt, man muß Begriffe als

Suchraster verwenden, die man bislang in seinem Alltag nicht genutzt hat. Eine

solche alternative Sichtweise bietet das Beratungs- und Kommunikationsmodell, das

in den folgenden Sitzungen erläutert wird.

Wenn nun in die grundlegenden Modellvorstellungen eines Faches eingeführt wer-

den soll, dann ist es sinnvoll, von Standardfällen auszugehen.

So wird man die Wachstumsstadien beliebiger Zierpflanzenarten zunächst unter op-

timalen Temperaturbedingungen betrachten und lehren, ehe man auf die Besonder-

heiten ihrer Kultivierung in klimatischen Grenzregionen eingeht. Sollen botanische

Grundkenntnisse vermittelt werden, so müssen oft Arten als Beispiel herangezogen

werden, die im gärtnerischen Alltag eher eine untergeordnete Rolle spielen.

Dieses Prinzip gilt für die Kommunikationslehre in gleicher Weise und das hat zur

Folge, daß wir selten mit Beispielen aus der Praxis des Gartenbaus beginnen kön-

nen. Die moderne Beratung ist nicht im Obst- und Gemüsebau, von Floristen oder im

Garten- und Landschaftsbau entwickelt und auch nicht von Wissenschaftlern, die auf

diesem Gebiet arbeiten, am gründlichsten erforscht und beschrieben worden. Ihre

Wurzeln liegen in anderen Praxisbereichen und dort finden wir auch eher prototypi-

sche Exemplare, an denen wir ihre Systematik umstandslos aufweisen können.

Die Beratungsform, in der sich die Merkmale der Gattung am besten ausprägen, ist

die Supervision. Sie wurde als selbstreflexives Gespräch konzipiert und es gelingt ihr

in den letzten Jahren zunehmend besser, die Leistungen der therapeutischen Erfah-

30

rungsgewinnung und -vermittlung einerseits und der instruktiven andererseits mit-

einander zu verknüpfen. An ihren verschiedenen Ausprägungen (Arten) läßt sich der

kommunikationswissenschaftliche Begriff der Beratung am leichtesten exemplifizie-

ren. Ihre Geschichte zeigt, wie sich diese Kooperationsform langsam ausdifferenziert

und professionalisiert hat - und wo die Holzwege liegen, in die auch in der garten-

baulichen Praxis nicht abgebogen werden sollte.

Das ist eben der Vorzug, der sich einstellt, wenn eine Profession oder ein Fach, wie

in diesem Falle der Gartenbau, keine Vorreiterrolle besitzt: Sie/Es kann dann von

den teilweise schon lange zurückliegenden Experimenten und Erfahrungen in den

anderen Bereichen lernen. Und es gibt eben Bereiche, wo die Beratung von be-

stimmten Berufsgruppen schon seit Jahren institutionalisiert ist: nicht nur Ärzte und

Sozialarbeiter, auch die Abteilungsleiter und Führungskräfte in größeren Unterneh-

men werden in ihren Arbeitsverträgen dazu verpflichtet, regelmäßig an Einzel- oder

Gruppenberatungen teilzunehmen um ihre berufliche Kommunikation zu verbessern.

Die Beratungsform, die sich dabei am meisten durchgesetzt hat, ist die 'Supervision'

(andere Bezeichnungen: 'Coaching', 'Balint-Gruppen'). Es bietet sich von daher an,

auch in dieser Einführungsvorlesung von dieser Beratungsform auszugehen, sich mit

ihrer Genese und ihren Perspektiven zu beschäftigen und dabei ein klares Modell

zeitgemäßer Beratung überhaupt zu entwickeln. Dieses dient dann gleichzeitig als

ein Beispiel für ein Modell einer kommunikativen Kooperationsform - und insofern

gibt die Vorlesung auch eine Einführung in die Kommunikationslehre.

Zusammenfassung

Soziale Kommunikation dient der kooperativen Informationsgewinnung, -verarbeitung

und -darstellung.

Die grundlegenden komplexen kommunikativen Kooperationsformen sind das Er-

zählen, welches der sozialen Selbstreflexion individueller Informationen dient, das

Beschreiben/Instruieren und das Argumentieren.

Professionelle Ausdifferenzierungen dieser Kooperationsformen sind die Therapie,

die Schule und verschiedene juristische Veranstaltungen.

Die Beratung ist eine besonders komplexe Kooperationsform, in der soziale

Selbsterfahrung und Instruktion - und häufig als Teilprogramm auch die Argumenta-

tion - miteinander verknüpft werden.

Die gegenwärtig am meisten entwickelte Beratungsform in diesem Sinne ist die Su-

pervision. Andere Beratungsformen, auch solche im Gartenbau, lassen sich als Spe-

zifikationen von Ablaufschema und Setting der Supervision verstehen.

31

Die Abb. 17 arbeitet noch einmal die Spezifik von Selbsterfahrung und Instruktion

heraus und zeigt, wie die Vorteile beider Paradigmen in der Supervision und in ande-

ren Beratungsansätzen integriert werden können.

Literaturempfehlung:

M. Giesecke/K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialfor-

schung, Kapitel 1, Frankfurt 1997

33

Abb. 17: Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Lernens durch Selbsterfahrung, Instruktion und Supervision

Selbsterfahrung/Therapie Instruktion Supervision und Beratung

InformationsgewinnungLernen durch Erleben Kognitive Wissensvermittlung und

-aufnahmeBeides: Verbindung von Lernen durchErleben und Reflexion, die theoriegeleitetist

Ziele

Vermittlung von alternativen Selbstmo-dellen für Patienten/Klienten

Vermittlung von möglichst allgemeingül-tigem, `wahren´ Wissen

Vermittlung von Normalformmodellen alsProgramme für die Analyse des professio-nellen Alltags

Lernen durch Selbstreflexion über innereVorgänge und aktuelle Beziehungen in derGruppe

Distanzierte Betrachtung, klassische Sub-jekt-Objekt-Trennung

Beides: Perspektivenwechsel

der Lernen an Störungen, Fehlern und Abwei-chungen

Lernen am Idealtypus Beides: Mit dem Wissen über ideale Ab-läufe und Strukturen Informationen ausStörungen, Fehlern u.ä. ziehen können

Informationsverarbeitung Selbststeuerungsfähigkeit durch Aktivie-rung der blockierten Ressourcen erhöhen

Fremde Ressourcen werden aufgenommenund assimiliert

Beides: Was an fremden Ressourcen auf-genommen wird, wird selbstregulativgesteuert

Typisierung der Klienten

Klienten sind Individuen mit mehr oderminder defizienter Selbststeuerungsfähig-keit

Klienten sind Laien Klienten sind Fachleute ihrer Professionund Lernende in Sachen Psychodynamikprofessioneller Beziehungen, institutio-neller Dynamik, Kooperation und Kom-munikation

Therapeuten sind Fachleute für die Psy-chodynamik menschlicher Beziehungenund intrapsychischer Prozesse

Experten für fachliche Fragen BeraterInnen sind Fachleute für die Psy-chodynamik professioneller Beziehungenund institutioneller Dynamik

Typisierung der Professionals Therapeut ist Vorbild im Verstehen intra-psychischer und interpersoneller Prozesse

Vermittelte Inhalte haben nichts mit derForm der Vermittlung zu tun

BeraterIn verkörpert, was er/sie lehrenwill, sowohl durch die Art, sich Arbeits-bedingungen zu schaffen, als auch durchdie Art des Verstehens

Die Grundprobleme der Beratung und ihre Behandlungin den verschiedenen Schulen

(Kapitel 3)

Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht fallen vor allem 3 Probleme auf, die in

Beratungen in der einen oder anderen Form zu lösen sind:

1. Voraussetzung für jede erfolgreiche Beratung ist immer eine gemeinsame Defini-

tion des Beratungsziels zwischen dem Ratsuchenden und dem Experten. Norma-

lerweise ist der Beratungsgegenstand eher diffus und es bedarf einer besonderen

Phase in dem Gespräch, um zunächst einmal gemeinsam festzustellen, wo genau

der Schuh drückt. Es reicht nicht aus, daß der Klient nur ein Wissensdefizit ver-

spürt und ein Beratungsbedürfnis entwickelt.

33

Die Klärungsphase verlangt von dem Berater, daß er zuhören kann und in der

Lage ist, sich als eine Hebamme zu verstehen, deren Aufgabe es ist, das Problem

hervorzulocken. Hier gibt es Naturtalente unter den Experten, aber die sind eher

selten. Je unerfahrener der Berater ist, um so weniger kann er zuhören, um so

schneller wird in die Beratung eingestiegen und um so leichter gerät die Veran-

staltung zu einer quasi schulischen Wissensvermittlung oder Agitation. Da der Kli-

ent aber kein Schüler ist, wird er diese Rolle eben auch oftmals nicht akzeptieren,

spätestens dann nicht mehr, wenn der Berater/Lehrer die Tür hinter sich wieder

zugemacht hat.

Eine große Erleichterung für diese Anfangsphase des Gesprächs ist es, wenn es

der Berater schafft, den Ratsuchenden zu einer ausführlichen Erzählung über die

Geschichte und Umstände seines Problems anzuregen. Er kann als Zuhörer auf-

treten und die Hauptaktivität an seinen Gegenüber abgeben. Er hat Zeit, in Ruhe

alle notwendigen Informationen zu sammeln und der Klient wird sich im Fluß sei-

ner Rede oftmals erst richtig klar darüber, um was es ihm eigentlich geht.

Sowohl das Erzählen als auch das Zuhören läßt sich in Rollenspielen und didakti-

schen Übungen, z. B. in Form des 'Kontrollierten Dialogs' einüben. ('Narrative In-

terviews', die Student/Innen für ihre Seminararbeiten durchgeführt haben, bilden

hier schon eine gute Schulungsgrundlage.)

2. Die zweite wichtige Aufgabe bei jeder Beratung ist die Wissensvermittlung und

Praxisanleitung. Hierbei stellt sich das übliche schulische oder 'instruktive' Setting

ein: Wir haben auf der einen Seite den Laien und auf der anderen Seite den Ex-

perten, der versucht, durch mehr oder weniger ausführliche Beschreibungen ein

bestimmtes Wissensdefizit zu minimieren. Solche Beschreibungen setzen zu-

nächst eine Klärung der Standpunkte und Perspektiven des Gegenübers voraus,

um schließlich den kleinsten gemeinsamen Wissensstand zu finden. Von diesem

34

gemeinsamen Wissensstand ausgehend, kann der Experte dann die zusätzlichen

Informationen entwickeln. Er wird dabei stufenweise vorgehen, immer wieder Er-

gebnissicherung betreiben und Rückkopplungsmöglichkeiten schaffen.

Das Lernen der Expertenstandpunkte und -perspektiven bildet die Hauptaufgabe

des wissenschaftlichen Fachstudiums. Es qualifiziert den Experten, aber es er-

schwert es ihm natürlich auch später, mit Laien, die solche Programme nicht ge-

lernt haben, zu einer Verständigung zu kommen. Dieses Problem ist von der tradi-

tionellen Didaktik seit langem erkannt und sie hat verschiedene Lösungswege

aufgezeigt, die in einschlägigen Veranstaltungen und Trainings unserer Abteilung

vermittelt werden.

3. Während man das Instruktionsproblem zunehmend besser in den Griff bekommen

hat, stellt ein drittes Problem die Berater vor große Schwierigkeiten - wenn sie es

dann überhaupt erkennen. In allen Formen der Beratung, vom Fachvortrag über

das Coaching von Managern und die Supervision bis hin zur Lebenshilfe erweist

sich die Herstellung einer vertrauensvollen Sozialbeziehung als unerläßlich. Im

Gegensatz zum Instruktionssetting, das wir alle, die wir Schule und Hochschule

durchlaufen haben, bestens kennen, werden die sozialen Asymmetrien in den Be-

ratungen normalerweise nicht durch Sanktionsmechanismen reguliert. Einem Leh-

rer glaubt man, weil er staatlich approbiert ist. Wenn man ihm nicht glaubt, so folgt

man ihm wenigsten, solange er Zensurgewalt hat. Ein Berater hat solche Sankti-

onsmöglichkeiten in den seltensten Fällen und er ist auch nicht immer für seine

spezielle Aufgabe staatlich approbiert.

So kommt es dann zu dem Phänomen, daß Beratungen auf den ersten Blick er-

folgreich ablaufen - und dann die Ratsuchenden trotzdem etwas anderes machen,

als der Berater vorgeschlagen hat. Häufig gelingt es in den Beratungen nicht, ei-

nen guten Kontakt zwischen dem Experten und Laien herzustellen. Jeder Berater

hat sich vermutlich schon einmal gefragt, warum er in manchen Situationen ak-

zeptiert wird, in anderen, obwohl es um die gleichen Probleme geht, nicht. Woran

aber kann es liegen, daß die gleichen Vorschläge mal akzeptiert werden und mal

nicht, obwohl für die unterschiedlichen Entscheidungen keine 'rationalen' Gründe

zu finden sind?!

Je länger man im Geschäft ist, um so weniger kommt man um die Beobachtung

herum, daß es oftmals ähnliche 'Typen' von Klienten/Kunden sind, wo man

Schwierigkeiten hat, Vertrauen zu gewinnen und zu überzeugen. Ohne Vertrauen

kann es aber nicht zu einer Verständigung zwischen den Experten und dem Laien

kommen. Der Experte muß notwendig mehr wissen als der Laie, ansonsten wird

er als Berater überhaupt nicht akzeptiert. Wenn er aber mehr weiß, dann nehmen

Berater und Klient notwendig unterschiedliche Standpunkte ein und der Laie kann

nur vertrauen, daß ihm die gegebenen Informationen hilfreich sind - überprüfen

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kann er es nicht. Das kommunikative Grundparadoxon der Beratung ist so gese-

hen die Verständigung zwischen Personen, deren Standpunkte notwendig zu gro-

ßen Teilen wechselseitig uneinsehbar sind. Diese unterschiedlichen Standpunkte

und Perspektiven können nicht überwunden sondern nur vertrauensvoll akzeptiert

werden.

Die Grundprobleme faßt die Abb. 18 zusammen.

Abb. 18: Grundprobleme der Beratung und Lösungsmöglichkeiten auskommunikationswissenschaftlicher Sicht

Problem Lösungsweg zu erwerbende Kompetenz

1. GemeinsameDefinition desBeratungsziels

narrative Erhebung desBeratungsgegen-standes (Expertewird zum Laien, der den Klientenerzählen läßt)

Zuhören lernen, z.B. durch'Kontrollierten Dialog';Rollentausch

- Ergebnissicherung- Klärung der Zuständigkeit

2. Wissensvermittlungund Praxisanleitung

Beschreiben/Instruieren im 'Experte-Laie'-Setting- Klären der Standpunkte und Per-

spektiven des Gegenübers- vom kleinsten gemeinsamen

Wissensstand ausgehen- Rückkopplungsmöglichkeiten

schaffen

Fachwissen; Regeln dertraditionellen Didaktik, z.B.:- vom Besonderen zum

Allgemeinen und wiederzurück,

- stufenweises Vorgehenmit Ergebnissicherung

- Präsentations- undModerationslehre

Psychodynamik derInteraktionsbeziehungberücksichtigen- Metakommunikative Steuerung- Thematisieren von 'Störungen'

3. VertrauensvolleSozialbeziehungherstellen

KommunikativeSelbsterfahrung als Personund professionelle Rolledurch- Trainings

('Kommunikation undKooperation'),

- Supervision,- Systemische Beratung,

OE, Teamentwicklung

Paradoxien der Beratung: Der Experte muß notwendig mehr als der Laie wissen, umals Experte akzeptiert zu werden. Wenn er aber

mehr weiß, dann kann der Laie nur darauf vertrauen, daßdie ihm gegebenen Informationen hilfreich sind -

überprüfen kann er es nicht.Die unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven kön-

nen nicht überwunden sondern nur vertrauensvollakzeptiert werden.

36

Die verschiedenen Settings und Schulen von Beratung

Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, die empirische Vielfalt der Beratungsansätze

und -formen zu ordnen. Ich schlage drei Parameter vor.

A) Einmal lassen sich Beratungen auf einer Linie zwischen den Polen Instruktion ei-

nerseits und Selbsterfahrung/Therapie andererseits anordnen. Man kann sie also als

Integrationsprodukt verschiedener kommunikativer Interaktionsformen auffassen und

sie nach deren jeweiligen Anteilen differenzieren.

B) Zum anderen kann man sie danach unterscheiden, auf welchen Ebenen sozialer

Interaktion sie vorzugsweise arbeiten. Man hat dann die Beratungen im Spannungs-

feld zwischen den personenbezogenen Ansätzen einerseits und den gesellschafts-

bezogenen andererseits zu verorten.

Beide Systematisierungsmöglichkeiten habe ich schon angesprochen. Der Aufbau

der Vorlesung erfolgt im großen und ganzen der letzteren, auf die Unterschiede zwi-

schen Selbsterfahrung und Instruktion sind wir in der letzten Vorlesung eingegangen

(vgl. Kap. 1. und 2).

C) Schließlich ist das Verhältnis zwischen dem ratsuchenden System und dem Be-

ratersystem, also die Situierung des Beratungssystems in seiner Umwelt zu berück-

sichtigen.

Zu A)

Wer nicht, wie ich, von kommunikativen Kooperationsformen als theoretischen Rah-

men ausgeht, interpretiert diesen Parameter meist als ein Kontinuum zwischen direk-

tivem einerseits und nicht-direktivem Vorgehen andererseits. Typische Vertreter die-

ses Ansatzes sind Ronald Lippitt und Gordon Lippitt, zwei Autoren und Praktiker, die

in der amerikanischen Beratungsszene anerkannte Autoren sind. In ihrem Aufsatz

'Consulting Process in Action', der in dem Standardwerk von Burkhart Sievers (Hg.)

'Organisationsentwicklung' (Stuttgart 1977) übersetzt und abgedruckt ist (S. 93 - 115)

findet sich die folgende Grafik (Abb.19).

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Abb.19: Vielfältige direktive und nicht-direktive Rollen und Methoden internerund externer Berater

38

R. und G. Lippitt gehen davon aus, daß in wirklich komplexen langdauernden Bera-

tungen, die von erfahrenen Trainern durchgeführt werden, verschiedene Phasen

durchlaufen werden, in denen Berater und Klient unterschiedliche Rollen einnehmen.

Im einzelnen unterscheiden sie acht verschiedene Rollen des Beraters, die sie auf

einem Kontinuum zwischen 'zunehmend nicht-direktiv' und 'zunehmend direktiv' an-

ordnen. Je nach dem Konzept des Beraters, seiner Flexibilität und den Zielen der

Beratung werden diese einzelnen Phasen unterschiedlich stark ausgebaut sein -

oder entfallen gegebenenfalls ganz.

Die bei weitem direktivste Rolle, die ein Berater einnehmen kann, ist die eines Advo-

katen. "In einer 'Advokaten' - Rolle bemüht sich der Berater, den Klienten zu beein-

flussen." (Lippitt u. Lippitt in Sievers (Hg.) 1977, S. 107) Er möchte eben nicht nur

Wissen vermitteln, sondern die Rollendefinition und die Wertvorstellungen des Ge-

genüber beeinflussen. Dies erfordert, daß er über das instruktive Paradigma hinaus-

greift und das Gespräch, zumindest zeitweise, als 'Argumentation' ablaufen läßt. In

der Praxis der landwirtschaftlichen Beratung tauchen solche Konstellationen regel-

mäßig dann auf, wenn der Berater auch 'hoheitliche' Aufgaben zu erfüllen hat und als

'Advokat' der Kammern, der Europäischen Gemeinschaft etc. auftritt. Natürlich ent-

wickelt sich diese Rolle auch dann, wenn der Berater gleichzeitig als Vertreter einer

privaten Firma auftritt und er Interesse am Verkauf von bestimmten Produkten hat.

"Die traditionellere Beraterrolle", schreiben Lippitt und Lippitt, "ist die eines Speziali-

sten der aufgrund seines Fachwissens, Könnens und seiner beruflichen Erfahrung

entweder als interner Mitarbeiter eingestellt oder über einen Kontrakt gewonnen wird,

um so eine spezielle Aufgabe für eine Organisation zu übernehmen. Im Rahmen ei-

ner solchen Qualifikationsverbesserung des Klienten besteht seine Aufgabe vor al-

lem darin, den Problembereich und die Ziele der Beratung zu bestimmen. Demzu-

folge übernimmt der Berater solange eine direktive Rolle, bis der Klient mit dem je-

weils ausgewählten Ansatz zufrieden ist." (ebd., S. 107) Hier haben wir es also mit

dem Berater als einem Experten zu tun, der einem Laien die notwendige Instruktion

zur Lösung eines abgegrenzten Problems gibt.

Wie wir später sehen werden, propagieren die avancierten systemischen Beratungs-

sätze gegenwärtig eine genau gegenteilige Konzeption: Der Berater soll selbst keine

Interessen gegenüber seinen Klienten durchsetzen und auch nicht als Medium der

Informationsvermittlung zwischen dem Klienten und anderen gesellschaftlichen

Gruppen auftreten.

Zumeist zeigt sich im Zuge der Instruktion, daß der 'Schüler' zur Problembewältigung

nicht nur irgendwelche Informationen oder Ratschläge benötigt, sondern daß seine

Fähigkeiten und seine Person 'weitergebildet' werden müssen, um die für notwendig

erachtete Problemlösung überhaupt durchführen zu können. Im günstigen Falle wird

der Berater in solchen Phasen zu einem Lehrer. "Diese Rolle setzt auf seiten des

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Beraters besondere methodische Kenntnisse voraus, Lernen zu ermöglichen." (ebd.,

S. 108)

Wirkliche Beratungen enden ja nicht damit, dem Ratsuchenden einen Handlungsplan

zu geben - und ihn dann alleine zu lassen und die Beziehung abzubrechen. Vielmehr

wird der Ratsuchende darangehen, sein Problem praktisch zu lösen und er wird von

Zeit zu Zeit den Berater über seine Fortschritte informieren. In einer solchen 'aktiven'

Phase kann der Berater zu einem Mitarbeiter, die Beratung zu einem Arbeitsteam

werden. "In dieser Rolle ist der Berater an den Entscheidungen als Kollege beteiligt."

(ebd., S. 108) Er unterscheidet sich von dem Ratsuchenden dadurch, daß er die

auftauchenden Probleme versprachlichen kann, als sie in größere Zusammenhänge

stellt und versucht, den 'Überblick' zu behalten.

"Mit dem Treffen von Entscheidungen sind unmittelbare Kosten verbunden." (ebd., S.

108) Es ist eine Aufgabe des Beraters die verschiedenen Problemlösungen vom

Standpunkt eines distanzierten Betrachters aus zu bewerten und somit dem Ratsu-

chenden Kriterien an die Hand zu geben, die empirische Vielfalt von Handlungsmög-

lichkeiten für sich zu ordnen. In dieser Phase nutzt ihm Feldkompetenz und vor allem

wird er auf theoretische Modelle zurückgreifen, um die Fakten und Probleme zu

systematisieren. Besser als die Bezeichnung 'Erkenner von Alternativen' wäre für

diese Phase vielleicht: 'Klassifizierer von Problemtypen'. Seine Tätigkeit ist in dieser

Phase jedenfalls in erster Linie beschreibend und ordnend.

Was ein Problem ist, hängt davon ab, wie man die Dinge sieht, welche Informationen

man überhaupt über seine Umwelt erhebt. Häufig stellt sich ein Problem ganz anders

dar, wenn man bei der Wahrnehmung der Umwelt andere Kriterien anlegt, nach an-

deren Fakten sucht. Insoweit ist eine umfassende Informationsbeschaffung immer

eine Aufgabe im Beratungsprozeß. Umfassend ist sie in der Praxis dann, wenn alter-

native Informationen erhoben und alternative Selektionskriterien verwandt werden.

Schon dadurch stellt sich dem Ratsuchenden dann das Problem in einem anderen

Licht dar oder es wird überhaupt zu einem anderen Problem. Dies erleichtert es

dann, Lösungen zu finden, die weniger harte Kosten nach sich ziehen, als jene, die

der Ratsuchende anfangs nur vor sich sah, und die ihn veranlaßt haben, nach Hilfe

zu suchen. In dieser Phase "fungiert der Berater in erster Linie als Forscher", der

versucht "Informationen für eine Problemlösung durch den Klienten zu erhalten."

(ebd., S. 109)

In der siebten Phase zielt der Berater (Verfahrensspezialist) darauf ab, "gemeinsam

mit dem Klienten solche diagnostischen Fertigkeiten zu entwickeln, die eine Bear-

beitung spezifischer und wichtiger Probleme ermöglicht; sein Hauptaugenmerk richtet

40

er darauf, wie gearbeitet wird und weniger, woran gearbeitet wird. Er hilft dem Klien-

ten, zwischenmenschliche Fähigkeiten, Gruppenfähigkeiten und Ereignisse mit auf-

gabenorientierten Tätigkeiten miteinander zu verbinden." (ebd., S. 109) Es geht also

um die Prozeßreflexion und zwar soll der Prozeß als soziale Interaktion begriffen

werden. Natürlich wird nur derjenige Berater in dieser Phase Erfolg haben, der es

versteht, seine Beratung selbst nach den Kriterien zu gestalten, die er in der prakti-

schen Tätigkeit des Ratsuchenden gerne wiederfinden möchte. Gruppendynamische

und interaktionspsychologische Kenntnisse sind hier ebenso unverzichtbar wie eine

ausreichende kommunikative Selbsterfahrung.

In der letzten Phase wird die Reflexion über den eigentlichen Beratungsprozeß hin-

aus auf dessen Rahmenbedingungen das Setting und gegebenenfalls auch auf die

Beratungssituation selbst ausgedehnt. "In dieser Rolle ist der Berater eher eine Art

Philosoph [Reflektor], der die Dinge überblickt und durchschaut." (ebd., S. 110)

Die Unterscheidungen von R. und G. Lippitt überzeugen nicht immer. Ihnen liegt

selbst keine Theorie, sondern nur eine, offenbar überkomplexe Erfahrung zugrunde.

Nachdem wir mehr über den selbstreferentiellen Charakter von Beratungen gehört

haben, werden wir die einzelnen Phasen besser auseinanderhalten können. Sie sind

an dieser Stelle ein guter Einstieg, weil sie ziemlich unmittelbar an unseren alltags-

weltlichen Vorstellungen von Beratung anknüpfen.

Zu B)

Die nachfolgende Auflistung faßt noch einmal die wichtigsten Ebenen zusammen,

auf denen die unterschiedlichen Typen von Beratung wirken wollen. Sie gibt die Ty-

pisierungen der Rolle des Beraters und des Ratsuchenden an und sagt, wie diese

konstitutive Asymmetrie im Beratungsprozeß minimiert werden soll.

Die verschiedenen Settings von Beratungen

1) Personen- und interaktionsbezogena) strikt personenbezogen

Beispiel: Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Körperarbeit (Bio-Feedback),Sensitivity-Training, Einzeltherapien, Mind-MappingLeistung: Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung

b) interaktionszentriertBeispiel: Transaktionsanalyse, Paartherapie, Interpersonal perception method(R. D. Laing)Leistung: Klärung der Selbst- und Fremdbilder, Beziehungsanalyse

c) Mischformen: Klientenzentrierte Gesprächsführung (Rogers und die ‘Humani-stische’ Psychologie); Berater- und interaktionszentriert: Psychoanalyse

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2) Gruppen- und familienbezogena) gruppenbezogen/gruppendynamisch

Beispiel: Lewin, Bion, Heigl-EversVerschiedene Gruppenkonzepte, aufgabenbezogen (T-LABs) oder minimal-strukturiert (Selbsterfahrungsgruppen), häufig jedoch Auflösung in Dyaden.Leistung: Klärung der Position des Einzelnen in unterschiedlichen Gruppenbe-ziehungen, Leistungsvorteile der Kooperation etc.

b) familienbezogenBeispiel: verschiedene Formen der FamilientherapieLeistung: Klärung der Position des Einzelnen im Familiensystem und derStrukturen und Dynamik dieses Systems

3) Berufs- und organisationsbezogena) rollenbezogen, meist im eigenen Setting als externe Beratung

Beispiele: Supervision, Coaching, RollenverhandelnLeistung: Klärung von Problemen in der beruflichen Interaktion (Fallarbeit) odervon Arbeitsbeziehungen zwischen den Teammitgliedern.Berücksichtigen des ‘institutionellen’ Aspekts sozialen Handelns.

b) institutions- bzw. organisationsbezogen (im Setting der Institution)Beispiele: Organisationsentwicklung (French/Bell), systemischeManagementberatung, lernende OrganisationLeistung: Erhöhung der Selbst- und Umweltreflexion derOrganisation; Wiederherstellen der Fähigkeit zur Selbstregulation;

4) Gesellschaftlich ausgerichtete BeratungBeispiele: Entwicklungshilfe, Kulturmanagement, Moderation zwischen gesell-schaftlichen Interessengruppen (open space u.ä.)Leistung: Verbreitung kultureller und technischer Innovationen (aus einem Sy-stem/Land in andere); Förderung des Verständnisses zwischen Kulturen bzw.zwischen gesellschaftlichen Subsystemen, Schaffung von Ökosystemen.

5) Integrative BeratungsansätzeBeispiele: Supervision mit Programmwechsel; Systemisches ManagementLeistung: Verknüpfungen der verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erle-bens in sozialen Interaktionen/Organisationen. Integration verschiedener Sy-stemtypen.

Bei der Erläuterung der verschiedenen Ebenen bin ich immer von der eher 'nicht-di-rektiven' Beratung ausgegangen. Man kann diesen Parameter natürlich auch mitdem instruktiven Pol des ersten Parameters (A) verknüpfen - und das tun die Bera-tungspraktiker ebenfalls. Eine 'personenbezogene' eher - 'direktive' (instruktive) Be-ratung wäre dann so etwas wie ein Nachhilfeunterricht. Direktive (externe) OE -Maßnahmen wären etwa die bekannten Kienbaum-Gutachten und deren Konse-quenzen. Bei diesen Ansätzen besteht keine Tendenz zur Minimierung der Asymme-trie zum Rollentausch und zu einem extensiven Feedback.

zu C) Grundsätzlich ist zwischen dem Berater (BS), dem Ratsuchenden (RS) unddem zwischen beiden vermittelnden Beratungsgespräch (RBM) zu unterscheiden.

42

(Vgl. Giesecke/Rappe-Giesecke 1997, S. 654ff). Nur im einfachsten Fall, in dem eineeinzelne Person für sich bei einem einzelnen Berater um ein Gespräch nachsucht,kann das Beratungssystem alle Beteiligten problemlos aufnehmen. Werden Institu-tionen beraten, gehen i.d.R. nur Teile des ratsuchenden Systems (RS) in das Bera-tungssystem (RBM) ein. Handelt es sich um größere Beraterfirmen, gehen auch nurTeile des Beratersystems in das Gesprächssystem ein. Es ist dann immer zu klären,auf welche Weise die nicht am Gespräch Beteiligten in den Beratungsprozeß einbe-zogen werden sollen.Prinzipiell bestehen 3 Klassen von Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen Beraterund ratsuchendem System zu klären: Der Berater kann sich zeitweise in das ratsu-chende System integrieren und in dessen Räumen und Subsystemen mitarbeiten.(Gelegentlich halten sich Unternehmen auch fest angestellte, sogenannte ‘interne’Berater.) Für die Beratung von großen Organisationen können für begrenzte Anlässeund Zeiträume spezielle Beratungssysteme (Lenkungssysteme, Projektgruppen u. ä.)eingerichtet werden, deren Strukturen durch die gemeinsam von Beratern undRatsuchenden festgelegten Aufgaben bestimmt werden.Drittens können einzelne Personen (mit oder ohne Wissen der Organisationen, indenen sie arbeiten) in klassische Beratungssettings, die von Beratern strukturiert undangeboten werden, kommen. Hier liegt die Prozeßverantwortung schwerpunktmäßigbei den Beratern.Die Abb. 20 faßt die Grundtypen der Beziehung zwischen Berater, Ratsuchenden(Klientensystem) und dem Beratungssystem zusammen.

Abb. 20: Das Verhältnis zwischen Berater, Ratsuchenden und Beratungs-system

Berater werden zeitweise inSubsysteme der ratsuchenden

Organisation integriert.

BeraterInnen und Angehörigedes ratsuchenden Systems bil-

den ein spezielles Beratungssy-stem

Ratsuchende integrieren sich invom Berater strukturierte Bera-

tungssysteme(externe Beratung)

ModerationKlassische Unternehmensbera-

tungSeminare und Workshops

Personalentwicklung, Weiterbil-dung usf. durch interne Berater

In der Organisation vernetzteOE-Projekte, z. B. Steuerungs-

gruppen, die eine eigene Struk-tur und Dynamik entwickeln und

in der Lage sind, die Organi-sation widerzuspiegeln

CoachingTeamsupervision

Externe Seminare

Die personen- und interaktionszentrierten Beratungsansätze:S. Freud und der Beginn der selbstreferentiellen

psychoanalytischen Beratung(Kapitel 4)

In der letzten Vorlesung haben wir 'Beratungen' u.a. nach der sehr üblichen

Unterscheidung von 'mehr' oder 'weniger direktiv' differenziert. Wenn wir uns nun in

diesem Sinne mit den personenzentrierten Ansätzen beschäftigen wollen, so können

wir entweder bei einem direktiven oder bei einem non-direktiven Beispiel ansetzen.

Ersteres wäre die Beratung eines Gärtners durch einen Vertreter eines

Saatzuchtbetriebes, der bestimmte Produkte an den Mann bringen muß, um seine

Verkaufsstatistiken aufzubessern. Der Berater weiß, was er will, der Gärtner ist

unsicher. Die Rolle des Beraters ist durch ökonomische und andere Faktoren

abgesichert, vielleicht gibt es Verträge oder Kreditverpflichtungen, die den Gärtner an

den Betrieb binden. Vermutlich hat der Verkäufer irgendwann einmal ein

Verkaufstraining absolviert und weiß um die Techniken erfolgreichen Auftretens und

überzeugender Rhetorik.

43

Schon diese Schilderung ist absolut dem personenbezogenen und

handlungstheoretischen Paradigma verhaftet. Es geht um die Intentionen des

Beraters. Er hat ein Programm und ein Ziel und ähnlich wie es das Modell

zweckrationalen Handelns vorschreibt, wird die soziale Situation 'Beratung' als ein

planmäßiges Einwirken der einen Person auf ein Objekt beschrieben - und

möglicherweise auch so von dem Berater gestaltet. Natürlich kann man auch in der

gleichen Weise über den Ratsuchenden sprechen. Auch er verfolgt Absichten und

behandelt sein Gegenüber als eine informative Umwelt.

Typisch für alles handlungstheoretische Denken ist, daß soziale

Interaktionssituationen immer so auseinandergerissen werden, daß schließlich nur

noch die isolierten Individuen übrigbleiben, die auf Personen in ihrer Umwelt

genauso einwirken, wie auf jede andere Umwelt. Die speziellen Mechanismen der

Interaktion werden reduziert auf das Handeln der Personen. Entsprechend erfahren

wir wenig über die Strukturen des gemeinschaftlichen Gesprächs.

Mit dieser Form der Beratung und mit dieser Form eines beratungsmethodischen

Denkens wollen wir uns jetzt nicht beschäftigen. (vgl. aber die T-LABs 1 und 5!)

Vielmehr wollen wir uns auf den von Lippitt und Lippitt 'Non-Direktiv' genannten

Ansatz konzentrieren und dabei genauer herausarbeiten, was unter diesem Merkmal

aus einer informationstheoretischen Perspektive zu verstehen ist. Wir haben ja

bislang die Pole dieses Parameters schon ganz verschieden charakterisiert:

Instruktion - Selbsterfahrung

Schule - Therapie

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Beschreiben - Erzählen und eben

direktiv / non-direktiv.

Strikt informationstheoretisch gedacht, dreht es sich um die Unterschiede zwischen

fremdreferentieller und selbstreferentieller Erfahrungsgewinnung. Es ist dies eine

dem handlungstheoretischen und personenbezogenen Paradigma gänzlich

entgegengesetzte - und sie deshalb auch ergänzende - Sichtweise.

Die Mängel der direktiven Beratung und die Anfänge der selbstreferentiellen

Therapie

Die Entdeckung des selbstreferentiellen kommunikativen Paradigmas und der

entsprechenden Beratungspraxis liegt erst etwa 100 Jahre zurück. Sie erfolgte auf

dem therapeutischen Terrain durch den Wiener Arzt Sigmund Freud (1856-1939).

Eine Grunderfahrung Freuds war, daß eben nicht alle Probleme einer Person oder

einer sozialen Interaktion direktiv gelöst werden können: Wenn man einem

'Nägelkauer' sagt, er solle aufhören, tut er dies vielleicht für einen Moment - und

beginnt dann doch einige Augenblicke später erneut. Macht man ihn auf diese

Tatsache aufmerksam, schreckt er vielleicht zusammen: ihm war es völlig unbewußt,

daß er die Finger schon wieder in den Mund geführt hat. Diese Handlungen, wie viele

andere auch, laufen hinter dem Rücken der Beteiligten und von diesen unbemerkt ab

und das ändert sich auch nur wenig, wenn man sie gelegentlich thematisiert. Freud

hat daraus die Erkenntnis abgeleitet, daß der Mensch nicht Herr im eigenen Hause

ist - oder genauer: daß das Bewußtsein nicht die einzige Instanz in uns ist. Daneben

gibt es viele Programme und Informationen, die uns, wie er sagt 'unbewußt' sind.

Informationstheoretisch kann dies auch positiv und damit weniger provokativ

ausgedrückt werden: der Mensch ist nicht nur ein einfaches kompaktes

informationsverarbeitendes System mit einem Wahrnehmungsorgan, einem Speicher

und einem internen Prozessor, sondern er besteht aus mehreren solcher Systeme.

Freud selbst hat drei Systeme oder 'Instanzen' unterschieden und sie das 'Ich', das

'Es' und das 'Über-Ich' genannt. Diese Subsysteme interagieren miteinander und erst

als Resultat entsteht das, was wir als menschliche Persönlichkeit beschreiben und

was Freud dann 'Selbst' genannt hat. Das 'Ich' entspricht in etwa dem, was wir uns

unter unserem biographisch gewordenen Bewußtsein vorstellen. Es ist durch

sprachliche Interaktion gewachsen und drückt sich in Sprache aus. Das 'Es' wird von

ihm als biogene, triebhafte, affektive Seite unseres Wesens geschildert. Es besteht

aus den gattungsgeschichtlich älteren Teile unseres Nervensystems und steuert

unsere Bewegungen und grundlegenden Emotionen. Das 'Über-Ich' schließlich

macht die soziale Seite unseres Wesens aus. Es entsteht als Übernahme sozialer

Normen.

45

Die Unterscheidungen sind im einzelnen schwierig und Freud selbst hat auch immer

wieder neue Formulierungen für die drei 'Instanzen' gefunden. Wesentlich ist in

diesem Zusammenhang jedenfalls, daß der Mensch in drei Subsysteme aufgelöst

wird, die untereinander in einem Spannungsverhältnis, in Interaktion stehen. Jedes

Verhalten, was wir als Berater oder als Alltagsmenschen beobachten können, ist das

Produkt der Integration der Anstrengungen unterschiedlicher Instanzen. Das

menschliche Verhalten ist nicht nur durch dessen biographische Geschichte, sondern

ebenso auch durch die sozialen Normen und seine natürliche (biologische)

Gattungsgeschichte bestimmt.

Zwar kann man 'selbst' Informationen über seine Lebensgeschichte, sein

Gefühlsleben und seine sozialen Beziehungen sammeln und versprachlichen, aber

dieser Prozeß der 'Aufklärung' ist mühsam, unabschließbar und er erfaßt stets nur

'Kontinente auf dem Meer des Unbewußten' (Freud). Das liegt nicht nur daran, daß

wir einfach über zu viele innere Informationen und Programme verfügen, sondern

auch daran, daß es uns unangenehm ist, bestimmte Dinge zu erinnern und zu

erkennen. Wir haben, so lautet der Terminus bei Freud, 'Widerstände'. Es bereitet

uns Schmerzen, an bestimmte Ereignisse zurückzudenken; wir vergessen wichtige

biographische Informationen, wenn dies einer inneren Instanz Mühen erspart.

Mit direktiver Kommunikation, also z. B. mit Nachfragen, kommt man in solchen

Situationen nicht weiter und selbst behutsameres didaktisches Vorgehen nutzt nichts,

wenn sich beim Gegenüber in der betreffenden Situation oder in der

Lebensgeschichte solche Widerstände aufgebaut haben.

Nun war Freud in seiner Praxis als Arzt beständig und möglicherweise mehr als der

Normalbürger mit solchen schwierigen Gesprächspartnern konfrontiert. Um ihnen

überhaupt helfen zu können, mußte er selbst erst einmal seine eigenen Widerstände

überwinden und der Tatsache ins Auge sehen, daß der Mensch nicht so 'bewußt'

handelt, wie dies die neuzeitliche Aufklärung - auch eine und zwar ziemlich direktive

Beratungsbewegung - seit langem gepredigt hatte. Es war und ist eigentlich bis

heute noch für die meisten Menschen 'kränkend' zu erfahren, daß es in ihnen viele

'unvernünftige' Antriebe gibt und daß ihrem liebsten Organ, dem Verstand, doch

enge Grenzen gesetzt sind. Im zweiten Schritt mußte er dann eine Methode

entwickeln, die es ihm ermöglichte, auch dann etwas über die Programme zu

erfahren, wenn seine Gegenüber ihm darüber nicht sprachlich begrifflich Auskunft

erteilen konnten.

Diese Aufgabe führt ihn zur Entdeckung einer speziellen, wie ich sage:

selbstreferentiellen Therapieform.

Was sind die Kennzeichen dieser Methode für ein helfendes Gespräch?

1. Nutzung der multisensuellen Selbstwahrnehmung zur Erkundung des Klienten.

46

Zunächst einmal wendet sich Freud gegen die Reduktion unserer Sinnesorgane auf

die 'äußeren' Ohren und Augen und fordert Berater und Klient dazu auf, alle

vorhandenen Informationsquellen zu nutzen.

Die Umwelt löst in uns nicht nur auf der Netzhaut, sondern auch in unserem Inneren,

z. B. im Magen, an den Nieren, im Herzen usw. Reize aus, die dann wahrgenommen

und weiterverarbeitet werden können. Die Beobachtung der eigenen inneren

Reaktionen auf den Gegenüber sind für Freud in allen kritischen

Beratungssituationen der Hauptweg intersubjektiver Erkenntnis. Weil sich der Andere

in unserem Körper, in unseren Gefühlen und Gedanken spiegelt, in uns Irritationen

auslöst und/oder Strukturen verstärkt, deshalb können aus der Selbstwahrnehmung

Informationen über die Umwelt gesammelt werden. Wenn man zugespitzte

Formulierungen mag, könnte man sagen, Freuds Ansatz ist berater- und nicht

klientenzentriert.

2. Nutzung unbewußter Diagnoseressourcen

Die künstliche Begrenzung auf das gesprochene Wort und auf die 'äußeren' Ohren

und Augen als Medien der Erkenntnis gilt es vor allem immer dann zu überwinden,

wenn Informationen kommuniziert werden sollen, die nicht klar bewußt und in

standardsprachlichen Sätze übertragbar sind. Abkürzend spricht Freud davon, daß

man das 'Unbewußte' als Erkenntnisorgan einsetzen muß. Er plädiert insoweit auch

gegen die Entfremdung des Menschen von seinen Gefühlen. Und er steht damit in

bester Tradition. "Das Herz hat ein Verstehen, das der Verstand nicht kennt!" hatte

Blaise Pascal (1623-1662) ganz zu Beginn der französischen Aufklärungsbewegung

festgestellt. Die späteren Kommunikations-, Erkenntnis- und Lerntheorien haben

darauf wenig Rücksicht genommen.

Diese Einführung des Affekts in die Beratung beschränkt sich aber nicht nur auf die

Sinnesorgane, sondern sie bezieht sich auch auf die soziale Situation: Alle sozialen

Beziehungen, auch die Beratungsbeziehungen sind affektive Beziehungen. Als

Medien werden nicht nur die Sprache, sondern das gesamte leibliche Verhalten der

beteiligten Personen genutzt.

3. ‚Lernen‘ und Kommunizieren als Übertragungsleistung

Drittens geht Freud davon aus, daß sich Lernen vor allem als eine 'Übertragung' von

sozialen und psychischen Mustern der Kommunikation und der

Informationsverarbeitung von einer Situation auf eine lebensgeschichtlich spätere

vollzieht. Besondere Bedeutung kommen dabei den frühkindlichen Erfahrungen in

der Familie zu. Hier lernt das Kind in der Interaktion mit dem Vater, der Mutter und

den Geschwistern Normalformen der Interaktion und Informationsverarbeitung, die es

in späteren Lebensjahren modifizieren und im Alltag nutzen kann.

47

Als eine wichtige Aufgabe jeglicher Therapie sah es Freud an, diese alteingeübten

familiären Interaktionsmuster zu rekonstruieren, bewußt zu machen. Die frühen

Sozialbeziehungen und ihre Konflikte sollen noch einmal erlebt und beschrieben

werden. Dies mag zumeist als aufregende Entdeckungsreise ablaufen, aber es

kommt auch immer wieder, wie schon erwähnt, zu Widerständen gegen die

Thematisierung dieser länger zurückliegenden Erfahrungen und der damals

ausgelösten Affekte. Freud war der Auffassung, daß sich solche 'Widerstände' dann

am ehesten überwinden lassen, wenn einerseits eine vertrauensvolle Beziehung

zwischen dem Berater und seinem Patienten aufgebaut ist und andererseits der

Leidensdruck bei dem letzteren mächtig genug ist. Das wird dann der Fall sein, wenn

der Ratsuchende in der aktuellen sozialen Interaktion immer wieder scheitert, weil er

unfähig ist, sich von den einmal gelernten Programmen wieder zu lösen. Störungen

im Sozialkontakt erscheinen Freud als eine Folge der Erstarrung von Programmen

und ihre Übertragung in unpassende soziale Situationen.

4. ‚Deutungen‘ als Hauptform der Intervention des Beraters

Die Aufgabe des Berater ist es, solche erstarrten Programme und unpassenden

Situationsdefinitionen aufzuspüren und sie als eine Wiederholung von

lebensgeschichtlich länger zurückliegenden Interaktionserfahrungen zu deuten.

Solche Deutungen setzen in aller Regel voraus, daß auch im Hier und Jetzt der

Beratungssituation die starren Programme und Typisierungen angewendet werden.

Es kommt zu Spiegelungen des Interaktionsgeschehens, in das der Ratsuchende im

Alltag verstrickt ist, in der Beratungssituation selbst. Eine gelungenen Intervention

des Beraters (Deutung) zeichnet sich dadurch aus, daß sie eine Beziehung zwischen

drei Interaktionssituationen herstellten: frühkindlichen oder lange zurückliegenden

Ereignissen; Situationen die der Ratsuchende in der Gegenwart oder der näheren

Vergangenheit als leidvoll, peinlich oder ähnliches erlebt, und von der er während der

Beratung/Therapie erzählt hat, und schließlich die Beratungssituation selbst.

Damit es zu solchen Spiegelungen in der Beratung kommen kann, muß der Berater

ein Stück weit mitspielen, die an ihn herangetragenen Typisierungen übernehmen

und versuchen, sich mit den Selbst- und Fremdbeschreibungen des Klienten

probeweise zu identifizieren. Die während solcher Probeidentifikationen ausgelösten

Affekte sind ein wichtiger Wegweiser zu den Programmen des Ratsuchenden. Es

geht also in dieser Phase nicht darum, daß der Berater sich distanziert und

betrachtend abseits hält, sondern je mehr er selbst in das Geschehen einbezogen

ist, um so eher eröffnet sich ihm die Möglichkeit, sich in die Psychodynamik seines

Gegenübers hineinzuversetzen und die Soziodynamik der Beratung zu reflektieren.

Aber natürlich birgt ein solches Vorgehen auch Gefahren. Es kann sein, daß er die

an ihn herangetragenen unpassenden Programme akzeptiert und dann jenes Spiel

48

mitmacht, an dem der Ratsuchende leidet. (Gegenübertragung) Freud selbst war der

Auffassung, daß ein abstinentes Verhalten des 'Analytikers' am besten dazu geeignet

sei, den Patienten zu Wiederholungen, zu Projektionen und zur Übertragung von

Interaktionsstrukturen anzuregen. Je weniger der Berater/Therapeut von sich selbst

zeigt, um so mehr muß der Ratsuchende in ihn hineininterpretieren - und, so folgerte

Freud, er wird auf diese Weise auch leichter seine stereotypen Rollen- und

Ablauferwartungen anbringen.

Wenn sich die psycho- und soziodynamischen Programme in der therapeutischen

Situation wiederholt haben, dann sind sie auch einer gemeinsamen Beobachtung

durch den Berater und den Ratsuchenden zugänglich. Phasenweise wird die

Beratung als eine soziale Selbstreflexion gestaltet. Sie ermöglicht es, zuvor latente

Programme durch kollektive Anstrengungen ans Licht zu heben.

'Lernen' erscheint in diesem Kontext als die individuelle Aneignung gemeinsam,

kommunikativ erzeugter Erfahrungen. Was der Einzelne von diesen kollektiven

Thematisierungen akzeptiert und für seine weiteren Handlungen nutzt, ist letztlich

nicht vorauszusehen. Individuelles, psychisches Lernen ist eine Selektion aus

sozialen Erfahrungen.

Ziel der von Freud so genannten 'Psychoanalyse' ist die Aufdeckung solcher latenten

Programme individueller Informationsverarbeitung und sozialen Verhaltens. Sie

ermöglicht es, den Wiederholungszwang zu durchbrechen: der Ratsuchende braucht

dann in den verschiedenen Konstellationen des sozialen Alltags nicht immer wieder

auf die gleichen, mäßig erfolgreichen Programme zurückgreifen. Er ist frei, sich auch

anders zu verhalten und gewinnt eine neue Flexibilität im Umgang mit seinen

Mitmenschen und seinen Gefühlen.

Zusammenfassung der Leistungen von S. Freud

1. Menschenbild

Der Mensch ist ein komplexes informationsverarbeitendes System mit 3 parallel

arbeitenden und miteinander kommunizierenden Prozessoren (Instanzen). Input wird

mehrfach verarbeitet und out-put ist ein Integrationsprodukt. (Gegenteil: triviale

Maschine) 3 Instanzen bilden unser Selbst

Über-Ich

Ich Es

49

Oder: Die Menschen als Ökosysteme, die biogene, psychische und soziale Systeme

integrieren.

Im Es (Unbewußten) haben die Hauptsätze der Logik keine Geltung: Es gibt kein

‘Nein’, Gegensätze sind gleichwertig.

2. Erkenntnis- und Kommunikationstheorie (Vgl. a. 6.)

❐ Unbewußtes (Gefühl, innere Sinne, 3. Ohr) als Erkenntnisorgan;

❐ Kommunikation als Spiegelung (Übertragung, Gegenübertragung) des Anderen

im Selbst und umgekehrt;

❐ Selbstwahrnehmung und die gemeinsame Reflexion in der Interaktion als

Medium der Erkenntnis des Anderen/der Umwelt.

3. Kultur- und Gesellschaftstheorie

❐ Mensch und Gesellschaft sind Teil der Natur. Sozialbeziehungen sind affektive

Beziehung.

❐ Menschliches Handeln ist triebhaft und ambivalent, weil durch 2 gegensätzliche

Triebe bestimmt:

- Eros (Verschmelzung, Fortpflanzung, Symbiose, Bilden von größeren

Einheiten)

- Thanatos/Destruktion (Trennen, Auflösen, Zerstören, Töten) 1

❐ Kulturelle Leistungen als Sublimation (Verschiebung) von Triebenergien.

4. Psychologische Entwicklungstheorie

- orale Phase (ca. 0-1,6 J.)

erogene Zone: Mund

- anal (ca. 1,6-3 J.)

erogene Zone: After

- phallisch (ca. 3-5 J.)

erogene Zone: Genitalien

→ ödipal bei Jungen; Penisneid bei Mädchen

- Latenzperiode (ca. 5-12 J.)

erogene Zone: keine, Interesse an Umwelterkundung

- pubertär-genitale Phase (12-20 J.)

erogene Zone: Genitalien

Das Sexualobjekt wird ein gegengeschlechtlicher Partner außerhalb der Familie.

Achtung: Männliche Sexualität als Orientierungsmaßstab!

1 Weniger dramatisch kann man auch von der Synthese und Analyse als den beiden Grundoperatio-nen menschlicher Informationsverarbeitung sprechen.

50

Abb. 21: Affektive psychosoziale Kompetenzen in drei grundlegendenInteraktionskonstellationen

psychosozialeKompetenz

erforderliche psychosoziale Kompetenzen deutliche Anzeichenunzureichender

In bestimmtensozialen

Zulassen bestehenderGefühle

Aktivitäten(flexible Abwehr)

psychosozialerKompetenzen

Situationen (rigide Abwehr)präödipale

Situation

ödipaleSituation

reflexiv-interaktionelle

Situation

Sehnsucht nach Fusion, Angstvor Individualitätsverlust (Zerstörungder Identität); Abhängigkeit vomGruppenleiter

Wunsch, allein den Gruppenleiter zubesitzen, Rivalität mit den anderenum den Gruppenleiter, Angst vor demGruppenleiter wegen sexuell-erotischer Wünsche ihm oder denanderen Teilnehmern gegenüber

Eingeständnis der schmerzlichenNotwendigkeit, auf die eigenen Kräftezu vertrauen, Auseinandersetzungmit Gleichrangigen und der Proble-matik der Geschlechtsidentität

abwechselnd und vor-übergehend: Kampf,Flucht, Abhängigkeit

Zurückstellen individuellerVersorgungswünsche;Zusammenschluß mitGleichrangigen gegenGruppenleiter

vorübergehender Wunschnach idealen Verhältnissenund völliger Harmonie, zu-gleich: zunehmendeVersuche derBeziehungsklärung zwi-schen den Teilnehmernund zwischen den Ge-schlechtern

Verleugnung der Si-tuation, rigide Abwehr,entweder:- Flucht oder- Kampf oder- Scheinharmonie

Verleugnung von Riva-lität, Angst vor demGruppenleiter, Beharrenauf individuellerVersorgung. Verleug-nung sexuell-erotischerWünsche

extremer Wunsch nachAnleitung durch denGruppenleiter,übermäßige Aggres-sionsausbrüche (Kampf),übermäßige Passivität(Flucht)

(nach: Dieter Sandner/Dieter Ohlmeier: Selbsterfahrung und Schulung psychosozialer Kompetenz inpsychoanalytischen Gruppen. In: D. Eicke: Freud und die Folgen. Bd. II (Psychologie des XX. JH) S.812-821, hier 819. Vgl. ausführlich: Dieter Sandner: Psychodynamik in Kleingruppen. Theorie desaffektiven Geschehens in Selbsterfahrungs- und Therapiegruppen. (Selbstanalytische Gruppen).München 1978.)

Wenn die sozialen Beziehungen in der kindlichen Sozialisation eingeschränkt wer-

den, dann verläuft auch die emotionale Entwicklung einseitig. Bestimmte Bezie-

hungsangebote können nicht wahrgenommen und verarbeitet werden und entspre-

chend einseitig bleibt auch der Ausdruck der Gefühle. Bei niemandem sind die Sen-

sibilitäten für Wut, Trauer, Lust, Liebe usf. gleich stark entwickelt und das Einbringen

dieser Gefühle in das Gespräch gelingt unterschiedlich gut und eindeutig. Gerade

hierdurch gewinnen wir Individualität.

Können, aus welchen Gründen auch immer, grundlegende Gefühle bei uns selbst

und/oder bei anderen nicht bemerkt, nicht zugelassen oder nicht mitgeteilt werden,

so fehlt uns eine Kompetenz im affektiv-emotionalen Bereich.

51

Viele Trainingsformen und natürlich auch alle Psychotherapien versuchen, solche

Mängel zu beheben, indem sie ‘nachsozialisieren’. Es werden Beziehungssituationen

erzeugt, die ein vollständigeres Erleben und Ausleben bislang nur unvollkommen

gereifter Affekte erlauben.

Im Laufe unseres Lebens müssen wir verschiedene Typen von Interaktionskonstel-

lationen nicht nur kognitiv, sprachlich oder handlungsmäßig sondern auch affektiv-

emotional bewältigen. Für Freud waren die Stadien kindlicher Entwicklung (oral, anal,

ödipal) auch Phasen der Ausbildung affektiver psychosozialer Kompetenzen.

Abbildung 21 zeigt diesen Zusammenhang in Bezug auf Gruppen.

Die Unterschätzung der Bedeutung psychosozialer Qualifikationen im Bereich der

Wahrnehmung, Verarbeitung und des Ausdruckes von Gefühlen sowie in der Ge-

staltung emotionaler sozialer Beziehungen ist ein Kennzeichen der modernen Indu-

striegesellschaft - quasi die Kehrseite der Aufklärung und des ‘wissenschaftlichen’

Ausbildungsbetriebs. Man hat sie weitgehend dem Zufall und den Familien überlas-

sen.

5. Krankheitslehre

Wenn die Entwicklungsstadien (vgl. 4.) nicht gut durchlaufen werden, kommt es zu

Störungen des Sexuallebens → Fixierungen, Vermischungen u.ä..

Störungen treten immer dann auf, wenn Programme auf unpassende Situationen

übertragen, ohne Realitätsprüfung projeziert werden.

6. Die Neuerungen im Beratungsverständnis:

Lernen als Übertragung von sozialen und psychischen Mustern/Programmen der

Kommunikation und Informationsverarbeitung (Bedeutung frühkindliche Erfahrungen

in der Familie: Vater - Mutter - Kind - Geschwister; ödipale Konflikte)

Störungen als Folge der Erstarrung von Programmen und ihrer Anwendung in

unpassenden sozialen Situationen

Deuten als Hilfe bei der Aufdeckung von latenten Programmen und als Aufgabe des

Therapeuten/Beraters

Widerstände gegen die Thematisierung/Aufdeckung unbewußter/latenter Programme

und Informationen

Wiederholung im Hier und Jetzt (Spiegelungen) der Beratungssituation als

Bedingung der Erkenntnis des zuvor latenten Programms ('Affektloses Erinnern ist

fast immer völlig wirkungslos' 1895)

Probeidentifikation und Reflexion der ausgelösten Affekte in der eigenen Person (und

ggf. der Gegenübertragung) als Bedingung der Erkenntnis der Psychodynamik der

fremden Person.

52

Gemeinsame Beobachtung der Beratung/Therapie soziale (Selbstreflexion) als

Bedingung der Erkenntnis der Soziodynamik/Interaktionsdynamik.

Lernen als individuelle Aneignung kommunikativ erzeugter Erfahrungen, d.h. als

Respezifikation sozialer Informationen (letztlich kontingent)

Entwicklung/Heilung/Entstörung durch Anwendung (Übertragung) der in der

Beratungssituation erkannten Programme auf andere Interaktionskonstellationen

(durch Brechen des Wiederholungszwangs: neue Flexibilität)

Die wichtigsten methodischen Vorkehrungen in der psychoanalytischen

Therapie:

- ausreichender Leidensdruck/Deuten nur gegen Bezahlung

- viel Zeit

- verhindern von wechselseitigem Blickkontakt: Schutz vor Rückfall in das visuelle

Paradigma und Erleichterung der Konzentration auf die ausgelösten Affekte

- Minimalstrukturierung zur Erleichterung von Übertragungsbeziehungen und

Regression (auf z. T. frühkindliche Entwicklungsstadien)

- Verhindern rationalisierender Argumentationen/Einführung des Affekts. "Der ideale

Psychoanalytiker kanalisiert absichtlich Reize, die vom Patienten ausgehen, direkt

in sein eigenes Unbewußtes..." Georges Devereux: Angst und Methode in den

Verhaltenswissenschaften, München o.J., S. 335.

- Grundregel für den Patienten: Alle Einfälle, assoziativen Verkettungen usf.

möglichst unzensiert und unmittelbar verbalisieren!

Wichtigste Interventionsmethodeist dasDeuten: d. h. die Beschreibung von Spiegelungsphänomenen.

Ziel ist das Aufdecken von (unpassenden, starren) Wiederholungen; Nutzen von

Selbsterkenntnis zur Umwelterkundung und umgekehrt. (In der klassischen

Psychoanalyse werden bei Deutungen idealerweise 3 Interaktionskonstellationen

miteinander verglichen: frühkindliche, gegenwärtig erfahrene/erzählte und die

therapeutische Situation im Hier und Jetzt)

Ablauf:

1. Beschreibung des Hier und Jetzt als (soziales, psychisches, biogenes) System

2. Beschreibung der vergangenen/erzählten Interaktion des Systems.

<1. und 2. können auch vertauscht werden>

3. Vergleich der beiden (oder noch weiterer) Beschreibungen und Feststellen von

strukturellen, dynamischen oder anderen Ähnlichkeiten.

53

<Werden unterschiedliche Systemtypen, z. B. psychische und soziale oder

Institutionen und Familien miteinander verglichen, kommt es zu irritierenden

Deutungen>

4. Annahme oder Ablehnung der Deutung, eventuell Differenzierung der

Beschreibung

5. Ggf. Nutzung der Deutung entweder zum besseren Verständnis des Hier und

Jetzt/des Bezugssystems (typisch für Beratung) oder aber zum besseren Ver-

ständnis der damaligen Situation (Psychoanalyse) bzw. der Umwelt

(Kommunikative Sozialforschung)

Wichtige psychoanalytische Begriffe

Übertragung: In der Psychoanalyse eher negativ konnotiert: unbewußtes Einbringen

unerledigter Konflikte, Beziehungsmuster aus der Kindheit in die aktuelle Beziehung.

Gegenübertragung: Die unbewußte Übernahme von Positionen und Erleben des

Klienten durch den Berater, das Mitspielen angewiesener Rollen. Andere

psychoanalytische Schulen bezeichnen jede Form von Übertragung des

Therapeuten als ‘Gegenübertragung’.

Subjektive Gefahr: Bezeichnet alles das, was das innere psychische Gleichgewicht

zwischen den Instanzen (Ich, Es, Über-ich) des Selbst stört. Entsprechend werden

unterschieden:

1. Triebgefahr (Es-Verstärkung bzw. Verlust der Ich- und Über-ich-Stärke)

2. Über-ich Gefahr (Über-ich Verstärkung)

3. Ich-Gefahr (Verlust realitätsgerechter Selbstkontrolle)

4. Narzißtische Gefahr (Absenken des Selbstgefühls bis hin zur Fragmentierung des

Selbst)

Diese Gefahren sind latent immer, aber bei jedem Individuum in unterschiedlichem

Maße vorhanden. Bei Streß und entsprechender Belastung (Wiederholung) können

sie manifest werden. Unsere Persönlichkeitsstruktur ergibt sich u. a. aus der Art, wie

wir diese verschiedenen Kräfte untereinander ausbalancieren.

Abwehr: Psychoanalytischer Ausdruck zur Bezeichnung von Mechanismen,

Reaktionen, Handlungen u. ä., die zur Vermeidung ‘subjektiver Gefahren’ dienen.

„Verdrängung und andere Abwehrmechanismen sind auf der einen Seite notwendige

Regulatoren der seelischen Homöostase. Fehlen sie, oder sind sie nur sehr

54

ungenügend entwickelt, wie man es bei manchen psychotisch reagierenden

Patienten beobachten kann, dann ist die Gefahr einer Überschwemmung und

Desintegration des Ichs gegeben. Auf der anderen Seite zahlt das Ich oft für die

Dienste, die sie ihm leisten, einen zu hohen Preis.“2 Dies ist vor allem dann der Fall,

wenn Abwehrprogramme, die dem schwachen Kind in den ersten Lebensjahren zum

Überleben und überhaupt erst zur Ausbildung eines Ichs verhalfen, auch im späteren

Leben unverändert beibehalten bleiben. Sie werden dann als fixierte

Reaktionsformen auch dann noch wiederholt, wenn die Gefahren, gegen die sie

ursprünglich eingesetzt wurden, überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Oftmals

müssen dann in der Umwelt Situationen erzeugt werden, welche die ursprüngliche

Gefahr ersetzen können, um die psychischen Programme, die als ein Teil der

eigenen Identität begriffen werden, zu rechtfertigen.

Anna Freud, die Tochter des Begründers der Psychoanalyse, nennt in ihrem

einschlägigen Werk ‘Das Ich und die Abwehrmechanismen’ (zuerst 1936) zehn

Abwehrmechanismen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung,

Ungeschehenmachen, Projektion, Introjektion, Wendung gegen die eigene Person,

Verkehrung ins Gegenteil und als zuträglichste Form der Abwehr die Sublimierung.

Die Erklärung dieser Mechanismen ist so kompliziert, daß sie ohne eine genaue

Kenntnis der Freudschen Theorie und einiger therapeutischer Erfahrung kaum

aussichtsreich ist.

Verdrängung: In Freuds früher Theorie des Psychischen wird zwischen

‘Unbewußtem’, ‘Vorbewußtem’ und ‘Bewußtem’ unterschieden, wobei das

Unbewußte diejenigen Informationen enthält, die von Ich und/oder Über-ich

‘verdrängt’ wurden. Vor allem jene Vorstellungen, die mit Triebwünschen

zusammenhängen, die für die Persönlichkeit gefährlich sind, sollen nicht bewußt

werden. Sie bleiben aber als verdrängte Inhalte im Unbewußten erhalten. Sie unter

der Decke zu halten, kostet dem Bewußtsein Kraft.

Freud hat die Verdrängung mit Auslassungen in einem Text verglichen, der

unerwünschte Informationen erhält. Eine solche Lücke kann entweder stehen bleiben

oder durch alle möglichen Ersatzinformationen ausgefüllt werden. Der Berater kann

solche Lücken als inkonsistente Textpassagen erkennen und so einen Zugang zu

dem Verdrängten finden.

Lektüreempfehlung:

Peter Kutter 'Leidenschaften. Eine Psychoanalyse der Gefühle'; Reinbek 1989 u: o: 2 Wolfgang Schmidtbauer: Die Verdrängung und andere Abwehrmechanismen. In: G. Eicke (Hg.) Tie-fenpsychologie. Bd. 1: Sigmund Freud - Leben und Werk. (Kindlers Psychologie des 20. Jahrhun-derts). Weinheim/Basel, 1984, S. 284 - 290, hier S. 289.

55

Ders.: Moderne Psychoanalyse. Eine Einführung in die Psychologie unbewußter

Prozesse. Stuttgart 19922

S. Freud 'Abriß der Psychoanalyse'; Frankfurt (Fischer TB 47).

Zur Methodik: Ralph Greenson: Technik und Praxis der Psychoanalyse; Frankfurt

1975

Dieter Ohlmeier/D. Sandner: Selbsterfahrung und Schulung psychosozialer

Kompetenz in psychoanalytischen Gruppen, in: Heigl-Evers (Hg.), Sozialpsychologie,

Band 2, Gruppendynamik und Gruppentherapie, Weinheim/Basel 1984, S. 812 - 821

Exkurs: Die Begründung selbstreferentieller Erfahrungsgewinnung aus

systemtheoretischer Sicht

Wenn heute die Notwendigkeit selbstreferentieller, non-direktiver Kommunikation

begründet werden soll, dann greift man oft noch auf Argumente aus einem ganz

anderen theoretischen Zusammenhang zurück: Direktives Handeln hat nur dort Sinn,

wo mindestens der so agierende Gesprächspartner weiß, was er will. Häufig ist aber

unsere Umwelt so komplex, genau genommen: 'überkomplex', daß es keine richtigen

Lösungen gibt und keiner der Beteiligten über genügend Informationen für eine

rasche und klare Entscheidung verfügt. Unter diesen, von der systemischen,

konstruktivistischen Soziologie und Erkenntnistheorie beschriebenen Bedingungen,

ist Kooperation, gemeinsame Informationsverarbeitung unumgänglich. Jeder ist auf

die Mitarbeit des anderen angewiesen, um die Unsicherheit, die er selbst alleine nicht

reduzieren kann, zu bewältigen. Die Entscheidungen und Problemlösungen sind

dann immer das Ergebnis sozialer Selbstreflexion. Die Beteiligten bringen ihre

Argumente ein, entwickeln ihre Gedanken im Gespräch und blicken dann auf das

gemeinsam Erarbeitete zurück, um gemeinsam oder individuell Schlüsse zu ziehen.

Selbstverständlich werden hier keine fertigen Lösungen übernommen und es gibt

auch niemanden, der das Gespräch dirigieren könnte.

Aber das ist natürlich erst eine erkenntnistheoretische Beschreibung des Problems.

Was die konkrete Umsetzung dieser Erkenntnis in eine Beratungsmethodik angeht,

so ist aus dem selbstreferentiellen therapeutischen Schulen mehr zu lernen als aus

den systemtheoretischen Darstellungen.

B: Carl Rogers und Klientenzentrierte Gesprächsführung

Zu seiner Person und seinen biographischen Erfahrungen

C. Rogers (1902-1987) hat nach eigenem Bekunden viel von Otto Rank, einem der

ersten Schüler S. Freuds gelernt. Er wanderte nach Amerika aus, wurde dort bald an

renommierten Universitäten Hochschullehrer und begann in den 40er Jahren, seine

'klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie' auszuformulieren und zu begründen.

Einer seiner bekanntesten Schüler ist vermutlich Thomas Gordon ('Lehrer-Schüler-

Konferenz', 'Managerkonferenz', 'Familienkonferenz').

In seinem Aufsatz 'Rückblick auf die Entwicklung meines therapeutischen und

56

philosophischen Denkens' (in P. Jankowski u.a. Hg.: Klientenzentrierte

Psychotherapie heute. Göttingen 1976, S. 31-48) schildert er die Genese seiner

Weltanschauung und seiner Form des Beratungsgesprächs noch einmal eindringlich.

Einige wichtige Gedanken seien hier aufgeführt:

- In meinen Beziehungen zu Menschen habe ich herausgefunden, daß es auf lange

Sicht nicht hilft, so zu tun, als wäre ich jemand, der ich nicht bin.

- Ich habe es als äußerst wertvoll empfunden, wenn ich es mir erlauben kann, einen

anderen Menschen zu verstehen.

- Ich habe es als höchst lohnenswert empfunden, einen anderen Menschen

akzeptieren zu können.

- Je mehr ich gegenüber den Realitäten in mir und im anderen offen bin, desto

weniger verfalle ich in den Wunsch, herbeizustürzen und die 'Dinge in Ordnung zu

bringen'.

- Ich kann meiner Erfahrung trauen.

- Das Urteil anderer ist keine Leitlinie.

- Eigene Erfahrung ist für mich die höchste Autorität.

- Die Tatsachen sind freundlich.

- Das Persönlichste ist das Allgemeinste.

- Es ist meine Erfahrung gewesen, daß Menschen eine positive Entwicklungsrichtung

haben.

- Das Leben ist im besten Fall ein fließender, sich wandelnder Prozeß, in dem nichts

starr ist.

Mit Freud teilt er die Überzeugung, daß das Tun und Handeln der Menschen nicht

nur durch ihre Vernunft, sondern auch durch ihre Emotionalität und unbemerkte

Regungen geprägt wird. Aber er betont immer wieder - und darauf mag zu einem

Gutteil sein Erfolg gerade in Amerika zurückzuführen sein - daß jedes Individuum von

Natur aus positiv eingestellt und zur konstruktiven Steuerung und Kontrolle des

eigenen Verhaltens fähig ist. Während Freud stärker die Spannung zwischen

57

Konstruktion und Destruktion (Libido/Aggression) herausstellte, tendiert er dazu, die

Disharmonien als Reaktion auf ungünstige Umweltbedingung zu interpretieren. So

hat man oft den Eindruck, als ob Rogers letztlich das Soziale ('die Gesellschaft') als

Quelle der (Zer-) Störung und das Psychische (das Individuum) als Quelle des Guten

erlebt.

Obwohl Rogers und seine Anhänger das 'Gespräch' immer wieder als Mittelpunkt

ihrer Überlegungen darstellen, haben sie doch einen positiven Zugang nur zu den

am Gespräch beteiligten Personen. Ihr Ansatz ist insoweit eher personen- als

interaktionszentriert - zumindest was die Theorie anbelangt. Was die

Beratungspraxis und die programmatischen Aussagen angeht, mag das anders

aussehen.

Die Freudschen Konzepte des 'Selbst', der 'Übertragung' und 'Spiegelung'

rekonstruieren demgegenüber allesamt Interaktionsbeziehungen. Nicht die Person,

sondern die Beziehung zwischen ihnen steht im Vordergrund und jedes Lernen und

jede Entwicklung wird als Produkt der Interaktion angesehen. Rogers und seine

Anhänger betonen gerne, daß sie, unter anderem auch im Gegensatz zu der

psychoanalytischen Beratungsrichtung, nicht vom Berater, sondern von dem Klienten

aus denken. Eben deshalb nennen sie ihre Schule 'nicht-direktiv' oder eben

'klientenzentriert'. Den Psychoanalytikern werfen sie vor, sie würden sich selbst und

ihre Aktivitäten zu wichtig nehmen, mit zu vielen vorgefaßten Modellen und damit zu

direktiv an ihr Gegenüber herantreten. In späteren Jahren sah sich Rogers dem

gleichen Vorwurf ausgesetzt. Es kommt nicht darauf an, ob man von der einen oder

der anderen Person ausgeht, sondern das Grundproblem ist, die Beratung auch als

soziale Beziehung zu begreifen, in der beide Rollen gleich wichtig sind. Je leichter

Probeidentifikation und Rollentausch den Beteiligten fallen, um so mehr Alternativen

besitzen sie.

Was nun freilich die Selbst- und Fremdtypisierungen betrifft, die ein solches flexibles

Beratungsgespräch erleichtern, so hat die Klientenzentrierte Beratungsschule viele

äußerst wertvolle Hinweise gegeben.

Formen zwischenmenschlichen Verstehens

Ziel eines klientenzentrierten Gesprächstrainings (nach Rogers) ist immer die

Entwicklung einer besonderen Form von Fremdverstehen: der Empathie oder des

‘einfühlenden Verstehens’.

58

Einfühlendes Verstehen: Empathie

Unter Empathie wird die Fähigkeit verstanden, das emotionale Erleben des Klienten,

so wie es sich im Hier und Jetzt der Gesprächssituation zeigt, nachzuvollziehen. Im

Gegensatz zum bloß kognitiven Verstehen setzt es auch ein Nachvollziehen der

affektiven Bewertungen des Gegenüber voraus.

Ein Aspekt empathischen Verstehens des Beraters ist immer auch die

Rekonstruktion des mutmaßlichen Erlebens des Beraters durch den Ratsuchenden:

Der Berater versucht, sich aus den Augen des Klienten zu sehen.

Eine empathiegelenkte Gesprächsführung setzt voraus, daß der Berater sich im

Verlauf des Gesprächs nicht in erster Linie von seinen eigenen Bedürfnissen,

Denkgewohnheiten, Affekten, Wertungen usf. leiten läßt, sondern sich seine

Standpunkte und Perspektiven von dem Gesprächspartner vorgeben läßt.

Einfühlendes Verstehen setzt Standpunkt- und Perspektivenwechsel voraus.

Ob eine empathische Beziehung zustande gekommen ist, läßt sich nur im Fortgang

des Gesprächs ermitteln. Wenn sich der Gesprächspartner verstanden oder aber

nicht verstanden zeigt, können Hypothesen bestätigt bzw. falsifiziert werden.

Der Prototyp einer empathischen Beziehung ist die auf Einfühlung basierende

Mutter-Kind-Beziehung im Säuglingsalter. Sie bietet in unserer Kultur besondere

Chancen der Einübung empathischen Verstehens. Dies zeigt schon, daß die

klientenzentrierte, empathische Gesprächsführung nur eine Radikalisierung von

Verhalten und Erleben bedeutet, das im Prinzip allen Menschen möglich ist.

Voraussetzung der Ausübung von Empathie ist die im Verlauf der eigenen

Sozialisation des Beraters erworbene Empathie in sich selbst, die wiederum durch

eine verstehende, empathisch spiegelnde Mutter und/oder eine andere

Bezugsperson vermittelt wurde. Wer selbst von anderen kein einfühlendes Verstehen

erlebt hat, ist zu einem empathischen Standpunkt- und Perspektivenwechsel nur sehr

begrenzt fähig.

Voraussetzung ist zweitens, zumindest nach der Erfahrung von C. Rogers, eine

positive Wertschätzung des Gegenübers. Wer diesen ablehnt, wird nicht bereit sein,

dessen Reize umfassend in sich aufzunehmen.

Wege zum empathischen Verstehen des Gegenüber

❐ persönliche Filter in konkreten Interaktionskonstellationen erkennen

❐ Wird der Filter oft und ggf. in ähnlichen Konstellationen eingesetzt (welchen?)

❐ Was wird durch den Filter in den Hintergrund gedrängt, abgewehrt?

❐ Ggf. Deutung: Frühe Erinnerungen an den Einsatz des Filters bzw. an die

typische Interaktionskonstellation? Funktionaler Sinn (Schutz) damals?

59

❐ Schrittweises Erleben der Emotionen, Phantasien, Körperreaktionen etc., die

eintreten, wenn die Abwehr gelockert wird/einmal nicht funktioniert hat.

❐ In der konkreten Interaktion versuchsweise die eigenen Filter, abgewehrten

Gefühle usf., die als Störung aufgefallen und verstanden sind, als abgewehrte

Gefühle, Filter des Gegenüber annehmen.

❐ In der eigenen Reaktion/Antwort nicht diese Abwehr wiederholen/ausdrücken,

sondern die abgewehrten Teile zeigen.

❐ Dadurch Entzerren der eigenen Person als Spiegel, Durchbrechen von

Wiederholungen (von starren Filtern) und von unfruchtbaren

Beziehungskonstellationen.

❐ Die entzerrte Beratungsinteraktion als Beispiel für das weitere Verhalten des

Klienten in zukünftigen ähnlichen Interaktionskonstellationen empfehlen.

Pseudoempathie und Identifikation

Von der empathischen Einfühlung in fremde Standpunkte und Erlebensweisen ist die

projektive Identifikation deutlich abzugrenzen. Unter Identifikation versteht man die

Projektion der eigenen Standpunkte und des eigenen Erlebens auf den Gegenüber.

Sie ist das genaue Gegenteil der Empathie und gerade dann notwendig, wenn man

den Gegenüber in seiner Andersartigkeit nicht verstehen kann und sich dennoch an

ihn anpassen will oder muß. Identifikation wird in unserer Kultur durch die Ausbildung

von ‘Rollen’ erleichtert. Insoweit Menschen sich mit ihrer Rolle identifizieren und

entsprechend wahrnehmen und handeln, kann im zwischenmenschlichen Verkehr

auf Einfühlung verzichtet werden. Es reicht, wenn die am Gespräch Beteiligten

gleichermaßen zur Rollenübernahme fähig sind. Eine solche identifikationsgelenkte

Wahrnehmung bestätigt die Beteiligten aber nur in ihrer Rollenidentität.

Projektive Identifikationen als pseudo-empathische Beziehungsmuster entstehen

bspw., wenn wir bei unserem Gesprächspartner einen Erlebniszusammenhang zu

erkennen glauben, der in Wirklichkeit mehr unserem eigenen subjektiven Erleben

und unseren eigenen Wünschen und Erfahrungen entspricht als jenen des

Gegenübers. Sie kommt häufig zustande, wenn ein Berater im Verlauf des

Beratungsgesprächs selbst hilflos wird. Er greift dann auf ein ihm bekanntes und

deshalb schnell verfügbares eigenes Erklärungsmuster zurück, das ihn vor der

Peinlichkeit des Gefühls schützt, die Sache nicht im Griff zu haben, den Gegenüber

nicht zu verstehen usf.. Projektive Identifikationen funktionalisieren den Gegenüber.

Eine weitere häufige Scheinempathie ist die von Psychoanalytikern sogenannte

‚Identifikation mit der Abwehr‘ des Gesprächspartners. Darunter ist eine meist

unbewußte Einigung des Beraters mit dem ratsuchenden Gesprächspartner auf dem

Niveau einer gängigen Klischeevorstellung, eines Gemeinplatzes, einer gewohnten

menschlichen Verkehrsform zu verstehen. Anstatt das Erleben des Klienten

60

nachzuvollziehen wird ihm ein Verhaltens- und Erlebensmuster von dem Berater

angeboten, das gesellschaftlich akzeptiert ist. Der Ratsuchende willigt ein, weil ihm

die Übernahme dieses Erklärungsmodells vor schmerzhafteren oder peinlicheren

Einsichten schützt.

In der Praxis sind die Übergänge zwischen Empathie und Projektion fließend.

Empathie kann durch Identifikation eingeleitet werden - und umgekehrt. Immer

wieder ist zu überprüfen, ob sich die eigenen Projektionen von dem Gegenüber oder

von der eigenen Geschichte lenken lassen. Eigene und fremde Standpunkte werden

kreisförmig durchlaufen.

Die Unterscheidung zwischen einem Fremdverstehen als Übertragung eigener

Standpunkte (Identifikation) und der Übernahme fremder Standpunkte (Empathie)

sowie der Einnahme gesellschaftlich ausgearbeiteter, normativer Standpunkte (Rol-

lenverstehen) bleibt jedoch ein wichtiges Instrument individueller und sozialer

Selbstreflexion.

61

Vom einfühlenden Verstehen zur klientenzentrierten Intervention: Ablauf-

schema

Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Äußerungen des Klienten ist ein komplexer

Prozeß mit vielen Rückkoppelungsschleifen

1.) Datensammlung

a) Umweltwahrnehmung

- Die Äußerung des Klienten auf Verstand, Gefühl und Körper, möglichst tief

und unzensiert wirken lassen: sich öffnen, zuhören.

b) Selbstbeobachtung/Datensammlung

Welche Gedanken, Vorstellungen, Gefühle, körperliche Reaktionen lösen

Äußerung und/oder Verhalten aus? → Liste (z. T. häufig widersprüchlicher)

Reaktionen aufstellen.

c) Beziehung zwischen Selbst- und Umweltwahrnehmung herstellen

- Das komplexe Verhalten/die längere Äußerung des Klienten wird in Teilse-

quenzen zerlegt.

- Welche innere Reaktionen lassen sich welchem Mikroverhalten zuordnen?

Diese Mikroanalyse verläuft zirkulär: von auffälligem Verhalten zu verdeckten

Reaktionen; von auffälligen Reaktionen zu verdecktem Verhalten.

- Ziel ist die wechselseitige Erhellung und Differenzierung der Daten.

2.) Datenanalyse

a) Beziehungsklärung, - definition

- Welche Beziehungsdefinition zwischen Berater und Klient drückt sich im

Verhalten und in den Reaktionen aus? Gibt es eine ungestörte positive

Wertschätzung des Gegenüber? Wenn nicht, welche Reize des Gegenübers

oder/und welche eigenen Affekte stehen ihr entgegen?

b) Klärung von Rollen, Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen:

- Welche ausgelösten Affekte lassen sich eher dem Klienten und welche eher

der eigenen Person/der Umwelt zuschreiben? (Trennung von Selbst- und

Umweltwahrnehmung, von Empathie und projektiver (des Beraters)

Identifikation)

62

3.) Planung der (therapeutischen) Intervention

Hier geht es darum, aus der Vielfalt der gewonnenen Eindrücke diejenigen

auszuwählen, die die Selbstexploration des Klienten fördern und dessen

Ausdrucksmöglichkeiten möglichst wenig einschränken.

- Welche Wahrnehmungen/Affekte können dem Klienten mitgeteilt werden, ohne ihn

zu kränken oder von ihm mißverstanden zu werden?

- Welche Wahrnehmungsmitteilung wird das Verhältnis zwischen Berater und Klient

stabilisieren und die positiven Ressourcen des Klienten mobilisieren?

- Welche Äußerung läßt dem Klienten die größtmögliche Freiheit/Initiative?

Das von Rogers formulierte Prinzip der Echtheit verlangt, daß ausschließlich an den

im Hier und Jetzt gewonnenen Informationen angesetzt wird. Diese - und keine

anderswo erlangten Kenntnisse und Überzeugungen - sollen verbalisiert werden. Es

wird nicht alles gesagt, aber das, was gesagt wird, ist ‘echt’.

4.) Intervention

5.) Überprüfen,

ob der Eindruck des Beraters mit den Empfindungen des Klienten übereinstimmt.

Wenn nicht, muß weiter nach Eindrücken gesucht werden, die der Klient

akzeptieren kann. Nach Rogers sollte die Entscheidung immer beim Klienten

liegen.

Alle Störungen auf der Beziehungsebene, die eine aktive und führende Rolle des

Klienten erschweren, müssen normalisiert werden.

Grundsätze der klientenzentrierten Gesprächsführung

1. Grundhaltungen des Beraters

Es sind im wesentlichen drei Grundhaltungen, die Rogers von einem guten Berater

fordert: Echtheit, positive Wertschätzung und einfühlendes Verstehen.

Echtheit "ist die grundlegendste unter den Einstellungen des Therapeuten.... eine

Therapie ist mit größter Wahrscheinlichkeit dann erfolgreich, wenn der Therapeut in

der Beziehung zu seinem Klienten er selbst ist, ohne sich hinter einer Fassade oder

Maske zu verbergen. Der theoretische Ausdruck hierfür ist Kongruenz; er besagt,

daß der Therapeut sich dessen, was er erlebt oder leibhaftig empfindet, deutlich

gewahr wird und daß ihm diese Empfindungen verfügbar sind, so daß er sie dem

Klienten mitzuteilen vermag, wenn es angemessen ist." (Rogers: Therapeut und

Klient. München 1977, S. 26) Der Berater nimmt also wahr und teilt seine

63

Wahrnehmung kontinuierlich mit. Das führt zu einem andauernden, gegenüber dem

alltäglich Verhalten überzogenen Feedback. Aber: er teilt seine ganz individuelle

Wahrnehmung und dann auch seine Schlußfolgerungen mit, unterdrückt also weder

seine Gefühle noch seine biographischen Erfahrungen. Er versteckt sich nicht hinter

seiner (institutionellen) Rolle. Er ist deshalb für den Klienten 'transparent' und

erleichtert es so, daß das Gespräch 'offen' abläuft.

Die Beratung klappt nach Ansicht von Rogers und seinen Anhängern weiterhin nur

dann, wenn der Berater die Persönlichkeit des Klienten und die biographische

Einbettung seines Problems akzeptieren kann. Kontakt zu der Person des

Ratsuchenden kommt ihm vor dem sachlichen Problem. Entsprechend steht nicht die

distanzierte und damit auch distanzierende Einordnung eines Problems, sondern

eben die Person des Klienten im Mittelpunkt des Gesprächs. Diese nicht an

sachliche Bedingungen gebundene Respektierung nennt Rogers: positive

Wertschätzung. Immer wieder warnt er davor, daß diese Form der Wertschätzungen

nicht bedeutet, von dem Gegenüber Besitz zu ergreifen. Vielmehr geht es darum,

den anderen auch dann anzuerkennen, wenn man ihn nicht versteht. Er ist

einzigartig und hat viele Gefühle und Entwicklungsmöglichkeiten, die der Berater

nicht erahnen kann.

Vor allem muß der Berater lernen, nicht nur die positiven, sondern auch die

negativen Gefühle zu akzeptieren: "Dieses Akzeptieren sowohl der reifen wie auch

der unreifen Impulse, der aggressiven wie der sozialen Einstellungen, der

Schuldgefühle, wie der positiven Äußerungen bietet dem Individuum zum ersten Mal

in seinem Leben Gelegenheit, sich so zu verstehen wie es ist. Es hat nicht mehr das

Bedürfnis, seine negativen Gefühle zu verteidigen. Es hat keine Gelegenheit, seine

positiven Gefühle überzubewerten. Und in dieser Situation treten Einsicht und

Selbstverstehen spontan zutage." (C.R. Rogers: Die nicht-direktive Beratung,

München 1985, S. 46)

Die Aktivitäten des Beraters bestehen im wesentlichen aus einer Verbalisierung

seines einfühlenden Verstehens. Er versucht, das emotionale Erleben des Klienten

(nicht objektive äußere Tatsachen), so wie es sich im Hier und Jetzt der Beratung am

deutlichsten zeigt, nachzuvollziehen. Dazu muß er zunächst einmal zuhören können

und zwar empathisch und aktiv. Ein Gutteil der Schulung für den angehenden

klientenzentrierten Berater besteht denn auch in der Übung des Zuhörens. Was er

gehört hat, versucht er gewissenhaft zu formulieren und er fragt dann den Klienten,

ob sein Eindruck mit dessen Empfindungen übereinstimmt. Nur dieser kann

entscheiden. Aber das setzt eben auch aktive Mitarbeit des Klienten und

kontinuierliche Behandlung von Störungen auf der Kontaktebene voraus. Der

64

Versuch des Beraters, zu verstehen, soll dem Ratsuchenden das Gefühl geben,

verstanden zu werden. Echtheit, positive Wertschätzung und einfühlendes Verstehen

sollen die 'Selbstexploration des Klienten' erleichtern. Wenn er sich an diesen

Eigenschaften des Beraters orientiert, dann wird er größere Möglichkeiten haben,

sich anderen gegenüber offen, freier und weniger wertend zu verhalten, ihnen

zuzuhören und sie besser zu verstehen.

Der Inhalt der drei Grundbedingungen der Beratung mag noch deutlicher werden,

wenn man sich mit nicht-adäquaten Verhaltensweisen (im Sinne von Rogers)

beschäftigt. In der Fachliteratur kritisch behandelt werden beispielsweise die

folgenden Interventionstypen: Bagatellisieren, Diagnostizieren, Dirigieren,

Examinieren, sich Identifizieren, Interpretieren, Moralisieren und Intellektualisieren.

Abb. 22: Ungeeignetes Beraterverhalten und die Empfehlungen von Rogers(Antwortstile)

Ungeeignete Beraterinterventionen Empfehlungen

1a) Bagatellisieren

1b) Gemeinplätze teilen/sich identifizieren

vs. Ernstnehmen der Gefühle/ derWeltsicht des Klientenvs. eigene Reaktionen erkunden undauthentisch ausdrücken

2a) Fragen stellen

2b) Rationalisieren

vs. den Klienten Initiative und Richtungbestimmen lassenvs. Übernahme der emotionalenPerspektive des Klienten; sich seinemStandpunkt annähern

3a) Dirigieren3b) schnelle Ratschläge

vs. Kraft zur Selbsthilfe gebenvs. Ertragen der ungeklärten Situation

4. Abwerten vs. positive Wertschätzung

5. Übernahme der Perspektive des Klienten

65

Allgemeines Ablaufschema klientenzentrierter Beratung

Obwohl die klientenzentrierte Beratungsmethode in den unterschiedlichsten Feldern

eingesetzt werden kann und dabei eine je spezifische Dynamik erhält, hat sich im

Laufe der Zeit doch ein gewisses Grundmuster für das Gespräch herausgebildet.

- In einer Orientierungsphase wird mit dem Klienten gemeinsam geklärt, warum es

überhaupt zum Kontakt mit dem Berater gekommen ist. Dabei muß entschieden

werden, ob die klientenzentrierte Gesprächsführung hier überhaupt weiterhelfen

kann. Wenn ja, so ist über deren Prinzipien zu orientieren.

- In der nächsten Phase geht es darum, die problematische Situation

herauszuarbeiten und zu definieren (Problemformulierung)

- Im dritten Schritt wird der Berater oder die Beraterin alternative Vorgehensweisen

zum Erleben und zum Behandeln des Problems gemeinsam mit dem Klienten/der

Klientin entwickeln. (Entwicklung von Alternativen) "In der Auseinandersetzung mit

verschiedenen Lösungsmöglichkeiten muß die Beraterin besonders vorzeitige

Bewertungen des Klienten (z.B. "Das hilft ja doch nichts", "Das macht der nie")

reflektieren. Dabei mag sich anbieten, im Rollenspiel verschiedene Alternativen,

bzw. deren Konsequenzen..... durchzuspielen." (Weinberger 1988, S. 123)

- In der vierten Phase müssen Entscheidungen über die geeignete Vorgehensweise

getroffen werden. Dabei sind insbesondere die Kosten solcher Entscheidungen

abzuwägen und Alternativen durchzuspielen.

- Im Sinne einer Begleitung des Ratsuchenden geht es in der letzten Phase zu

beobachten, wie die Problemlösungsstrategien umgesetzt werden. (Verifikation)

3. Interventionsstrategien des Beraters

In der Fachliteratur werden drei Typen Interventionen auseinandergehalten:

- Verbalisierung der eigenen Wahrnehmung ('Echo')

- Setting - und systemorientierte Intervention

- Personenorientierte Interventionen

Die wohl bekannteste Verbalisierungsstrategie des klientenzentrierten Ansatzes ist

das sogenannte 'Echo', das Wiederholen der Klientenäußerung. Daneben werden

noch schwach selektive und ausgesprochen selektive und ergänzende

Paraphrasierungen unterschieden. Es wird empfohlen, sich an die Sprache des

66

Klienten anzupassen, bildhafte Vergleiche vorzunehmen und in der Ich-Form zu

reden.

Ein zweiter Typus von Interventionen bezieht sich auf das Beratungssetting und

versucht dessen Struktur zu konturieren und zu reflektieren. Dazu gehört das

Rekapitulieren des Beratungsablaufs, die Betonung des 'Hier und Jetzt' in konkreten

Beratungssituationen, die Gegenüberstellung von Aussagen (Konfrontation), das

Erweitern des Wahrnehmungsfeldes des Klienten (Perspektivenwechsel), sowie das

Konkretisieren bzw. Abstrahieren der Inhalte von Äußerungen des Ratsuchenden.

Während diese Interventionen mehr auf die Klärung der Beratungssituation und den

Problemlöseprozeß ausgerichtet sind, gibt es auch eine Reihe von

Berateräußerungen, die sich direkt auf die Person des Ratsuchenden beziehen:

- positive/negative Verbalisierung von ambivalenten Klientenaussagen

- Bekräftigung von Verhaltensweisen

- Stimulieren von Verhaltensweisen

- Hinterfragen von Verhaltensweisen

- Fragen zur Person stellen

- den Ratsuchenden mit unterschiedlichen Aussagen über seine eigene Person

konfrontieren.

Zusammenfassung: Was läßt sich von C. Rogers lernen?

❑ Konzentration auf den Beziehungsaspekt von Gesprächen/Pflege der Sozialbeziehung

❑ Bestärken der Ressourcen des Gegenüber/positive Wertschätzung

❑ Sensibilität für die eigenen ‘antwortenden’ Gefühle/Echtheit

❑ Dem Gesprächspartner die Führung/Richtung

des Gesprächs überlassen/Zuhören lernen

❑ Standpunkt- und Perspektiventausch: einfühlendes

Die Welt aus der (subjektiven) Sicht des Verstehen

Klienten sehen

❑ Die Selbsterkundung des Klienten fördern

❑ Akzeptieren der eigenen positiven und negativen Gefühle/der eigenen Person und ‘kongruentes’ Handeln

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Weitere Literaturangaben:1. C. R. Rogers: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. München 1986;

Roger Mucchielli: Das nicht-direktive Beratungsgespräch. Salzburg 1972

2. Dieter Eitel: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Erfahrungen aus der

Beratung von Familien mit existenzbedrohten landwirtschaftlichen Betrieben. In:

V. Hoffmann (Hg.): Beratung als Lebenshilfe. Humane Konzepte für ländliche

Entwicklung. Weikersheim 1992

3. Peter Frenzel/P. F. Schmid/M. Winkler (Hg.): Handbuch der Personenzentrierten

Psychotherapie. Köln 1992

4. P. Jankowski, G. Tscheulin, H.- J. Fietkau, F. Mann (Hg.): Klientenzentrierte

Psychotherapie heute. Göttingen 1976

5. Sabine Weinberger: Klientenzentrierte Gesprächsführung - Eine Lern- und

Praxisanleitung für helfende Berufe. Weinheim/Basel 19904

Fragen/Übungen zu Rogers

- Welcher ‘Gesprächsstil’ Ihres Gegenüber erleichtert/erschwert Ihnen klientenzen-

triertes Zuhören?

- Wie hängen also Ihre Reaktionen von den Reizen (Gesprächsstilen) des

Gegenüber ab?

- Welchem Antwortstil neigen Sie in den verschiedenen Beziehungskonstellation/bei

welchen Partnertypen/Themen/Aufgaben zu?

- Was erhoffen Sie sich von Ihren Interventionen, die nicht klientenzentriert sind?

Was befürchten Sie für den Fall, daß Sie sich klientenzentriert verhalten?

C. Das Beratungskonzept des NLP (Neurolinguistisches Programmieren)

Mit dem Wahrnehmungs- und Kommunikationsmodell, welches Richard Bandler undJohn Grinder entwickelten, und das dann unter der Bezeichnung ‘NLP’ eineboomartige Ausbreitung gefunden hat, haben wir uns in der Veranstaltung‘Wahrnehmung und Kommunikation’ und in verschiedenen T-LABs beschäftigt. IhreGrundgedanken haben die beiden Autoren in der Auseinandersetzung mitAufzeichnung von Beratungs- und Therapiesitzungen bedeutender Vertreter dergestalt- und gesprächstherapeutischen Schule gefunden. Es ist deshalb nichtverwunderlich, daß zahlreiche Maximen der Gesprächsführung, die wir bei CarlRogers kennengelernt haben, auch von Vertretern des NLP propagiert werden.

68

Grundannahmen über die Beratung(skommunikation)

- Der Klient weiß am besten, wann sein Problem erkannt und wann es beseitigt ist.

(Vgl. Rogers!)

- Durch direkte Arbeit an der Störung soll jede Sitzung eine Entlastung, eine

sofortige Hilfe bringen!

- Das wichtigste therapeutische Instrument ist die Person des Therapeuten.

- Es gibt keinen ‘Widerstand’, nur unfähige Therapeuten. (Diese Negation bezieht

sich wohl in erster Linie auf die Interaktion mit dem Berater.

Hindernisse/Blockaden beim einzelnen werden ja ausdrücklich angenommen! Der

Unterschied zwischen Widerstand und Hindernis ist fein.)

- Im Gegensatz zu dem psychoanalytischen Verfahren wird in der NLP-Beratung

nicht nach den historischen Ursachen der Störungen, sondern nach neuem

Verhalten und Erleben gesucht, das geeignet ist, die alten Probleme zu

beseitigen: Nach vorne nicht nach hinten blicken!

- Deshalb ist die erste Aufgabe in einer Beratung/Therapie die Konkretisierung des

Ziels: Was muß passieren, damit es dem Klienten besser geht? Wie soll es sein?

- Dieses Ziel soll vom Klienten allein erreicht werden können und das setzt auch

eine entsprechende Formulierung voraus. Nicht: Mein Ziel ist, daß der andere

sich ändert! (Spätestens hier nun zeigt sich das auch schon bei Rogers kritisierte,

individualistische Herangehen. Man wird nicht alles allein erreichen können, weil

man zu seinem Verhalten ja auch nicht allein kommt, sondern aufgrund der

Strukturen des Systems, in das man eingebettet ist.)

- Es soll jedenfalls eine angemessene Verhaltensänderung angestrebt werden, die

das ökologische Gleichgewicht berücksichtigt, eine neue Balance herstellt. Jede

Veränderung bringt das psychische System aus dem Gleichgewicht und solange

es davon keinen Vorteil hat, wird es sich dagegen wehren.

69

(Dies ist natürlich eine Definition von Widerstand!) Also: Welchen Nutzen

(‘Krankheitsgewinn’ in der Sprache der Psychoanalyse) bringt es, das

(selbst)zerstörerische Verhalten beizubehalten?

Dieser Fragestil ist von der systemischen Organisationsentwicklung aufgenommen

worden. Letztlich geht es darum, die Ambivalenzen in jeglichem Verhalten

herauszufinden.

Techniken, die bei Störungen angewendet werden

- Reframing: Alternative Sichtweisen für Verhalten dadurch eröffnen, daß man es in

einem anderen Rahmen, in ein anderes Setting setzt als dies bislang geschah.

Schwächen als Stärken verstehen lernen!

- Positive Anker in negativ erfahrene Situationen setzen. Dazu sucht man

vergleichbare aber positiv erlebte Situationen auf, versucht sie möglichst konkret,

(eventuell unterstützt durch Phantasiereisen und Entspannungsübungen)

nachzuerleben, bemüht sich Unterschiede festzustellen und dann die positiven

Affekte und Verhaltensformen mit in die neue Situation hinüberzunehmen.

- Phobie - Technik: Traumatische Situationen werden schrittweise solange verän-

dert, bis sie der Klient angstfrei anschauen kann.

-------

- Kreativität wecken, z.B. durch Brainstorming, Mind-Mapping usw. hemmende

Glaubenssätze (beliefs) überwinden.

- Optimieren von Entscheidungsprozessen: Meist entscheidet man auf der Grund-

lage von positiven Erfahrungen, die man in der Vergangenheit in ähnlichen Situa-

tionen gemacht hat. Man kann aber als eine ganz andere Strategie auch intuitiv

vorgehen und bei sich Bilder entwickeln lassen, die bessere zukünftige Lösungen

versprechen. Während das eine Vorgehen eher rational ist, ist das andere eher

intuitiv, das erstere ist eher rückwärts gewandt und das zweitere

zukunftsorientiert. (Übrigens behindern unterschiedliche Entscheidungsstrategien

bei Gesprächspartnern die Kommunikation und die kollektive

Entscheidungsfindung!)

Kritik

Im Grunde lassen sich gegenüber der NLP-Tradition alle jene Einwände wiederholen,die man gegenüber der klientenzentrierten Gesprächstherapie (Rogers) erhebt. Es istein absolut individuumzentrierter und noch dazu aufklärerischer Ansatz. Ausgangs-und Endpunkt ist immer das psychische System. Dieses soll entwickelt und beratenwerden - ohne Rücksicht auf die Sozialsysteme, in die es eingebettet ist und durchderen Strukturen es doch geprägt wird. Konsequenterweise wird das Individuum

70

ausschließlich als ein sich selbst steuerndes Handlungssystem betrachtet.Veränderung erfolgt durch Einwirkung auf die Programme, durch Aufklärung. DasVertrauen in das Individuum ist sowohl die Stärke als auch die Schwäche desAnsatzes. Bestenfalls dyadische Interaktionen können noch berücksichtigt werden,gruppendynamische und institutionelle Aspekte und natürlich auch derenRessourcen werden nicht systemisch berücksichtigt, bzw. genutzt. Dies setztevoraus, daß man die Ambivalenz in der menschlichen Existenz akzeptierte: sowohlpsychisches als auch soziales System und beides zur gleichen Zeit.Wo der Glaube an die soziale, letztlich wohl auch an die kommunikative Kraft fehlt,da muß das Individuum ‘erzogen’ werden. Der fast schon anachronistische Glaubean die Wissenschaft und die ebenso altertümliche instruktive Pädagogik, die sich inden Büchern und Übungen der NLP-Tradition immer wieder durchsetzt sind eindirekter Ausfluß des Menschenbildes und der theoretischen Grundannahmen. Esfehlt ein Konzept von sozialer, kollektiver Selbstreflexion! Es fehlt ein Konzept vonGruppe! Es fehlt ein Konzept von Institution! Und es fehlen natürlich auch dieKonzepte über das Zusammenwirken dieser Konzepte!Ein solches integratives Konzept ist übrigens das psychoanalytische Modell des‘Widerstandes’. Er tritt dann auf, wenn sich die Ziele und Strukturen von psychischenund von sozialen Systemen widersprechen: Verhält sich die Person sozialangemessen, verletzt sie ihre psychischen Programme (beliefs) - und umgekehrt.

Die gruppenzentrierten Beratungsansätze

(Kapitel 5)

A: Kurt Lewin und die Anfänge der Gruppendynamik

Die ersten Schritte zur Entwicklung einer selbstreferentiellen Beratung hatte, wie wir

sahen, S. Freud am Ende des vergangenen Jahrhunderts getan. Er kam aufgrund

seiner klinischen Erfahrung schrittweise zu der Erkenntnis, daß sich Therapien vor

allem dann fruchtbar gestalten, wenn nicht die Person des Patienten zum Gegen-

stand gemacht, sondern seine Beziehung zu dem Therapeuten kontinuierlich reflek-

tiert wird. Bearbeitet werden soll nach seiner Behandlungslehre die spezifische Art

und Weise, wie sich diese Beziehung gestaltet, welche Muster aus anderen Kontex-

ten übertragen werden, welche Typisierungen der Interaktionspartner sich zwanghaft

wiederholen. Die Einsicht des Patienten in sein eigenes Verhalten und Erleben soll

sich in der beständigen reflexiven Beobachtung dieser Beziehung und dann erst im

zweiten Schritt durch eine Übertragung der hier gemachten Erfahrungen auf biogra-

phische Interaktionskonstellationen entwickeln.

71

Trotz aller Abgrenzungen im einzelnen, haben die meisten Beratungsschulen in der

Folgezeit auf Grundgedanken der Psychoanalyse zurückgegriffen. Rogers hat den

interaktionistischen Ansatz übernommen, Eric Berne hat die Bedeutung der Übertra-

gung und der Interaktionsmuster erkannt und sie in seiner 'Transaktionsanalyse' in

den Mittelpunkt gestellt, Ruth Cohn, die Mutter der themenzentrierten Interaktion

(TZI), hat ihre psychoanalytischen Wurzeln ebenfalls nie verleugnet.

Um so bemerkenswerter ist, daß der nächste entscheidende Schritt zur Weiterent-

wicklung des selbstreferentiellen Konzepts nicht durch einen Therapeuten und un-

mittelbaren Anhänger der Psychoanalyse erfolgte, sondern an einem ganz anderen

Ort und in einem ganz anderen Setting. Um die Struktur und Dynamik von Gruppen,

also z.B. die Auswirkung unterschiedlicher Führungsstile in militärischen Einheiten zu

untersuchen, führte Kurt Lewin in den 30er und 40er Jahren in Iowa und dann am

MIT (Massachusetts Institute of Technology), die von ihm sogenannten 'gruppendy-

namischen Laboratorien' durch. Er war gar nicht in erster Linie an der einzelnen Per-

son und an den klassischen Formen des Beratungsgesprächs, das ja immer in einer

Zweipersonen-Situation ablief, interessiert. Vielmehr richtete sich seine Aufmerk-

samkeit auf größere soziale Gruppen und er suchte die Vorteile kollektiven Arbeitens

zu erkennen und auszunutzen. Bei seinen Experimenten kam er recht bald zu ähnli-

chen Ansichten wie Freud. Der Vorzug der Minimalstrukturierung beispielsweise, also

die Vermeidung einer Instruktion der Teilnehmer über ihr genaues Verhalten und ihre

72

Rollenaufgaben, wurde von ihm durch einen Zufall 'wiederentdeckt': Ein wenig

erfahrener Gruppenleiter mochte oder konnte die zuvor abgesprochenen experi-

mentellen Konzepte während eines Trainingslaboratoriums nicht durchsetzen und

überließ die Gruppe sich selbst. Zum Erstaunen von Lewin und von den anderen

Betrachtern verstanden es die Gruppenteilnehmer trotzdem, ihre Beziehungen zu

organisieren und sich phasenweise unterschiedliche Normen, darunter auch die an-

visierten, zu geben. Die Struktur war also nicht 'direktiv', sondern im Gegenteil als

Resultat von Selbstbeobachtung und Selbstorganisation entstanden.

Im engeren Sinne 'selbstreferentiell' wurden diese Trainings allerdings erst von dem

Moment an, in dem sich nicht mehr nur die Gruppenleiter im Nachhinein und aus

mehr oder weniger wissenschaftlichen Interessen mit der Auswertung des Gruppen-

prozesses beschäftigten, sondern die Teilnehmer selbst diese Aufgabe übernahmen.

Historisch wurde diese Wende wiederum durch einen Zufall eingeleitet: Teilnehmer

eines Training kamen unerwartet und ungeplant zu einer Auswertungssitzung, in der

die Trainer versuchten, sich über die Strukturen des gerade beendeten Trainings

klarzuwerden. Die Gruppenmitglieder beteiligten sich an der Diskussion und dies ge-

schah in so fruchtbarer Weise, daß man auf die Idee kam, sogenannte 'T-Gruppen'

durchzuführen, deren einziges Ziel die Erforschung ihrer eigenen Dynamik, ihrer ei-

genen Autopoiesis war. In diesen Gruppen trat von Anfang an viel deutlicher als in

jener, typischerweise 'Einzeltherapie' genannten Veranstaltung hervor, daß die

Selbstreflexion eine soziale, und nicht eine individuelle Leistung ist.

Das Menschenbild der Gruppendynamik

Die Erfahrungen in den Trainingslaboratorien haben das Menschenbild von Lewin

geprägt. Für ihn ist der Mensch zunächst ein Gruppenwesen. Hier entfalten sich

seine Leistungen und von diesem Setting war Lewin, anders als Freud und Rogers

anfänglich, immer wieder fasziniert.1 Wegen dieser Orientierung auf die Gruppe

bezeichnet man Lewin und seine Nachfolger auch als 'Gruppendynamiker'.

Ihre Grundannahmen seien hier kurz zusammengefaßt:

1. Der Mensch ist ein Gruppenwesen. 1 Rogers hat zwar schon seit 1945 die sogenannte ‚personenzentrierte Gruppenarbeit‘ praktiziert, abereben mit dem Fokus nicht auf die Gruppendynamik sondern auf die ‚Person‘. Erst mit 68 Jahrenveröffentlichte er seine Vorstellungen über die ‚Encounter‘-Gruppen - und hatte damit publizistischseinen größten Erfolg. In diesem Buch (On Encounter Groups, New York 1970, dt. Encounter-Gruppen. Das Erlebnis der menschlichen Begegnung. München 1974) findet sich auch der Satz, daß„die intensive Gruppe.... eine der ganz großen sozialen Erfindungen dieses Jahrhunderts undvermutlich die potenteste überhaupt“ ist. (S. 9) Vgl. Peter F. Schmid: PersonenzentrierteGruppenpsychotherapie – Ein Handbuch, Köln 1994.

73

2. In allen Gruppen bilden sich Strukturen, Programme und Werte heraus, die das

Verhalten und Erleben des einzelnen Mitglieds bestimmen. Die Gruppe weist ihm

z.B. (offizielle und inoffizielle) Rollen und Status zu.

3. Der Einzelne kann von seinen biographisch akkumulierten Informatio-

nen/Verhaltens-/Erlebensweise nur so viele nutzen, wie es die Gruppe erlaubt.

(Dies ist eine beständige Konfliktursache!) Andererseits lockt die spezielle Grup-

pendynamik jeweils bestimmte Verhaltens- und Erlebensweisen mit besonderer

Intensität hervor.

4. Wer den Einzelnen (oder auch größere soziale Zusammenhänge, die aus Grup-

pen aufgebaut sind) ändern will, der muß folglich dessen Bezugsgruppen ändern.

5. Da Gruppen selbstorganisierte Systeme sind, die sich nur selbst verändern kön-

nen, muß die interventionsbereite Person zu einem Element der Gruppe werden

und ihre Überzeugung dort zur gemeinsamen Erfahrung werden lassen. Gruppen

kann man nicht von Außen ändern.

Von den Therapien Freuds unterscheiden sich die Laboratorien Lewins zum einen

dadurch, daß in ihnen eben Gruppen und nicht nur zwei Individuen experimentieren.

Als Vorteile kollektiven selbstreflexiven Arbeitens stellen die Gruppendynamiker her-

aus:

- Verschiedene Standpunkte, Perspektiven und Informationen kommen zum Tragen;

- Dadurch Möglichkeit der Korrektur von Einseitigkeiten der Wahrnehmung bei den

Teilnehmern;

- Steigerung der Problemlöseintensität durch Wettbewerb;

- Psychische Stabilisierung der Teilnehmer durch den Gruppenrückhalt.

Ein zweiter Unterschied zu Freuds therapeutischem Ansatz lag darin, daß die Trai-

ningslaboratorien Lewins zunächst eine vorrangige Funktion als Instrument der For-

schung für Dritte besaßen. Es waren ursprünglich keine therapeutischen, sondern

wissenschaftliche Institutionen. Lewin spricht in diesem Zusammenhang dann auch

von 'Action - Research', Aktionsforschung. Diese Einbettung macht die T-Gruppen,

zu einem direkten Vorläufer der kommunikativen Sozialforschung. (vgl. zu diesen

historischen Entwicklungslinien: Ronald Lippitt: Kurt Lewin und die Anfänge der

Gruppendynamik, in Annelise Heigl-Evers (Hg.) Sozialpsychologie, Band 2: Grup-

pendynamik und Gruppentherapie (Psychologie des 20. Jahrhunderts) Wein-

heim/Basel 1984, sowie Manfred Sader: Das Aktionsforschungsmodell der T-Grup-

pen und des T-Laboratoriums, ebenfalls in Heigl-Evers (Hg.) 1984)

74

Lewin und sein Anhänger haben ihre Trainingsgruppen aber schon sehr bald aus

den übergeordneten Forschungszusammenhängen herausgelöst. Sie wurden dann

als sogenanntes 'Sensitivity-Training' ausgerichtet, deren erstes Ziel nicht die Lösung

irgendeines Problems, sondern eben die Sensibilisierung der Teilnehmer für interak-

tive und vor allem gruppendynamische Prozesse ist.

Es lassen sich also zusammenfassend zwei Grundtypen selbstreferentieller Erfah-

rungsgewinnung unterscheiden: auf der einen Seite die Trainingslaboratorien (T-

LABs), die immer eine Funktion für ihre Umwelt zu erfüllen haben. Hier ist die Auf-

merksamkeit auf die Lösung von zuvor klar formulierten Aufgaben gerichtet. Diese

sollen unter Ausnutzung des Gruppenvorteils gelöst werden.

Auf der anderen Seite stehen die Sensitivity-Trainings, die eine Funktion für die (psy-

chischen Systeme der) einzelnen Gruppenmitglieder erfüllen sollen. Es geht darum

das Erleben der Teilnehmer zu ermitteln und ggf. zu verändern, die Selbstwahrneh-

mung durch Konfrontation mit Fremdwahrnehmungen zu fördern, psycho- und grup-

pendynamische Prozesse in den Dienst der eigenen Selbsterfahrung zu stellen.

Man kann dann die klassische psychoanalytische Therapie als eine Unterart eines

solchen Sensitivity-Trainings verstehen. Es unterscheidet sich von den gruppendy-

namischen Trainings dadurch, daß es eben in Dyaden abläuft und vor allem dyadi-

sche Interaktionsmuster und die Psychodynamik des Klienten focussiert. Die Zu-

sammenhänge faßt die nachfolgende Abbildung 23 zusammen:

Abb. 23Klassische Formen des selbstreferentiellen Lernens

2 Grundtypen

Trainings Laboratorien Sensitivity Training(T-LAB) (Sonderfall 'Therapie')

auf Verhalten/Aufgaben (für auf Erleben/Veränderungdie Umwelt) konzentriert des Einzelnen konzentriert

Aufgaben unter Ausnutzung Selbstwahrnehmung durchdes Gruppenvorteils lösen Konfrontation mit Fremd- wahrnehmungen fördern

75

Folgende methodischen Maxime des gruppendynamischen selbstreferentiellen

Lernens haben die Entwicklung der Beratungsmethodik nachhaltig beeinflußt:- Leiter stellt die Aufgabe/Übung, zieht sich in die Gruppe zurück und läßt sich in

ihre Dynamik einbeziehen (Minimal-Strukturierung; egalitäre Ausgangsbedingun-

gen)

- - Prozeß laufen lassen:

*Hier und Jetzt betonen

*Artikulation von latenten Strukturen, Gefühlen/Beziehungsdefinitionen

*Kontakt vor Konsens!

*Störungen gehen vor!

*'Ich' statt 'man'

*Den Kommunikationspartner direkt ansprechen statt verdecktes Thematisie-

ren/Angreifen

- Nach Abschluß von Teilprozessen und bei Krisen:

*Übergang zur Selbstreflexion des vorherigen Geschehens (Metakommunika-

tion) [Diese Phase/Aufgabe kann auch prozeßbegleitend institutionalisiert

werden: fish-bowl; Doppeln u.ä.]

*Beschreibung des Ablaufs aus verschiedenen Perspektiven (Blitzlicht, feed-

back, Sammeln auf Flip charts)...

*Prozeßanalysen entsprechend der jeweiligen gruppendynamischen Konzep-

tion (z.B. TZI, PSA, Bion, Psychodrama, Soziometrie etc.)

*Bei Störungen und zur Klarifikation: Medienwechsel (z.B. Skulpturen)

- In erfahrenen Gruppen kann auch die Reflexionsphase noch einmal reflektiert

und auf strukturelle Ähnlichkeiten mit dem vorherigen Prozeß befragt werden

(Deuten von Spiegelphänomenen)

- Zusammenfassung aller Phasen (meist durch den Leiter)

Historische Gruppenprozeßmodelle

Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Experimente Lewins die Bedeutung der

Zeitdimension. Gruppen haben wie die übrige Natur auch ihre eigenen Wachstums-

stadien und die Gruppendynamiker bemühten sich von Anfang an, diese Stadien zu

erkennen und zu berücksichtigen. Sowenig in den anderen biogenen Systemen ein

Reifestadium übersprungen werden kann, sowenig ist dies auch bei den aus Men-

schen zusammengefügten Gruppen der Fall. Diese Erkenntnis besitzt selbstver-

76

ständlich für jede Form von Beratungspraxis außerordentliche Bedeutung. Auch und

gerade in dieser ist damit zu rechnen, daß die Teilnehmer unabhängig von den so-

zialen Aufgaben, zu deren Lösung sie gerade zusammengetroffen sind, je nach den

Phasen, in denen sich ihr gruppendynamischer Prozeß befindet, mit unterschiedli-

chen Problemen befaßt sind. Erfahrene Berater kennen solche Phasen und berück-

sichtigen ihren Einfluß von vornherein in der Planung und bei ihren Interventionen.

Sie geben beispielsweise anfangs die Möglichkeit, daß sich die Teilnehmer unterein-

ander kennen lernen können; rechnen damit, daß sie selbst anfangs als Leiter be-

sonders in Anspruch genommen werden, daß dann aber diese Rolle stärker in Frage

gestellt wird und die Gruppe versucht, selbständiger zu werden. "Krisen" in diesem

Sinne sind absehbar und können als Zeichen von Entwicklungsprozessen (positiv)

verstanden werden. Auf lange Sicht schaden künstliche Beschleunigungen und die

Ignorierung der Gruppendynamik dem Beratungsprozeß ebenso sehr wie die Fluß-

begradigung der Landschaftsökologie.

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es viele Möglichkeiten, den historischen Gruppen-

prozeß in Phasen zu gliedern. (Vgl. a. Kapitel 9) Einige gängige Modelle von be-

kannten Praktikern seinen nachfolgend aufgeführt:

Gruppenprozeßmodelle

Lewin: - Unfreezing (Auftauen

- Change (Ändern)

- Refreezing (Festigen)

M.B. Miles: - Problem entdecken

(Learning to work - Strategieauswahl

in groups, New - Strategieausübung

York 1965) - Feedback

- Generalisierung

Lawrence (1968): - forming (der Gruppe)

- storming (Konflikte um Macht, Normen etc. brechen auf)

- norming (->Gruppenidentität)

- performing (produktive Arbeit)

- informing (Kontakt mit der Umwelt)

77

Bion (1968): - Kampf <-> Flucht

- Paarbildung

- Abhängigkeit

Freud: - oral

- anal

- ödipal

Literatur

Antons, Klaus: Praxis der Gruppendynamik. Göttingen 1974 u.ö.

Bion, W. R.: Experiences in groups and other papers. London: Tavistock 1961.

Deutsch: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett 1971

Bion, W. R.: Erfahrungen in Gruppen. Stuttgart 1974.

Brocher, T.: Gruppendynamik und Erwachsenenbildung. Braunschweig: Westermann

1967

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ders.: Interaktionsspiele Teil 1-6

ders.: Materialien für Gruppenleiter, Teil 1-8 – und viele andere Materialien für ver-

schiedene Typen sozialen Trainings

B: Der Ablauf fallbezogener Beratung (Supervision)

Wir hatten zu Beginn unserer Beschäftigung mit dem Thema die zeitgemäße Bera-

tung als eine Kommunikationsform beschrieben, die Instruktion und zielgerichtete

Umweltbetrachtung mit selbsterfahrenden Lernen verbindet. Ich bin davon ausge-

gangen, daß jeder, der unsere allgemeinbildenden Schulen durchlaufen hat und an

der Universität in das wissenschaftliche Arbeiten eingeführt wird, recht gut darüber

Bescheid weiß, wie man in distanzierter Betrachtung Informationen über seine Um-

79

welt sammelt, diese ordnet und beschreibt, wie man unterrichtet und unterrichtet

wird, wie man Ratschläge gibt usf. Unbekannter, weil in der Regel nicht Gegenstand

des schulischen Unterrichts und der universitären Lehre, ist dagegen die selbstrefle-

xive Informationsgewinnung. Diese setzt das Erleben des eigenen Körpers, der eige-

nen Position in der Gruppe und der Rollen in Institutionen voraus. Weil man Teil der

Welt, der Gruppe, der Institution ist, kann man aus der Betrachtung dieses eigenen

(An-)Teils Kenntnisse über seine Umwelt, seine Gruppe, seine Institution usf. erlan-

gen.

Diese Form des Lernens ist mehrheitlich eine unausgeschöpfte Ressource sowohl im

Privat- als auch Berufsleben. Eben deshalb befassen wir uns im Fach 'Kommunikati-

onslehre' so intensiv mit ihr.

Mit der Entdeckung der Formen selbstreferentieller Informationsgewinnung und

Kommunikation haben wir uns in den letzten drei Vorlesungen ausführlich beschäf-

tigt. Wir sind dabei in therapeutische Kontexte gelangt, eben weil hier die Wurzeln

des Paradigmas zu finden sind. Genau genommen geht es aber in dieser Vorlesung

nicht um die selbstreferentielle Kommunikation sondern um die Beratung und also

um die Verknüpfung zwischen Instruktion und selbsterfahrendem Lernen.

Ansätze zu einer solchen Verknüpfung haben wir bei Lewin in seinen T-LABs gefun-

den. Etwas später experimentierte der Arzt und Psychoanalytiker Michael Balint in

London in ähnlicher Absicht mit den sogenannten 'Training-cum-Research'-Gruppen.

Er versammelte Sozialarbeiter und später dann vor allem frei praktizierende Ärzte,

um mit ihnen in Gruppendiskussionen gemeinsam größeres Wissen über ihre jewei-

lige Profession zu gewinnen. Ihn interessierte, welche Probleme Sozialarbeiter und

Ärzte in ihrem Beruf mit ihren Klienten haben und welche speziellen Fähigkeiten sie

im Laufe der Zeit entwickelten, um mit diesen Problemen fertigzuwerden. So gese-

hen handelte es sich bei diesen später nach ihm benannten 'Balint-Gruppen' um eine

Form der Berufsfeldanalyse. Es ging dabei von Anfang an um eine Verknüpfung zwi-

schen der Psychodynamik und der Soziodynamik, dem Beziehungs- und dem In-

haltsaspekt. Die Gruppenmitglieder sollten auch ihre persönlichen Gefühle äußern,

über die emotionalen Beziehungen zu ihren Klienten berichten und man wollte wis-

sen, wie mit diesen ja teilweise belastenden Erfahrungen im professionellen Alltag

80

umgegangen wird. Diese Ausrichtung ist, wenn man sich den beruflichen Alltag ge-

rade von Sozialarbeitern und Medizinern anschaut, nicht verwunderlich. Zu oft müs-

sen diese Berufsgruppen handeln, obwohl sie zu wenig Informationen besitzen, zu

oft wird ihr Wissen und werden ihre Ratschläge von ihren Klienten/Patienten nicht

akzeptiert. Zu oft spielen Beziehungskonflikte, Schamgefühle, gruppendynamische

Prozesse u.ä. eine ausschlaggebende Rolle in der beruflichen Kommunikation.

Wenngleich sowohl bei Balint als auch bei K. Lewin (und bei Moreno, wie wir noch

sehen werden) zunächst ein wissenschaftliches Interesse im Vordergrund stand, so

eignete sich die Methode doch ebenso zur Anwendung auf Einzelfälle und damit für

die individuelle Beratung.

Historisch gesehen stellt sich die Verknüpfung des selbstreferentiellen mit dem in-

struktiven Paradigma, die Ausnutzung der Erfahrungen der Psychoanalyse der

Gruppendynamik, der Aktionsforschung und der Training-cum-Research-Gruppen für

die Beratungspraxis und überhaupt für die betriebliche Kommunikation als ein aus-

gesprochen langwieriger Prozeß mit vielen Sackgassen dar. Seit den 80er Jahren

kann man davon sprechen, daß sich in Europa und Amerika ein Beratungskonzept

institutionalisiert und professionell ausdiffenziert hat, dem die Verknüpfung der bei-

den Paradigmen gelingt, die Supervision.

Der Begriff selbst ist älter und das Wort hat im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten

Bewegungen und Gegenstände bezeichnet. Mit dieser Vorgeschichte wollen wir uns

hier nicht befassen (vgl. N. Belardi). Vielmehr soll relativ axiomatisch Funktion und

Ablauf einer Grundform der Supervision, der Fallsupervision, geschildert werden.

Dieses Herangehen empfiehlt sich schon deshalb, weil ich bei diesem Gegenstand

nicht nur als Wissenschaftler sondern auch als Praktiker/Berater sprechen kann.

Wenn in der Folge von 'Supervision' die Rede ist, dann meine ich damit immer das

Konzept, das meine Frau - ihr gebührt hier zweifellos der größere Anteil - und ich in

den letzten 15 Jahren entwickelt haben.

Ziele der Supervision

Ziel der Supervision ist es danach, "die Psychodynamik von professionellen Bezie-

hungen, seien es Beziehungen zwischen Professionellen und ihren Klienten oder

Beziehungen zwischen den Professionellen, z.B. Teammitgliedern, zu analysieren.

Zweitens hat Supervision die Funktion, die Rollenhaftigkeit dieser Beziehungen zu

untersuchen. Sie fragt nach den Auswirkungen der Institution, in der Professionals

und Klient und Professional mit Professionals zusammen kommen, auf deren Bezie-

hung. Und drittens vermittelt Supervision beide Analyseebenen und klärt das Zu-

sammen- bzw. Gegeneinanderwirken von psychischen und institutionellen Strukturen

81

in professionellen Beziehungen." (K. Rappe-Giesecke: Theorie und Praxis der Grup-

pen- und Teamsupervision. Berlin 1990)

Diese Form der Ausbildung und Sensibilisierung richtet sich also an Personen, die in

ihrem Beruf viel mit Menschen zu tun haben - und somit natürlich auch an Berater.

Sie ermöglicht es, die eigenen Anteile bei den Erfolgen und Mißerfolgen in der beruf-

lichen Tätigkeit besser einzuschätzen - und ergänzt so auf das Beste die fachlichen

Qualifikationen, die durch die anderen Ausbildungsformen gefördert werden. Super-

vision eignet sich somit auch für die Studenten im Gartenbaustudium und für die

Professionals im Gartenbau. Sie ergänzt die natur- und betriebswirtschaftlichen

Kenntnisse und die vielfältigen technischen und anderen Fähigkeiten und Fertigkei-

ten.

Der Ablauf der Fallsupervision

Generell unterscheidet man zwischen Fall- und Teamsupervisionen. In der Fallsu-

pervision, die entweder als Einzel- oder Gruppensupervision durchgeführt werden

kann, steht die Arbeit an Problemen der Professionals mit ihren Klienten im Vorder-

grund. Bei der fallbezogenen Gruppensupervision kann man, da alle Teilnehmer im

gleichen Feld arbeiten unterschiedliche professionelle Herangehensweisen kennen-

lernen und es besteht die Möglichkeit ohne Druck und Furcht vor Sanktionen sich frei

zu äußern.

Teamsupervisionen, auf die wir später zu sprechen kommen werden, werden ange-

setzt, weil die Mitarbeiter eines Betriebes/einer Institution über Probleme mit ihren

Klienten/Kunden oder über Konflikte im innerbetrieblichen Miteinander sprechen

wollen. Fallsupervisionen mit Teams sind nur dann möglich, wenn keine massiven

institutionellen oder betrieblichen Konflikte vorhanden sind. Natürlich ist es an dieser

Stelle nicht möglich, eine umfassende Vorstellung von den Abläufen in einer Fallsu-

pervision zu geben. Aber vielleicht kann man wenigstens exemplarisch zeigen, wie

es gelingt, die Verhandlung von Konflikten, über die die Supervisanden erzählen mit

den Vorzügen selbstreferentiellen Arbeitens zu verbinden. Ich nutze dazu eine Ta-

belle, die im Rahmen eines Supervisionsforschungsprojektes von uns entwickelt

wurde. (Abb. 24) Ihr Ziel ist es, die Programme, die Normalformerwartungen, die

Handeln aller Beteiligten in diesen Supervisionen steuern, möglichst detailliert zu be-

schreiben.

82

Abb. 24: Normalformerwartungen in Supervisions- und BalintgruppenPhase Seq. Kollektiv zu lösende Verständigungsaufgaben Schaltstellen/

FokuswechselArbeitsaufgaben desLeiters

1. Vorphase Herstellen der Randbedingungen für die institu-tionelle Arbeit und Übergang von der alltagswelt-lichen (vorinstitutionellen) Interaktion und The-matik zur institutionellen

1.1 Konstitution der Gruppe Begrüßen1.2 Verständigung über die Randbedingungen des

zukünftigen Gruppenprozesses/SettingDurchstrukturierenRatifizieren

1.3 Verständigung über die (voraussichtliche) Zu-sammensetzung der heutigen Gruppe durch Fest-stellen/Entschuldigen der abwesenden Grup-penmitglieder

1.4 Verständigung über die Beendigung der Vorphaseund Herauslösung der Materialerzeugung

SF1:Falleinbringung

(Initiieren derFalleinbringung)

Herstellen der Bedingung für die Falleinbringung2. Aushand-

lung2.1 Einigung auf ein Arbeitsthema und einen Fallvor-

tragenden/Erzähler(Interessenbekun-dung)

2.2 Verständigung über die Vertrauensbasis in derGruppe

SF2:Gruppendynamik

3. Falleinbrin-gung

Herstellen der (emotionalen) Reziprozität zwi-schen der Gruppe und einem Schematräger(Erzähler) über ein persönliches berufsabhängi-ges Problem, das diesen gegenwärtig bedrücktdurch die Abwicklung der kommunikativen Ko-operationsform ‘Erzählen’

F 3:Normalform‘Erzählen’

Rezeptionssignale

4. Fallbear-beitung

Bearbeiten der ‘Erzählung’SF 4:Abbruch der ‘Erzäh-l u n g ’ / B e a rbei-tungsfokus

4.1 Verständigung über das Geschehen und seineBegleitumstände, Rekonstruktion der Typisierun-gen der Figuren der Erzählung und ihrer Bezie-hungen untereinander

(detaillierendeNachfragen/Pro-blemverständnisverdeutlichen)

4.2 Herstellen der Reziprozität zwischen der Gruppeund dem Erzähler über sein Erleben (Problem)und das Erleben der Figuren der Erzählung (durchRekonstruktion des Erlebens)

SF 5:Erleben

4.3 Verständigung zwischen Gruppe und Leiter übereine verallgemeinernde Typisierung des (verän-derten) Themas/Problems der Erzählung

SF 6:Beschreiben

(Typisierungsvor-schläge u. -korrektu-ren)

4.4 Verständigung (zwischen Gruppe, Leiter undErzähler) über die (Be)Deutung der Geschichtea) Für den Erzähler (Moral)b) allgemein und über Möglichkeiten, das (ver-

änderte) Problem zu lösen

F 7:unbewußte Thematikdes ‘Falls’

Zusammenfassender ausgehandeltenProblematik der Er-zählung, Andeutungdes unbewußtenThemas (Formulie-rung einer Maxime)

4.5 Verständigung zwischen Gruppe und Leiter überdie Bedeutung der Bearbeitungsphase und des(veränderten) Problems der Erzählung für denGruppenprozeß / die Gruppe

F 8:unbewußte Thematikd. Gruppe

Kommentierung(‘Deutung’) der Ar-beit d. Gruppe

5. Abschluß-Übergang von der institutionellen Interaktion undThematik zum alltagsweltlichen (nachinstitutio-nellen) Handeln

Phase 5.1 Verständigung über die Beendigung der Arbeits-aufgaben [Entgegennahme von Reziprozitätsver-weigerungen, ankündigen ungelöster Aufgabenund Themen von einzelnen Gruppenmitgliederndurch die Gruppe]

SF 9:Abschluß

[Ankündigung einerThematik für zukünf-tige Sitzungen]

5.2 Auflösung der Gruppe Verabschiedung

83

Die Abb. 24 konzentriert sich auf die Darstellung der Erwartungen über die gemein-

sam zu lösenden Kooperationsaufgaben in der Gruppe. (Darüber hinaus gibt es noch

Erwartungen an kommunikative und an interaktive Aufgaben, die in ähnlichen Ta-

bellen zusammengefaßt sind, mit denen wir uns aber nicht weiter beschäftigen wol-

len.) Es lassen sich aus dieser Perspektive fünf Phasen der Gruppenarbeit unter-

scheiden. In einer Vorphase konstituiert sich die Gruppe. In der anschließenden

Aushandlungsphase einigt sie sich auf einen Fallvortragenden und damit auch auf

ein bestimmtes Thema, das in der betreffenden Supervision bearbeitet werden soll.

Der Fallvortragende bringt anschließend sein berufliches Problem in die Gruppe ein,

indem er eine ausführliche Erzählung über seine beruflichen und interaktiven Schwie-

rigkeiten abliefert.

Die Zuhörer haben dabei bestimmte Normalformerwartungen über die Falleinbrin-

gung entwickelt und messen die Erzählung an ihnen. Es fällt ihnen dabei auf, wenn

die Schilderung der Rahmenbedingungen unvollständig ist oder wenn einzelne Glie-

der der Ereigniskette fehlen.

In der vierten Phase, der Fallbearbeitung, wird nach diesen fehlenden Informationen

gefragt. Insbesondere geht es darum, nicht nur Informationen über das beobachtbare

Geschehen zu sammeln sondern auch das Erleben aller Beteiligten, die ausgelösten

Gefühle zu verstehen. Normalerweise ist es so, daß der 'Falleinbringer' über das Er-

leben seiner Gegenüber nur unzureichende Kenntnisse hat. Hier setzt dann der

'Gruppenvorteil' ein: Mitglieder der Supervisionsgruppe identifizieren sich probeweise

mit den Figuren der Erzählung, schildern aus dieser Sicht ihr Erleben, alternative

Handlungsmöglichkeiten, drücken die in ihnen durch die Erzählung ausgelösten Ge-

fühle aus und ermöglichen es so allen Beteiligten, ein umfassendes Bild von der da-

maligen problematischen beruflichen Situation zu gewinnen.

Je stärker sie auf diese Weise in die erzählte Kommunikationssituation einsteigen,

um so mehr wiederholen sich in der Supervision die Strukturen jener ja räumlich weit

entfernten und zeitlich oft lange zurückliegenden Situationen. Das Verhalten der Be-

teiligten damals 'spiegelt' sich im Verhalten der Supervisanden und des Gruppenlei-

ters. Mit - oftmals vertauschten Rollen - wiederholt sich das Geschehen in seinen

strukturellen Grundzügen noch einmal.

Das ist nun genau der Punkt, an dem nach der distanzierten Betrachtung das eigene

Erleben und die Gruppenerfahrung im Hier und Jetzt genutzt werden kann. Man

braucht sich nicht mehr mit etwas Entferntem beschäftigen sondern kann die eigene

unmittelbare Erfahrung nutzen.

Aufgabe des Leiters ist es, zum einen die Typisierungen der Beziehungen und des

Erlebens zusammenzufassen und so der Gruppe dabei zu helfen, das Problem des

Erzählers auf den Begriff zu bringen. Zum anderen macht er auf Spiegelungsphäno-

mene aufmerksam und setzt sie zum Fallthema in Beziehung.

84

Meistens ist es möglich aus einem solchen von einem Supervisanden geschilderten

Einzelfall allgemeine Maximen für das professionelle Handeln abzuleiten. Um dies zu

erleichtern, fordert der Leiter die Gruppenmitglieder auf, eigene Erfahrungen im Um-

gang mit vergleichbaren Problemen zu äußern.

In einer abschließenden Sequenz kann sich die Gruppe auch noch einmal speziell

der Art und Weise zuwenden, wie sie selbst in dieser Sitzung mit dem Problem um-

gegangen ist. Die Gruppendynamik und eventuelle Krisen werden dann thematisiert.

Oftmals schließt sich nach Beendigung der Fallarbeit noch eine 'Abschlußphase' an,

in der Informationen über die nächste Gruppensitzung gegeben werden können.

Natürlich verändert sich der geschilderte Ablauf der Supervision, wenn nicht an Fäl-

len gearbeitet wird oder wenn die Supervisionen durch ihre Einbettung in spezielle

Institutionen noch andere Aufgaben zu erfüllen haben. Auf diese unterschiedlichen

Typen kommen wir in der 12. Vorlesung zurück. Wenn sie erfolgreich sind, ist ihnen

allen die Verbindung zwischen Fallarbeit und Gruppendynamik und damit die Arbeit

mit Wiederholungen und Spiegelungsphänomenen gemeinsam.

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secke (Hg.): Kommunikation in Balintgruppen. Ergebnisse interdisziplinärer For-

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furt 1982: S. 208-302

Die institutionszentrierten Beratungsansätze(Kapitel 6)

A: Von der Gruppendynamik zur Organisationsentwicklung und Institutions-

beratung

Was sind Institutionen und worin liegt das Problem ihrer Beratung?

Je nachdem welche Theorie von 'Organisation' oder 'Institution' wir anlegen, bekom-

men wir andere Aspekte dieser Phänomene zu sehen - und blenden wieder andere

notwendig aus (Mehr zu diesem Thema im Skript 'Kommunikationslehre').

Einige Möglichkeiten, solche Phänomene wie 'Universitäten', 'Läden', 'Baumschulen'

oder andere 'Betriebe' zu modellieren, haben wir schon kennengelernt.

Man kann Organisationen betrachten als

- eine Ansammlung von Individuen/oder einfachen Interaktionssystemen (Rogers)

- eine Ansammlung von Gruppen (Lewin, Moreno)

85

- zweckrationale Handlungssysteme (M. Weber, Arbeitswissenschaft)

- System von sozialen Normen (Wissenssoziologie)

- politische Subsysteme (Mikropolitik)

- Elemente von Gesellschaftssystemen, vor allem als Elemente des

- Wirtschaftssystems (Volkswirtschaftslehre)

- Lebewesen mit Wachstumsstadien (B.C.J. Liefegod: Organisationen im Wandel.

Bern/Stuttgart 1974)

- komplexe entweder soziale oder ökologische oder informationsverarbeitende

Systeme.

Der klassische und bis heute noch wirkungskräftigste Ansatz ist es, Institutionen als

eine Zusammenfügung von zweckrationalen Handlungen zu verstehen. Im Hinter-

grund steht hier immer eine Handlungstheorie und die Auffassung der Personen als

'rational actor'. Konsequent ist diese Theorie im Bürokratiemodell der Institution von

Max Weber ausgearbeitet. Aber auch die Arbeitswissenschaft hat auf diesem Modell

lange Zeit nahezu ausschließlich aufgebaut. Sie versteht die Betriebe, indem sie

nach den institutionsdefinierenden Aufgaben sucht und die zu ihrer Lösung notwen-

digen Handlungen ermittelt. Der wissenschaftliche Fortschritt bestand lange Zeit

darin, diese Teilhandlungen immer weiter zu zerlegen (Arbeitsteilung, Taylorisierung)

und ökonomische/rationelle Formen ihrer Verknüpfung zu finden.

Rationale Arbeitsorganisation führt meistens dazu, daß für jede Teilhand-

lung/Aufgabe eine 'Stelle' vorgesehen ist. Nur an der Basis, wenn es denn unver-

meidlich ist, finden sich mehrere 'Arbeiter', die das gleiche tun.

86

Es ergibt sich dadurch ein hierarchischer Aufbau der Institution, den die folgende

Abbildung wiedergibt.

Hierarchische (formale) Arbeitsorganisation:

Der Nachteil dieser Form der Arbeitsorganisation und natürlich auch dieses Theo-

riemodells ist es, daß zwar die vertikale Kommunikation focussiert, die horizontale

aber vernachlässigt wird. Es gibt keinen Anreiz (Motivation) auf der horizontalen

Ebene miteinander Informationen auszutauschen. Das heißt aber auch, daß die

Kontrolle nur vertikal und nicht horizontal ausgeübt wird.

Die diesem Ansatz zugrunde liegende Rationalitätsunterstellung hat sich in der Pra-

xis oftmals als hinfällig erwiesen. Die für rationale Entscheidungen notwendigen In-

formationen und andere Voraussetzungen (berechenbare Kundenwünsche, gleich-

bleibende Rohstoffqualität, standardisiert arbeitende Menschen) liegen oftmals nicht

vor. Faktisch muß immer wieder unter Bedingungen der Unsicherheit (Risiko) und

Zielungenauigkeit gehandelt werden.

Zweitens kann mit diesem Ansatz die informelle Betriebsorganisation nur ungenü-

gend erfaßt werden. Dabei erfordert die Arbeitszusammenführung an jeder Stelle im

Betrieb immer wieder Kommunikation - und diese Kommunikation findet selbstver-

ständlich auch auf der horizontalen Ebene statt. Der Theorieaufbau läßt jedoch die

Berücksichtigung dieses Beziehungsaspektes kaum zu. Unter den Stichworten 'Hier-

archie versus Demokratie' oder 'Führung und Motivation' wird diese Spannung in der

einschlägigen Literatur seit Jahren diskutiert.

Einen ganz anderen Ansatz zur Beschreibung von Institutionen hat die 'Wissensso-

ziologie' gewählt. Wie schon die Bezeichnung nahelegt, steht im Zentrum ihrer

Überlegungen nicht die beobachtbare Handlung sondern das Wissen, die Idealisie-

rungen und Vorstellungen der Menschen, in diesem Fall der Angehörigen von Insti-

tutionen. Ihre Wurzeln hat die Wissenssoziologie in der phänomenologischen Philo-

Chef

Meister

Arbeiter

87

sophie. Im Anschluß an Alfred Schütz haben dann Peter Berger und Thomas Luck-

mann in ihrem Buch 'Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit' eine umfas-

sende Institutionentheorie vorgelegt. Sie gehen davon aus, daß nicht so sehr das

Verhalten als vielmehr die Erwartungen von Verhalten Institutionen schaffen. Wenn

gewohnheitsmäßig die Akteure sich selbst und ihre Handlungen immer wieder rezi-

prok, gleichsinnig typisieren, dann wird ihre Interaktion institutionalisiert. In dieser

Weise 'normiert' werden sowohl die Akteure und deren Sozialbeziehungen, als auch

die einzelnen Akte und der Ablauf der Interaktion, der Sinn der Institution und

schließlich auch die verschiedenen Mechanismen zur Krisenbewältigung. "Die Insti-

tution macht aus individuellen Akteuren und individuellen Akten Typen", so schreiben

P. Berger und Th. Luckmann.

Spätere Theoretiker haben diese Gedanken aufgegriffen und weiterentwickelt. Dabei

stand die Frage im Mittelpunkt, was Normen, Rollen und Typen sind. Mittlerweile

muß man wohl davon ausgehen, das Institutionen nicht auf der Ebene von Erwartun-

gen - und schon gar nicht von Verhalten - sondern auf der Ebene von Erwartungser-

wartungen stabilisiert werden: "Normativ wird Sinn in dem Maße" schreibt Niklas

Luhmann, "als das Festhalten von Erwartungen für den Enttäuschungsfall vorgese-

hen, also Lernen ausgeschlossen ist. Normen sind kontrafaktisch stabilisierte Er-

wartungen..." (Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: J. Habermas/N. Luhmann:

Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Ffm 1975: 25-100, hier S. 65)

Der wissenssoziologische Ansatz ist gut geeignet, einige Probleme der Veränderung

von Institutionen verständlich zu machen. Wenn sie historisch entstanden und ihr

Sinn gesellschaftlich ausgearbeitet ist, dann braucht ihre Veränderung auch Zeit und

den Druck von außen, von der Gesellschaft. Es sind gesellschaftliche Entinstitutiona-

lisierungsprozesse erforderlich, um die einzelnen Institutionen zu modifizieren.

Wenn die Normen weiterhin kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen sind, dann wird

verständlich, warum offensichtliche Mißstände in den Institutionen nicht zu Verände-

rungen führen. Institutionen sind eben darauf angelegt, nicht zu lernen. Nur diese

Beharrung ermöglicht es ihnen, die Erwartungen wechselseitig erwartbar zu machen.

Veränderung erfordert in diesem Fall, daß, zumindest für eine gewisse Zeit, Lernen

als eine akzeptable institutionelle Verhaltensform betrachtet wird.

Die moderne soziologische Systemtheorie betrachtet Institutionen als einen Sonder-

fall von Sozialsystemen, nämlich als organisierte Sozialsysteme. Damit soll ausge-

drückt werden, daß sie immer Funktionen für andere organisierte Sozialsysteme er-

füllen und daß sich ihr eigener Aufbau aus der Umformulierung dieser Funktion in

systemspezifische Aufgaben ergibt. Im Unterschied zu den einfachen Sozialsyste-

men, die sich zufällig beim Aufeinandertreffen von Individuen bilden, ist die Konstitu-

tion dieser Systeme vorgezeichnet, organisiert.

88

Klassische interne Organisationsentwicklungsmaßnahmen

1. Optimierung der Aufgabenerfüllung:

- Verbesserung der Arbeitsorganisation, Taylorisierung, Spezialisierung,

Professionalisierung, Lean-Production

- Personalauswahl, Personalentwicklung; Aus- und Weiterbildung,

Managemententwicklung

2. Humanisierung der Sozialbeziehungen:

- Arbeitsrecht

- Mitbestimmung

- Gleichberechtigung, Gleichstellung der Frauen

- Sozialverträgliche Technikgestaltung

- Gesundheitspolitik, Suchtprävention

- etc.

3. Optimierung der Technik:

- Technische Innovation, z.B. EDV-Einsatz

- Neue Rohstoffe etc.

4. Optimierung der Institution - Umweltbeziehungen:

- Neue Marketingstrategien, z.B.: von der Produkt- zur Kundenorientierung

- Umweltschutz/Ökologie

- Public Relations etc.

Diese klassischen Organisationsentwicklungsmaßnahmen müssen kontinuierlich

durchgeführt werden - auch dann wenn der Betrieb 'läuft'. Externe Beratung wird zu-

meist erst dann nachgefragt, wenn Probleme auftauchen, wenn also die üblichen

permanenten Organisationsentwicklungsmaßnahmen versagen. Entsprechend ist die

Institutionsberatung und die die externe Organisationsentwicklung zunächst einmal

von einem Problemlösedenken ausgegangen.

Historisch gesehen haben die gruppendynamischen Ansätze von Lewin und Moreno

der externen Organisationsentwicklung wichtige Impulse gegeben. Ihre Leistungen

und Schwächen sollen kurz skizziert werden. Dabei kann auch noch einmal der

gruppendynamische Institutionsbegriff erläutert werden.

Externe Organisationsentwicklung: Der gruppendynamische Ansatz

Die gruppendynamische Beratung von Betrieben ist selbst schon ein Reflex auf

Schwächen der nur instruierenden Beratung. In dieser fungierte der Berater als Ex-

89

perte, der bei Krisen in die Betriebe zur Hilfe gerufen wurde, der die Probleme dia-

gnostizierte und der dann die notwendigen (technischen) Informationen gibt, um Ab-

hilfe zu schaffen.

Die Umsetzung der aus der Betriebsanalyse gewonnenen Ratschläge wird als ein

vorrangig administratives Problem betrachtet, bestenfalls bemüht man sich um die

"Motivation" der Mitarbeiter. Typischerweise werden die Mitarbeiter erst bei der "Um-

setzung" der fertig ausgearbeiteten Pläne an den Veränderungsprozessen beteiligt.

Es verwundert nicht, daß unter diesen, die Psycho-, Gruppen- und Institutionsdyna-

mik kaum berücksichtigenden, instrumentalisierenden Vorgehen, Konflikte und Ver-

weigerungsstrategien in den Betrieben und Organisationen vorprogrammiert sind.

Im Gegensatz zu diesen bloß ziel- und nicht personen- und organisationsorientierten

Ansätzen haben J. L. Moreno, K. Lewin und seine Anhänger von vornherein ver-

sucht, die Mitarbeiter des Betriebs zu den eigentlichen Veränderern zu machen. Der

Berater erscheint in den gruppendynamischen Schulen als Katalysator, der die Erar-

beitung von Vorschlägen den Beteiligten überläßt.

Technisch geht das so vor sich, daß aus den Betriebsangehörigen Gruppen gebildet

werden, die dann in Trainingslaboratorien bestimmte Probleme, die die Produktivität

des Betriebs oder der Organisation behindern, zu analysieren und zu lösen haben.

Entsprechend des selbstreferentiellen Paradigmas wird dabei darauf geachtet, daß

die Gruppen die für notwendig erachteten Veränderungen schon bei ihrer eigenen

Arbeit verwirklichen. Die eigentliche Veränderung der innerbetrieblichen Strukturen

soll dann durch die Übertragung dieser schon in den Gruppen eingeübten Wahrneh-

mungs- und Verhaltensformen erfolgen.

Zusammengefaßt ist also der Grundgedanke: über Kleingruppen Institutionen verän-

dern - oder anders ausgedrückt: die Gruppe als Medium der Veränderung von Be-

trieben nutzen!

Die Nähe dieses Ansatzes zu den Konzepten der Humanistischen Psychologie und

der klientenzentrierten Gesprächsführung von C. Rogers liegen auf der Hand, nur

daß dieser die Persönlichkeit als dasjenige Medium betrachtet, welches in der Lage

ist, Institutionen und Gesellschaften zu wandeln. Die Ideen und Techniken von Lewin

und Rogers hat die sogenannte "human-resource"-Bewegung integriert: Dialog und

Gruppenarbeit sollen zur Verbesserung des Betriebsklimas und zur Erleichterung der

Organisationsentwicklung genutzt werden. (vgl. R. Likert: Die integrierte Führungs-

90

und Organisationsstruktur. Frankfurt 1975 oder E. C. Nevis: Organisationsberatung,

ein gestalttherapeutischer Ansatz. Köln 1988)

Mängel des gruppendynamischen Ansatzes

Die Schwächen dieser Ansätze liegen in ihrer Einseitigkeit, vor allem in der Nichtbe-

rücksichtigung der verschiedenen Emergenzniveaus des Sozialen. Es gibt einfache

Sozialsysteme, wie die zwischenmenschliche Interaktion zwischen zwei Personen

von Angesicht zu Angesicht, Gruppen, komplexe organisierte Sozialsysteme und

darüber hinaus natürlich noch "Gesellschaften". Alle diese sozialen Phänomene ha-

ben ihre eigene Systematik und der Versuch eines auf das andere zu reduzieren

fruchtet nicht. Gesellschaften lassen sich nicht als eine Ansammlung nur von Inter-

aktionssystemen - und schon gar nicht als eine Ansammlung von Individuen verste-

hen. Was man in der dyadischen Interaktion (Zweiergespräche) und in der Gruppe

durchsetzen kann, mag an den institutionellen Strukturen immer noch scheitern. Be-

triebe sind nicht nur aus Menschen oder Gruppen zusammengesetzt, sondern sie

haben aufgrund ihrer Funktionen und Außenbeziehungen eine eigene Dynamik und

Struktur.

Zweitens kann man an den Trainingslaboratorien und der gruppendynamischen Or-

ganisationsentwicklung kritisieren, daß sie oftmals auf einer Spielwiese außerhalb

des tatsächlichen Betriebsgeschehens angesiedelt sind. Ihre Verknüpfung mit der

betrieblichen Umwelt wird in der Regel zuwenig bewußt gestaltet und genau deshalb

erwies sich der Transfer von neuen Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen oft als

schwierig. Was in dem geschützten Raum der Trainingsgruppe funktioniert, scheitert

an den Zwängen des beruflichen Alltags.

Drittens führte die im Prinzip antihierarchische Grundeinstellung der Lewin- und Ro-

gersschüler oft zu einer Verbrüderung der Mitarbeiter, die sich dann leicht gegen die

Leitung richtete. Diese beteiligte sich an den Trainingslaboratorien kaum, was ja

auch zu strukturellen Problemen geführt hätte, weil ihr Status die Ausbildung von

(egalitärem) Gruppenbewußtsein und einer "offenen", freimütigen Atmosphäre er-

schwert.

Die willentlich oder unwillentlich ausgeschlossenen Führungskräfte empfanden die

Trainingsgruppen dann nur allzu oft als Partisanen und betrachteten die Zusammen-

künfte und deren Ergebnisse mit Mißtrauen. Auch dies erschwerte die Umsetzung

der Arbeitsergebnisse im Betrieb.

91

Diese Schwächen gruppendynamischer Organisationsentwicklungsmaßnahmen hat

man durch allerlei Kombinationen von Interventionstechniken zu minimieren gesucht.

Bei diesem im Prinzip wohl fruchtbaren Vorgehen hat sich die Einsicht erhärtet, daß

Organisationsveränderung nur als ein permanenter Prozeß von innen, von den Be-

teiligten selbst erfolgen kann. Ob intern oder extern betrieben, Beratung muß die In-

stitution/den Betrieb/den Verein als ein organisiertes Sozialsystem ernst- und zum

Gegenstand nehmen - also das spezifische Emergenzniveau berücksichtigen. Natür-

lich ist es richtig und wichtig, dabei unter anderem auch auf Gruppenarbeit und auf

die "human-resources" zu setzen. Aber eben nicht nur. Das wichtigste Medium der

Organisationsveränderung ist die Organisation selbst. Wie noch zu zeigen sein wird,

verläuft die Organisationsentwicklung um so reibungsloser, je stärker die Organisa-

tion von vornherein auf Veränderbarkeit angelegt ist.

Lektüreempfehlung:

Roger Harrison: Rollenverhandeln: Ein harter Ansatz zur Team-Entwicklung, in: B.

Sievers (Hg.), Organisationsentwicklung als Problem, Stuttgart 1977: 116 - 133

Peter Heintel: Institutions- und Organisationsberatung. In: Heigl-Evers (Hg.), Sozi-

alpsychologie, Band 2: Gruppendynamik und Gruppentherapie, Weinheim/Basel

1984: 956 -965

W. L. French/C. H. Bell (jr.): Organisationsentwicklung. Bern/Stuttgart 1982

Rudolf Wimmer: Ist Führen erlernbar? In: Gruppendynamik, 20. Jg., H 1, 1989: 13-41

B: Ablauf und Methoden der OE: Der soziometrische Ansatz von J. L. Moreno

Die Organisationsentwicklung hat sich nach dem zweiten Weltkrieg zunächst einmal

um einen Ausgleich der Widersprüche zwischen formeller und informeller Arbeitssi-

tuationen, um eine Verbesserung der Kommunikation und eine realistische Selbstbe-

schreibung gekümmert.

Wie unser aller Erfahrung lehrt, bilden sich in Organisationen, Betrieben, Institutionen

und in anderen Gruppen über kurz oder lang 'informelle' Rollenverteilungen und Be-

ziehungen heraus, die die vorgegebenen Aufgaben entweder fördern oder aber be-

hindern können.

Mit der Ermittlung solcher informeller Sozialstrukturen und mit der Bewältigung von

der krisenhaften Zuspitzungen befaßt sich die Soziometrie und die auf sie aufbauen-

den Beratungskonzepte.

92

Die Grundidee der soziometrischen Organisationsentwicklung ist die gleiche wie bei

den Trainingslaboratorien von K. Lewin: Die untersuchende Gruppe soll eine Auf-

gabe erhalten bei deren Lösung sie sich notwendig selbst erforscht. Erfolgreich ist

die Organisationsentwicklungsmaßnahme, wenn die Selbsterforschung zu neuen

Erkenntnissen über die eigene Gruppe/Institution führt und diese sich deshalb än-

dert/ ihr Problem löst. Der Begründer der Soziometrie ist Jakob Levy Moreno (1890-

1974). Er schlug vor, die subjektiven Präferenzbeziehungen in Gruppen als Kataly-

sator für die Organisationsentwicklungsmaßnahmen zu nehmen: Die Mitglieder eines

Sozialsystems werden aufgefordert, andere Gruppenmitglieder für gruppenrelevante

Tätigkeiten auszuwählen oder abzulehnen. Die Anzahl der Wahlen bestimmt den

'soziometrischen Status' des Einzelnen. Und eben dieses Verfahren nannte er So-

ziometrie. (vgl. ders.: Die Grundlagen der Soziometrie, Köln 1954, zuerst Washingten

1934). Beispielsweise ging er in einem mittlerweile klassisch gewordenen Fall der

Frage nach, 'warum vertragen sich manche Wohneinheiten in einem Heim für

schwererziehbare Mädchen besser als andere?'. Zur Beantwortung dieser Frage und

zur Veränderung der entsprechenden Sozialbeziehungen führte er Sympathie- und

Antipathiewahlen durch. Er sah in seinem Vorgehen nicht nur ein Forschungsinstru-

ment sondern auch ein gruppendynamisches Werkzeug:

"Der soziometrische Test in seiner dynamischen Form ist eine revolutionäre Katego-

rie der Forschung. Er stürzt die Gruppe von innen her um" - indem er ihr eine Be-

standsaufnahme des eigenen Verhaltens vorlegt -"und verändert ihre Beziehung zu

anderen Gruppen; er stellt eine Sozialrevolution kleineren Ausmaßes dar". (Socio-

metry and Marxism. In: Sociometry H.12, 1949, S. 104-143, hier S. 14)

Im Beispiel der Wohnheimanalyse förderten die soziometrischen Tests die latenten

Erwartungen in den Gruppen zutage - durchkreuzten die eine oder andere Erwar-

tung/Befürchtung und führten schon dadurch zu einer Veränderung der Systeme.

93

Als spezielles Mittel um den Veränderungsprozeß zu beschleunigen führte Moreno

seine sogenannten 'psychodramatischen' Rollenspiele ein. Einige wichtige Metho-

den des Psychodramas seien kurz angefügt:

Rollentausch: 2 Spieler wechseln ihre Rollen (sobald Uneinigkeit über

Geschichte auftritt)

Doppelgänger: Ein Spieler erhält ein Hilfs-Ich zu seiner Unterstützung, welches

gleichzeitig mitspielt

Spiegelbild: Der oder die Hauptspieler verlassen die Bühne und lassen ihre

Rollen von anderen spielen

Monolog: Der Spieler äußert sich zu seinen Gefühlen, Plänen etc. (lautes

Denken

Dialog mit sich: Ein Spieler versucht sich selbst und seine Widerpart zu spielen

Doppel-Doppel: Zwei Doppelgänger übernehmen die Positionen eines Spielers

aus einem 'Dialog mit sich' und spielen den Konflikt durch

Außerdem sind Kombinationen dieser Methoden und anschließende Korrektur-

phasen möglich. (z. B.: Nach einer Szene 'Spiegelbild' darf der Hauptspieler aus sei-

ner Sicht 'verbessern' (Konträreffekt))

Die Techniken des Rollenspiels haben sich mittlerweile differenziert und werden in

vielfältigen Formen in unterschiedlichen Beratungs- und Unterrichtssettings ange-

wendet.

Ein Ablaufschema des Rollenspiels für die Selbstexploration bietet das nachfolgende

Schema. (Sollen bestimmte Lernziele im Unterricht vermittelt werden, müssen die

Rollen usf. durch den Lehrer vorstrukturiert werden.)

Der Ablauf des Pädagogischen Rollenspiels

Aufwärmphase

- Aufwärmen und Herstellung der Spielbereitschaft

- Auswahl der Spielthemen

- Auswahl des Protagonisten / der Protagonistin

Aufbauphase

- Klärung des Protagonistenanliegens

- Szenenauswahl und Szenenabfolge

- Aufbau der Szene

94

- Auswahl der Zuspieler

- Einstimmung der Zuspieler in ihre Rollen

Spiel- und Feedbackphase

- Rekonstruktion der Szene durch Rollentausch

- Schnitte, Beiseitesprechen, Doppeln

- Abbruch der Spielszene

- Feedbackrunde in der Gruppe

- Training von Spielvarianten

Abschlußphase

- Abschlußrunde

- Spielabschluß und Entlassung aus den Rollen

Der Ablauf der soziometrischen Organisationsentwicklung (nach Moreno)

1. Einigung auf ein zu lösendes Problem/eine Untersuchung/einen

Veränderungswunsch. Hypothesen über die Strukturprobleme und deren Folgen.

2. Soziometrischer Test/Strukturanalyse/-anamese:

Sichtbarmachen von latenten psycho-/gruppen-/organisationsdynamischen

Strukturen. (klassische Frage: Sympathie/Antipathie in Bezug auf bestimmte

Aufgaben)

Ergebnis: Soziogramm/Soziomatrix

3. Reflexion/Diskussion des Soziogramms/Soziomatrix → Soziodiagnose (z.B. 'Stars

der Anziehung' bzw. 'Abstoßung')

Ergebnis: Ermittlung auffälliger/problematische Beziehungskonstellationen

(Settings, Stellen und deren Besetzung).

Klärung der Hypothesen → Entwicklung von Diagnosen und ersten therapeuti-

schen Vorstellungen.

4. Gezielte Abklärung der durch das Soziogramm aufgeworfenen diagnostischen Hy-

pothesen durch soziometrische Interviews (u.a. Nachuntersuchungen). Ergebnis:

Ermittlung der Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten/Normalisierung der

durch 2. und 3. erzeugten Irritationen. Test der Diagnosen und Entscheidung für

spezielle therapeutische Interventionen.

95

5. Psychodramatische (dynamische!) Inszenierung auffälliger (problematischer)

Beziehungskonstellationen.

Ergebnis: Durch Rollen- und damit Perspektiventausch können die Beteiligten die

jeweiligen Bedeutungszuschreibungen der anderen Gruppenmitglieder besser in

Rechnung stellen → wechselseitiges Verständnis; die gruppendynamischen Stö-

rungen werden im Hier und Jetzt bearbeitet (reinszeniert), alternative Verhaltens-

weisen und Settings durchgespielt.

Überprüfen, ob die Intervention zu den gewünschten Strukturänderungen führt.

6. Wiederholung des soziometrischen Tests (2.): Controlling

Falls keine Änderung der problematischen Konstellationen eingetreten sind → 7.

7. Soziometrische Umgestaltung: Veränderung der Struktur des Systems, meist der

Settings oder der personellen Zusammensetzung der Gruppe. Danach kann wie-

der mit Phase 2 begonnen werden.

Das Konzept der OE von French/Bell

Die bloß auf die Verbesserung der Arbeitsorganisation ausgerichteten Beratungsan-

sätze vermochten das Problem der Motivation der Mitarbeiter nicht zu lösen. Vor-

aussetzung für die Einbeziehung aller ist, daß die Ziele der jeweiligen Institution allen

Mitgliedern deutlich sind, daß sich gemeinsame Wertvorstellungen und Ideale, eine

von möglichst vielen getragene Betriebskultur herstellen kann.

In diesem Sinn formulieren W. L. French und C. H. Bell in ihrem Klassiker: 'Organi-

sationsentwicklung. Sozialwissenschaftliche Strategien zur Organisationsverände-

rung. (Bern/Stuttgart 1977) die Ziele der Organisationsentwicklung: "Organisation-

sentwicklung [ist] eine langfristige Bemühung, die Problemlösungs- und Erneue-

rungsprozesse in einer Organisation zu verbessern, vor allem durch eine wirksamere

und auf Zusammenarbeit gegründete Steuerung der Organisationskultur - unter be-

sonderer Berücksichtigung der Kultur formaler Arbeitsteams - durch die Hilfe eines

OE-Beraters [....] und durch Anwendung der Theorie der angewandten Sozialwissen-

schaften unter Einbeziehung von Aktionsforschung."

Die Anlehnung an die gruppendynamischen Ansätze (Aktionsforschung!) und das

handlungstheoretische Institutionsmodell ist hier noch ganz offensichtlich. Eine radi-

kal andere Sichtweise, die es zudem ermöglicht, die personen- und die gruppen-

zentrierten Ansätze miteinander zu integrieren, hat erst die systemische Organisati-

onsentwicklungsbewegung eröffnet.

96

Der Ablauf der Organisationsentwicklung

Das allgemeine Schema, daß French/Bell für Organisationsentwicklungsmaßnahmen

vorschlagen lautet etwa folgendermaßen:

1. Diagnostizieren des Problems (tentativ und vorläufig)

2. Sammeln von Daten über das Klientensystem/Ermittlung des Ist-Zustandes

3. Datenfeedback an das Klientensystem/die Organisation

4. Untersuchung der Daten durch das Klientensystem/bewerten/festlegen von Prio-

ritäten

5. Planung von Veränderungen/notwendige Handlungen/festlegen von Verantwort-

lichkeiten etc.

6. Durchführung der OE-Maßnahmen.

Wenn wir dieses Ablaufmuster mit jenen der klassischen soziometrischen Interven-

tionen von Jacob Levy Moreno vergleichen, so tritt die Ähnlichkeit der (gruppendy-

namischen) Vorannahmen deutlich zutage.

Je komplexer die Organisationen sind, die entwickelt werden sollen, desto stärker

muß dieses Ablaufschema ergänzt werden, um die vielfältigen Vernetzungen zwi-

schen Klientensystem, Beratersystem und den Beratungssystem(en) aufrecht zu er-

halten. Die nachfolgende Abb. 25 gibt das Ablaufschema einer Organisationsent-

wicklung wieder, in der zahlreiche Elemente des ratsuchenden Systems nicht mehr in

ein Beratungsgespräch integriert werden können.

97

Abb. 25: Der Prozeß der Organisationsentwicklung

Erstkontakt⇓

Sondierungsgespräch mit der Leitung⇓

Erarbeitung einer Konzeption für die Diagnosephase- Steuerungsstruktur - Ziele - Beteiligte - Zeit - Ort - Kosten -

⇓Kontrakt

⇓Präsentation

- vor gesamter Organisation oder einzelnen Subsystemen -

⇓Diagnosephase

- Teilnehmende Beobachtung - narrative oder strukturierte Interviews -- Fragebogen - Dokumentenanalyse - Workshops -

(Kräftefeldanalyse - SOFT-Analysis -kreative Medien - Problemdiagnose)

⇓Präsentation der Ergebnisse der Diagnose

- vor gesamter Organisation oder einzelnen Subsystemen -

⇓Konzeption für den OE-Prozeß

- Steuerungsgruppe bilden - Ziele - Meilensteine - zeitlicher Rahmen - Einbeziehung der Führung - Kosten - Beteiligte

⇓Kontrakt

⇓Präsentation

- vor der Organisation oder einzelnen Subsystemen -

⇓Etablierung der Steuerungsgruppe

⇓Arbeit in verschiedenen Settings

Settings: Workshops - Projektgruppen - Arbeitsgruppen - Trainings - Coaching für dieLeitung - Gruppensupervision - Teamsupervision - Live-Supervision -Karriereberatung

Diagnose ➾ Handlungsplanung ➾ Rückkopplung (Präsentation) ➾ Meilensteine ➾Institutionalisierung von Lösungen ➾ Kontrollvereinbarungen

⇓Abschluß

Präsentation der Ergebnisse vor der Organisation und der FührungInstitutionalisierung einer internen Steuerungsstruktur

Einfrieren

Prof. Dr. K. Rappe-Giesecke

Literaturhinweise:

- Däumling/Fengler/Nellesson/Svensson: Gruppenmodelle, in: Diess.: Angewandte Gruppendynamik,

Stuttgart 1974, S. 21-24

- G. Fatzer: Phasendynamik und Zielsetzung der Supervision und Organisationsberatung, in: G. Fat-

zer/C.D. Eck (Hg.) Supervision und Beratung, Köln 1990

- Peter Fürstenau: Institutionsberatung. Ein neuer Zweig angewandter Sozialwissenschaft, in: Grup-

pendynamik 1970, H. 1, S. 219-233

- W. Küpper/G. Ortmann (Hg.): Mikropolitik, Macht und Spiel in Organisationen. Opladen 1988

- Ronald Lippitt: Kurt Lewin und die Anfänge der Gruppendynamik, in: Annelise Heigl-Evers (Hg.),

Sozialpsychologie, Bd. 2: Gruppendynamik und Gruppentherapie, Weinheim/Basel 1984 (Psycholo-

gie des XX. Jahrhundert)

- Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt 1984

- Jabob L. Moreno: Who shall survive? Washington, DC 1934 (deutsch: Die Grundlagen der Sozio-

metrie. Köln 1954, u.ö.)

- Ders.: Gruppentherapie und Gruppendrama. Stuttgart 1959

- Manfred Sader: Das Aktionsforschungsmodell der T-Gruppen und des T-Laboratoriums, in: Heigl-

Evers 1984, s.o.

- Burkhard Sievers (Hg.): Organisationsentwicklung als Problem, Stuttgart 1977

- K. Türk: Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung, Stuttgart 1989

- A. M. Däumling/J. Fengler/L. Nellesson/A. Svensson: Angewandte Gruppendynamik. Selbsterfah-

rung - Forschungsergebnisse - Trainingsmodelle, Stuttgart 1974

- W. L. French/C. H. Bell: Organisationsentwicklung, Bern/Stuttgart 1982

- M. R. Weißbord: Organisationsdiagnose. Ein Handbuch mit Theorie und Praxis. Goch 1984

- Rudolf Wimmer (Hg.) Organisationsberatung. Neue Wege und Konzepte. Wiesbaden 1992

- Rudolf Wimmer: Zwischen Differenzierung und Integration. Zur charakteristischen Dynamik von Or-

ganisationen mit steigender Eigenkomplexität, in: Gruppendynamik, Jg. 22, H. 4, 1991, S. 359- 389

98

C: Literaturhinweise zur Struktur landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Beratung

- V. Hoffmann/H. Luley: Landwirtschaftliche Beratung in der Bundesrepublik Deutschland - Organi-

sationsformen und aktuelle Probleme, (unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript)

- Karsten Dock: Ringberatung für Endverkaufsbetriebe. Positive Erfahrungen in Schleswig-Holstein,

in: Der Deutsche Gartenbau 22, 1992: 1362-113

- Horst Sasse: Ringberatung, Positionen und Perspektiven, z.B. im Kreis Lüneburg, in: Ausbildung

und Beratung, 45, Heft 6, 1992, S. 111-113

- Hartmut Albrecht: Die landwirtschaftliche Beratung und ihre Probleme, in: V. Hoffmann (Hg.), Be-

ratung als Lebenshilfe: Humane Konzepte für eine ländliche Entwicklung, Weikersheim 1992

- Wilfried Steffens: Organisation der landwirtschaftlichen Beratung in Niedersachsen und Möglich-

keiten zur Verbesserung ihrer Effektivität, Göttingen 1989 (ASG - Kleine Reihe Nr. 38) (dort finden

sich in Kapitel 8 auch Überlegungen über die institutionellen Perspektiven der Beratung)

- Vgl. a. das Vorlesungsskript von W. Steffens 'Organisation der landwirtschaftlichen Beratung in

Niedersachsen' im Ordner!

Integrative Beratungsansätze(Kapitel 7)

A: Grundgedanken der Systemischen Beratung und deren Interventionsreper-

toire

Von der klassischen, soziometrischen, aktionsforschenden Organisationsent-

wicklung zur systemischen Beratung von Institutionen

99

Die Stärke der traditionellen Organisationsentwicklung war die Überwindung der

Schwächen gruppendynamischer Beratungsansätze. Sie hat von Anfang an die Be-

triebe, Vereine und ähnliche soziale Phänomene als Institutionen ernstgenommen,

die Aufgaben zu lösen haben, wenn sie sich erhalten wollen. Es geht ihr nicht um die

Ziele der Personen und deren individuelle Probleme, auch nicht um Gruppen- und

Gruppenbeziehungen, sondern um die Optimierung der institutionellen Aufgabenlö-

sung und der dazu notwendigen Rollen und Arbeitsbeziehungen. Dazu versucht sie,

informelle Ordnungen bewußt zu machen und mit den formalen in Einklang zu brin-

gen. Sie bemüht sich darum, mit den Beteiligten zu einer realistischen Einschätzung

der Möglichkeiten und Ressourcen der Institutionen zu kommen und die erarbeiteten

Ziele und Maßnahmen möglichst effektiv umzusetzen.

Darüber hinaus ermöglicht ihr Ansatz an der Organisationskultur (siehe French/Bell)

auch präventiv in den Institutionen wirksam zu werden. Es handelt sich also nicht nur

um ein bloßes Interventionsmodell von Außen, wie das bei den T-LABs der Fall war.

Andererseits steckt in dem Begriff der 'Institutionsberatung' und in dem traditionellen

Organisationsentwicklungskonzept immer noch die handlungstheoretische Vorstel-

lung von Beratung als einer Krisenintervention eines Experten für die Krisenbearbei-

tung, der aus der Umwelt angeheuert werden muß. Die Beratungsphilosophie wurzelt

noch ganz im alten Ursache-Wirkungsdenken: Man hat ein Problem und läßt es

durch andere oder nach Programmen, die von anderen zur Verfügung gestellt wer-

den, lösen. Beratung und Entwicklung werden noch immer als ein punktuelles Ereig-

nis, das durch Probleme ausgelöst wird und eben nicht als eine permanente interne

Aufgabe der Institution verstanden.

Spätestens in den 80er Jahren hat sich in der Beratungsszene eine Gegenbewegung

fest etabliert, die zwar unter den verschiedensten Namen firmiert, deren Ge-

meinsamkeit aber eine völlig konträre, systemisch-evolutionäre Philosophie ist. Diese

Richtung betrachtet die Institutionen grundsätzlich 'ganzheitlich', d.h. sie löst sie nicht

in Rollen, Funktionen oder Handlungen auf, sondern betrachtet alle diese Faktoren

immer als Elemente eines Systems. Veränderungen werden grundsätzlich als Sy-

stemleistungen verstanden, nicht als 'Wirkung' beliebiger Handlungen der Elemente.

100

In den Systemen/Institutionen finden Veränderungen dauernd statt. Normen, Struk-

turvorgaben, Organisationsprinzipien und ähnliches sind eigentlich vor allem dazu

da, solche Veränderungen zu verhindern, soziale Prozesse stabil, repetitiv zu halten.

Evolutionäres systemisches Denken versucht, solche Strukturen, wenn sie dann den

Ablauf der Prozesse in der Organisation blockieren, aufzuweichen. Dies setzt

Selbstreflexion voraus. Und zwar muß diese Selbstreflexion am besten selbst schon

in den Unternehmen organisatorisch verfestigt sein und alle Prozesse permanent

begleiten. Gefordert wird ein systemisch-evolutionäres Management, das neben der

Zielerreichung auch immer die Selbstreflexion der dabei entstehenden Strukturen im

Auge behält und bereit ist, diese Strukturen in Frage zu stellen. Gelegentlich wird

diese Einstellung als 'soft'-Management bezeichnet. Allgemein spricht man von einer

Flexibilisierung institutioneller Strukturen.

Diese Flexibilisierung ist natürlich eine innerbetriebliche Aufgabe. Von Außen lassen

sich Systeme prinzipiell nicht verändern. Möglich ist allerdings, daß ein Berater von

Außen als Katalysator fungiert und systeminterne Prozesse in Gang setzt. Zunächst

sind die Berater jedenfalls Teil der Umwelt, an die sich Institutionen unter Umständen

durch interne Veränderungen anpassen. Sind die Berater in das System integriert, so

wirken sie als dessen Elemente entsprechend der Logik des Systems - genau wie

dies die anderen Elemente des Systems auch tun.

Theoretische Grundlagen der systemischen Organisationsentwicklung

Ludwig von Bertalanffy hat in den 50er Jahren die verschiedenen systemischen An-

sätze, die sich in unterschiedlichen Disziplinen entwickelt hatten abstrahierend zu

einer sogenannten 'Allgemeinen Systemtheorie' zusammengefaßt.

Etwa gleichzeitig hat der Soziologe Talcott Parsons mit der Ausarbeitung einer so-

ziologischen Systemtheorie begonnen (general action system). An seine Vorarbeiten

konnte später Niklas Luhmann mit seiner 'Theorie sozialer Systeme' anschließen, die

heute in allen Diskussionen über systemisches Denken und systemische Ansätze in

der Beratung eine Hauptrolle spielt.

Ursprünglich eher aus biologischer und verhaltenstheoretischer Ecke kommend, hat

sich Gregory Bateson in den 50er Jahren Psychologen und Medizinern angeschlos-

sen, die in Palo Alto versuchten, dem Problem der Schizophrenie auf die Spur zu

kommen. Er entwickelte dabei ein, im weitesten Sinne, kommunikationstheoretisches

systemisches Modell, das später von Paul Watzlawick in seinem berühmten Werk

'Menschliche Kommunikation' einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde.

Die Psychologen waren es dann auch, die als erste konsequent damit begannen,

systemisches Denken in ihrer professionellen Praxis anzuwenden. Es entstand die

101

systemische Familientherapie (Stierlin, Heidelberger Modell) und eine ihrer bedeute-

sten Vertreterin, Maria Selvini-Palazzoli wandte die bei der Betrachtung der Familie

als ein System gewonnenen Erfahrungen auch auf die Beratung von Unternehmen

an. ('Hinter den Kulissen der Institution').

Eine etwas andere Wurzel ist die sogenannte konstruktivistische Erkenntnistheorie.

Das systemische Denken relativiert ja nicht nur die Bedeutung der Handlung und der

Handelnden, sondern ebenso jene der Wahrnehmung und des Beobachters. Auch

Erkenntnis wird als eine systemische konstruktive Tätigkeit aufgefaßt, die wenig mit

den sogenannten 'Abbildtheorien' gemein hat. Biologen und Neurophysiologen haben

mit ihren Forschungen hierzu viele Argumente geliefert. Humberto Maturana und F.

Varela haben aus der Sicht dieser Disziplinen die konstruktivistische Erkenntnistheo-

rie in ihrem Buch 'Der Baum der Erkenntnis' zusammengefaßt. Philosophische Fun-

dierungen lieferten von Glaserfeld und von Foerster. In diesem Kontext hat sich dann

auch ein neuer Gedanke von Evolution durchgesetzt: Evolution als Ergebnis von

Selbstorganisationsprozessen, als Autopoiese, als permanenter Systembildungspro-

zeß.

Seit den 70er Jahren hat sich das systemische Denken praktisch in allen Wissen-

schaften in der einen oder anderen Schule etabliert. Bekannt ist etwa der Physiker F.

Capra (Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München 1985) oder jene

Schulen, die sich um eine 'synergetische' Beschreibung physikalischer Vorgänge

bemühen (H. Haken). Auch die sogenannte Chaosforschung ist aus diesen systemi-

schen Diskussionszusammenhängen hervorgegangen.

Da sich im Prinzip alle Phänomene und alle Modelle der verschiedenen Disziplinen

als Systeme auffassen lassen, bietet die Systemtheorie eine ideale Grundlage, um

Erkenntnisse aus den verschiedenen Bereichen zu integrieren. Diesen Vorteil kann

sie auch auf dem Felde der verschiedenen Beratungsansätze voll ausspielen: Die

systemische Organisationsentwicklung vermag die Erkenntnisse der klientenzen-

trierten psychologischen, der gruppendynamischen und eben auch der rollen- und

aufgabenbezogenen institutionsanalytischen Ansätze miteinander zu verknüpfen.

(Vgl. Roswitha Königswieser und Jürgen Pelikan: Anders - Gleich - Beides Zugleich.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Gruppendynamik und Systemansatz. In:

Gruppendynamik, Heft 1, Jg. 21, 1990, S. 69-94)

Ihre Integrationskraft bezahlt die allgemeine Systemtheorie mit einem hohen Ab-

straktionsniveau. Über das, was Systeme ausmachen, gibt es nahezu so viele Theo-

rien wie Autoren. Ich gehe davon aus, daß Systeme komplex sind, d.h. daß sie aus

Elementen und deren Beziehungen bestehen, daß sie sich immer von ihrer Umwelt

abgrenzen und zu ihr funktionale Beziehungen aufbauen müssen, daß sie prinzipiell

eine dynamische Dimension haben und daß sie über Modelle ihrer eigenen Struktu-

102

ren verfügen, die es ihnen erlauben, sich selbst in einer sich wandelnden Umwelt

stabil zu halten. Die nachfolgenden Abbildungen 26 und 27 fassen diese Annahmen

über die vier Dimensionen der Systeme zusammen.

Abb. 26: Dimensionen von Systemen auf dem Spezifitätsniveau der Allgemei-

nen Systemtheorie

Systeme

Komplexität Differenzierung Dynamik Selbstreferenz

konstitutive

Elemente und

Beziehungen/

Vernetzungen

Abgrenzung von der

Umwelt und in-

put/output Bezie-

hungen

Erhalt der

Elemente,

Beziehungen,

Grenzerhal-

tung

Modelle über die

eigenen Strukturen

und die Umweltbe-

ziehungen als Steu-

erungsprogramme

Zur Klärung der Strukturen der verschiedenen Dimensionen eignen sich z. B. die ff.

Fragen:

1. Systemreferenz festlegen: Wer/was ist der Klient (Person, Dyade/Team, Organi-

sation?)

2. Programme der Selbstreproduktion/auch problematischer Selbstregulation ent-

decken! Wie schaffen es die Systeme, ihren Bestand zu erhalten, bzw. ihre Pro-

bleme ständig zu reproduzieren? (Was wird durch die Aufrechterhaltung dysfunk-

tionaler Programme erreicht, geschützt, gemieden?)

3. Normalformerwartungen aufdecken! Welcher Ablauf, welche Strukturen und wel-

che Umwelten erwartet das System? (Welche Abweichungen geben Anlaß zur Ir-

ritation? Wann wird etwas als Krise erlebt?)

4. Wo findet Kommunikation mit der Umwelt statt? Welche Umwelten sind relevant?

(Stimmen die Umweltkontakte mit den Selbstbeschreibungen überein?)

5. Welche Programme/Selbstbilder/Identitätskonzepte sind bewußt? Welche latent?

Bei wem, bzw. bei welchen Subsystemen)

(Selbstreferentielle Dimension)

6. Die Geschichte des Systems aufdecken! Alle Operationen gründen auf den histo-

risch aufgehäuften Erfahrungen und Programmen.

Abb. 27:

104

Die Beratung als informationsverarbeitendes System

Wir hatten eingangs die Beratung als eine kommunikative Kooperationsform be-

zeichnet, die der sozialen Informationsverarbeitung dient. Dieser Gedanke soll nun

noch einmal systematisiert werden.

Wir gehen dabei nicht von irgendeiner Theorie sozialer oder psychischer Systeme

aus, sondern wir betrachten die Beratung aus einer kommunikationswissenschaftli-

cher Sicht als ein informationsverarbeitendes System.

Informationsverarbeitende Systeme bestehen aus dynamischen Verknüpfungen von

unterschiedlichen Typen von Prozessoren (Sensor, Effektor, Reflektor) und Spei-

chern. Prinzipiell läßt sich jeder Prozessor wieder als ein informationsverarbeitendes

System und jeder Speicher als Informationsmedium betrachten. Die allgemeine Auf-

gabe der Informationsverarbeitung ist es, Informationen von einem Medium in ein

anderes zu transformieren, z. B. von der Rede in die Schrift, von dem psychischen in

das soziale, vom analogen in digitale usf. Normalerweise unterscheidet man bei der

Informationsverarbeitung die Phasen der Informationsgewinnung, -auswertung und -

darstellung.

Betrachtet man Informationssysteme als Element von Kommunikationssystemen, so

tritt als beständige Aufgabe noch die Koordination der eigenen Informationsverar-

beitung mit jener der anderen Informationssysteme (Kommunikationspartner) hinzu.

Alle diese Teilaufgaben (Module) können im Sinne von Korrekturschleifen mehrfach

durchlaufen werden. So gesehen, besitzt das Phasenmodell der Informationsverar-

beitung den gleichen Status wie die Normalformen. In der Praxis werden die Module

häufig anders miteinander verknüpft und mehrfach hintereinandergeschaltet.

Die Selbstregulation des Prozesses und - im Falle der Kommunikationssysteme zu-

sätzlich - die Organisation des Feedbacks sind beständige Aufgaben des Systems,

die also in jeder Phase nebenher abzuwickeln sind. Allerdings differenzieren kom-

plexe Systeme auch meist spezielle Phasen zur gezielten Prozeßreflexion (Control-

ling) aus.

Zwar lassen sich diese Phasen unterschiedlich benennen und auch intern beliebig

weiter differenzieren, es erscheint uns aber im Moment nicht als sinnvoll, diese

Grundtypen zu erweitern. Vielmehr ergibt sich größere Komplexität neben der Aus-

dehnung der Phasen dadurch, daß sie immer wieder mit modifizierten Zielen hinter-

einander gekoppelt werden.

Wenn man die allgemeinen Annahmen über informationsverarbeitende Systeme im

Hinblick auf das Beratungssystem spezifiziert, ergibt sich das in der Abb. 28 darge-

stellte Modell. Das Beratungssystem (oder einzelne seiner Elemente) muß sich zeit-

weise als Beobachtungssystem (Sensor) typisieren und Informationen über seine

Umwelt, vor allem über das ratsuchende System, gewinnen. Im Ergebnis liegt eine

Anamnese vor, die in einer solchen Weise sozial gespeichert ist, daß alle Mitglieder

des Beratungssystems gleichermaßen Zugang zu diesen Informationen besitzen.

(Speicher)

Abb. 28: Die Beratung als informationsverarbeitendes System

rats

uch

end

es S

yste

mU

mw

elt

AnamneseSpeicher 1

Pro- zessor

Sensor

Reflektor

Informationsgewinnung

Informationsdarstellung

Info

rmat

ion

sver

arb

eitu

ng

Tra

nsf

orm

atio

n

Effektor

TherapieplanSpeicher 3

therapeutische Intervention

DiagnoseSpeicher 2

Pro- zessor

106

Die gewonnenen Informationen können unter verschiedenen Perspektiven weiterver-

arbeitet, prozessiert werden. Dazu müssen die an der Beratung Beteiligten nach be-

stimmten Programmen arbeiten; sie werden zu Prozessoren. Je nach der Komplexi-

tät der Beratungsaufgaben werden unterschiedliche Auswertungsschritte und damit

auch die Einnahme unterschiedlicher Standpunkte und Perspektiven erforderlich

sein. In jedem Fall wird man eine Problemdiagnose erstellen und dann einen Thera-

pieplan entwerfen. Schließlich wirkt das Beratungssystem als Effektor. Sein Output

sind (therapeutische) Interventionen, Rückkopplungen von Informationen o.ä.

Die Umwelt reagiert auf diese Medien (out-put), was dann wiederum das Beobach-

tungssystem wahrnehmen kann. Der Kreislauf beginnt ggf. erneut.

Wie alle informationsverarbeitenden Systeme ist auch das Beratungssystem ein ky-

bernetisches System, das durch einen Regler oder Reflektor überwacht wird. Bei-

spielsweise muß das Beratungssystem den entwickelten Therapieplan mit den Zielen

vergleichen, zu deren Erreichung es ins Leben gerufen wurde. Diese Systemreflexion

ist keine abgetrennte Phase, sondern eine beständige Aufgabe des Beratungssy-

stems. Jegliche Form sozialer Selbstthematisierung, wie z. B. das Deuten von Insze-

nierungen und Spiegelungen, verlangt von den Beteiligten, daß sie sich auf einen

anderen Standpunkt stellen, als den der Sensoren und Prozessoren, den sie wäh-

rend der übrigen Arbeit eingenommen haben.

Das Modell in der Abb. 28 gibt also einmal Auskunft über die Komplexitätsdimension

des Beratungssystems, also über seine wesentlichen Elemente und deren Verknüp-

fung. Es zeigt weiterhin seine Beziehung zur Umwelt (Differenzierungsdimension).

Die dynamische Dimension, also die zeitliche Ablaufstruktur der Beratung, wird skiz-

ziert und außerdem führt es mit dem 'Reflektor' die selbstreferentielle Dimension ein.

Die Phasen des Beratungsprozesses werden jeweils von unterschiedlichen Pro-

grammen gesteuert; je komplexer das System, um so häufiger besteht auch in den

einzelnen Phasen die Notwendigkeit zu einem Programmwechsel.

Dieses Grobraster kann und muß differenziert werden, je nachdem um welche Form

von Beratung es sich handelt. Für die Beratung von Teams oder anderen Subsyste-

men von Organisationen muß der Ablauf beispielsweise anders aussehen als in der

Einzeltherapie. Immer aber wird man im Sinne einer Anamnese Daten über das

ratsuchende System erheben müssen, die Daten mit dem Ziel einer Problemdia-

gnose auswerten und schließlich Maßnahmen für eine Umsetzung der gewonnenen

Erkenntnisse planen und diese dann ausführen. Zusätzlich wird immer soziale

Selbstreflexion erforderlich sein.

107

Phasen der Informationsverarbeitung in der Beratung

(dynamische Dimension des Informationssystems)

1) Informationsgewinnung (Wahrnehmung, Erhebung von Daten über das problema-

tische System) → Anamnese

2) Informationsverarbeitung (Datenanalyse und -bewertung; Modellierung des Um-

weltsystems, vor allem seiner Störungen; Hypothesen über die Ursachen der Blok-

kaden) → Diagnose

3) Interventionsplanung (Umsetzen der Diagnose in Interventionsschritte; kommuni-

kative Perspektive! Simulation und Reflexion der Konsequenzen der Intervention) →Maßnahmeplan

4) Informationsdarstellung (Verändern der Umwelt, out-put, Verhalten) → therapeu-

tische Intervention

5) Systemreflexion (als durchlaufende, beständige Aufgabe: Stoppen von Inszenie-

rungen, Vergleich der Strukturen des Beratungssystems mit denen des ratsuchenden

Umweltsystems - Deuten von Spiegelungen) → selbstreferentielle Erfahrungs-

gewinnung

Wir wollen die einzelnen Phasen noch einmal etwas genauer betrachten. Die erste

Phase dient der Datenerhebung. Wenn man konsequent systemisch verfährt, wird

man alle Umweltphänomene, über die man Informationen gewinnen möchte, eben-

falls wieder als Systeme mit vier Dimensionen begreifen und versuchen, mehr oder

weniger nacheinander die Merkmale dieser Dimensionen zu bestimmen.

In einem Organigramm kann man etwa die Komplexitätsstruktur von Situationen

festhalten, ihre formelle und ihre informelle Organisation. Man kann die Elemente des

Systems (Rollen) in einer Rollenanalyse ermitteln und beschreiben.

Im zweiten Schritt werden dann die Funktionen des Systems für andere Systeme,

bzw. ihre Abhängigkeiten von Umweltsystemen, z. B. von Zulieferern und Kunden,

abgefragt.

Die dynamische Dimension wird sichtbar, wenn die Strukturen des Arbeitsablaufs

und eventuelle Blockaden nachgezeichnet werden. Dies kann z. B. dadurch gesche-

hen, daß Beteiligte aufgefordert werden, einmal exemplarisch den Tagesablauf eines

Arbeitstages zu erzählen.

108

Die selbstreferentielle Dimension ist erfaßt, wenn man die Selbstbilder, die Normen,

die das Verhalten in der Institution bestimmen, die Wünsche (CI), die Maximen für

den Umgang mit Krisen und Abweichungen etc. ermittelt hat.

Erst nach einer solchen Normalformrekonstruktion der sozialen oder psychischen

Systeme kann man dann daran gehen, Probleme zu sichten und zu strukturieren.

Selbstverständlich soll diese Datenerhebung, wenn irgend möglich ebenfalls in so-

zialen Systemen ablaufen, gemeinschaftlich erfolgen. In diesem Fall kommt es dann

des öfteren zu einer Inszenierung des Problems des Teams der Organisation, die

beraten werden soll. Solche Inszenierungen können gestoppt und selbstreflexiv zum

weiteren Datengewinn ausgenutzt werden. Vielleicht zeigen sich auch schon in die-

ser Situation, Möglichkeiten den Konflikt zu entschärfen. Das wäre dann schon ein

Hinweis auf mögliche therapeutische Interventionen (Phase 4).

In einigermaßen komplexen Organisationsentwicklungsmaßnahmen/Beratungszu-

sammenhängen wird diese Phase schon viel Zeit in Anspruch nehmen und es stellt

sich am Ende die Frage, wie es weitergehen soll. Es gibt dabei mindestens drei

grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten:

- Datenfeedback und anschließende Fortsetzung der Beratung mit der zweiten

Phase

- Abbruch der Beratung

- Wahl eines anderen Settings für die Organisationsentwicklungsmaßnahme/

Beratung.

Die beiden nachfolgenden Phasen der Diagnose und der Interventionsplanung hän-

gen selbstverständlich in ihrer Struktur stark von dem theoretischen Konzept ab, das

die einzelnen Berater/Organisationsentwickler bevorzugen. Ich gebe beispielhaft zu-

nächst eine Zusammenfassung der 'Philosophie' des systemisch-evolutionären Ma-

nagements, wie es von der Beratergruppe Neuwaldegg bevorzugt wird:

Systemischer Ansatz

1.) Maximen

- "Wir haben keine Lösung und bewerten auch nicht, was falsch oder richtig ist."

- "Es gibt nicht nur ein Problem und auch nicht nur eine Lösung."

- "Es geht darum, wie in der Homöopathie, die Selbstheilungskräfte des Systems zu

wecken."

2.) Was ist eine systemische Intervention?

Beraterinterventionshandeln ist eine zielgerichtete Kommunikation zwischen Berater-

system und Klientensystem, welche die Autonomie des Klientensystems respektiert

und über deren Wirkung das Klientensystem entscheidet.

109

Interventionen durch systemische Berater

...können nur Anregungen und Impulse zur Selbststeuerung sein, jedoch nie-

mals Systeme determinieren.

...sind nicht Eingriffe, die eine lineare Wirkung erzielen wollen, sondern ein

Versuch der Deblockierung von gestörten Energieflüssen.

...setzen nicht bei Personen, sondern bei Handlungen, Wirkungsgefügen, Mu-

stern und Relationen an.

...können Muster und Spiele beschreiben, um sie bewußter zu machen.

...sollen nicht aufdeckend sein, keine Widerstände mobilisieren, sondern zu

Metakommunikation anregen.

...dienen zum Öffnen von Widersprüchen, um die Lebendigkeit des Systems

zu erhöhen.

...zielen nicht nur auf Veränderung, sondern genauso auf Bewahren.

...sollen Sinn und Funktionalität der Prozesse betonen.

Aus: Systemische Interventionen (A. Exner, R. Königswieser); Wien 1989, unveröf-

fentlichtes Manuskript

3.) Gestaltung der Lenkungseingriffe

G.J.B. Probst und P. Gomez haben folgende Regeln für die Diagnose und Interven-

tionsplanung aufgelistet (Vernetztes Denken. Wiesbaden 1989)

1. Passe deine Lenkungseingriffe der Komplexität der Problemsituation an.

- Setzen wir an mehreren Orten gleichzeitig an?

- Haben wir monokausale Denkweisen vermieden?

- Haben wir uns nicht irrtümlich auf einen Schwerpunkt konzentriert?

2. Berücksichtige die unterschiedlichen Rollen der Elemente im System.

- Setzen wir mit den Maßnahmen bei aktiven, eventuell bei kritischen Größen ein?

3. Vermeide unkontrollierbare Entwicklungen durch stabilisierende Rückkopplungen.

- Nutzen wir die stabilisierenden Kreisläufe?

- Brechen wir durch die Maßnahmen nicht wichtige Kreisläufe auf?

4. Nutze die Eigendynamik des Systems zur Erzielung von Synergieeffekten.

- Nutzen wir die positiven Kräfte bei Mitarbeitern, in der Umwelt usw.?

- Basieren wir auf den Stärken des Systems?

110

- Verfolgen wir alle möglichen Synergien?

5. Finde ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Wandel.

- Beachten wir die gesunde Mischung zwischen Sicherheit und Herausforderung,

Stabilität und Veränderung, Flexibilität und Spezialisierung?

6. Fördere die Autonomie der kleinsten Einheit.

- Gewähren wir den kleinen Einheiten die notwendige Autonomie und Selbstor-

ganisation (Flexibilität)?

7. Erhöhe mit jeder Problemlösung die Lern- und Entwicklungsfähigkeiten.

- Was lernt das System beim Problemlösungsprozeß?

- Wird der Lernprozeß unterstützt?

- Wird die Lernfähigkeit und -geschwindigkeit erhöht?

4.) Interventionsplanung

Einige wiederkehrende Aufgaben bei der Interventionsplanung verzeichnet die

nachfolgende Aufstellung:

- Interventionsplan aufstellen

- Simulationen, Pretest

- Überprüfen des Plans/Konsequenzen reflektieren (Szenariotechniken)

- Notwendige Fähigkeiten/Technik ermitteln, Einüben, INSTRUKTION der Teilnehmer

über Entscheidungsverfahren, Konfliktlösungen, Moderation etc.

- Vergeben von Aufträgen, Controlling, Selbstverpflichtung

- ggf. Einrichten von Steuerungsgruppen

- Überprüfen der Rahmenbedingungen

Die Träger der Veränderung sind die Teilnehmer an der Supervision oder/und Bera-

tung. Die Beratung ist Reflexions-, Planungs- und ggf. Instruktionsinstanz.

Die fünfte Phase, die der selbstreferentiellen Erfahrungsgewinnung dient, läßt

sich kaum als eine eigenständige Phase isolieren. Hier geht es darum, daß der ge-

samte Prozeß der Informationsverarbeitung noch einmal im Stile der Trainingslabo-

ratorien und der gruppendynamischen Ansätze von Lewin und Moreno selbstreflexiv

betrachtet und die dabei gewonnenen Ergebnisse zur Steuerung der Interventionen

benutzt werden.

111

Systemisches Denken und Intervenieren kann man schwerlich aus Büchern und

schon gar nicht aus Kurzbeschreibungen wie der vorliegenden lernen. Hierzu sind

entsprechende Trainings notwendig. Einige typische systemische Interventionsstra-

tegien mag der nachfolgende Aufsatz von G. Kommescher und Urs Witschi immerhin

veranschaulichen. Zuvor soll aber der Beratungsbegriff, wie er in dieser Vorlesung

entlang der verschiedenen historischen und zeitgenössischen Konzepte entwickelt

wurde, zusammengefaßt werden.

Fragen zu verschiedenen Wahrnehmungspositionen

Wie sehen Sie die Dinge? Was ist Ihr Eindruck? Was sagen Sie dazu?

Was denken Sie, wie Ihr Partner (Chef, Therapeut) die Dinge sieht?

Wenn Person X hier wäre, was würde sie/er dazu sagen/denken/empfinden, wie

würde er/sie das sehen?

Wenn Sie sich mal in die Position Ihrer Frau versetzen, wie sind die Dinge dann?

Wenn Sie das mal mit den Augen Ihres Mannes sehen, welche Sichtweise haben Sie

dann?

Wie hört sich das für Ihre Tochter an?

Nehmen Sie nun mal den Platz Ihres Sohnes ein, wie sehen/hören/fühlen sich die

Dinge dann an?

Was glauben Sie, meine ich als Therapeut zu diesen Dingen?

Wenn Sie an meiner Stelle wären, was würden Sie einer Person mit solchen Schwie-

rigkeiten raten?

Was denkt wohl das Team über diese neuen Entwicklungen?

Wenn Sie ein unbeteiligter Beobachter in Ihrer Familie/in Ihrem Team/Ihrer Institution

wären, was würden Sie im Umgang der Leute miteinander wahrnehmen?

Was glauben Sie, denkt das Team/jemand der Sie beide gut kennt/ich als Ihr Thera-

peut über die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Frau?

Wenn Sie mal den Kalender weiterblättern und Sie sind selbst erwachsen und haben

eine Tochter in Ihrem Alter, was werden Sie ihr raten, wenn sie das gleiche Problem

hat wie Sie es damals hatten?

Angenommen es geschieht über Nacht ein Wunder und Sie wachen auf und die Pro-

bleme sind gelöst, woran werden Sie es erkennen?

Woran wird/werden es Ihr Mann/Ihr Chef/Ihre Arbeitskollegen/Ihre Kinder/das thera-

peutische Team/ein unbeteiligter Beobachter erkennen, das das Problem gelöst ist?

Was wird anders sein in den Beziehungen zwischen x/y und x/z und y/z?

Was wird x sagen, was anders sein wird in den Beziehungen zwischen y/z, x/z etc.?

Wie werden Sie das in 5 Jahren beurteilen/sehen/empfinden? Was werden Sie in 5

Jahren darüber sagen?

112

Wenn jemand das Team beobachten würde, was könnte der über die Art und Weise

sagen, wie das Team jeden Einzelnen wahrnimmt, die Kommunikation zwischen Ih-

nen beiden, zwischen uns beiden, zwischen Ihrer Familie und mir wahrnimmt?

Angenommen, Sie würden jetzt hinter sich selbst stehen, was würden Sie wahrneh-

men?

Wenn Sie sich nun mal hinter diesen Stuhl stellen und über die Person reden, die

eben auf dem Stuhl saß, was können Sie von hier jetzt über Sie dort vorne sagen?

Zusammenfassung: Der Beratungsbegriff aus systemischer und informations-

theoretischer Sicht

Beratung

- integriert, mehr oder weniger stark professionalisierte Formen von sozialer

Selbstreflexion mit Instruktion und Umweltbeschreibungen

- hat das Ziel, die Selbstregulationsfähigkeit von sozialen und/oder psychischen

Systemen zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen. Dies verlangt auch

die Klärung der System-Umweltbeziehungen voraus.

- setzt immer die Einrichtung sozialer Systeme und d.h. von Kommunikationssyste-

men voraus.

- Erfolgt sie in professionalisierter Form, bezeichnet man ein Element dieses Kom-

munikationssystems als Berater. Er ist zum einen Experte für soziale Selbstwahr-

nehmung und hat die Verantwortung für diese Aufgabe. Zum anderen macht ihn

seine Feldkompetenz in vielen Fällen auch zum fachlichen Experten.

- In der Praxis geht die Tendenz zu integrierten Beratungssystemen, in der phasen-

weise neben der Selbstreflexion auch verschiedene andere Aufgaben:

Praxisanleitung, modellhaftes Durchspielen von Alternativen, Verhaltens- und

Sensitivitytraining abgewickelt werden.

Literatur

- Borwick, I.: Systemische Beratung von Organisationen. In: Fatzer/Eck (Hg.) Super-

vision und Beratung, Köln 1990

- Fürstenau, Peter: Institutionsberatung in Gruppendynamik, 1990, Heft 1, S. 219-233

- Jarmai, H./Königswieser, R: Problemdiagnose. In: R. Königswieser/Chr. Lutz (Hg.):

das systemisch evolutionäre Management. Dieser Sammelband eignet sich auch

als weiterführende Literatur

- Königswieser, R./ Pelikan, J.: Anders - gleich - beides zugleich. Unterschiede und

Gemeinsamkeiten in Gruppendynamik und Systemansatz. In: Gruppendynamik 21,

Heft 1, 1990, S. 69-94

113

- Kommescher, Gottfried/Witschi, Urs: Die Praxis der systemischen Beratung. In: Or-

ganisationsentwicklung, Heft 2, 1992

- Probst, Gilbert J. B.: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen

aus ganzheitlicher Sicht. Berlin/Hamburg 1987

- Probst, G. J. B. und Gomez, P. (Hrsg.) (1989): Vernetzes Denken. Wiesbaden

- Sackmann, S.: Diagnose von sozialen Systemen. In: Fatzer/Eck (Hg.) 1990

- Schlippe, Arist von/Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Bera-

tung. Göttingen/Zürich 19962 vor allem Kapitel III und IV

- Ulrich, H. und Probst, G.J.B. (1988): Anleitung zum ganzheitlichen Denken und

Handeln. Bern und Stuttgart

B: Supervision und Leitungsberatung mit Programmwechsel

Die Komplexität zeitgemäßer Beratung

So komplex wie die Beratungsanlässe sollten auch die Institutionen sein, die Bera-

tungsaufgaben i.w.S. erfüllen. Einfache Konzepte wie jene von Rogers, Freud, Le-

win, die fallbezogene Supervision oder der Balintansatz, die klassische Organisation-

sentwicklung und natürlich erst recht die direktiven und einseitig auf Instruktion und

Expertentum setzende Ansätze, sind nicht mehr zeitgemäß. Sie vermögen jeweils

nur sehr begrenzte Aspekte des problematischen Geschehens besser zu verstehen

und lenken die Aufmerksamkeit - je länger und intensiver sie zum Zuge kommen,

desto mehr - von den vielfältigen anderen relevanten Zusammenhängen ab. Eine

Zeitlang mögen sie hilfreich sein, dann leisten sie Schematismus und Erstarrungen

Vorschub.

114

Notwendig sind demnach flexible Beratungssysteme, die mehrere Ansätze zu ver-

knüpfen vermögen, ohne daß es dabei zu einem Methodenwirrwarr und unklaren

Setting kommt. Die Komplexität des Klientensystems muß der Komplexität des Be-

ratungssystems entsprechen!

Die systemischen Ansätze, von denen wir in der letzten Vorlesung gehört haben,

entsprechen diesen Anforderungen ebenso wie das Konzept des 'Programmwech-

sels', wie es gegenwärtig in der fortgeschrittenen Supervisionsszene vertreten wird.

Das Konzept des 'Programmwechsels' und die Typen der Supervision

Die vielfältigen Typen von Supervision, die sich im Laufe der Zeit für die Bearbeitung

jeweils ganz spezieller Probleme und Interaktionskonstellationen herausgebildet ha-

ben, lassen sich miteinander je nach den gerade anstehenden Aufgaben kombinie-

ren.

Lassen wir zunächst noch einmal die wichtigsten Typen der Supervision, die gegen-

wärtig angeboten werden, Revue passieren und bestimmen wir ihre Leistungen.

Üblich ist (vgl. Kornelia Rappe-Giesecke, 19942) die Unterscheidung zwischen Ein-

zel-, Gruppen- und Teamsupervision, Leitung- und Institutionsberatung.

In der Einzelsupervision geht es in der Regel um Probleme mit Klientinnen und Kli-

enten und auch Kolleginnen und Kollegen. Hier steht die Persönlichkeit der Supervi-

sandin bzw. des Supervisanden mehr im Mittelpunkt als bei der Gruppen- oder

Teamsupervision, der Anteil an Selbsterfahrung ist also in der Regel größer als in

anderen Settings. Einzelsupervision bietet einen geschützten Rahmen, um sich mit

seinem professionellen Selbstverständnis, den eigenen biographischen Anteilen bei

der Entscheidung für eine Profession oder den eigenen Möglichkeiten und Grenzen

bei der Ausübung der beruflichen Rolle auseinanderzusetzen. Die Supervisandinnen

und Supervisanden wählen sich zu Beginn der Stunde eine Situation aus ihrem mo-

mentanen professionellen Alltag aus, die gerade besonders problematisch und bear-

115

beitenswert erscheint. Gemeinsam mit der Supervisorin oder dem Supervisor versu-

chen sie die Komplexität dieser Situation auszufächern:

Was ist ihr persönlicher Anteil daran, wie spielt ihre professionelle Rolle und ihr

Selbstverständnis hinein, welche Auswirkungen haben die institutionellen Rahmen-

bedingungen und in welcher Weise haben die Klientinnen und Klienten die Situation

beeinflußt?

Nachdem alle diese Ebenen angesprochen und verstanden worden sind, kann man

zu einer Formulierung des Problems kommen. Das bedeutet meist schon eine erste

Entlastung, da die Supervisandinnen und Supervisanden in der Regel mit einem eher

diffusen Eindruck von der Situation in die Supervision kommen. Der nächste Schritt

ist es, zu überlegen, in welcher Weise man unter Berücksichtigung der personellen

und auch der institutionellen Gegebenheiten diese Situation für sich und andere bes-

ser lösen und produktiver gestalten kann.

In der nächsten Sitzung kann man dann nachschauen, ob sich die Vermutungen, die

man gebildet hat, bestätigt haben und es der Supervisandin oder dem Supervisan-

den möglich war, die Situation fürderhin anders zu gestalten oder sie besser zu er-

tragen, wenn sie sie schon nicht ändern können.

Gruppensupervision ist geeignet für Angehörige einer Profession, die in verschie-

denen Organisationen, also nicht in einem Team arbeiten. Hier steht, wie in der Ein-

zelsupervision, die Arbeit an Fällen im Vordergrund. (vgl. die 7. Vorlesung) Zu Beginn

der Sitzung wählen die Gruppenmitglieder jemanden aus, der heute einen "Fall ein-

bringt". Die- oder derjenige hat dann die Möglichkeit, in einem längeren Redebeitrag

eine problematische Situation aus ihrem oder seinem beruflichen Alltag zu erzählen.

Die Gruppenmitglieder versuchen dann unter Anleitung der Supervisorin oder des

Supervisors, diese Interaktionsszene zu verstehen, also das Erleben und die wech-

selseitige Wahrnehmung der beteiligten Personen zu rekonstruieren. An dieser Stelle

geht es nicht darum, Ratschläge zu erteilen, wie man diese Situation hätte besser

gestalten können oder wie gutes professionelles Handeln an dieser Stelle ausgese-

hen hätte. In der Regel erzählen Gruppenmitglieder Fälle, weil sie weder sich noch

die anderen richtig haben verstehen und ihr Handeln nachvollziehen können. Ihnen

bleibt oft nur das diffuse Unbehagen, daß dort etwas nicht gut gelaufen sei. An dieser

Stelle entstehen in den Gruppen Inszenierungen des Falles. Die Gruppenmitglieder

spielen, zunächst ohne es selbst zu merken, die geschilderte Szene wieder mit ver-

teilten Rollen nach. Gelingt es, die Inszenierung zu stoppen, dann ist es möglich, aus

dem Erleben der Gruppenmitglieder die erzählte Situation zu rekonstruieren. Die

Falleinbringerin oder der Falleinbringer wird sich plötzlich über ihre bzw. seine Ge-

fühle und ihre bzw. seine Wahrnehmungen klar, über die Vorannahmen, die sie bzw.

er über ihre bzw. seine Interaktionspartner gehabt hat, die sich vielleicht als nicht zu-

treffend erwiesen haben. Kann die Falleinbringerin oder der Falleinbringer mit Hilfe

der Gruppe und der Supervisorin oder des Supervisoren ihre oder seine Problematik

auf den Begriff bringen, dann kann man im zweiten Schritt die unterschiedlichen

professionellen Herangehensweisen an einem solchen besprechen. Da ja alle im

gleichen Feld arbeiten, kennen sie in der Regel diese Situation und reagieren oft in

recht unterschiedlicher Weise darauf. Welche Vor- und Nachteile die verschiedenen

professionellen Handlungsweisen haben, kann man dann herausfinden. Diesen

"Gruppenvorteil" hat diese Supervisionsform natürlich gegenüber der Einzelsupervi-

sion. Ein Vorteil der Gruppensupervision gegenüber der Teamsupervision ist es, daß

sich die Beteiligten, die ja nicht in professionellen Abhängigkeiten voneinander ste-

hen und sich in der Regel auch nicht kennen sollten, ohne Furcht vor Sanktionen

freier äußern können und auch ein Stück mehr von sich preisgeben können, als dies

in der Teamsupervision passiert.

Abb. 29: Der Ablauf von Beratungen von sozialen Systemen

Erstkontakt

Konstruktion des Settings für die Datenerhebung

Kontrakt für die Phase der Datenerhebung und -auswertung

Datenerhebung

Datenrückkopplung und -auswertung

Interventionsplan

Kontrakt über die Intervention

Intervention

Supervision Organisationsentwicklung strukturelle MaßnahmeTraining Instruktionetc.

Auswertung und Abschlußoder

erneutes Durchlaufen des gesamten Beratungsprozesses

Ausstieg

Ausstieg möglich

Ausstieg möglich

Ausstieg möglich

permanente

Selbst-

reflexion

117

Teamsupervision wird angefragt, weil Teams über problematische Klienten spre-

chen wollen oder weil Probleme in der Kooperation innerhalb des Teams aufgetreten

sind. Fallsupervision, also die Arbeit über die Beziehungen zu den Klienten setzt vor-

aus, daß es keine massiven institutionellen Konflikte im Team gibt. Der Ablauf der

Fallsupervision bei Teams ist etwas anders als in der Gruppensupervision, da in der

Regel mehrere Teilnehmer den Klienten kennen oder gemeinsam mit ihm arbeiten.

(Vgl. Abb. 25) Das Team einigt sich zu Beginn der Sitzung, über welche Klientin oder

welchen Klienten gesprochen werden soll und jemand beginnt dann mit der Erzäh-

lung über Probleme mit dieser Klientin oder diesem Klienten, in die sich die anderen

Teammitglieder nach und nach "einklinken". Arbeiten alle Teammitglieder mit den

betreffenden Klientinnen bzw. Klienten, dann geht es zunächst darum die verstreuten

Informationen zusammenzutragen, die entstandene Arbeitsteilung zu reflektieren,

unterschiedliche Reaktionsweisen emotionaler Art zu sammeln, um dann letztendlich

zu einer gemeinsamen Haltung gegenüber der Klientin bzw. dem Klienten zu finden.

Arbeitet nur ein Teammitglied mit den betreffenden Klientinnen oder Klienten, dann

entwickelt sich die Fallarbeit wie in der Gruppensupervision, wo auch die anderen die

Klientin oder den Klienten nicht kennen.

Geht es, was meist der eigentliche Anlaß für Teamsupervision ist, um Kooperations-

probleme im Team, dann sollte man zwei Ebenen bearbeiten: einmal die institutio-

nelle und zum anderen die gruppendynamische. Zur Reflexion der institutionellen

Ebene gehören Fragen wie: Ist dem Team seine Aufgabe klar? Gibt es eine klare

Arbeitsteilung? Wie organisiert es seine Informations-, Entscheidungs- und Pro-

blemlösungsprozesse? Wie sieht die Beziehung zur Teamleitung und zu den höhe-

ren Leitungsebenen aus? Entspricht das Selbstbild des Teams dem Bild, was die

Organisation von ihm hat? Hier arbeitet man mit relativ rationalen Verfahren, wie sie

aus der Organisationsentwicklung kommen. Die Ausgestaltung dieser institutionellen

Beziehungen ist jedoch immer untrennbar mit der Entwicklung einer bestimmten

Gruppendynamik verbunden. Die Analyse dieser gruppendynamischen Situation ge-

hört immer zur Bearbeitung der Kooperationsbeziehung. Hier ist es auch immer wie-

der notwendig, die Komplexität der Ursachen für gruppendynamische Entwicklungen

im Team auszubreiten: Sie wird beeinflußt einmal durch die psychische Dynamik, die

ein Klientensystem mit einem Team typischerweise inszeniert, zweitens durch die

Stellung des Teams innerhalb der übergreifenden Organisation und drittens durch

die Binnenstruktur, die Ausdifferenzierung in verschiedene Rollen, in verschiedene

hierarchische Ebenen und durch die verschiedenen Professionszugehörigkeiten. Um

diese Dynamik untersuchen zu können, ist es häufig nötig, die Situation in der Su-

pervision selbst zu thematisieren, denn dort wiederholen sich die wesentlichen dem

Team problematisch gebliebenen Dinge. Aus der Analyse der Dynamik, die sich in-

nerhalb der Supervision entwickelt hat, kann man dann Rückschlüsse auf die Dyna-

118

mik im professionellen Alltag ziehen. Für Teams stellt es meist schon eine große

Entlastung dar, wenn man diese verschiedenen Ebenen auseinander sortiert hat und

damit den einfachen Schuldzuweisungen etwas entgegensetzen kann. Gelingt es

dann noch, die produktiven Anteile an den scheinbar konflikthaften Lösungsversu-

chen zu finden und das Team auf die gemeinsame Aufgabe hin zu konzentrieren,

dann entsteht eine spürbare Entlastung, die die Voraussetzung für Veränderungsbe-

reitschaft und Neuorientierung ist.

In der Supervision können die Teams auf diese Art und Weise lernen, wie sie ihre

Probleme lösen können. Die Supervisorin oder der Supervisor hat hier (nur) die Auf-

gabe, Teams so lange zu begleiten, bis sie ihre Ressourcen wiederentdeckt haben

und allein nutzen können. Eine dauernde Begleitung von Teams dürfte nur als Fall-

supervision für solche Teams in Frage kommen, die mit äußerst schwierigen und

belastenden Klienten arbeiten.

Zeigt es sich, daß Probleme in der Kooperation der Teammitglieder nicht intern zu

lösen sind, weil nötige Veränderungen nicht im Entscheidungs- und Ermessensspiel-

raum des Teams oder der anwesenden Teamleitung liegen, gibt es die Möglichkeit,

im Rahmen einer Organisationsberatung oder -entwicklung alle Beteiligten an

einen Tisch zu holen.

Organisationsentwicklung befaßt sich im Gegensatz zur Supervision damit, einen

produktiven Veränderungsprozeß der gesamten Organisation in Gang zu setzen,

Veränderungen in ihrer Identität und ihrem Selbstverständnis, ihren organisatori-

schen Abläufen zu erreichen, die Kommunikation zwischen allen Beteiligten zu opti-

mieren und die Markt- oder Klientenorientierung zu entwickeln oder zu verbessern.

Supervision kann im Rahmen von OE-Prozessen eine Maßnahme sein, oft führt der

Weg zur Organisationsentwicklung auch erst über die Supervision.

Leitungsberatung, auch Coaching genannt, beschäftigt sich mit zwei Ebenen der

Leitungsfähigkeit, einmal mit den institutionellen Rahmenbedingungen der Ausübung

dieser Funktion und zweitens mit dem durch die Persönlichkeit der Leiterin oder des

Leiters geprägten Leitungsstils. Oft kommen Leiterinnen und Leiter in diese Funktion

aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und bemerken im Laufe der Zeit, daß eine an-

dere Qualifikation mindestens ebenso wichtig ist, nämlich die Menschen zu führen.

Auch hier wird, wie in der Einzelsupervision, versucht, an konkreten Situationen aus

dem beruflichen Alltag der Leiterin oder des Leiters zu rekonstruieren, welche institu-

tionellen Rahmenbedingungen diese spezielle Leitungstätigkeit prägen, wie man de-

ren Funktionalität oder Dysfunktionalität besser verstehen, akzeptieren oder ggf.

auch verändern kann und welche persönlichen Voraussetzungen die Leiterin oder

119

der Leiter mitbringt, die sich in der Führung ihrer Mitarbeiterschaft produktiv oder hin-

derlich auswirken. Problemlösungen in Einzelfällen und generelle Überlegungen zur

Identität und zum Selbstverständnis in dieser Rolle sind Gegenstand von Leitungsbe-

ratung.

Das nachstehende Schaubild Abb. 30 faßt die verschiedenen Ausdifferenzierungen

der Supervision noch einmal zusammen.

Abb. 30: Differenzierung der Supervisionsformen nach der Klientel

Das komplexe Ablaufschema von Supervisionsprozessen

Supervisorinnen und Supervisoren, die in diesen verschiedenen Beratungskontexten

gearbeitet haben, verfügen über so viele Programme, daß sie, auch wenn sie in ei-

nem bestimmten, festgelegten Setting arbeiten, bei Bedarf und nach entsprechender

Ankündigung und Absprache ihren Arbeitsstil gemäß der gerade anstehenden Auf-

gabe modifizieren können. Sie haben die Möglichkeit zum Programmwechsel.

Einzel-Super-vision

SupervisionOrganisationsberatung/

Organisationsentwicklung

Rolle Profession

Organisationund deren

Subsysteme

GruppenSupervision

mitAngehörigen

einerProfession

EinzeSupervision

BalintGruppen-

Arbeit

Rollenberatung/Rollencoaching

von Trägernanderer Rollen

Leitungs-beratung

Gruppen-Super-vision

EinzelCoaching

Gruppen-Coaching

instrangergroups

Team-Super-vision

TeamEntwick-

lung

Projekt-Gruppen

Inter-Gruppen-

treffen

Steuerungsgruppe(abteilungs-

professions- undhierarchie

übergreifend)

Wenn man sich einmal die dynamische Dimension eines beliebigen Supervisionssy-

stems anschaut, so fällt auf, daß selbst im Standardfall, ganz unterschiedliche Pro-

gramme vonnöten sind. Die nachfolgende Abbildung, die den Supervisionsprozess

vom Erstkontakt bis zur Auswertungssitzung darstellt, mag dies verdeutlichen.

Abb. 31: Phasen des Supervisionsprozesses: Vom Erstkontakt bis zur Auswer-tungssitzung

Kornelia Rappe-Giesecke: Supervision; Gruppen- u. Teamsupervision in Theorie u. Praxis.

Berlin/Heidelberg/New York. 1995, 2. überarbeitete u. erweiterte Auflage.

In den einzelnen Phasen stehen mal mehr instruierende, mal mehr moderierende,mal selbstreflexive, mal erzählende und mal argumentierende Programme im Vor-dergrund. Um in allen Phasen gleichermaßen kompetent zu sein, ist jedenfalls dieBeherrschung sehr vielfältiger Programme erforderlich. Noch schwieriger freilichdürfte sein, bei den vielfältigen Programmwechseln die Einheit des Beratungssy-stems nicht zu zerstören. Das Konzept, die Beratung als ein informationsverarbeiten

121

des Verbundsystem und als ein Kommunikationssystem zu begreifen, vermag hier

eine identitätserhaltende Kraft zu entwickeln.

Zusammenfassung: Übersicht über Ziele, Setting, Methoden, Klienten in ver-

schiedenen Beratungsformen

(nach: K. Rappe-Giesecke)

Balintgruppenarbeit/Gruppensupervision

Ziele: Erkennen und Handhaben der Psychodynamik professioneller Beziehungen

zu Klienten/Patienten durch Erwerb berufsbezogener Selbsterfahrung (Professions-

analyse)

Ideales Setting: Stranger groups mit Angehörigen einer Profession - möglichst ohne

berufliche Abhängigkeiten voneinander, keine Hierarchien

Programme: Fallarbeit, evt. Selbstthematisierung des Gruppenprozesses

Klienten: Angehörige einer oder benachbarter Profession(en), die ihre berufliche(n)

Rolle/Tätigkeiten entwickeln wollen (Professional-Gruppe)

Teamsupervision

Ziele: Optimierung der Zusammenarbeit im Team und der Arbeit mit Klien-

ten/Patienten sowie die Erhöhung der Arbeitszufriedenheit (Analyse und Therapie

von institutionellen Subsystemen)

Ideales Setting: Das ganze Team plus Teamleitung nimmt teil. Vorgespräche und

Auswertungssitzungen werden mit Vorgesetzten geführt, die Fach- und Dienstauf-

sicht ausüben

Programme: Programmkombinationen aus Fallarbeit (modifiziert), Institutionsana-

lyse und Selbstthematisierung der Psychodynamik und Soziodynamik im Team

Klienten: Teams als Repräsentanten von institutionellen Systemen oder Subsyste-

men

Leitungsberatung/Coaching

Ziele: Optimierung des Führungsverhaltens und rollengebundene Selbsterfahrung

(Rollenanalyse und Klärung der Beziehung zwischen der biographischen Psychody-

namik und der Rollendynamik)

Ideales Setting: Einzelberatung oder stranger groups mit Führungskräften aus dem

gleichen Feld, die nicht beruflich voneinander abhängig sind

Programme: Fallarbeit, Institutionsanalyse und Selbstthematisierung

Klienten: Führungskräfte aus dem Profit- und Nonprofit-Bereich als Spezialfall einer

institutionellen Rolle (ggf. Psychosystem)

122

Organisationsberatung und -entwicklung

Ziele: Erhöhung der Produktivität der Arbeit und der Arbeitszufriedenheit - Entwick-

lung der Selbststeuerungsfähigkeit der Organisation durch Klärung der Identitäts-

konzepte und der Umwelttypisierungen

Ideales Setting: Zugang des Beraters/Beraterteams zu allen Subsystemen der Or-

ganisation, mit wechselnden Settings arbeiten, Steuerungsgruppe installieren

Programme: Datenerhebung, -auswertung und -rückkopplung, Leistungsberatung,

Teamentwicklung, Rollenverhalten, live-Supervision, Intergruppentreffen etc.

Klienten: Organisationen im Profit- und Nonprofit-Bereich als Elemente von gesell-

schaftlichen Subsystemen (Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit etc.)

Merksätze über den Zusammenhang von Setting und Supervisionsprozeß

- Arbeitsbündnis herstellen geht vor „sauberen“ Kontrakt

- Was organisatorisch-strukturell im Kontrakt nicht geregelt wird, kommt auf der

psychodynamischen Ebene wieder.

- Je weniger klar der Kontrakt ist, desto mehr muß im Laufe des Prozesses behan-

delt/thematisiert werden.

- Je stärker die interne Differenzierung des Teams oder der Gruppe ist, desto mehr

Selbstthematisierung ist nötig, um die Asymmetrien in den Beziehungen

auszugleichen und eine Basis wechselseitiger Akzeptanz zwischen den

Mitgliedern herzustellen.

- - Bei kooperationsbezogener Teamsupervision müssen alle Teammitglieder

teilnehmen: Die Arbeit mit Teilteams ist sowohl auf gruppendynamischer als auch

auf strukturell-institutioneller Ebene kontraindiziert.

Literaturhinweis

Kornelia Rappe-Giesecke: Wozu brauchen Organisationen Supervision? Statement

auf der Veranstaltung der Fachhochschule Bielefeld, des Instituts für Fortbildung,

Beratung und Sozialarbeitsforschung (IFOBS) und der Regionalgruppe Ost-

Westfalen-Lippe der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSV) im September

1993.

Von der externen Supervision zur Entwicklung von Corporate Identity

Damit die Supervisoren und andere externe Berater bei der Entwicklung von Leitbil-

dern von anderen sozialen Systemen hilfreich sein können, müssen sie ihr Selbst-

verständnis einer kritischen Überprüfung unterziehen. Vor allem gilt es, das Verhält-

nis zwischen den Supervisorinnen und Supervisoren und den Klientensystemen neu

zu gestalten. Warum dies?

123

Zunächst einmal bedeutet das Setzen auf Selbstreflexion für jedes einzelne Unter-

nehmen, für jedes Team und für jeden anderen potentiellen Klienten von Superviso-

ren eine bewußte Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte und eine Abgrenzung von

externen Einflüssen und Ansprüchen. Es geht bei Identitätsfindungsprozessen immer

und vor allem um Grenzziehungen. Und diese Grenzen müssen natürlich auch ge-

genüber ‘Beratern’ gezogen werden - was längerfristig gewiß zu einem Ausbau inter-

nen Spezialistentums für Selbstreflexion führen wird. Die Personalenwicklungs- und

Weiterbildungsabteilungen großer Industriebetriebe liefern viele Beispiele für diesen

Trend.

Was können unter diesen Bedingungen ‘externe’ Berater/Supervisoren überhaupt

noch tun? Als externe Berater können sie gar nichts tun, bestenfalls das System von

außen stören. Wollen sie mehr Wirkung entfalten, als dies jede Umwelt für ein Sy-

stem tut, dann müssen sie ihre aparte Beraterrolle aufgeben und gemeinsam mit den

Organisationsmitgliedern neue Subsysteme bilden, in denen sie gleichberechtigte

Mitglieder sind. Mit Abstinenz, die von vielen Supervisoren - und Beraterschulen

empfohlen wird, ist unter solchen Bedingungen natürlich kein Blumentopf zu gewin-

nen.

Die aus einem oder mehreren Beratern und den mehr oder weniger zahlreichen Mit-

gliedern des Klientensystems gebildeten Subsysteme sind die eigentlichen Bera-

tungssysteme - freilich nur aus der Sicht der Berater. Sie sind andererseits aus der

Sicht der Klienten immer auch schon ein Element des ratsuchenden Systems. Je-

denfalls funktioniert die gemeinsame Arbeit nur unter diesen Bedingungen. Entfernen

sich die Mitglieder des Klientensystems zu weit von ihrem Leben und ihrer Arbeit,

dann gibt es Transferprobleme.

Nur die Systeme selbst können ihre Strukturen verändern. Auf Umwelt können sie

nur reagieren. Eine Kontrolle hat die Umwelt nicht auf die internen Veränderungspro-

zesse. Dies setzte Feedback voraus und damit würden neue soziale Systeme ent-

stehen. Wieso Systemtheoretiker, die solche Einsichten vermutlich sogar noch teilen,

nach einer Lösung des Problems der ‘Intervention in soziale Systeme’ suchten, ist

schwer verständlich. Verständlich wird diese Suche nur vor einem mechanistischen

Standpunkt mit seinen klassischen Entgegensetzungen von Subjekt und Objekt , von

Innen und Außen. Im Sinne des systemischen Denkens richtig gestellt ist die Frage,

wie schaffe ich es, zu einem Element von Klientensystemen zu werden, und damit

alle Gestaltungschancen auch der übrigen Mitglieder dieses Systems zu gewinnen,

ohne daß ich seiner Dynamik blind folge? Eine Chance hierzu gäbe es nicht, wenn

die sozialen Systeme nicht selbst schon Funktionsstellen oder ganze Subsysteme

ausdifferenziert hätten, deren Aufgabe eben genau die Reflexion und Steuerung der

internen basalen Prozesse ist. Alle sozialen Systeme verfügen über mehr oder weni-

ger ausdifferenzierte Reflektoren oder Regulatoren. Meist sind dies natürlich die Lei-

124

ter der Systeme. (Deshalb ist es auch eine bewährte Regel bei der Supervision von

Organisationen und Teams mit der Leitungsebene zu kooperieren). Erfolgreiche CI-

Entwicklung und Organisationsberatung überhaupt setzt voraus, daß die Berater

diese regulativen Stellen im System nutzen.

Aber dies ist nur die eine Bedingung. Die zweite Bedingung ist die Fähigkeit zum

Programmwechsel. Es reicht nicht aus, sich nur auf die reflektierende Position zu

stellen, sondern die Berater müssen gleichermaßen auch andere, basale Funktionen

in dem System faktisch und/oder probeweise einnehmen - und sie müssen zwischen

diesen beiden Funktionen hin und her wechseln können. Hier gilt es, das richtige

Verhältnis zwischen Dabeisein und Distanz zu entwickeln.

Die Darstellung wäre unvollständig, wenn sie sich nur mit den neuen Anforderungen

an die Profession der Berater befassen würde. Die andere Seite sind die Auswirkun-

gen des Konzepts der Selbstregulation auf die Verbände und Unternehmen - und

hier vor allem auf das Management dieser Systeme. Hier geht es darum, Abschied

zu nehmen von der eindimensionalen Orientierung auf den ökonomischen Erfolg und

die Aufgaben des Systems. Mit dieser Orientierung wird zuviel Komplexität reduziert.

Sowie bei aller anderen Technik nicht der direkte Weg sondern der Umweg zur Lö-

sung des Problems führt, so verspricht auch im sozialen Feld, bei der Führung der

Mitarbeiter, der ‘Umweg’ über die Leitbilder den größten Erfolg. Was nun die Struktur

solcher Identitätskonzepte und die Wege zur Entwicklung einer solchen Unterneh-

mensphilosophie anlangt, so ist vom Nonprofit-Bereich zweifellos mehr zu lernen, als

von den wenigen bislang vorliegenden CI-Maßnahmen aus dem Profit-Bereich.

125

Ablauf der Fallsupervision

Vorphase: Klärung von Rollen und Thema❏ Sie sind als ... hier und erzählen über Ihre Erfahrungen in dieser Rolle.

❏ Thema ist eine konkrete problematische Erfahrung aus Ihrem Arbeitsbereich...,die Sie noch heute beschäftigt.Es geht also um Arbeitsbeziehungen und um die Gedanken und Gefühle, die siebei den Gruppenteilnehmern auslösen.

Aushandlung:❏ Wer möchte über ein Erlebnis berichten?

❏ Entscheidung für einen Erzähler.

Falleinbringung:Ausführliche Erzählung.❏ Orientierung über die Rahmenbedingung (wann, wo, wer?)

❏ Ablauf des Gesprächs (dort und damals)

• eigenes und fremdes Verhalten

• eigenes und (vermutliches) fremdes Erleben

• nachträgliche Verarbeitung des Geschehens

❏ Warum ich hier und heute darüber sprechen will! Was ist meine Frage/ Irritation?

Fallbearbeitung:Verstehen der erzählten Interaktion und des Erlebens des Erzählersdurch:❏ Welche Gefühle und Phantasien hat die Erzählung bei den Zuhörern ausgelöst?

❏ Fragen an den Erzähler, um ein vollständiges Bild der Rahmenbedingungen unddes Ablaufs der Interaktion einschließlich der Gruppen- und Psychodynamik zuerhalten.

❏ Die übrigen Teilnehmer äußern Vermutungen über ihr eigenes Verhalten undErleben in der erzählten oder in vergleichbaren Situationen.• Welche Sichtweise und welches Verhalten könnte die Irritation des Erzählers

beseitigen?❏ Verallgemeinerung: Handelt es sich um ein typisches Problem der versammelten

Professionals? Gibt es allgemeine Maximen für seine Behandlung?

Abschluß:Blitzlicht: Wie habe ich den Ablauf der Supervision erlebt, was war für mich neu, wel-che Erfahrung kann ich im Berufsalltag nutzen?

Moderation(Kapitel 8)

Moderation mit Metaplantechnik

Die Metaplantechnik ist ein typischer Vertreter jener neuen Generation von soft-tech-

nology, die der Verbesserung der Informationsverarbeitung in kleineren Gruppen

dient. Im Gegensatz zu den Massenmedien, die die gesellschaftliche Informations-

verarbeitung optimieren, will die Metaplantechnik die direkte Kommunikation in Grup-

pen beeinflussen.

Moderatoren steuern die Gruppenarbeit. Vermutlich gelingt die Moderation am be-

sten, wenn die Gruppenarbeit als ein kollektiver Entscheidungsprozeß aufgefaßt

werden kann.

126

Die bekannteste Moderationsmethode ist die Metaplan-Technik. Ihre Hauptleistung

ist es, die individuelle Informationsverarbeitung in den verschiedenen Phasen einer

Gruppenarbeit sozial verfügbar zu machen. Sie tut dies im wesentlichen dadurch,

daß sie die individuellen Meinungen, Informationen, Programme, Zielvorstellungen

usw. in das sprachliche und dann weiter in das schriftsprachliche Medium übersetzt.

Sie nötigt also zur Symbolisierung und zur Visualisierung. In diesem Prozeß werden

die psychischen Informationen der einzelnen Gruppenmitglieder notwendigerweise

sozialisiert und transformiert: von unklaren Gefühlen und Vorstellungen in mehr oder

weniger abstrakte Begriffe übersetzt; komplexe Gedankengänge werden auf Halb-

sätze verkürzt, vielfältige Informationen und Überlegungen auf wenige Kernaussagen

kondensiert usf. Dieser Prozeß der Verschriftsprachlichung entpersönlicht die Aus-

sagen. Dieser Effekt ist von den Anhängern der Metaplan-Technik gewollt. Er wird

als eine Konzentration auf die Sachebene unter Hintanstellung der Beziehungsebene

begrüßt.

Dadurch, daß die Informationen und die Gedankengänge der einzelnen Teilnehmer

auch allen übrigen Gruppenmitgliedern in geeigneter Form schriftlich vor Augen ge-

führt werden, ergibt sich die Möglichkeit, tatsächlich kollektiv an Problemlösungen zu

arbeiten, die Ressourcen aller Beteiligten zu berücksichtigen und zu nutzen. Die Vi-

sualisierung erleichtert die Metakommunikation und damit auch die Konfliktbearbei-

tung in der Gruppe; unterschiedliche Meinungen werden sichtbar und damit auch

thematisierbar. So gesehen ermöglicht die Metaplan-Technik Selbstthematisierungen

und eröffnet damit vielen sozialen Systemen eine sonst kaum genutzte Kooperations-

ebene. Diese Leistung wird von vielen Trainern herausgestellt:

"Moderation ist eine Methode, die den Prozeß in Gruppen und Organisationen im

Sinne von mehr Offenheit, Akzeptanz und Kommunikation fördert." (F. Decker: Grup-

pen moderieren - eine Hexerei? Die neue Team-Arbeit. Ein Leitfaden für Moderato-

ren zur Entwicklung und Förderung von Kleingruppen: München 1988, S. 17) Die

127

meisten sozialen Systeme müssen eine solche Kooperationsform lernen. K. Klebert,

E. Schrader und G. Straub, die ein noch immer grundlegendes Werk zur Moderati-

onsmethode geschrieben haben, sagen denn auch über ihre Motive: "Eines Tages

begriffen wir: es war nicht unbedingt so, daß die Menschen einander nicht beteiligen

wollen, sondern sie können es nicht. Es gab kein Verhalten und keine Technik, die

es ermöglichte, alle kannten nur zwei Modelle, Vortrag und Diskussion, Lehrer und

Diskussionsleiter." (Moderationsmethode. Geisel - Bullach 1980, S. 2) Die Metaplan-

Technik versteht sich nun als ein alternatives Modell für Entscheidungsprozesse und

andere Kommunikationsformen in Gruppen. Sie geht dabei, wie die anderen Mode-

rationstechniken auch, von einem partnerschaftlichen Verhältnis der Teilnehmer aus.

Alle Teilnehmer sind gleichberechtigte Sensoren, Prozessoren, Reflektoren und Ef-

fektoren. Parallelverarbeitung von Informationen setzt nicht nur eine gemeinsame

Umwelt, die durch die Verschriftlichung und die Metaplanwände erreicht wird, son-

dern auch eine strukturelle Ähnlichkeit der Beteiligten informationsverarbeitenden

Systeme voraus.

Medien der Metaplan-Technik

weiß (Ist-Analyse), gelb (Soll-Vorstellung), grün (Kritik) u.a.

* Papierkarten

Kreis, Rechtecke, Ovale (Datensammlung), Streifen (Thema)

* Klebepunkte und andere Symbole in verschiedenen Farben und Größen

* Filzschreiber, rot und schwarz, jeweils fett und dünn

* Metaplanwand (mit Papierbögen)

Beschriftungsregel

* Blockschrift mit Groß- und Kleinbuchstaben

* jeder Buchstabe wird einzeln und mit der Breitseite des Schreibers geschrieben

* zwei Schriftgrößen (5 cm und ca. 2,5 cm); kurze Ober- und Unterlängen

* lesbar bis in 6 - 8 m Entfernung

* nicht mehr als drei Zeilen auf einer Karte

* immer oben links beginnen

* Halbsätze bilden

* Schlüsselbegriffe verwenden, stilistische Variationen vermeiden

* auf jeder Karte nur einen Gedanken

Visualierungsprogramme für die Metaplanwand

* Liste, Reihe

* Skala, Koordinatenkreuz

128

* Tabelle

* Baumstruktur (Pyramide)

* Netz

* Würfel, Räume

* Collage (z.B. Einführungsbild mit Visualisierung des Problems des jeweiligen

Workshops

Datenerhebungsprogramm

* Ein-Punkt-Frage

dient dazu, Stimmungen, Meinungen und Informationen von den einzelnen Grup-

penteilnehmern zu einer bestimmten Frage zu erhalten. (Blitzlichtfunktion) Die Teil-

nehmer bekommen jeweils einen Klebepunkt und kleben diesen dann in eine Liste,

eine Skala, eine Tabelle usf. Z. B. gibt man Antwortmöglichkeiten auf die Frage

'Brauchen wir eine Beratung?' in skalierter Form vor und fordert die Teilnehmer auf,

Ihre Punkte auf der Skala zu verteilen.

* Zuruf-Frage

Auf eine wichtige, auf der Metaplanwand schriftlich formulierte Frage geben die

Teilnehmer nacheinander ihre Antworten. Diese werden mit Filzschreiber direkt auf

das angepinnte Packpapier geschrieben. Typisches Beispiel ist das Brainstorming.

Die Beteiligung kann freigestellt bleiben. Es ist auch möglich, die Antworten zu

strukturieren. Z. B. kann zu der Frage "Was fanden Sie an der Vorlesung

gut/schlecht?" an der Wand eine Tabelle mit zwei Spalten (gut/schlecht) ausgefüllt

werden.

* Kartenabfrage

Die Kartenabfrage sichert den Teilnehmern Anonymität. Jeder erhält eine Karte, die

ja nach der Funktion der Antwort eine unterschiedliche Form und Farbe besitzt. Sie

wird mit der Antwort ausgefüllt, eingesammelt und dann vom Moderator vorgelesen

und angeheftet. Danach kann das Sortieren (Clustern) und die Suche von Über-

schriften beginnen. Die Cluster lassen sich wiederum diskutieren und bewerten.

Cluster werden mit dickem roten Stift umrandet und für die weitere Bewertung nu-

meriert.

* Mehrpunktfrage

Die Mehrpunktfrage setzt häufig die Kartenfrage fort und verfolgt dann z. B. das

Ziel, die Präferenzen der Teilnehmer zu erkunden. Sie zwingt diese, eine Auswahl

129

zu treffen, macht damit Schwerpunkte von Gruppenmeinungen sichtbar, erlaubt es

über Prioritäten zu diskutieren und Bewertungskriterien festzuhalten.

Eingangs muß die Gesamtzahl der zu vergebenen Punkte und das Maximum der

Punkte pro Cluster festgelegt werden, in der Regel fünf bis sieben, bzw. zwei pro

Cluster. Danach kleben die Teilnehmer ihre Bewertungspunkte an die vorbereiteten

Cluster, Skalen, Themen o. ä. an der Pin-Wand.

Insbesondere, wenn dem Bedürfnis nach Anonymität nachgegeben werden soll, ist

es sinnvoll, die Teilnehmer aufzufordern, sich vorher schriftlich zu überlegen, wie

sie ihre Punkte verteilen wollen. Man kann dann das Punkten gemeinsam starten

und zügig zu Ende bringen, vermeidet also, daß jeder Einzelne bei seinen Bewer-

tungen von einer sitzenden Mehrheit beobachtet wird.

* Zweiergruppen Arbeit ("Kleinstgruppe")

Eine Reihe von Kooperationsaufgaben lassen sich besser in kleinerem Kreis als in

der Großgruppe/im Plenum lösen. Sinnvoll ist z. B. eine Zweierarbeit, wenn es um

die Erstellung eines Vorschlags, z. B. einer Empfehlungsliste, für die Gruppenarbeit

geht. Auch die Detaillierung von Ergebnissen von Mehrpunkt-Abfragen kann ein Ziel

von Zweiergruppen sein.

* Gruppenarbeit

Insbesondere bei zu moderierenden größeren Gruppen wird man das Plenum häu-

fig zugunsten von Projektgruppen mit vier bis fünf Teilnehmern auflösen, die die

Aufgabe haben, Teilergebnisse zu bearbeiten und sie dann für das Plenum zu prä-

sentieren. Dabei muß immer wieder ein geeigneter Arbeitsplatz von den Gruppen-

teilnehmern gestaltet werden. Diese Aktionen sollten nicht nur als Störung, sondern

als 'Warming up' bewertet werden. Bewegung, Neuformierung usw. können auch

kognitiven Perspektivenwechsel erleichtern, verhärtete Diskussionsfronten aufwei-

chen.

* Plenum

Bei der Präsentation von Ergebnissen der Kleingruppenarbeit im Plenum kann es

sinnvoll sein, den Teilnehmern ovale grüne Karten auszuhändigen. Sie können

diese benutzen, um ihre Kritik zu notieren. Nach Abschluß der Präsentation können

die Ovale von dem Moderator eingesammelt, angeheftet und dann besprochen

werden.

Allgemeines Ablaufschema bei der Moderation von Entscheidungsprozessen

* Sensibilisierung (Aufgaben-/Problemstellung deutlich machen)

130

* Sammlung von Informationen

* Ordnen

* Gewichten/Bewerten

* Reflexion der Bewertungskriterien

* Abwägen (Gewichten) der Bewertungskriterien

* Entscheiden

Diskussionsregeln

* Aktiv mitarbeiten

* dreißig Sekunden Redezeiten

* ausreden lassen und zuhören (Toleranz)

* alle thematisch relevanten Aussagen werden visualisiert

* jeder vertritt seine Meinung selbst

* die Meinungen anderer werden nicht manipuliert, sondern aufgenommen, weiter-

verfolgt und ggf. zurückgewiesen

* keine Killerphrasen ('Geht nicht!') bei Ideensammlungen

* kein Einigungszwang

* kein Rechtfertigungszwang

* Einwände sind in der Ich-Form als Feedback zu formulieren

* nicht was gesendet wurde ist wichtig, sondern was angekommen ist

* es gibt keinen Vorsitzenden/Leiter, sondern (nur) einen Moderator

Aufgabe der Moderatoren

* Problembewußtsein schaffen und Ablauf der Arbeit klarlegen

* den Informationsverarbeitungsprozeß nach den Ebenen: Sammeln, Ordnen, Ge-

wichten, Entscheiden/Handeln gliedern

* wichtige Beiträge visualisieren

* Teilnehmermeinungen erst vorlesen, dann kommentieren (oder zu Kommentaren

auffordern!)

* Ergebnisse zusammenfassen

* Perspektiven - und Programmwechsel initiieren

* Einigkeiten und Streitpunkte aufzeigen, Konflikte wertungsfrei ansprechen

* auf Lücken hinweisen

* Sach- und Beziehungsebene trennen

* Fähigkeiten einzelner Gruppenteilnehmer erkennen und diese für die Gruppen-

arbeit einsetzen.

* die Ablaufstruktur der Gruppenarbeit thematisieren ('Wo stehen wir jetzt?', 'Wo

woll(t)en wir hin?', 'Wie erreichen wir unser Ziel?', 'Was behindert uns?' etc.)

* auf die Einhaltung der vereinbarten Spielregeln achten

131

* Ggf. Plakatwände als Protokolle fotografieren

Zusammenfassung

Das Visualisierungsgebot als Grundprinzip der Metaplan-Technik ist im Grunde ein

Selbstthematisierungsgebot: Man soll das, was man tut und die Regeln, nach denen

man es tut, wahrnehmen und es allen sichtbar machen, d. h. es sozialisieren und vi-

suell darstellen.

Das Gebot bezieht sich (selbstreferentiell) auch auf die Moderation selbst. Ihre Stra-

tegie muß deutlich werden, ihr Ablauf auf den Metaplanwänden dokumentiert wer-

den.

Die Notwendigkeit, das Gesagte noch einmal in wenigen Worten und in der Schrift-

sprache zu verfassen, zwingt zur Beschäftigung (Analyse und Synthese) mit den ei-

genen und mit den fremden Gedanken. Es hebt das individuelle Reflexionsniveau

und erleichtert Metakommunikation und soziale Selbstthematisierungen. Weil dies so

ist, erschöpft sich die Moderationstechnik auch nicht in die "Einführung eines neuen

Kommunikationsstils. Moderation muß in ..... einem Kontext von bestimmten Wert-

haltungen und Organisationsstrukturen eingebettet sein .....Beim Zugeständnis zu

Mitbeteiligung und Mitbestimmung in Organisationen darf es sich nicht um ein bloßes

Lippenbekenntnis handeln, anderenfalls würde der Einsatz der Moderationsmethode

zur Phrase verkommen." (Ch. Hirt: Moderation in Gruppen: Eine Literaturübersicht.

In: Gruppendynamik, Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, Heft 3, Jh. 23,

1992, S. 203 - 213, hier 212)

Literaturverzeichnis

F. Decker: Gruppen moderieren - eine Hexerei? Die neue Team-Arbeit. Ein Leitfaden

für Moderatoren zur Entwicklung und Förderung von Kleingruppen. München 1988

Fibel zur Metaplan-Technik. Wie man mit der Metaplan-Technik Gruppengespräche

moderiert. Quickborn 1988

Jürgen Graf: Alles Pinwand, oder was? In: Manager Seminare, H. 16, 1994, S. 48-54

K. Klebert, E. Schrader, G. Straub: Moderationsmethode. Hamburg 19924

Diess.: Kurzmoderation: Anwendung der Moderationsmethode im Betrieb, Schule

und Hochschule, Kirche und Politik, Sozialbereich und Familie bei Besprechungen

und Präsentation. Hamburg 1987

G. Koch: Die erfolgreiche Moderation von Lern- und Arbeitsgruppen: Praktische Tips

für jeden, der mit Teams mehr erreichen will. Landsberg 1988

132

Elisabeth Mehrmann: Moderierte Gruppenarbeit mit Metaplan-Technik. Düssel-

dorf/Wien 1994

T. Schnelle-Cölln: Visualisierung - Die optische Sprache in der Moderation. Quick-

born 1983

E. Schnelle: Metaplan - Gesprächstechnik, Kommunikationswerkzeug für die Grup-

penarbeit, Quickborn 1982

Josef W. Seifert: Visualisieren - Präsentieren - Moderieren. Bremen 19935

Ders.: Besprechungsmoderation, Bremen 1994

André C. Wohlgemuth: Die externe Moderation grundlegender Veränderungen von

Organisationen. In: Gruppendynamik, Heft 3, Jh. 23, 1992, S. 255-269

(Vgl. auch die anderen Beiträge zur Moderation in diesem Heft der Zeitschrift Grup-

pendynamik.)

Ders.: Moderation in Organisationen. Bern 1993

Beratung als kulturelle Innovation(Kapitel 9)

Alle Arten von Systemen und deren Elemente können zum Gegenstand der Selbst-

reflexion und Beratung gemacht werden. Bei psychischen Systemen, sozialen Rollen

(Professionen), Gruppen und institutionellen Subsystemen (Teams) geschieht dies

schon seit längerem explizit und unter Verwendung des Terminus 'Beratung'. Bei

größeren sozialen Systemen, wie z. B. Konzernen oder gar den verschiedenen

Staaten und den Subsystemen unserer Gesellschaft, wie etwa dem Bildungs-,

Rechts- oder Wirtschaftssystem scheuen wir uns, die Anamnese, Diagnose und The-

rapie als 'Beratung' zu bezeichnen. Man spricht bei diesen Gegenständen lieber von

Entwicklung. OE - 'Organisationsentwicklung' meint die Ermittlung derjenigen Pro-

gramme, die ein beliebiges größeres organisiertes Sozialsystem steuern, die Auf-

deckung der Blockaden, das Finden von angemessenen Identitätsbeschreibungen

133

usf. Die Beratung der Gesellschaften in der Dritten Welt oder von deren Subsyste-

men heißt 'Entwicklungshilfe' - Hilfe zu Entwicklung von ganzen Kulturen und Natio-

nen. Ebenso sprechen unsere Politiker, wenn sie über den Zustand unseres Wirt-

schaftssystems beraten von 'Entwicklungsmaßnahmen'. Dies sind regelmäßig Inter-

ventionen in das Wirtschaftssystem, therapeutische Maßnahmen, die in ihrer Struktur

den Interventionen ähneln, die andere Beratungssysteme auch vornehmen.

Mir scheint es deshalb konsequent und lohnend, unsere allgemeinen und anderswo

gewonnenen Kenntnisse über das Beratungsgeschehen auch auf bestimmte Felder

des gesellschaftlichen politischen Handelns zu übertragen. Ansätze dazu gibt es ja

auch schon, z. B. in der sogenannten 'Entwicklungspolitik'. (Man mag sich freilich

fragen, warum der Beratungsaspekt gerade dort am deutlichsten hervorgehoben

wird, wo es nicht um das eigene sondern um fremde Sozialsysteme geht!) Theore-

tisch dürfte auch auf diesem Felde wieder der Systemtheorie eine Vorreiterrolle zu-

kommen. Ihre Anhänger versuchen schon seit längerem politisches Handel als 'In-

tervention' in soziale Systeme zu beschreiben und Soziologen wie H. Willke ziehen

dabei auch Parallelen zu den Interventionen in therapeutischen Systemen.

Organisationsentwicklung und das Gesellschaftssystem

Die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Dimension im Beratungsprozeß zu berück-

sichtigen haben wir schon gespürt, als wir uns nicht mehr bloß mit den Subsystemen

von Institutionen, wie z. B. den Teams sondern mit den Institutionen als Ganzes be-

faßt haben. Dann nämlich treten als relevante Umwelt nicht nur die anderen Subsy-

steme der betreffenden Organisation sondern auch ganz andere Institutionen und vor

allem deren Vernetzungen auf. Wenn etwa im Rahmen einer OE-Maßnahme das

Identitätskonzept eines Konzerns überprüft und eine zeitgemäße Corporate Identity

(CI) entwickelt werden soll, dann müssen über kurz oder lang auch die CI-Konzepte

134

der Konkurrenz und die Typisierungen der Umwelt in die Überlegungen einbezogen

werden. Die Verortung des Unternehmens in der Gesellschaft gilt es zu bestimmen

und deshalb sind Reflexionen über den Zustand dieses Makrosystems unausweich-

lich. Instrumente, die es größeren sozialen Organisationen ermöglichen, ihre Dyna-

mik zu jener der Gesellschaft in Bezug zu setzen, sind beispielsweise Zukunftswerk-

stätten, Großgruppeninterventionen wie ‚Future Search‘, ‚Real Time Strategic

Change‘ oder ‚Open Space Technology‘ und die Szenario-Technik.

Genauso offensichtlich wird die Notwendigkeit einer solchen Makroperspektive, wenn

die wirtschaftlichen Bilanzen eines Unternehmens im Mittelpunkt stehen sollen. Sy-

stemtheoretisch reformuliert bedeutet dies ja, daß man das betreffende Unterneh-

men als Element des wirtschaftlichen Subsystems der Gesellschaft betrachtet. Und

mit der Komplexität, Dynamik und Selbstbeschreibung dieses Teil des Gesellschafts-

systems hat man sich dann natürlich in einzelnen Phasen des Beratungsprozesses

auch zu befassen. Dies erfordert von dem Berater eine entsprechende Makroper-

spektive und Feldkompetenz.

Aus kommunikationstheoretischer Perspektive mag man anführen, daß immer, wenn

die sogenannten 'Massenmedien' in der Beratung eine Rolle spielen, das Emergenz-

niveau der Institutionen verlassen werden muß. Diese Medien sind Elemente der ge-

sellschaftlichen Kommunikation.

Politik und Entwicklungshilfe als Beratung von Gesellschaftssystemen und

Kulturen

Hat man es bei der OE mit dem Gesellschaftssystem nur als relevante Umwelt zu

tun, so macht man in der 'großen' Politik die Gesellschaft oder deren Teilsysteme

selbst zu Gegenstand der Reflexion und Intervention. Was wir dann brauchen sind

nicht mehr so sehr Persönlichkeits-, Gruppen- oder Institutionstheorien sondern Ge-

sellschaftstheorien, Ideen über kulturelle Evolution, über die Typenvielfalt von Na-

tionen usf.

Das Beratungssystem wird auf dieser Ebene als Element von Gesellschaftssystemen

behandelt und der Berater - und alle anderen - müssen sich auch entsprechend typi-

sieren. Was immer sonst noch Gegenstand des Beratungsgespräches sein mag,

immer werden sich die Strukturen der Gesellschaft oder seiner Subsysteme in den

Vordergrund drängen.

Damit unter solchen Umständen überhaupt selbstreferentielle Erfahrungsgewinnung

und Spiegelungsphänomene möglich werden, muß sich auch das Beratungssystem

als Element von Gesellschaftssystemen bzw. von den Subsystemen, die gerade un-

tersucht werden sollen, verstehen. Die sich hieraus ergebenen Probleme sind ein

Lieblingsthema der traditionellen Literatur über die landwirtschaftliche Beratung. Das

Stichwort ist hier 'Hoheitsaufgaben'. (Vgl. die 10. Vorlesung) Als Angestellte des po-

135

litischen Systems, des Landwirtschaftsministeriums oder der Kammern haben die

Berater auch als Repräsentanten dieses Systems aufzutreten. Wenn nun die ent-

sprechenden Beratungsformen privatwirtschaftlich organisiert werden, dann typisie-

ren sich die neu entstehenden 'Ringe' oder Unternehmen als Elemente des Wirt-

schaftssystems.

Das gleiche gilt auch für den Kontakt zwischen den einzelnen Nationen oder Kultu-

ren. Die Entwicklungshelfer der Industrienationen mögen sich noch so sehr auf ihre

Klienten in der Dritten Welt einstellen, immer bleiben sie Repräsentanten des Landes

der Ersten Welt, aus dem sie kommen.

Die Frage ist dann, ob sich unter diesen Umständen Kommunikationssysteme bilden

lassen, die über ausreichend gemeinsame Programme verfügen. Dieses Problem

stellt sich bei der sogenannten interkulturellen Kommunikation sehr viel schärfer als

bei den Gruppengesprächen und bei institutionellen Kommunikationen, die wir bis-

lang behandelt haben. Wenn nicht genügend Gemeinsamkeiten vorhanden sind, wird

man solche Programme schaffen müssen. Der einfachste Weg scheint dann noch

immer die Durchsetzung des Programms der dominierenden Kultur zu sein. Wenn

aber die handlungsleitenden orientierungsrelevanten Erwartungen nur eines Betei-

ligten zum Programm des gesamten Systems werden, dann nennt man diese Form

der 'Informationsvermittlung' Instruktion.

Und in der Tat bestätigt ja alle empirische Erfahrung, daß die Interventionen in der

Makropolitik und vor allem in den zwischenstaatlichen Beziehungen zur Instruktion,

oder wie wir früher einmal sagten, zum 'direktiven Stil' tendieren. Auf diesem Felde

sind wir zweifellos am weitesten von einer Beratung im eigentlichen Sinne, die eben

auch Selbstreflexion miteinschließt, entfernt. Politisches, auch wirtschaftspolitisches

Handeln im Sinne einer kommunikativen Kooperationsform zu verstehen hat zu al-

lererst zur Voraussetzung, daß sich die einzelnen Handelnde als Elemente eines Sy-

stems begreifen lernen. In Ansätzen entstehen solche 'Supersysteme' gegenwärtig,

z.B. in Form der Europäischen Union, der OPEC oder internationaler Organisationen

(Greenpeace) und Konzerne. Solche Systeme zur Selbstreflexion ihrer Programme

anzuregen, wäre eine Aufgabe 'kultureller Beratung'. Die EU hat bereits vielfältige

Institutionen ins Leben gerufen, deren Aufgabe die Reflexion der europäischen In-

formationsgesellschaft unter verschiedenen: ökonomischen, bildungspolitischen,

medientheoretischen, arbeitsmarktpolitischen u. a. Perspektiven ist. Vielfach erfolgen

Datenerhebungen, Diskussionen und Programmentwicklung schon in dem ‘virtuellen’

Beratungssystem ‘Internet’.

Innovative Beratung von Organisationen im Informationszeitalter

In unserer Gegenwart ist für viele Organisationen weniger die Bestandserhaltung als

vielmehr eine beständige Veränderung und Anpassung an die Umwelt permanentes

136

Problem und Beratungsanlaß. Die Informationsgesellschaft versteht sich als lernende

Gesellschaft, die Unternehmen als lernende Unternehmen. Innovation wird zur Vor-

aussetzung des Systemerhalts. Change Management ist angesagt.

Für Beratung und Organisationsentwicklung bedeutet dies, daß Entwicklung und Be-

ratung als Lernprozeß aufgefaßt werden muß.

Einige charakteristische Glaubenssätze dieses Ansatzes, wie sie G. Bartsch-Backes

formuliert, seien kurz angeführt.

Abb. 32: Organisationsentwicklung als LernprozeßMerkmale und Prinzipien

1. Organisationsentwicklung (OE) ist ein Lern- und Veränderungsprozeß mit einerzweifachen Zielsetzung:Verbesserung der Leistungsfähigkeit (Kunde im Mittelpunkt); EffektivitätVerbesserung der Qualität des Arbeitslebens; Menschlichkeit

2. Ausgangssituation von OE-Maßnahmen ist ein problemorientierter Ist-Soll-Zustand:� Unzufriedenheit mit bestehenden Verhältnissen� Gemeinsames Problembewußtsein� Konsensualer Wunsch und Einsicht in Veränderungen

Das OE-Projekt muß von oben initiiert und getragen werden3. Mitwirkung eines externen Beraters, methodisch als Moderation von Gruppen,

Prozeß- und Expertenberatung im Sinne von Aktionsforschung.4. Aktive Mitwirkung der Betroffenen

Die Betroffenen gelten als die Experten; lokale gemeinsame Analyse, Diagnose,Handlungsplanung und Lösungskonzepte. Stärkung der Selbstorganisation.

5. Ganzheitliches und systemumfassendes ProblemlösenUmwelt und Kunden, Organisationsstrukturen, Aufgabenprozeß, Führung, Mitarbeiter,Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen...

6. OE heißt LernenJe klarer das Individuum seine Bedürfnisse kennt,desto klarer kann es seine Rolle im Team findenum so arbeitsfähiger ist das Teamum so befriedigender ist das Ergebnis.Lernen heißt Konfliktbearbeitung.Lernen von oben nach unten und von unten nach oben.

7. Prozeßorientiertes VorgehenIntegration der Ziel- und Prozeßorientierung (schrittweises Vorgehen, fortschreitendePlanung; Beratungsdesign, das Überraschungen und Ungeplantes mitaufnimmt. Prinzipder Rückkopplung.

8. Systemumfassendes und systemisches Wahrnehmen, Denken und HandelnOrganisationen sind komplexe soziale Systeme mit vielfältigen Beziehungen zu einerdynamischen Umwelt. Die Wechselwirkungen und Zusammenhänge sind zu betrachten.

9. OE-Projekte sind langfristige Prozesse10. Lernende Organisationen

Mitarbeiter und Bereiche zu ständigen Selbständerungen bzw. Anpassungen an neueAnforderungen motivieren.

© G. Bartsch-Backes, TRIAS Köln

Widerstand und Veränderung

Sobald Beratung als Lernprozeß definiert wird, taucht das Problem des Widerstands

auf. Wie bei der Interaktion und der traditionellen (psychoanalytischen) Therapie, fällt

der Widerstand des Klienten gegenüber Selbstveränderungen auf - und wird mit ver-

schiedenen Methoden bekämpft.

Ich fasse die entsprechenden Äußerungen von Doppler/Lauterburg aus ihrem Stan-

dardwerk ‘Change Management’ (Ffm 1994) in Abbildung 33 und 34 zusammen.

Abb. 33: Allgemeine Symptome für Widerstand

verbal(Reden)

non-verbal(Verhalten)

aktiv(Angriff)

Widerspruch

GegenargumentationVorwürfeDrohungenPolemikSturer Formalismus

Aufregung

UnruheStreitIntrigenGerüchteCliquenbildung

passiv(Flucht)

Ausweichen

SchweigenBagatellisierenBlödelnins Lächerliche ziehenUnwichtiges debattieren

Lustlosigkeit

UnaufmerksamkeitMüdigkeitFernbleibeninnere EmigrationKrankheit

137

Abb. 34: „Widerstand“ - vier Grundsätze

1. Grundsatz: Es gibt keine Veränderungen ohne Widerstand!

Widerstand gegen Veränderungen ist etwas ganz Normales und All-

tägliches. Wenn bei einer Veränderung keine Widerstände auftreten,

bedeutet dies, daß von vornherein niemand an ihre Realisierung

glaubt.

• Nicht das Auftreten von Widerständen, sondern deren Ausbleiben

ist Anlaß zur Beunruhigung!

138

2. Grundsatz: Widerstand enthält immer eine „verschlüsselte Botschaft“!

Wenn Menschen sich gegen etwas sinnvoll oder sogar notwendig er-

scheinendes sträuben, haben sie irgendwelche Bedenken, Befürch-

tungen oder Angst.

• Die Ursachen für Widerstand liegen im emotionalen Bereich!

3. Grundsatz: Nichtbeachtung von Widerstand führt zu Blockaden!

Widerstand zeigt an, daß die Voraussetzungen für ein reibungslosen

Vorgehen im geplanten Sinne nicht bzw. noch nicht gegeben sind.

Verstärkter Druck führt lediglich zu verstärktem Gegendruck.

• Denkpause einschalten - nochmals über die Bücher gehen!

4. Grundsatz: Mit dem Widerstand, nicht gegen ihn gehen!

Die unterschwellige emotionale Energie muß aufgenommen - d. h. zu-

nächst einmal ernst genommen - und sinnvoll kanalisiert werden. Die

Kunst im Umgang mit Widerstand heißt „Judo“!

• (1) Druck wegnehmen (dem Widerstand Raum geben)

• (2) Antennen ausfahren (in Dialog treten, Ursachen erforschen)

• (3) Gemeinsame Absprachen (Vorgehen neu festlegen)

Es liegt auf der Hand, daß Widerstandsfeststellungen durch den/die Berater die

Asymmetrie in Beratungsgesprächen festigen oder wieder einführen. Wenn anderer-

seits das Lernziel und die Entwicklungsrichtung unklar sind, was gegenwärtig in Be-

zug auf gesellschaftliche Prozesse häufig der Fall ist, dann kann ‘Widerstand’ kaum

mehr seriös festgestellt werden. Es möchte sein, daß Gegenbewegung nicht gegen

Veränderung und Lernen sondern nur gegen die gerade dabei verfolgte Richtung

gerichtet sind.

Also: Von Widerstand und mangelnder Veränderung sollte nur bei Beratungen ge-

sprochen werden, in denen das Ziel klar formuliert ist. Das ist zweifellos bei den mei-

sten Rollen- und Institutionenberatungen der Fall.

Ganz gleich in welchem Beratungssetting gearbeitet wird, mit einem linearen Verän-

derungsprozeß ist nicht zu rechnen. Vielmehr zeigt die Erfahrung, daß nach Phasen

schnellen Fortschreitens wieder Rückfälle, Wiederholungen alter Muster usf. zu er-

warten sind.

‘Veränderungskurven’ wie die in der Abb. 33 gezeigte von Gerhard Fatzer finden sich

in der Literatur häufig. Wie viele ‘Höhen’ und ‘Tiefen’ durchschritten werden, dürfte

sich freilich kaum modellhaft festlegen lassen.

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[Jeder Leser/jedes Team, das dieses Skript durchgearbeitet hat, sei zu einer Refle-

xion seiner eigenen Veränderungskurve herzlich eingeladen.]

Abb. 35: Die sieben Phasen der Veränderungskurve

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Literatur:

Bischoff, Ariane/ Selle, Klaus/Sinning, Heidi: Informieren, Beteiligen, Kooperieren.

Dortmund 1995

Doppler/Lauterburg: Changemanagement. Frankfurt 1996

Fatzer, Gerhard (Hg.): Organisationsentwicklung und Supervision: Erfolgsfaktoren

bei Veränderungsprozessen. Teil II: Die lernende Organisation. Köln 1996

Ders. (Hg.): Organisationsentwicklung für die Zukunft. Ein Handbuch. Köln 1993

Hoffmann, V.: Die Reorganisation der landwirtschaftlichen Beratung in der Atlantik-

Provinz der Volksrepublik Benin, in: H. Albrecht u.a. (Hg.): Landwirtschaftliche Be-

ratung, Bd. II (Handbuchreihe: ländliche Entwicklung), Eschborn 1988, Abschnitt

B5, S. 95-111

Dieser Text, der einen guten Einblick in die Vorgehensweise und in die Schwierig-

keiten von land- und gartenbaulicher Beratung in den Entwicklungsländern gibt, ist

im Ordner mit der ergänzenden Literatur enthalten!

Reibnitz, Ute von: Szenario Technik. Wiesbaden 1991

Senge, Peter: Die fünfte Disziplin, Ffm 1997

Willke, Helmut: Systemtheorie I: Grundlagen. Stuttgart 19965

Ders.: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Stuttgart 19962

Ders.: Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Stuttgart 1995

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Zukunftswerkstätten als Instrument der Organisationsentwicklung

Bartels, Th./Hollenbach, A./Kaiser, H./Weinbrenner, P.: Die Szenariomethode. Aurich

1994 [Ii 23]

Jungk, Robert/Müller, Norbert R. Müller: Zukunftswerkstätten. Wege zur Wiederbe-

lebung. Augsburg 1981;

diess.: Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. München

1994