Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend
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Transcript of Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend
Pietro Archiati
'GEISTESWISSENSCHAFT IM 3. JAHRTAUSEND
Anlässlich der Erscheinung
von SKA Band 5
Rudolf Steiner
Au~!1:_;J
Inhaltsverzeichnis
1. C. Clements «Einleitung» zu Band 5 der SKA
Gibt es überhaupt eine Geisteswissenschaft? s. 7
II. Versuch der Einsargung der Anthroposophie
Der Glaube und der Geist als Privatsache S.29
III. Hat die Anthroposophie eine Zukunft?
Die amtlichen Vertreter und das freie Individuum S.45
5
I.
C. Clements «Einleitung» zu Band 5 der SKA
Gibtes überhaupt eine Geisteswissenschaft?
Im Folgenqen versuche ich, einige wesentliche Gedanken
der «Einleitung» von Prof. Christian Clement zu Band 5 -
Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsge
schichte - der Reihe: Rudolf Steiner, Schriften - Kritische
Ausgabe (SKA) aufzugreifen und sie vor allem in Bezug auf
den Geist, der aus ihnen spricht, zu hinterfragen. Das von mir
Zitierte kann selbstverständlich nicht die Lektüre dieser «Ein
leitung>> ersetzen. Ich habe mich aber bemüht, so vorzugehen,
dass von dem von Clement Geschriebenen nichts fehlt, was
nötig ist, um meine Erörterungen nachvollziehen zu können.
Christian Clement spricht in seiner «Einleitung» zu
Steiners Mystik und Christentum* von «konzeptionel
len Umrissen der später ausgebildeten Anthroposophie»
(S. XXIX). Darin soll sich die «Methode [ ... ] anthropo
sophischen Forschens [ ... ]nämlich die Weiterbildung der
phänomenologisch-morphologischen Methode Goethes
durch deren Anwendung auf Seelisches und Geistiges»
(S.XXIX-XXX) bewahrheiten. Clement führt weiter aus:
«Wie Goethe versucht hatte [ ... ] so unternahm Steiner
hier den Versuch einer morphologischen Rückführung
*Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901 ); Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums (1902).
7
der verschiedenen Formen des sich entwickelnden Be
wusstseins - Mythos, Philosophie, Religion, Mystik,
Kunst und Wissenschaft- auf eine einzige geistig-see
lische Grundgestalt. Diese Grundgestalt, diesen <Pro
teus> aller menschlichen Vorstellungsbildung, sah er in
der Selbsterfahrung des Geistes im Denk-Erlebnis bzw.
im Ich-Erlebnis des Menschen.» (S.XXX).
Diesen Ausführungen liegt eine unausgesprochene Annahme
zugrunde. Sie lautet: Alles, was der Mensch hervorbringt,
entspringt einer einzigen Quelle, die Clement «menschli
che Vorstellungsbildung» nennt. Alle Ausführungen in sei
ner «Einleitung» ergeben sich, wie sich zeigen wird, aus die
ser Grundannahme, die nicht thematisiert wird. Das «Denk
bzw. Ich-Erlebnis» wird zwar von ihm als die «Grundge
stalt» aller «Vorstellungsbildung» dargestellt, aber aufge
fasst als ein das Denken und das Ich gleichsetzendes «Er
lebnis», ist es selbst ein Ergebnis der Vorstellungsbildung.
Das Wesentliche beim Phänomen Steiner liegt in der
Aussage, dass der Mensch das Denken weiterentwickeln
kann. Alles nicht sinnlich Wahrnehmbare, alle Inhalte von
«Mythos, Philosophie, Religion» usw., können vom Denken
genauso als Wahrnehmung erlebt werden wie die Gegen
stände der sinnlichen Wahrnehmung. Es kann durch Wei
terentwicklung des Denkens auch das Geistige als Wahr
nehmung erlebt werden. Einer solchen Wahrnehmung
gegenüber kann das Denken genauso tätig werden wie an
hand der Wahrnehmung im Sinnlichen. Dadurch entstel\t
eine früher nie dagewesene, ganz andersartige «Form
8
des [ ... ]Bewusstseins». Clement kennt in seiner «Einlei
tung» nur eine Art der Wahrnehmung, es ist nirgendwo die
Rede von einer Wahrnehmung im Geistigen, weshalb für
ihn alle «Formen des [ ... ]Bewusstseins» nur verschiede
ne"Arten der «Vorstellungsbildung» sein können. So wird
das Wesen von Steiners Geisteswissenschaft in allen seinen
Ausführungen im Grunde gar nicht berührt.
In Steiners Philosophie der Freiheit, dem Fundament
der Anthroposophie, geht es nicht um eine abstrakt-un
bestimmte, keine wissenschaftliche Erkenntnis ergeben
de «Selbsterfahrung des Geistes im Denk-Erlebnis biw.
im Ich-Erlebnis des Menschen». Es geht vielmehr um die
Wahrnehmung des Denkens und um die Begriffsbildung
über das Denken anhand dessen Wahrnehmung. Das Den
ken wird als erste rein geistige «Wesenheit» (R. Steiner) er
fasst, die für jeden Menschen wahrnehmbar ist. Aufgrund
einer solchen Wahrnehmung und dmch Bildung des ent
sprechenden Begriffs entsteht eine objektiv-wissenschaft
liche Erkenntnis des Denkens als eine rein geistige Wirk
lichkeit. Das ist der Anfang einer Geisteswissenschaft, die
neben dem Denken vieles andere durch Wahrnehmung im
rein Geistigen und durch denkende Begriffsbildung objek
tiv erkennt, und deren Methode dieselbe ist, wie sie für
die Naturwissenschaft gilt. Die Forschungsergebnisse die
ser Geisteswissenschaft sind nicht anders und nicht weni
ger gesichert als die der Naturwissenschaft.
Prof. Clement bleibt seiner Grundannahme treu, indem
er meint, besser als Rudolf Steiner zu wissen, woher die In
halte des Buches Das Christentum als mystische Tatsache
9
stammen. So lässt er aufS.XXX-XXXI im Text seine eige
ne Meinung darüber vorangehen und verweist Steiners
Aussage auf den bescheidenen Platz einer Fußnote. Hier
aber sei zuerst die Aussage Rudolf Steiners angeführt:
«Was im <Christentum als mystische Tatsache> an
Geist-Erkenntnis gewonnen ist, das ist aus der Geist
welt selbst unmittelbar herausgeholt. Erst um Zuhö
rern beim Vortrag, Lesern des Buches den Einklang des
geistig Erschauten mit den historischen Überlieferun
gen zu zeigen, nahm ich diese vor und fügte sie dem In
halte ein. Aber nichts, was in diesen Dokumenten steht,
habe ich diesem Inhalte eingefügt, wenn ich es nicht
erst im Geiste vor mir gehabt habe.» (Mein Lebens
gang, Kap. XXVI.).
Christian Clement führt dazu aus:
«So trat Steiner hier einerseits als Gelehrter auf, der
historisch greifbare Texte und Autoren bespricht und
sachlich deutet; andererseits nahm er, zumindest im
biographischen Rückblick, für sich in Anspruch, in
· diesen Büchern vor allem über seine eigene mystische
Erfahrung zu sprechen und die jeweils besprochenen
Denker und Theoreme nur zur Illustration anzufüh
ren.» (S.XXX).
Clement behauptet, Steiner würde als «Gelehrtem auftre
ten. Dem widerspricht die Aussage Steiners, dass er - ganz
im Gegensatz zu einem «Gelehrtem> - wie jemand auftre; ..
ten will, der das schildert, was er «aus der Geistwelt selbst
10
unmittelbar herausgeholt» hat, was von ihm «an Geist-Er
kenntnis gewonnen ist». Es hat noch keinen «Gelehrten»
gegeben, der solches von sich behauptet hätte. Clement re
det davon, dass Steiner «Texte und Autoren bespricht und
sachlich deutet». Das widerspricht wiederum der erklär
ten Absicht Steiners, «den Einklang des geistig Erschau
ten mit den historischen Überlieferungen» zeigen zu wol
len. Steiner will das Überlieferte dem Inhalt lediglich «ein
fügen». Es ist ganz und gar nicht seine Absicht, sie zu «be
sprechen», er will sie schon gar nicht «sachlich deuten».
Prof. Clement fährt fort: «[ ... ] nahm er, zumindest im
biographischen Rückblick, für sich in Anspruch, in die
sen Büchern vor allem über seine eigene mystische Erfah
rung zu sprechen[ ... ]». Das ist weit von dem entfernt, was
Steiner «für sich in Anspruch» nimmt. Unzählige Male hat
er seine innere Erfahrung - wenn man sie so nennen will -
von jeder «mystischen Erfahrung» abgegrenzt, sie sogar als
Gegensatz dazu dargestellt. Das von Clement Zitierte sagt
deutlich, dass den Ausführungen Steiners in Christentum
die direkte Wahrnehmung des Geistigen zugrunde liegt.
Clement gibt vor, sachlich-objektiv das wiederzuge
ben, was Steiner für sich in Anspruch nimmt. In Wirklich
keit entstellt bzw. fälscht er Steiners Aussagen darüber. Das
Wesentliche der Anthroposophie ist die wissenschaftliche,
das heißt durch Wahrnehmung und Denken gewonnene Er
kenntnis der geistigen Welt. Dadurch entsteht eine nach al
len Seiten ausgebaute und inhaltlich komplexe Geisteswis
senschaft. Indem eine solche Geisteswissenschaft sich auf
direkte Wahrnehmung des Geistigen gründet, steht sie im
11
Gegensatz zu jeder «mystischen Erfahrung», die keine ob
jektiv-wissenschaftliche Erkenntnis ergibt.
Weil aber Clement eine solche Art der Wahrnehmung
nicht kennt oder nicht anerkennt, wirft er Steiner vor, dass
er für eine saubere Quellenforschung «das nötige wissen
schaftliche Rüstzeug nicht besaß» (S.XXXI). Indem er
Steiners Geisteswissenschaft als bloßes Ergebnis einer
«menschlichen Vorstellungsbildung» oder einer «mysti
schen Erfahrung» bezeichnet, erreicht er mit einem Schlag,
dass die Anthroposophie buchstäblich vom Tisch aller sei
ner Ausführungen gefegt ist. Der Begriff des Geistigen als
Realität, die objektiv-wissenschaftlich durch Wahrneh
mung und Begriffsbildung erkannt werden kann, kommt
in seiner «Einleitung» nicht vor.
Auf S. XXXII fasst Clement nochmals seine Interpre
tation des Phänomens Steiner zusammen. Er redet von
«Steiners Methode der Interpretation». Damit verkennt er
wiederum völlig, dass Steiners Geisteswissenschaft nicht
das Ergebnis einer «Interpretation» von irgendetwas durch
«menschliche Vorstellungsbildung» ist, sondern genau das
Gegenteil davon.
Die drei Faktoren, aus denen sich laut Clement Steiners
Methode ergeben soll, werden von ihm wie folgt formu
liert (S. XXXII). Das Erste ist die «morphologische Be
trachtungsart» im Sinne Goethes und deren «Anwendung
auf Seelisches und Geistiges». Es bleibt dabei aber offen,
was geschieht, wenn Goethes Metamorphosenlehre auf
hört, eine bloße Lehre zu sein, wenn sie zur realen Wand~,,
lung der eigenen Seele und des eigenen Geistes wird. Das
12
Zweite, was Clement Steiner zuschreibt, ist ein «radikaler
Individualismus». Dieser Begriff bleibt ebenfalls abstrakt,
denn er kann im Sinne des «ethischen Individualismus»,
von dem in der Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners
die Rede ist, richtig verstanden aber auch missverstanden
werden. Das Dritte wird ausführlicher dargestellt:
«Drittens ergab sich Steiners Methode der Interpreta
tion durch Selbstprojektion aus der mystischen Grund
haltung selbst: Wer das menschliche Innere als denjeni
gen Bereich ansieht, in dem allein das Wesen aller Din
ge sich offenbart, der ist schließlich nur konsequent,
wenn er dieses Wesen auch dann aus dem eigenen Ich
zu ziehen sucht, wenn er die Manifestation dieses We
sens im Denken anderer Persönlichkeiten darzustellen
unternimmt. In den Schriften von 1901 und 1902 ging
es Steiner also[ ... ] um eine bewusst subjektiv-persön-~ .
lieh gefärbte [ ... ] Betrachtung verschiedener Gestal-
tungen dieses Wesens im menschlichen Bewusstsein.
Ziel [ ... ] war, das zentrale Postulat von der Bedeutung
der Selbst-Erkenntnis als Ursprungsort der innerhalb
der Kulturentwicklung auftretenden Jenseits- und Na
turvorstellungen zu illustrieren und zu legitimieren.»
Auch diese Ausführungen, in denen keine Unterscheidung
von Wahrnehmung und Begriff erkennbar ist, sind vol
ler Abstraktionen. Ohne Eindeutigkeit der Wahrnehmung
kann sich das Denken beliebig in alle Richtungen bewe
gen. So behauptet Clement im ersten Teil: Wo «Selbstpro
jektion>> stattfindet, werde das eigene Selbst in alle Dinge
13
hineinprojiziert. Dies schließt aber aus, dass auf objektive
Weise «das Wesen aller Dinge sich offenbart». Wer «aus
dem eigenen Ich zu ziehen sucht» die Inhalte, die «im Den
ken anderer Persönlichkeiten» sind, kann nur deren Fäl
schung betreiben. Im zweiten Teil des Zitats wird dann
das Gegenteil behauptet. Nachdem gerade davon die Rede
war, dass sich bei Steiner das eigene Selbst in «alle Din
ge» durch «Selbstprojektiom> hineinversetzt, soll sich jetzt
umgekehrt das Wesen aller Dinge in das menschliche Be
wusstsein hineinprojizieren, es soll eine «Betrachtung ver
schiedener Gestaltungen dieses Wesens im menschlichen
Bewusstsein» stattfinden. Dies alles gilt für Clement als
Bestätigung seiner Grundannahme, dass bei Steiner alles
«bewusst subjektiv-persönlich gefärbt» bleibt.
Über viele Seiten hinweg wird Prof. Clement nicht mü
de, seine Deutung des Phänomens Steiner dem Leser durch
zahlreiche, zuweilen langatmig variierte Wiederholungen
einzuschärfen. So heißt es auf S. XXXVI:
«Diese Idee einer letztlichen Identität von <Welt> und
<Ich>, von Sein und Bewusstsein und das Verständnis
· der menschlichen Freiheit als Vollzugsort der Selbst
schöpfung des Weltwesens: das waren die aus dem
deutschen Idealismus rezipierten zwei <Wurzelgedan
ken> [ ... ] von Steiners philosophischem Frühwerk.»
Auch hier fehlt das, was bei Steiner das Entscheidende und
bis heute in der Menschheit Einmalige ist: der Begriff und
die Erfahrung einer Wahrnehmung im Geistigen, die für da~,.
Denken alle Eigenschaften der sinnlichen Wahrnehmung
14
besitzt - vor allem die Haupteigenschaft, dem Denken
gegenüber ein rein Negatives, ein wesenloses Spiegelbild
zu sein. Solange die «Identität von <Welt> und <Ich»> nicht
an irgendeinem Zipfel wahrgenommen wird - wie das in
Steiners Philosophie der Freiheit in Bezug auf das Den
ken selbst geschieht -, bleibt sie eine völlig inhaltsleere
Abstraktion, die alle möglichen Deutungen zulässt.
Die Wahrnehmung ist immer konkret. Wer anhand der
Wahrnehmung denkt, kann nur beschreiben, schildern oder
erzählen, was er jeweils wahrnimmt. Auch das «Erklären»
einer Sache ergibt sich aus den vielen Wahrnehmungen, die
die Sache in ihrem Sein und Wirken von den verschiedensten
Seiten beschreiben. Deshalb sieht Steiner die Weiterentwick
lung des Denkens darin, dass es möglichst wirklichkeitsge
mäß und allseitig wird. Ich nehme niemals die «Welt» wahr,
nicht einmal das Birkenblatt nehme ich wahr, sondern ge
rade dieses Birkenblatt. Und auch davon nehme ich jeweils
etwas anderes wahr: seine Farbe, seine Form, diese oder je
ne Eigenschaft- ohne Ende. Wenn aber das Denken von der
Wahrnehmung abstrahiert, von ihr absieht, kann es behaup
ten, was es will, weil es nicht an der Wahrnehmung geprüft
werden kann. Das Reden von «Welt» und<dch>>, gar von de
ren «letztlichen Identität», besagt alles und nichts.
Durch Weiterentwicklung des Denkens entsteht Steiner
zufolge für das Denken selbst ein Gegenüber im rein Geis
tigen, ganz wie bei der sinnlichen Wahrnehmung. Dieses
Gegenüber, das Steiner Imagination nennt, ist wie die sinn
liche Wahrnehmung das leere, wesenlose Bild einer Wirk
lichkeit. Das Denken ergänzt durch Begriffsbildung, die
15
Steiner Inspiration nennt, die geistige Wahrnehmung nicht
anders als die sinnliche. Das Gewahrwerden einer geisti
gen Wirklichkeit führt die Wahrnehmung im Übersinnli
chen (Imagination) und die Begriffsbildung anhand dieser
Wahrnehmung (Inspiration) zu einer objektiven Wesens
erkennung (Intuition), nicht anders als bei der sinnlichen
Wahrnehmung. Dies alles verbietet, die Wahrnehmung im
Geistigen als «Vorstellungsbildung» zu bezeichnen, die
einen bloß subjektiven Charakter hat und keine objektive
Erkenntnis ermöglicht. Imagination, Inspiration und Intui
tion sind für Steiner drei verschiedene Bewusstseinszustän
de, die neben dem normalen tagwachen Bewusstseinszu
stand bestehen können und die jeweils das Erkennen von
zunächst unbekannten Welten ermöglichen.
Es ist hier nicht der Ort für eine eingehendere erkennt
nistheoretische Auseinandersetzung. Diese findet sich ur
bildlich im ersten Teil der Philosophie der Freiheit Rudolf
Steiners. Dort findet der Leser die Widerlegung des Grund
dogmas des abstrakten Intellektualismus, das Wahrnehmung
und Vorstellung gleichsetzt. Steiner wird nie müde zu beto
nen: Bei der Wahrnehmung täuscht das Objekt, das Gegen
über, das als ein Äußerliches erscheint, eine volle Wirklich
keit vor, die es nicht hat, die es nicht ist. Das Denken bringt
intuitiv den Begriff hervor, die der Wahrnehmung fehlen
de Seite der Wirklichkeit. Es stiftet volle Wirklichkeit im
Umgang sowohl mit der sinnlichen als auch mit der über
sinnlichen Wahrnehmung. So gesehen ist die Vorstellung
nichts anderes als eine Wahrnehmung, die am eigenen In,:,
neren gemacht wird, und die wie jede andere Wahrnehmung
16
nur durch das Denken volle Wirklichkeit werden kann. Al
le «Vorstellungsbildung», um Clements Kategorie zu ge
brauchen, darf für das Denken nur als Wahrnehmung gelten.
Den inneren Weg, auf dem der Mensch objektive Er
kenntnis der geistigen Welt erlangt, hat Rudolf Steiner im
mer wieder in seinen Büchern und Vorträgen beschrieben.
Sein Bericht über die drei erwähnten Stufen der übersinn
lichen Erkenntnis zeugt von einem bis heute einzigarti
gen Phänomen in der Entwicklung des menschlichen Be
wusstseins. Es zeugt von einer neuen Stufe in der Entwick
lung des Denkens überhaupt. Von diesem Epochalen ist bei
Clement nirgendwo die Rede. Er meint, Steiner mit den
selben Erkenntnismitteln verstehen zu können, mit denen
man den Denker Hegel oder den Mystiker Böhme verste
hen kann. Diese machen aber keinen Anspruch auf vollgül
tige Wahrnehmung im Übersinnlichen geltend - auf eine
«Geisteswissenschaft», die der Naturwissenschaft wesens
gleich ist. Sie haben auch nichts von der inhaltlichen Fül
le an Wahrnehmungen im Geistigen aufzuweisen, aus der
heraus Steiner ein Leben lang berichtet hat.
Weil Clement für den Bereich des Übersinnlichen Vor
stellung und Wahrnehmung nicht voneinander unterschei
det, schreibt er so, als ob die von Steiner geschilderten
Wahrnehmungen seine eigenen wären. Wenn Steiner Geis
tiges wahrnimmt, denkend durchdringt und die Ergebnis
se seiner geisteswissenschaftlichen Forschung darstellt,
so kann das jeder andere Mensch, der das hört oder liest,
denkend verstehen. Aber das Wahrnehmen und Verstehen
von Steiners Gedanken bedeutet nicht, dass man selbst das
17
wahrnimmt, was Steiner wahrnimmt. Clement schreibt
aber so, als ob er aus eigener Wahrnehmung wüsste, wo
von Steiner redet. Dies deshalb, weil ihm der Begriff einer
Wahrnehmung im Übersinnlichen gänzlich fehlt. Er denkt,
was Steiner an Erkenntnissen gewonnen hat, könne nur
durch die «Vorstellungsbildung» entstanden sein, die je
dem Menschen zur Verfügung steht. So schreibt er weiter
aufS.LXXI:
«So läuft seine Betrachtung der Antike und des frü
hen Christentums letztlich auf ihn selbst und sein Werk
als Zielpunkt der abendländischen Geistesentwicklung
hinaus. Wie ein gutes Jahrhundert zuvor Hegel fühlte
sich auch Steiner spätestens um 1910 als Träger eines
in der Weltentwicklung sich verwirklichenden Geis
tes, der ihn [sie!] ihm und seiner Weltanschauung sei
ne höchste Entwicklungsstufe gefunden hatte.»
Prof. Clement bleibt bis zuletzt seiner nicht bewusst the
matisierten Grundannahme treu. Er definiert Steiners Geis
teswissenschaft als spekulativ entstandene, sich verabso
lutierende «Weltanschauung», und stellt sie als menschli
che Hybris, als unerhörten Größenwahn dar. Dabei tut er
selbst das, was er Steiner zuschreibt: Er meint, das Phäno
men Steiner beurteilen zu können von einer höheren Warte,
als Steiner selbst dies in der Selbsteinschätzung vermochte.
Die zentrale Frage bleibt bis zuletzt unberührt, die Frage:
Wenn Rudolf Steiner in Mein Lebensgang davon spricht,
dass alle Inhalte seines Christentums «aus der Geistwelt "-1 ~.
selbst unmittelbar herausgeholt» - das heißt, unmittelbar
18
wahrgenommen - sind, meint Prof. Clement, dass Steiner
lügt? Oder meint er, dass Steiner sich täuscht oder irrt?
Nach allen seinen Ausführungen kann es nur eins von bei
den sein, weil er kein Wahrnehmen im Geistigen kennt,
das eine objektiv-wissenschaftliche Erkenntnis geistiger
Wirklichkeit ermöglicht. Und weil er das nicht kennt, kann
er sich auch nicht seine Grundannahme zum Bewusstsein
bringen und aussprechen.
Dieses Schweigen hat auch einen psychologischen
Grund. Eine solche Annahme, einmal bewusst gemacht und
ausgesprochen, würde sogleich ihren unwissenschaftlichen
Charakter zeigen. Denn es ist nicht möglich, wissenschaft
lich zu beweisen, dass eine wissenschaftlich-objektive Er
kenntnis der geistigen Welt durch Wahrnehmen und Den
ken bei keinem Menschen und zu keiner Zeit stattfinden
kann. Man kann nur sagen, dass man selbst eine solche Er
kenntnis nicht kennt, dass man nicht weiß, was damit ge
meint ist - und dass man deshalb als Wissenschaftler dazu
nur schweigen kann.
Um ein konkretes, von Clement selbst erwähntes Bei
spiel zu nennen: Wenn Steiner über die Kindheitsgeschichte
des Jesus spricht oder schreibt, woher hat er die dargestell
ten Inhalte? Für Clement gibt es nur zwei mögliche Quellen:
andere Autoren und die eigene «menschliche Vorstellungs
bildung» oder «mystische Erfahrung». Aber beide Quellen
werden von Steiner unmissverständlich ausgeschlossen. Er
beansprucht für sich selbst eine wissenschaftliche Erkennt
nis des Übersinnlichen, von der bei keinem noch so gro
ßen der vergangenen Denker oder Mystiker die Rede war.
19
Diese ist nur durch eine Metamorphose des Denkens selbst
möglich, wodurch das Denken eine qualitativ neue, in der
Menschheit zuvor nie dagewesene Stufe seiner Entwicklung
erreicht. Durch eigene Wahrnehmung, Begriffsbildung und
Wesenserkennung in der Erforschung der geistigen Welt er
gänzt Rudolf Steiner auch die Inhalte der vier Evangelien.
Weil aber Clement dogmatisch verfügt, dass es keine sol
che objektiv-wissenschaftliche Erkenntnis des Geistigen
gibt, bringt er es fertig, Folgendes zu schreiben:
«Zugleich entwickelte er hochkomplexe Vorstellungen
über die Zusammensetzung der Wesensglieder des das
Christuswesen tragenden Jesus: sein <Astralleib> sei
der des früheren Buddha gewesen, sein <Ätherleib> (zu
mindest teilweise) der des Adam und sein <Ich> das des
Zarathustra. Ja noch mehr, unter Bezugnahme auf die
zwei Stammbäume Jesu bei Matthäus und Lukas[ ... ]
postulierte er die Existenz von zwei Jesusknaben (und
zwei heiligen Familien), welche in einem hochkom
plizierten Prozess des wechselseitigen Austausches
von Wesensgliedern das hochentwickelte Gebilde des
Jesus-Leibes[ ... ] und damit einen geeigneten mensch
lichen Träger für den Christus erst möglich gemacht
hätten.» (S.LVI).
Auch hier gilt für Clement: Steiner kann nicht durch unmit
telbare Wahrnehmung das Geistige des Christus oder des Je
sus objektiv-wissenschaftlich erkannt haben. Auch in Bezug
auf den Christus-Geist soll Clements Machtspruch geltei;i„
dass Steiner lediglich «hochkomplexe Vorstellungen» bloß
20
rationalistisch «entwickelte». Clement selbst postuliert ge
radewegs, dass Steiner seine Angaben über die zwei Jesus
Knaben einfach «postulierte», das heißt, frei erfunden habe.
Steiner redet von zwei Jesus-Knaben und von zwei
entsprechenden Familien - die fromme Bezeichnung der
zwei Familien als «heilig» stammt von Clement, nicht von
Steiner. Dazu in aller Kürze: Ob es einen oder zwei Jesus
Knaben gegeben hat, kann nur die Wahrnehmung entschei
den. Das Matthäus-Evangelium redet von einem Jesus
Knaben, das Lukas-Evangelium redet auch von einem Jesus
Knaben. Bei genauerem Hinsehen, beim genaueren Wahr
nehmen der Inhalte beider Texte, entdeckt man, dass ihre
Angaben über den Jesus so gut wie nichts gemeinsam
haben. Nur eine Einzelheit herausgegriffen: Der Jesus
Knabe bei Matthäus flieht nach Ägypten, wo er jahrelang
bleibt; der Jesus-Knabe bei Lukas kehrt nach der Geburt
nach Nazareth zurück, wo er aufwächst. Die wichtige Fra
ge für den historisch-kritisch die Evangelien Erforschenden
lautet: Kann das ein und derselbe Knabe sein?
Rudolf Steiner weist aus seiner geisteswissenschaftli
chen Forschung heraus darauf hin, dass sowohl Matthäus
wie auch Lukas getreu das wiedergeben, was sie im Geis
tigen sehen. Er fügt hinzu, dass seine eigene geistige Er
forschung des damals Geschehenen in allen Einzelheiten
nur bestätigen kann, was in beiden Evangelien geschrieben
steht. Aber Clement weiß es besser: Steiner «postulierte»
die Existenz von zwei Jesus-Knaben.
Prof. Clements Dogma, Steiner hätte durch «christo
logische Theoriebildung» (S. LIV) die Existenz von zwei
21
Jesus-Knaben «postuliert», ist nicht nur unwissenschaft
lich, es ist zudem wissenschaftsfeindlich. Wissenschaft
lich wäre es, bewusst und ehrlich seine Grundprämisse
zu thematisieren, dass es eine wissenschaftliche Erkennt
nis des Geistigen durch Wahrnehmung und Denken nicht
geben kann, und dann zu versuchen, die Geisteswissen
schaft Steiners als auf einem Irrtum oder einer Selbsttäu
schung beruhend zu widerlegen. Unwissenschaftlich ist es
aber, sich seiner Grundannahme nicht bewusst zu werden
und sie ungeprüft als unumstößliches Dogma gelten zu las
sen. Und wissenschaftsfeindlich ist: Das eigene Dogma als
Machtspruch walten zu lassen, der jeden der Unwissen
schaftlichkeit zeiht, der sich wie Steiner nicht fügt. So kann
man mit akademischer Vollmacht versuchen, das Entstehen
einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Geistigen in der
Menschheit zu verhindern.
Aber noch etwas anderes liegt hier vor. Steiners «Vor
stellungen» über Jesus bezeichnet Clement als «hochkom
plex». Das ist so vernünftig, wie wenn jemand einem Ana
tom vorwerfen würde, dass er «hochkomplexe Vorstellun
gen über die Zusammensetzung» des physischen Organis
mus «entwickelt». Jede Wirklichkeit, die in ihrer Objektivi
tät erkannt wird, weist eine unendliche Komplexität auf, sei
sie ein Sonnensystem oder ein Birkenblatt. Clement argu
mentiert aber wie jemand, der dem Anatom zweierlei vor:..
wirft: erstens, dass er etwas «postuliert», das es nicht gibt;
zweitens, dass er unterstellt, etwas sei «hochkomplex», was
hingegen ganz einfach ist. Genau so verfährt Clement mit Steiner.
22
Das ist alles mit derselben Logik gedacht, mit der Cle
ment an anderer Stelle schreibt, «unmöglich» sei eine
Steigerung von «unwahrscheinlich». Er unterstellt sogar,
Rudolf Steiner selbst hätte sich zu dieser Clement' sehen
«Idee» aufgeschwungen, die die physische Wiederverkör
perung des Christus in Krishnamurti als «unwahrschein
lich, ja unmöglich erscheinen» (S. LVII) lässt. Der gesunde
Menschenverstand sagt: Das, was «unwahrscheinlich» ist,
muss möglich sein, es kann nicht «unmöglich» sein; und
das, was <<Ulllllögliclm ist, kann weder wahrscheinlich noch
«unwahrscheinlich» sein.
In allen Ausführungen von Clements «Einleitung» gibt
es nur, was sich der Mensch - ganz gleich, ob er Clement
oder Steiner oder sonstwie heißt - intellektualistisch-ratio
nalistisch ausdenkt, das heißt abstrakt-spekulativ hervor
bringt, ohne sich um die Wahrnehmungsseite des Ausge
dachten zu kümmern. Wenn aber das~Wahrnehmungsele
ment fehlt, hat man ebenso wenig eine Wirklichkeit, wie
wenn das Begriffselement fehlt- ein Kerngedanke der Phi
losophie der Freiheit Rudolf Steiners. In der rein intellek
tualistischen Abstraktion, die die Wahrnehmung nicht be
achtet, kann man ungestraft alles beweisen und zugleich al
les widerlegen. Kants Antinomien der reinen Vernunft sind
ein berühmtes Beispiel dafür.
Clements «Einleitung» wimmelt von Formulierungen,
die nur beweisen, dass das abstrakt-intellektualistische Den
ken, indem es der Wahrnehmung in ihrer Eindeutigkeit
aus dem Wege geht, immer nach allen Seiten recht behal
ten kann. So, wenn Clement schreibt, dass Steiner in der
23
Philosophie der Freiheit «das Denken als Element des Ur
sprungs der Welt identifizierte» (S.XLIII). Alle fünf Begrif
fe dieser Formulierung können in verschiedene Richtungen
gedeutet, präzisiert oder weiterentwickelt werden, je nach
dem, wie man es braucht. Diese Beliebigkeit im Beweisen
erklärt auch, dass eine Reihe von acht Bänden mit Band 5
beginnt, in welchem Clement beteuert, dass Steiners Mystik
und Christentum seiner Interpretation der Philosophie der
Freiheit zufolge in voller Kontinuität zu diesem Werk ste
hen, ohne dem Leser die Wahrnehmung dieser Interpretation
zu geben. Er muss wohl meinen, dass der Leser sie gar nicht
brauche. Sie soll erst später in Band 2 nachgeliefert werden.
Oder man nehme S.XLVII-XLVIII, wo wieder überse
hen oder ignoriert wird, dass Steiner eindeutig von eigenen
Wahrnehmungen im Geistigen spricht:
«Und in seiner Autobiographie von 1924/25 knüpfte er
noch einmal an diesen Topos an, als er von einem per
sönlichen geistigen <Gestanden-Haben vor dem Mys
terium von Golgatha in innerster ernstester Erkennt
nis-Feien sprach und sich so in gut böhmescher Ma
nier selbst in die Menge der unmittelbaren Zeugen der
Kreuzigung Christi einreihte.»
Clement gliedert das Wort «geistigen» aus dem Zitierten
heraus, obwohl es dazugehört, und lässt sein eigenes Wort
«persönlichen» vorangehen, als ob persönlich und geistig
gleichbedeutend wären. So ist es aber nicht: Was «persön
lich» ist, ist subjektiv, ganz und gar nicht objektiv; und w~s
«geistig» ist, ist objektiv, ganz und gar nicht subjektiv. Was
24
persönlich ist, ist bei jedem anders; was geistig ist, ist für
alle gleich. Wenn man es fertig bringt, «persönlich» und
«geistig» gleichzusetzen, wird das Denken so abstrakt, dass
man damit alles behaupten kann, was man nur will. Es fehlt
dann dem Denken die eindeutige Ergänzung, die ihm nur
die Wahrnehmung geben kann.
Und als Folge seiner Gleichsetzung von «persönlich»
und «geistig» schreibt Clement über die von Rudolf Steiner
angedeutete geistige Erfahrung so, als ob er aus eigener un
mittelbarer Wahrnehmung wüsste, wovon Steiner spricht.
Aber schon allein das flapsige Reden von «gut böhmescher
Manien> verrät, dass er von dem tiefste Ehrfurcht Gebie
tenden wenig Ahnung hat, auf das Rudolf Steiner mit den
zitierten Worten als auf ein von ihm geistig Wahrgenom
menes hinweist. Mit seinen Ausführungen will Clement le
diglich beweisen, dass Steinerauch verglichen mit Jakob
Böhme und der «Menge» der ihm ähnlichen Leute nichts
Neues zu sagen hat.
Und wann ist Ehrfurcht geboten? Das ist für mich im
mer dann der Fall, wenn ich mir bewusst mache, der an
dere redet aus der unmittelbaren Wahrnehmung, die ich
nicht habe. Wenn ich lese, was Charles Darwin in der süd
lichen Hemisphäre alles wahrgenommen hat, sage ich mir:
Das kann ich genauso wahrnehmen, wenn ich dorthin rei
se. Bei Steiner ist es anders: Ich bin noch nicht fähig, das
wahrzunehmen, von dem er sagt, dass er es wahrnimmt, ich
kann das nicht. Steiner redet von seinem «geistigen Gestan
den-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster
ernstester Erkenntnis-Feiern, und ich weiß nicht aus eigener
25
Wahrnehmung, wovon er redet. Clement stellt sich aber über
Steiner, indem er das von Steiner geistig Wahrgenommene
beurteilt, ohne eine eigene Wahrnehmung davon zu haben.
Er weiß besser als Steiner, inwieweit das von Steiner Berich
tete mit dem von Böhme mystisch Erlebten vergleichbar ist.
Es ist das unausgesprochene Dogma des modernen In
tellektualismus, des abstrakten Rationalismus überhaupt: Es
gibt nur eine Art der Wahrnehmung, die sinnliche Wahrneh-
. mung - alles andere ist «Vorstellungsbildung». Der neuzeitli
che Materialismus ist eine direkte Folge dieses abstrakten In
tellektualismus, bei dem der Mensch nur die sinnliche Wahr
nehmung zur Verfügung hat und über alles Nicht-Sinnliche
nur abstrakt spekulieren kann. Dagegen ist das Wesentliche
beim Phänomen Steiner die Weiterentwicklung des Den
kens zum Organ der Wahrnehmung im Geistigen. Dadurch,
dass Clement die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners als
Ergebnis rein abstrakt-rationalistischer «menschlicher Vor
stellungsbildung» darstellt, redet er am Phänomen Steiner
buchstäblich vorbei. In seiner «Einleitung» wird die Geistes
wissenschaft Rudolf Steiners dogmatisch hinwegdekretiert.
Psychologisch betrachtet kann man dieses Phänomen
auch als Verdrängung sehen - Verdrängung in dem Sinne,
dass es höchst unbequem wäre, als Professor sich selbst
gestehen zu müssen, wie unwissend die akademische Wis
senschaft über die Wirklichkeit des Geistes ist, wie be~
quem der intellektualistische Mensch ist, wenn er die Not
wendigkeit der Weiterentwicklung des Denkens nicht er
kennt und diese nicht in Angriff nimmt. Und wo es dann
um das Christentum geht, wird der Christ Clement, der bei
26
seinem dogmatisch-frommen «Ich und der Vater sind eins»
(S. XXIII) bleiben möchte, besonders ungehalten. Er verrät
deutlich seinen Unwillen: Es darf nicht sein, dass Rudolf
Steiner als erster aller Menschen denkend wahrgenommen
hat: was vor zweitausend Jahren geschehen ist. Das würde
das traditionelle Christentum zu einer höchst unbequemen
Weiterentwicklung herausfordern!
Es ist offensichtlich: Clement fehlt völlig der Begriff
des Geistes als objektive, durch Wahrnehmung und Den
ken wissenschaftlich zu erkennende Wirklichkeit. Sein un
ausgesprochenes Dogma, dass das Geistige nicht wissen
schaftlich erforscht und erkannt werden kann, ist die Fol
ge seines Unverständnisses bzw. seiner Unkenntnis dessen,
was Geist überhaupt ist. Vom Geist kennt er in seinen Aus
führungen nur dessen abstrakt-rationalistische Spiegelung
im menschlichen Bewusstsein, die er «menschliche Vorstel
lungsbildung» oder «mystische Erfahrung» nennt. Er gibt
nirgendwo zu erkennen, ein Bewusstsein davon zu haben,
dass sich eine solche Spiegelung zur geistigen Wirklichkeit
so verhält wie das tote, wesenlose Spiegelbild zu der gespie
gelten Wirklichkeit - wie die Wahrnehmung zum Denken.
Wenn das Bewusstsein fehlt, dass das Denken, um nicht
seine Grenze zu überschreiten und sich ins wesenlose Ab
strakte zu verlieren, unentwegt die Ergänzung durch die
Wahrnehmung braucht, wenn man nicht die Grenze der
eigenen Äußerungen kennt, wird man prinzipiell dazu nei
gen, auch dort dogmatisch vorzugehen und die Wahrneh
mung zu missachten, wo sinnliche Wahrnehmung mög
lich ist. So, wenn Clement Aussagen über die Latein- und
27
Griechischkenntnisse Steiners macht (s. S. XXXI), ohne
sich um die Wahrnehmung dessen zu kümmern, was
Steiner selbst darüber in Mein Lebensgang schreibt. Als
Wissenschaftler kann man versuchen, anhand von Fakten
das von Steiner Behauptete zu widerlegen oder zu relati
vieren, aber kein ernsthafter Wissenschaftler darf es über
gehen, wenn er darüber schreibt.
Mit der Gebärde des Steiner-Experten behauptet Cle
ment in seiner «Einleitung» alles Mögliche über Steiner,
ohne auf die Wahrnehmungsseite dessen hinzuweisen, was
er behauptet. Dies bringt uns zurück zum Anfang dieser
Ausführungen, wo Clement von dem redet, was «im Denk
Erlebnis bzw. im Ich-Erlebnis des Menschen» (S. XXX)
sein soll. Das Denken und das Ich werden wie gleich
wertig behandelt, obwohl sie in der wichtigsten Hinsicht
gegensätzlich zueinander stehen. Vom Denken kann jeder
Mensch mit normalem Bewusstsein die Wahrnehmung ha
ben, vom Ich kann sie keiner haben, der nicht das Denken
zu einer neuen Stufe weiterentwickelt hat.
Es mag in der akademischen Welt Sitte sein, der histo
risch-kritischen Ausgabe eines Werkes solche ellenlangen
Einleitungen vorangehen zu lassen- mit Clements Forde
rung nach «sauberer Quellenarbeit, Methodenschärfe und
sachlicher Distanz zum Gegenstand» (S. XXXI) hat das
wenig zu tun. Überhaupt zeigt sich das Nicht-Erkennel1
der eigenen Grenze bei Prof. Clement im Unterfangen, als
Herausgeber von Werken einer Geisteswissenschaft aufzu
treten, deren Gegenstand ihm verborgen bleibt. ,„
28
II.
Versuch der Einsargung der Anthroposophie
Der Glaube und der Geist als Privatsache
In der «Einleitung» von Christian Clement wird Schlag auf
Schlag die Bedeutsamkeit der scheinbar unscheinbaren pro
grammatischen Devise klar, die er all seinen Ausführungen
vorangestellt hat. Sie nimmt zwei volle Seiten (S. XXIII und
S. XXIV) in Anspruch und gibt lapidar- im griechischen Ori
ginal, sodass vor allem aufgeklärte, ihm zu- und dem Chris
tentum abgeneigte Anthroposophen nicht zu schnell oder
gar nicht dahinterkommen - einen Satz aus dem Johannes
Evangelium wieder: Ich und der Vater sind eins (S. XXIII):
«8yffi Kai 6 naTI}p sv foµsv
Joh. 10:30»
In einer sich hoch-wissenschaftlich gebenden historisch
kritischen Textausgabe wird hier der eigene simple Glaube
nicht gerade unaufdringlich zur Schau getragen.
Bevor der Wissenschaftler Prof. Clement überhaupt zu
Wort kommt, stellt sich ostentativ der Gläubige Christian
Clement vor. Voran übergroß der Christus-Bekenner, hin
terher überlang der Steiner-Stürmer. Seine Botschaft ist
unüberhörbar und unmissverständlich: In geistigen Din
gen hat die Wissenschaft nichts zu suchen, in Sachen der
Religion hat nur der Glaube etwas zu sagen. Sein Grund
dogma, dass es keine wissenschaftliche Erkenntnis des
Geistigen geben kann, ist die unmittelbare, nur zu logische
29
Folge - und Forderung - seines Glaubens fundamentalis
tischer Prägung. Ein solcher Glaube erklärt auch den Hin
weis - ebenfalls an höchst prominenter Stelle platziert,
nämlich im Impressum auf S. IV ganz oben - auf das Geld,
mit dem die Mormonen der Brigham Young Universität
(USA) den Druck des Bandes unterstützt haben.
Selbst wenn eine solche Universität allen ihren Dozen
ten eine ähnliche finanzielle Förderung angedeihen lässt,
kann sie das machen, weil sie alles andere als wahllos ihr
Lehrpersonal anstellt. Vernünftigerweise geben die Mor
monen nur für eine Sache ihr Geld, die sie fördern wollen.
Und was Rudolf Steiner betrifft, können sie, wenn sie mit
ihrem Glauben aufrichtig und konsequent sind, nur eines
fördern wollen: die Vernichtung oder zumindest die Archi
vierung, die Einsargung seiner Anthroposophie, wie sie in
Clements «Einleitung» mustergültig vollzogen wird. Denn
die Anthroposophie betrachtet alle Formen des alten Glau
bens als unzeitgemäß - in einer Zeit, wo jeder Mensch fä-
. hig wird, kraft des intuitiv-schöpferischen Denkens nach
wissenschaftlicher Erkenntnis des Geistigen zu streben .
. Der Wille zur Vernichtung der Anthroposophie zeigt sich
bei dem Gläubigen Prof. Clement vor allem dort unverhüllt,
wo es um das Christentum geht. Er redet in diesem Zusam
menhang von «christologischer Theoriebildung Steiners»
(S. LIV). Er behauptet: Steiner «entwickelte [ ... ] hochkom
plexe Vorstellungen» (S.LVI) über den Christus und den Je
sus; Steiner «postulierte[ ... ] die Existenz von zwei Jesus
knaben» (S. LVI); Steiner <<trat selbst als unmittelbare Quel\.~
direkter und un-erhörter Offenbarungen [ ... ] auf» (S. LVII).
30
Überhaupt das unqualifizierte Reden von «Theoriebildung»
und davon, dass Steiner als Quelle von <<Un-erhörten Offen
barungen» «auftrat», stellt eine Verkennung, ja Verleum
dung Rudolf Steiners und seiner Anthroposophie dar. Das
Reuen von «Theoriebildung» entbehrt jeder objektiv-wis
senschaftlichen Grundlage. Was die «Offenbarungen» an
geht, hat Steiner Zeit seines Lebens seine Geisteswissen
schaft als das Gegenteil jeder Offenbarung dargestellt.
Offenbarungen empfmg der Mensch in alter Zeit von der
Gottheit passiv, als er durch Inspiration mit den Worten auch
die Gedanken bekam. Geisteswissenschaft entsteht ganz im
Gegenteil durch tätiges Denken. Sie setzt die Fähigkeit des
Wahrnehmens im Geistigen voraus, anhand derer die Be
griffsbildung durch intuitives Menschendenken erfolgt. Die
alte Offenbarung war zwar-wie im Fall Moses - eine di
rekte Erfahrung der geistigen Welt, aber der Mensch konnte
damals noch nicht objektiv-wissenschaftlich, durch Wahr
nehmung und Denken, damit umgehen. Deshalb musste die
se Offenbarung enden. Der Mensch musste sich bewusst
seinsmäßig vom Geistigen sondern und eine Zeit lang nur
die sinnliche Wahrnehmung erleben - mit dem Ziel, anhand
der sinnlichen Wahrnehmung durch Naturwissenschaft eine
erste Schulung des Denkens durchzumachen.
Wir leben heute in der Zeit, wo der Mensch die zwei
te Schulung des Denkens in Angriff nehmen kann, in der
er anhand der Wahrnehmung im Geistigen eine der Na
turwissenschaft ebenbürtige Geisteswissenschaft aufbauen
kann. Die beiden naturgemäßen Erzfeinde dieser Geistes
wissenschaft sind einerseits der moderne Intellektualismus
31
mit seinem totalitären Dogma, dass es keine Wahrnehmung
im Geistigen und keine wissenschaftliche Erkenntnis des
Übersinnlichen geben kann, und andererseits der traditio
nelle religiöse Glaube, der sich existenziell bedroht sieht
und der jeden Anspruch auf Geisteswissenschaft als frevel
haften Hochmut des Menschen abstempeln muss.
Die Geister, die den Willen zur Vernichtung der Anthro
posophie haben, wissen ganz genau, dass ihr bestes Werk
zeug der menschliche Intellektualismus, der abstrakte Ra
tionalismus ist, der, ohne sich um die Wahrnehmung zu
kümmern, alles «beweisen» kann. Ihr Vernichtungswil
le kann am besten von Menschen ausgeführt werden, die
das Volk erz- oder blitzgescheit nennt. Rudolf Steiner hat
in seinen Mysteriendramen das Urphänomen des blitzge
scheiten Menschen künstlerisch dargestellt - er heißt Fer
dinand Reinecke. Reinecke ist so übennenschlich gescheit,
dass er mit seiner Beweiskunst einem genialen Wissen
schaftler wie Strader das Vertrauen in das Denken ausbläst.
Ein Vernichtungsanschlag auf die Anthroposophie muss
nicht bewusst vom Menschen beabsichtigt sein. Rudolf
Stein er weist oft genug darauf hin, was alles durch einen
Menschen geschehen kann, von dem dieser selbst keine
Ahnung hat. Es gibt genug geistige Wesen, die sehr wohl
eine Ahnung haben und die vor allem genau wissen, dass
die Vernichtung der Anthroposophie in den Köpfen der
Menschen nur dann eine Chance bekommt, wenn bei mög
lichst vielen Menschen, vor allem bei möglichst vielen
Anthroposophen der Eindruck erweckt wird, man tue al:;
les, um die Anthroposophie zu fördern. Auch der schlaue
32
Gegner der Anthroposophie weiß als Mensch genau: Um
Erfolg zu haben, muss er den Eindruck erwecken, dass er
die Anthroposophie fördern will.
Und es sind nicht wenige, die meinen: Ist es nicht ein
dankenswerter Rettungsdienst an der Anthroposophie,
wenn zu später Stunde eine historisch-kritische Ausgabe
der Werke Rudolf Steiners nach den «allgemein anerkann
ten Standards wissenschaftlichen Arbeitens» (S. XXXI),
von einem Professor in den USA herausgegeben, erscheint?
Wird nicht dadurch die Geisteswissenschaft Steiners ge
ehrt, ja geadelt? Wird nicht die Anthroposophie in der
Menschheit erst recht aufleben, wenn Steiners Werke von
Fachgelehrten eingeleitet und kommentiert in den Rega
len der Universitätsbibliotheken stehen? Und ist es nicht
höchst begrüßenswert, wenn jemand es unternimmt, den
sauberen und vollständigen Quellennachweis nachzulie
fern, den Steiner vermissen lässt? Clement schreibt dazu
in seiner «Einleitung»:
«Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachli
che Distanz zum Gegenstand im Sinne der damals und
heute allgemein anerkannten Standards wissenschaft
lichen Arbeitens waren also Steiners Sache nicht.»
(S.XXXI).
Auch eine solche Aussage ergibt sich aus Clements Diktat,
dass Steiners Behauptung, er habe seine Inhalte ganz unab
hängig von jeder äußerlichen Quelle unmittelbar aus der geis
tigen Welt heraus gewonnen, nicht wahr sein kann. Und über
die Wissenschaftlichkeit seiner eigenen Arbeit schreibt er:
33
«So wird ein neuer Editions-Standard gesetzt, an dem
sich die künftige Anthroposophieforschung zu orientie
ren haben wird.» (S. XXVI).
Bei dem hohen «Editions-Standard», den Prof. Clement für
sich geltend macht, seien folgende Fragen erlaubt: Ist es
zulässig, durch eigenmächtige Kursivsetzung direkt in den
Text einzugreifen? Wenn Worte, Sätze oder ganze Absätze
kursiv gesetzt sind- hat dann der Leser nicht das Recht, da
von auszugehen, dass die Kursivschrift vom Autor und nicht
vom Herausgeber stammt? Kann nicht eine Kursivsetzung,
die nicht vom Autor selbst vorgenommen wurde, als Text
fälschung betrachtet werden? Das ganze Augustinus-Kapi
tel in Christentum (S.223-228), um nur ein Beispiel zu er
wähnen, kann vielleicht durch den missionarischen Eifer des
Herausgebers erklärt werden, der dem Leser vor die Nase
halten will, was alles Steiner geändert oder hinzugefügt hat.
Zeugt es aberwirklich von «sauberer Quellenarbeit, Metho
.denschärfe und sachlicher Distanz zum Gegenstand»?
Wenn Prof. Clement Steiner unsaubere Quellenarbeit
vorwirft, so möge er Folgendes bedenken. Mit dem Fort
schritt der Technik ist die Möglichkeit, Zugriff auf Texte zu
haben und sie abzugleichen, heute schier unbegrenzt gewor
den. Wie wäre es, wenn ein Professor X aus den USA mithil
fe seiner fleißigen Assistenten es unternehmen würde nach
zuweisen, dass zahlreiche Formulierungen in Clements Tex
ten «unausgewiesene Paraphrasen» (S. XXXI), das heißt ein
Plagiat von anderen Autoren darstellen? Prof. Clement könn,~ ..
te sich dagegen wehren, aber wenn es sehr viele Leute gäbe,
34
die Professor X und nicht Prof. Clement glauben, würde es
für Prof. Clement düster aussehen. Ähnlich ist es mit Cle
ment und Steiner. Steiner behauptet, gar nichts von anderen
Autoren übernommen zu haben, aber Prof. Clement meint,
bewiesen zu haben, dass er es getan hat. Und es zeigt sich
deutlich, dass es auch unter Anthroposophen genügend Leu
te gibt, die lieber Prof. Clement als Rudolf Steiner glauben.
Wenn ich Clements Band 5 der SKA in der Hand hal
te, habe ich das folgende Bild vor mir. Ich sehe mich vor
vielen Jahren als junger Mensch in New York wieder, wo
ich in den funeral homes oft den Abschied von den Toten
begleitet habe. Der gerade Verstorbene war so aufgebahrt,
dass der Eindruck entstand, er lebe noch. Er war so perfekt
geschmückt, so <<nobilitiert» (s. S. 46), dass er noch le
bendiger als im Leben erschien. Seine Wangen waren so
rosig, wie ich sie im Leben noch nie gesehen hatte.
In diesem Band 5 des neuen Herausgebers der Wer
ke Rudolf Steiners, Prof. Christian Clement, sehe ich das
Ritual einer akademischen Einsargung der Anthroposo
phie. Akademisch bedeutet unter anderem: von der Staats
macht abgestempelt und mit Staatsgeld finanziert. Die bei
den Flanken dieses wundersamen Sarges sehe ich in der
«Einleitung» und im «Stellenkommentar» - wozu auch die
Farbe des Umschlags gehört. Die Sargnägel der «Einlei
tung» werden von der wiederholt eingehämmerten Beteue
rung geliefert: Es ist nichts und wieder nichts - und noch
mals nichts - mit der Geisteswissenschaft Steiners; und die
Hammerschläge des «Stellenkommentars» konterkarie
ren Stelle um Stelle: Und mit seinem wissenschaftlichen
35
Umgang mit den Quellen ist auch nichts. Als Kopf- und
Fußseite des Sarges dienen vorzüglich passend einerseits
das Impressum mit Mormonengeld und Kooperation mit
dem Rudolf Steiner Verlag, andererseits des Gläubigen
Wahlspruch, der zu der Einleitung geistig den Ton angibt.
Und das eingesargte Caput mortuum, der zur Ruhe ge
bettete Leichnam, ist die Anthroposophie Rudolf Steiners,
von zweien seiner Texte repräsentiert. Diese sind histo
risch-kritisch so perfekt aufbereitet, dass man den Ein
druck haben kann, Steiner lebe noch. Aber der akribische
Apparat macht deutlich: Steiner ist schon längst gestorben,
er ist historisch geworden. Einern Verstorbenen kann man
auch die «Un-erhörten Offenbarungen» verzeihen, die jen
seits von Gut und Böse sind, solange man die Aufgabe des
akademischen Wissenschaftlers ernst nimmt, sie mit «sach
licher Distanz zum Gegenstand», mit aufgeklärter Distan
zierung unter die Lupe zu nehmen.
Und so ist es: Wenn man es auch schaffen würde, Ein
leitung, Stellenkommentar, Mormonengeld und Christusbe
kenntnis zu ignorieren, um sich auf die Steiner-Texte mit den
abertausend nicht nur sinnrelevanten sondern auch orthografi
schen Angaben im Text und im kritischen Apparat zu kon
zentrieren - wozu auch gehört, ganz wichtig, wann am En
de eines Titels ein Punkt steht, und wann kein Punkt steht-,
dann blieben einem überhaupt keine Zeit und keine Kräfte
übrig, um den Gedanken Steiners eine Chance zu geben, im
eigenen Kopf und im eigenen Herzen Leben zu werden.
Der Leser darf mich nicht missverstehen: Mit versuch~.,.
ter Einsargung der Anthroposophie meine ich nicht, dass
36
diese möglicherweise eingesargt werden kann. Sie ist ein
Geistiges, und auch für sie gilt, was für alles Geistige gilt:
Es ist nicht sinnlich wahrnehmbar, es kann nicht sterben.
Denen, die den Geist am Grab des Leichnams seines Trä
gers~ an der Stätte der Einsargung, suchen, wurde schon vor
zweitausend Jahren geistig zugerufen: Der, den ihr sucht,
ist nicht hier, er lebt unsterblich als Geist.
Um Clements «Einleitung» besser zu verstehen, kann es hilf
reich sein, wenn auch nur durch ein paar Streiflichter, die
Entwicklung seiner Denkweise bis zu seiner «Einleitung» iu
Band 5 zu verfolgen. Seine unausgesprochene Grundannah
me, dass es keine wissenschaftliche Erkenntnis des Geisti
gen geben kann, taucht nicht erst in seiner «Einleitung» auf.
Eine wichtige Quelle, Clements Gedankenentwicklung
zu verfolgen, ist seine Dissertation Die Geburt des moder
nen Mysteriendramas aus dem Geiste U!.eimars (Logos Ver
lag, Berlin 2007). In diesem Rahmen ist es nur möglich,
mit wenigen Strichen die Stellung der Wahrnehmung im
Geistigen zu skizzieren. Auf S. 49-50 finden sich wichtige
Ausführungen über die Imagination, die tiefer in Clements
Denkweise blicken lassen. Er führt aus:
«Man kann versuchen, um die Kontinuität in Steiners
Denken aufzuzeigen, die anthroposophische Imagi
nationslehre anhand seiner philosophischen Schriften
[zu] interpretieren. Die Philosophie der Freiheit be
schrieb das Erkennen als Prozess der gegenseitigen
Durchdringung von Wahrnehmung und Begriff [ ... ].
37
Man kann die Imagination in der Terminologie der
Philosophie der Freiheit also beschreiben als die zu
Bildern verdichtete innere Anschauung derjenigen see
lisch-geistigen Prozesse, welche sich im gewöhnlichen
Bewusstsein zu Vorstellungen einer sinnlichenAussen
welt ablähmen.»
Clement redet von «der gegenseitigen Durchdringung von
Wahrnehmung und Begriff». Dies ist insoweit irreführend,
als er das Durchdringen wie eine Tätigkeit sieht, die von
beiden Seiten gleichermaßen aktiv ausgeführt wird. Das ist
aber nicht der Fall. Es ist weder die Wahrnehmung noch der
Begriff das tätig Durchdringende, sondern allein das Den
ken. Die Wahrnehmung ist wie ein momentanes Herausfal
len aus dem Denken, wie ein leises Träumen oder Schlafen.
Das Denken ist wie ein Aufwachen durch tätige Begriffs
bildung - ein Aufwachen in der überräumlichen und über
zeitlichen Wirklichkeit des Geistes.
Im zweiten Teil des Zitats kommt deutlich zum Vor
schein, dass Clement die «Imagination» nicht als eine
Wahrnehmung im Geistigen sieht, sondern sie mit dem
ganzen Vorgang des Erkennens gleichsetzt. Die Imagi
nation ist aber Steiner zufolge nicht «die zu Bildern ver
dichtete innere Anschauung» von «seelisch-geistigen Pro
zessen» - sie ist geradezu das Gegenteil davon. Nicht we-'
niger als die sinnliche Wahrnehmung muss die Imagina
tion in ihrem Grundcharakter als Täuschung erkannt wer
den. Das Denken muss Steiner zufolge auch im Imaginie.;;-,,
ren etwas wie ein Einschlafen, wie ein Herausfallen aus
38
der Wirklichkeit erkennen, und seine Aufgabe darin sehen,
auch der Imagination gegenüber geistige Wirklichkeit zu
stiften. Deshalb betont Steiner immer wieder: Es gibt keine
Kontinuität zwischen Imagination und Inspiration, sondern
einen qualitativen Sprung. Alles Imaginative muss fortge
schafft werden, es muss ein völlig leeres Bewusstsein her
gestellt werden.
Es ist also nicht sachgemäß, über die drei Stufen der
übersinnlichen Erkenntnis zu sprechen wie jemand, der
eigene unmittelbare Erfahrung davon hat, wenn man sie
nicht hat. Damit wird das Geistige auf ein Seelisches oder
Bewusstseinsmäßiges reduziert und dem abstrakten In
tellektualismus Tür und Tor geöffnet. Dasselbe einfacher
gesagt: Auf S. 22 zitiert Clement Steiner mit den Worten:
«Will man Entwicklung, so wie sie sich erschaut in der
geistigen Welt, wirklich hinstellen [ ... ]». Das Wort «er
schaut» weist deutlich auf ein Wahrnehmen im Geistigen
hin, das bei Steiner kein bloß visionäres oder bei der Ima
gination verbleibendes, sondern ein denkendes Wahrneh
men ist. Clement kommentiert (S. 23):
«Steiner sucht also das <Allgemein-Menschliche>, den
<Menschen an sich> und damit den <Geist> nicht, wie
Hegel, in einem abstrakten Absoluten jenseits des in
dividuell-persönlichen Erlebnisses, sondern gerade in
demselben.»
Der eindeutige Hinweis Steiners auf seine Wahrnehmung
im Geistigen wird durch das Reden von «sucht» gar nicht
gesehen.
39
Einige Jahre später, in einem Aufsatz: «<Offenba
res Geheimnis> oder <geheime Offenbarung>? Goethes
Märchen und die Apokalypse» (in: Goethe Yearbook,
Volume 17, 2010, Published by North American Goethe
Society, S. 254, Fußnote 11), weist Clement auf die «Ge
meinsamkeiten» von Steiners und seinen eigenen Ausfüh
rungen über Goethes Märchen hin. Er schreibt, Steiner
habe «detailierte [sie!] Analysen» unternommen, die als
eine zwar «unschätzbare», doch lediglich als eine «Vor
arbeit für die hier [von Clement] vertretene Deutung des
Märchens gewürdigt» werden. Die Rede von «Vorarbeit»
hat nur einen Sinn, wenn Clement Steiner auf gleicher
Ebene wie sich selbst sieht. Das schließt aus, dass bei
Steiner eine zuvor nie dagewesene Art des Denkens zuta
ge tritt, das durch die Wahrnehmung im Übersinnlichen
bedingt ist.
In dem Buch Weimar Classicism, Edited by David Galla
gher, The Edwin Mellen Press 2010, schreibt Christian Cle
ment - in: «Chapter 6. Weimar Classicism Reincamated:
Rudolf Steiner' s Theatre of Spiritual Realism» - über
Steiners Mysteriendramen. Es kommen in diesem Buch
verschiedene akademische Wissenschaftler zu Wort, die
über Autoren wie Goethe, Schiller, Forster und Berlepsch
schreiben. Was in Bezug auf Rudolf Steiner auffällt, ist,
dass er ganz bedeutungslos erscheint. Schaut man dann nä
her auf das, was Clement über Steiner schreibt, erfährt man
den Grund für diese Bedeutungslosigkeit: Steiner wird als
ein Dramatiker dargestellt, der sich durch minderwertigt;J,,
Qualität auszeichnet.
40
Clement nennt die Mysteriendramen «abstrus» (S. 135).
Nachdem er gleich am Anfang Steiner als «Austrian philos
opher and spiritualist» definiert, schreibt er:
~<Another outgrowth of his years defending and wri
ting about Goethe is a series of four abstruse mystery
plays known as the Mysteriendramen (1910-1913).»
(S. 135). (Ein anderer Auswuchs aus den Jahren, in
denen er über Goethe schrieb und ihn verteidigte, ist
eine Reihe von vier abstrusen Mysterienspielen, die als
Mysteriendramen (1910-1913) bekannt sind.)
Wenn man Steiners Mysteriendramen lediglich als Produkt
dessen sieht, was Clement in seiner «Einleitung» zu SKA
Band 5 «menschliche Vorstellungsbildung» nennt, kann man
sie vielleicht als abstrus bezeichnen. Wenn man aber davon
ausgeht, dass ihre Inhalte objektiv-wissenschaftlich anhand
der Wahrnehmung im Geistigen gewonnen sind, wird man
alles in den Mysteriendramen als sehr ungekünstelt und ein
fach dargestellt finden. Es werden aus einemjeden unend
lich komplexen Leben nur einige Erlebnisse ausgewählt, und
diese nur in einigen typischen Zügen dargestellt. So ist der
schon erwähnte Ferdinand Reinecke nicht durch «abstruse»
Vorstellungsbildung erfunden, sondern als objektive Reali
tät geistig wahrgenommen. Und warum ist dieser sogar über
einen Strader der Sieger? Weil dieser in der Ehe mitTheodo
ra ein Nebeneinander von Wissen und Glauben, von Wissen
schaft und Religion lebt, die nie zur Einheit werden.
Clement sieht in Rudolf Steiners Mysteriendramen
«einen Riesenballast von esoterischen Theoremen und
41
einen unbestreitbaren Mangel an dramatischer und künst
lerischer Reife»:
«Despite a huge ballast of esoteric theorems and an un
arguable lack of dramatic and artistic maturity [ ... ]»
(S.153).
Das kann vernünftigerweise nur jemand schreiben, der sich
selbst künstlerische Reife zuschreibt, der weiß, was sie ist.
Weil Clement bei Steiner nur die Vorstellungsbildung
eines Dramatikers gelten lässt, wird auch erklärlich, dass er
in den vier Königen keine objektiv wahrgenommene geis
tige Wirklichkeit sehen kann. Sie «repräsentieren» für ihn
bloß «symbolisch» innerlich-geistige («mental») Eigen
schaften des Menschen:
«From their dialogues it is obvious that they are rep
resentations of human mental faculties: the gold king
represents intellectuality and thought, the silver king
symbolizes emotionality and feeling, while the former
bronze king stands for intentionality and will.» (Weimar
Classicism, S.140). (Aus ihren Dialogen ist es offen-
. sichtlich, dass sie Darstellungsweisen für geistige Fä
higkeiten des Menschen sind: Der goldene König be
deutet Geistigkeit und Gedanke, der silberne König sym
bolisiert Emotionalität und Gefilhl, während der frühere
bronzene König far Intentionalität und WiJ!e steht.)
Steiner wird daran gemessen, inwieweit er der Weimarer
Klassik treu bleibt. Trotz aller von Clement festgestell
ten aber von ihm nicht genannten «Abweichungen und
42
Fehldeutungen Goethes und Schillers» vonseiten Steiners,
wird ihm bescheinigt, doch «dem intellektuellen und geis
tigen Kern der Weimarer Klassik treu» geblieben zu sein:
& «[ ... ] Steiner's theatre of Spiritual Realism seems in
deed, despite all his actual deviations :from and misin
terpretations of Goethe and Schiller which we did not
mention here, to be true to the intellectual and spiritual
core of Weimar Classicism.» (Weimar Classicism,
S. 152). (Steiners Theater des spirituellen Realismus
scheint in der Tat, trotz aller seiner tatsächlichen Ab
weichungen und Fehldeutungen Goethes und Schillers,
die wir hier nicht erwähnt haben, dem intellektuellen
und geistigen Kern der Weimarer Klassik treu zu sein.}
So wie ich mit vollem Ernst in Band 5 der SKA die akade
mische Einsargung der Anthroposophie, von zweien ihrer
Texte vertreten, sehe, so sehe ich im Buch Weimar Classi
cism die perfekte akademische Einsargung Rudolf Steiners
selbst. Er wird in seiner Bedeutungslosigkeit und Minder
wertigkeit bei der akademische Gelehrsamkeit buchstäb
lich beerdigt, als quantite negligeable abgefertigt. Damit
ist nichts über die Absichten von Christian Clement gesagt,
damit ist nur gesagt, wie sein Beitrag nach meiner Über
zeugung und Erfahrung in der akademischen Welt und da
rüber hinaus wirkt.
Es ist gar keine Frage: Die Vertreter der akademischen
Welt und der traditionellen Religion haben allen Grund,
Christian Clement zu feiern und mit allen Mitteln zu för
dern. Sie können sich nur freuen, wenn die Anthroposophie
43
als abstruse Theoriebildung und als unerhörte Offenbarung
abgetan wird. Die akademische Welt kennt vom Geist nur
den abstrakten Intellektualismus, sein totes Spiegelbild.
Der Glaube der Religion lebt von der Sehnsucht nach dem
Geist, dessen Wirklichkeit verloren gegangen ist. Die west
liche Kultur fordert eine strikte Trennung von Wissen und
Glauben. Das Wissen, die Wissenschaft, beherrscht das öf
fentliche Leben; der Glaube darf nur als Privatsachegel
ten, er darf nur im privaten Leben eine Rolle spielen. Die
Wiedergewinnung der Wirklichkeit des Geistes durch Geis
teswissenschaft ist für beide - für den Wissenschaftler und
den Gläubigen - die stärkste Herausforderung, zumal sie
die Trennung von Wissen und Glauben aufhebt.
Christian Clement repräsentiert nicht nur die eine oder
nur die andere Welt, sondern beide. In ihm wirken Wis
senschaft und Glaube zusammen, in seiner Person sind
sie vereinigt. Der Lebenszusammenhang eines Menschen
entscheidet oft mehr als er selbst darüber, wie das, was er
schreibt, in der Menschheit wirkt. Darüber mehr im letzten
Teil dieser Ausführungen, in dem auch der Frage nachge
gangen wird: Wie nehmen zum Phänomen Christian Cle
ment mit seinem Hintergrund jene Menschen Stellung, die
in der Öffentlichkeit als die Vertreter der Anthroposophie
gesehen werden? Und wie kann der freie Mensch dazu
Stellung nehmen?
44
III.
Hat die Anthroposophie eine Zukunft?
Die amtlichen Vertreter und das freie Individuum
Der erwähnte Band 5 der Reihe «Rudolf Steiner, Schrif
ten - Kritische Ausgabe» (SKA) ist im frommann-holz
boog Verlag in Kooperation mit dem Rudolf Steiner Ver
lag erschienen. Damit macht sich die Rudolf Steiner Nach
lassverwaltung die Kritische Ausgabe der Werke Rudolf
Steiners zu eigen, deren Herausgeber Christian Clemerit
ist. Diese wird zur offiziellen Ausgabe der Rudolf Steiner
Nachlassverwaltung selbst. Der Leiter des Rudolf Steiner
Archivs, David Marc Hoffmann, hatte sich Anfang 2013
darauf bezogen und kategorisch behauptet:
«Bei uns wird Clement Texte einsehen können, sie aber
nicht publizieren dürfen, das wollen wir uns verständli
cherweise für eine eigene kritische Ausgabe selbst vor
behalten. Insofern wird er selbst keine wirklich histo
risch-kritische Ausgabe herausgeben können. [ ... ]An
dererseits habe ich den Eindruck, seine Ausgabe wird
ein Prolegomenon, eine Art Vorläufer zu einer kriti
schen Ausgabe sein, die wir in Zukunft machen wer
den.» (Der Europäer, Februar 2013, S. 30).
Nur Monate später heißt es (s. Das Goetheanum, 13. Juli
2013): Der Leiter des Rudolf Steiner Archivs «empfahl[ ... ]
das Projekt [von Clement] dem Rudolf Steiner Verlag» -
im Namen der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung. Der
45
offiziellen Ausgabe von Christian Clement, die Hoffmann
als «Nobilitierung» (s. S. 35) der Werke Rudolf Steiners
bezeichnet, könnten «Ergänzungsbände» erwachsen. Man
möchte es nicht glauben: Wenige Monate zuvor kann Cle
ment laut Hoffmann nur einen bescheidenen «Vorläufern
zur angekündigten kritischen Ausgabe durch die Rudolf
Steiner Nachlassverwaltung herausgeben; wenige Mona
te später wünscht sich die Rudolf Steiner Nachlassverwal
tung, der von ihr gefeierten Ausgabe von Clement beschei
dene «Ergänzungsbände» anhängen zu dürfen. Solche un
glaublichen Purzelbäume nicht nur intellektueller, sondern
vor allem moralischer Natur zeugen davon, welcher Geist
den Nachlass Rudolf Steiners verwaltet.
Und welches sind die Gründe für diese Kehrtwende mit
unabsehbaren Folgen? Die Rudolf Steiner Nachlassverwal
tung muss sich zweite, realistischere Gedanken darüber ge
macht haben, ob sie überhaupt imstande ist, eine kritische
Ausgabe von Steiners Mystik und Christentum anzufer
tigen, die besser, gediegener ist als die von Christian Cle
ment. Aber es gibt auch noch einen anderen, gewichtigeren
Grund. Eine immer stärker werdende Strömung in der an
throposophischen Welt sieht es als entscheidend für das Ge
deihen der Anthroposophie an, dass diese nicht nur vom Bür
gertum, sondern vor allem von der akademischen Welt an
erkannt wird. Gerade aber in dieser Hoffuung liegt das größ
te Dilemma für ernsthafte Anthroposophen in unserer Zeit.
Um die Anthroposophie Rudolf Steiners in den eige
nen Wissenschaftsbetrieb einzugliedern, müsste die akade~ ..
mische Welt mit ihrem Absolutheitsanspruch buchstäblich
46
sich selbst aufheben. Sie kennt und erforscht lediglich die
sinnlich wahrnehmbare Welt, in der für den Geisteswissen
schaftler nur Wirkungen von Ursachen zutage treten, die
alle in einer nicht sinnlich wahrnehmbaren Welt liegen -
und'über das Nicht-Sinnliche kann sie nur abstrakt speku
lieren. Sie findet damit keine Wirklichkeit, weil dem Intel
lektualismus die Ergänzung durch die Wahrnehmung fehlt.
So fragt es sich, um nur ein paar Beispiele herauszugrei
fen: Was soll die akademische Medizin dazu sagen, wenn
Steiner in England das Phänomen des «okkulten Fiebers»
in seinem objektiven pathologisch-therapeutischen Zusam
menhang mit dem Silber, mit der Blutwärme und mit den
Kräften aus den früheren Leben des Menschen darstellt?
Oder was kann die akademische Welt mit Steiners Aussage
anfangen, dass die Psychical Research, die das Verhalten
eines Mediums untersucht, am Phänomen vorbeiredet, weil
sie nicht weiß, was im Geist des Mediums als Ursache sei
nes Verhaltens geschieht? Oder gar, wenn Steiner ausführt,
dass, um den Präsidenten der USA W. Wilson wirklich zu
verstehen, man auf sein Leben als Muawij a im 7. J ahrhun
dert schauen muss? Steiner selbst sagt dazu:
«[ ... ] wie soll man mit irgend jemandem von der heuti
gen Zivilisation darüber diskutieren, daß die Seele des
Muawija in der Seele des Woodrow Wilson wieder
erschienen ist! [ ... ] Wenn es sich um Argumente han
delt, da kommt man ja ohnedies nicht zurecht [ ... ]
Man wird sich nicht der Illusion hingeben dürfen, daß
man über solche Sachen diskutieren kann. Die müssen
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sich durch ihre eigene Macht und Gewalt verbreiten.
Die lassen sich nicht durch Dialektik entscheiden.»
(Vortrag vom 12. April 1924, GA 236, S. 32).
Das einzig Vernünftige, was die akademische Welt mit
Steiner tun kann, ist: ihn ignorieren. Das hat sie bis heute
auch konsequent getan. In einem Vortrag am 23. Mai 1922,
der erst 81 Jahre später seinen Weg in die GA gefunden hat,
redet Rudolf Steiner von «Weltfremdheit», wenn jemand
denkt, die akademische Welt hätte die Möglichkeit, die An
throposophie anzuerkennen:
«Dieser Zug von Weltfremdheit, der ist es, der uns
sehr, sehr viel geschädigt hat gerade in den letzten
Jahren, und diesen Zug von Weltfremdheit sollten
wir eben überwinden. Man sollte gar nicht glauben,
daß wir auf dem Umwege durch die Fachgelehrsam
keit Anthroposophie verbreiten können. Wir sollten
uns klar sein darüber, daß die Fachgelehrsamkeit eben
von außen gezwungen werden muß, das Anthroposo
phische anzunehmen - von sich aus wird sie das nicht
tun.» (GA 255b, 2003, S. 356).
Es gibt dazu noch ein anderes zu bedenken. Indem sich die
akademische Wissenschaft auf die sinnlich wahrnehmbare
Welt beschränkt hat, ist sie in deren Erforschung immer kom
plexer, immer genauer geworden. Das hat auch die zuneh
mende Betonung einer formalen Perfektion mit sich gebracht,
die dem behandelten Gegenstand gegenüber rein äußerlich. ..
bleibt. Clements Steiner-Ausgabe ist ein Musterbeispiel dafür.
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Beim Verfolgen der Textentwicklung wird den rein ortho
grafischen Schwankungen dasselbe Gewicht wie den inhalt
lichen bzw. sinnrelevanten Textunterschieden verliehen.
Wer den Text zum Leben bringen will, ist dankbar für je
den'auch kleinsten Hinweis bezüglich der Textentwicklung,
der mit dem Inhalt, mit dem Sinn zu tun hat. In dieser Hin
sicht ist Clements Edition kaum zu übertreffen. Anders ist es
aber mit der äußerlich-formalen Perfektion in Bezug auf al
les Orthografische, die als unerträgliche Störung erlebt wer
den kann. Aber Prof. Clement muss in puncto Orthografie -
pardon, Orthographie! - formal perfekt vorgehen, wenn er
den akademischen Standards entsprechen will. Er hat ganz
recht, wenn er sagt, dass akademische Wissenschaftlichkeit
im Ausweisen von allen auch unbedeutendsten Textunter
schieden absolute Genauigkeit verlangt. Er hat recht, wenn
er behauptet, dass diese Exaktheit bei Steiner nicht gegeben
ist. Dass Steiner sogar «Quellen» erwähnt, die für ihn keine
Quellen sein sollen, ist für den heutigen akademischen Wis
senschaftler einfach ein Unsinn.
Man kann verstehen, warum Rudolf Steiner sein gan
zes Leben mit Vertretern sowohl der Wissenschaft als auch
der Religion seine Mühe gehabt hat, warum er von ihnen
vielfach angefeindet wurde. Das Besondere bei Christian
Clement aber ist: Er tritt nicht nur als Wissenschaftler auf,
nicht nur als bekennender Christ, sondern er ist beides.
Wenn er als akademischer Wissenschaftler Steiners An
throposophie als notwendige Ergänzung der Naturwissen
schaft darstellen würde, die gleichen Anspruch auf Wissen
schaftlichkeit hat, würde er sich in der akademischen Welt,
49
zu der er gehört, ganz unmöglich machen. Und wenn er als
bekennender Christ (s. S. XXIII) die Anthroposophie, auch
was das Christentum betrifft, als Geisteswissenschaft mit
Anspruch auf sachliche Objektivität darstellen würde, statt
sie als Quelle von <mn-erhörten Offenbarungen» (S. LVII)
abzukanzeln, wäre seine Anstellung bei einer Mormonen
Universität (s. S. IV) ganz unmöglich zustande gekommen.
Der abstrakte Intellektualismus schaut auf die Texte
Rudolf Steiners und meint, das Wichtige seien die Inhalte.
Er kümmert sich nicht um die Wahrnehmung dessen, was
noch viel wichtiger ist als die Inhalte. Und das viel Wich
tigere ist: Bewirken diese Inhalte in der Menschheit etwas,
oder sind sie so gut wie tot? Werden sie zur inneren Kraft in
den Köpfen und Herzen der Menschen, gestalten sie das Le
ben, oder sind die Bücherregale der Bibliotheken, in denen
sie stehen, ihr Friedhof - Konservenbüchsen, wie Steiner
sie nennt? Ein Kochbuch hat nur einen Sinn, wenn daraus
die lebendige Tätigkeit des Kochens wird. Die Anthropo
sophie Steiners hat nur einen Sinn, wenn sie Leben wird.
Aber die akademische Welt muss, um ihre Macht zu be
halten, alles tun, dass Steiners Geisteswissenschaft nicht
zum Leben wird. Deshalb betont sie die äußerliche Per
fektion: In einer historisch-kritischen Ausgabe muss alles
absolut genau, das bedeutet tot sein. Denn das, was lebt,
kann nicht «genau» sein, kann nie perfekt-wissenschaft
lich verobjektiviert werden, nur das Tote kann es werden.
Das zeigt die andere Seite der «Weltfremdheit», von der
Rudolf Steiner redet. Es ist die Weltfremdheit des Intel- ..,_,:,
lektualismus, der nur die theoretischen Inhalte der Texte
50
Rudolf Steiners für wichtig hält, ohne die verschiedenen
Lebenszusammenhänge ernst zu nehmen, in denen diese
Inhalte stehen. Es wird gar nicht gesehen, dass sie in dem
einen Lebenszusammenhang totgemacht, in dem anderen
zuni Leben werden. Ob ein Werk Steiners durch das Mi
lieu, in dem es steht, totgemacht oder zum Leben wird -
das ist noch viel wichtiger als sein theoretischer Inhalt.
Rudolf Steiner führt dazu in einem öffentlichen Vortrag
vom 30. Oktober 1919 in Zürich Folgendes aus:
«Dasjenige, was abhält, ist zumeist nur die Mutlosig
keit, der Mangel an Mut. [ ... ] Im äußeren Leben ist man
heute überzeugt, praktisch zu sein, aber man gibt sich
nicht die Mühe, die Dinge so anzusehen, dass man sie
in ihrem Wirklichkeitscharakter erkennt. Wer heute ir
gendeine Behauptung vorgesetzt bekommt, der gibt sich
dieser Behauptung hin, er nimmt nur den abstrakten In
halt. Da kann er sich gerade dadurch vom Leben ent
fernen. [ ... ] Nicht darum handelt es sich heute, dass
man mit dem wortwörtlichen Inhalt von etwas einver
standen ist, sondern dass man sich ein Urteil darüber
erwirbt, wie dieser Inhalt mit der Wirklichkeit zusam
menhängt. [ ... ] Weil die Menschen nicht das Bedürfnis
haben, immer vorzudringen von dem, was ihnen wort
wörtlich als Inhalt gesagt wird, zur.wahren Wirklich
keit, deshalb wird heute so viel an den Dingen vorbei
geurteilt. Es wird gar nicht auf die Dinge eingegangen.
Die Menschen sind zufrieden mit dem, was bloß als
eine Oberschicht des Lebens die wahren Wirklichkeiten
51
zudeckt. Auf die wahren Wirklichkeiten losgehen, das
ist die erste Forderung im Leben unserer Zeit [ ... ] Wenn
man diese Thromede [von Kaiser Karl, 1917] vom An
fang bis zum Ende nimmt, bloß ihrem äußeren wort
wörtlichen Inhalt nach, ist sie eine schöne feuilletonis
tische Leistung [ ... ] Aber man sehe auf die Wirklich
keit. Da muss man das, was wortwörtlich ist, in sein
Milieu hineinstellen. Da muss man fragen: Wer sagt
das? In welcher Umgebung sagt er das? [ ... ] Was ist das
wortwörtliche Reden von Demokratie, wenn es noch
so schön ist, in einem solchen Elaborat? Eine weltge
schichtliche Lüge! Man muss heute von dem wortwört
lichen Inhalt der Dinge bis zur Anschauung der Wirk
lichkeit zurückgehen. Man muss nicht bloß mit dem In
tellekt die Dinge auffassen, man muss auf die Wirk
lichkeit eingehen. Das ist dasjenige, was Geisteswissen
schaft fordert.» (Rudolf Steiner, Eine Menschheit, S. 34-
37; in der Textredaktion der GA: GA332a, S.203-206).
Auch der Lebenszusammenhang, in dem Christian Clement
steht, ist nicht ohne Einfluss darauf, wie seine Steiner-Aus
gabe in der Welt wirkt. Durch ihn wirkt nicht nur die aka
demische Wissenschaft, die die Anthroposophie nur igno
rieren kann, sondern auch der religiöse Fundamentalismus,
der nur den Willen haben kann, sie einzusargen. Durch sei
ne «Einleitung» und seinen «Stellenkommentar» entfalten
beide Lebenszusammenhänge ihre machtvolle Wirksam
keit. Der Erfolg von Christian Clement erklärt sich durch.,,,
die Tatsache, dass in der westlichen Kultur das öffentliche
52
Leben vom Fortschrittsrationalismus und das private Leben
vom konservativen Glauben geprägt sind. Prof. Clement
hat mit Band 5 auf einen Schlag die Macht sowohl bei der
Rudolf Steiner Nachlassverwaltung wie auch bei der An
throposophischen Gesellschaft errungen.
Kein anderer als die Rudolf Steiner N achlassverwaltung
feiert Prof. Clement als den besseren Herausgeber der Wer
ke Rudolf Steiners und stellt sich folgsam hinter ihn. Sie
tut so, als ob die Inhalte der Anthroposophie unabhängig
vom Lebenszusammenhang wirken könnten, in den sie ge
stellt werden. Auch die Anthroposophische Gesellschaft in
Deutschland lobt Christian Clement in hohen Tönen durch
den Redakteur Andreas Neider in den Mitteilungen aus der
anthroposophischen Arbeit in Deutschland (in: Anthropo
sophie weltweit), Ausgabe 10/2013 Oktober, S. 7:
«Dem Herausgeber [Clement] kommt es, und das
macht seine herausragend formulierte und das Gesamt
werk überschauende Einleitung besonders deutlich, vor
allem darauf an [ ... ] So kommt er in seiner Einführung
zu dem aus großer Überschau gefassten Schluss, dass
nicht nur die Betrachtungsweise Rudolf Steiners [ ... ]
einem anschauenden Denken [ ... ] entspringt, sondern
dass auch dem Entwicklungsgang Steiners selber ein
solcher, auf dem Metamorphosegedanken beruhender
Lebensimpuls zugrunde liegt.»
Eine solche Charakterisierung besagt im Grunde nichts
über das Besondere Rudolf Steiners als erster und bis heute
einziger Geisteswissenschaftler der Menschheit, in dem das
53
«anschauende Denkern> zur Wahrnehmung im Geistigen
und der «Metamorphosegedank:e» zur Metamorphose des
Denkens selbst geworden ist.
Das erwähnte Dilemma, mit dem heute alle Anthropo
sophen zu ringen haben, hat im Laufe der Zeit zwei Lager
entstehen lassen, deren Gegensatz sich immer weiter ver
schärft. Die einen tun alles, um die Anthroposophie für die
Öffentlichkeit und für die akademische Welt annehmbar
zu machen. Dazu müssen sie sich aber mit dem herrschen
den Intellektualismus messen, mit der gleichen Waffe der
Abstraktion kämpfen. Das kann ihnen aber nur gelingen, wie
Clements «Einleitung» schlagend beweist, wenn vom Wahr
heitsgehalt der Anthroposophie kaum etwas übrig bleibt. Die
anderen schrecken vor dieser ihnen unerträglichen Verwäs
serung zurück. Sie halten die Menschheit für nicht reif oder
nicht willig, die Anthroposophie aufzugreifen und pflegen
sie abseits aller Öffentlichkeit. Dass die Strömung der Welt
offenen im Laufe der Zeit immer mächtiger geworden ist,
zeigt sich unter anderem am Sieg dieser Strömung im Vor
stand der Anthroposophischen Gesellschaft und am engeren
Schulterschluss dieser Gesellschaft mit der Rudolf Steiner
Nachlassverwaltung, der sich in letzter Zeit vollzogen hat.
Es gibt aber einen Weg nach vom, wenn man der An
throposophie in der heutigen Menschheit eine neue Chan
ce geben will. Diese Chance hängt ganz von der Zahl der
Individuen ab, die rückhaltlos zur Wahrheit stehen und in
der Wahrheit leben wollen. Gewiss kann kein Mensch für
sich die Wahrheit beanspruchen, aber jeder, der ehrlich mit,,,
sich ist, weiß, ob er uneingeschränkt nach Wahrheit strebt,
54
oder ob er persönliche oder Gruppeninteressen hat - wie
menschlich und verständlich auch immer -, die den Blick
auf die Wahrheit trüben und den Mut zur Wahrheit lähmen
können. Wenn ich im Folgenden in aller Kürze versuche,
das~auszusprechen, was ich für die Wahrheit über die jetzige
Lage und über die Zukunft der Anthroposophie halte, so tue
ich das nicht mit der Absicht, Kritik oder Polemik zu üben,
sondern weil es mir Ernst ist mit der Anthroposophie, in
der ich etwas Überlebenswichtiges für die Menschheit sehe.
Auf das Wesentliche zusammengefasst: Rudolf Steiner
sprach zum Menschen in jedem Menschen. Das liegt in der
Natur seines Geistes. Sein Wort galt gleichermaßen dem
Menschen im Beamten, im Bauern, im Professor, im Arbei
ter, im Bürger, im Theosophen und im Anthroposophen.
Entscheidend für jeden, der ihn hörte oder las, war, inwie
weit der individuelle Mensch neben der Schablone in ihm
lebte. In der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) ist es an
ders. In sehr vielen Bänden der GA ist der Text so bearbei
tet worden, dass Steiner weniger zum Menschen im Men
schen als zum Bürger im Menschen spricht. Es ist ein an
derer Geist als der Geist Rudolf Steiners. Vielen Menschen,
die über die Jahrzehnte den Zugang zu den Vorträgen
Rudolf Steiners weniger als Bürger und mehr als Menschen
gesucht haben, hat die GA den Zugang sehr erschwert. Sie
hat dazu beigetragen, dass in der Öffentlichkeit mehr die
bürgerlich-intellektualistische Seite der Anthroposophie als
ihre menschliche Seite wahrgenommen wurde.
Mancher Leser dieser Zeilen wird sich fragen: Wie kann
es sein, dass in der GA ein anderer Geist als der Geist von
55
Rudolf Steiner den Ton angibt? Die 50 «Zyklen», um nur
ein Beispiel zu nennen, sind noch zu seiner Lebenszeit ge
druckt worden, sie sind doch von ihm autorisiert worden!
So naheliegend dieser Gedanke zu sein scheint, so trüge
risch ist er. Rudolf Steiner kann versuchen sicherzustel
len, dass keine groben inhaltlichen Fehler gedruckt wer
den, aber nicht einmal dafür fand er die Zeit. Dass aber der
Redakteur, um seinen theosophischen, später anthroposo
phischen Lesern gerecht zu werden, durch Bearbeiten, Er
weitern und Kommentieren einen Steiner fremden, bürger
lichen Geist einführt, das muss Steiner gelten lassen. Selbst
er kann nicht verfügen, dass die Menschen anders sein sol
len, als sie sind. Das will er auch nicht, denn das hieße, im
Kern gegen die menschliche Freiheit zu verstoßen.
Anhand von ursprünglichen, unredigierten Klartext
nachschriften, die erst in jüngster Zeit allgemein zugäng
lich geworden sind, ist durch die Rudolf Steiner Ausgaben
in zahlreichen Veröffentlichungen Folgendes nachgewie
sen worden - man kann es nach dem späten Geständnis des
Leiters des Rudolf Steiner Archivs selbst sagen:
«Mir als Archivleiter und auch dem Vorstand der Nach
lassverwaltung ist klar, dass vor allem im Vortrags
werk viele Stellen und ganze Vorträge in einem Mass
redigiert worden sind, das heute kaum mehr nachvoll
ziehbar ist.» (Brief von David Marc Hoffmann vom
15.4.2013, s. www.rudolfsteinerausgaben.com).
Das gilt nicht nur für «ganze Vorträge», sondern für viel~ ,, ganze Bände der GA. Durch die systematische Bearbeitung
56
der Vorträge Rudolf Steiners spricht aus der GA ein anderer
Geist als der Geist, den man bei der Lektüre der ursprüngli
chen Klartextnachschriften erlebt. Auch in die schlichte Rein
heit von Steiners Denken ist viel Unreines, viel Ungereimtes
hineingebracht worden. Man vergleiche auch nur den Geist
im Zarathustra-Vortrag in GA 69b (2013) mit dem in den
Rudolf Steiner Ausgaben (Rudolf Steiner, Zarathustra, 2012).
Es seien hier nur drei Beispiele angeführt, die symp
tomatisch den Geist der GA zeigen, und die für unzähli
ge andere stehen (alle Textvergleiche in den Rudolf Stein er
Ausgaben, früher: Archiati Verlag): 1. Gesundheit, S. 57-
58: Steiner redet vom Clown im Zirkus. Die bearbeitete
Fassung, die sonst üblicherweise in der GA gedruckt wird,
schränkt peinlich-bürgerlich Steiners Wort «volkstümlichs
tem> auf «eine bestimmte Menschenklasse» ein und än
dert des Clowns «drolliges Treibern> in «Dummheiten des
Clowns»; 2. Christus und die menschliche Seele, S.105: Je
mand hat dem anderen die Augen ausgestochen und wird
das durch lange Arbeit an sich selbst ausgleichen müssen.
In der GA genügt stattdessen für den karmischen Ausgleich
eine einzelne bürgerliche «Guttat» - etwa eine großzügi
ge Spende, wenn man Geld genug hat; 3. Einweihung im
Alltag, Band 2, S. 149: Die GA lässt Steiner von einer bür
gerlich-gleichgültigen «Gleichbedeutung der Religionen»
sprechen, was eine folgenschwere Unwahrheit ist.
Der Leser der GA fühlt sich als Bürger angesprochen,
der ohne bösen Willen der Anthroposophie die Spitze neh
men muss, wenn er sich in der bürgerlichen Gesellschaft
nicht unmöglich machen will. Um Anthroposophie in der
57
Öffentlichkeit zu vertreten, muss man einerseits die inne
re Kraft haben, eine gewisse unvermeidliche Einsamkeit
zu ertragen - Einsamkeit auch innerhalb der anthroposo
phischen Welt -, andererseits am eigenen Denken so zu
arbeiten, dass man die Gediegenheit und Notwendigkeit
der Geisteswissenschaft für die Weiterentwicklung der
Menschheit für die suchenden Menschen nachvollziehbar
macht. Wenn man das versucht, wird man sich an beiden
Fronten immer als Anfänger empfinden.
Rudolf Steiner spricht zum Menschen, die GA spricht
zum Bürger - und die SKA von Prof. Clement spricht zum
Wissenschaftler. Die Rudolf Seiner Nachlassverwaltung
bleibt ihrem Geist treu, indem sie jetzt, nachdem sie durch
die GA den Schritt vom Menschen zum Bürger vollzogen
hat, den Schritt zum Akademiker durch die SKA mitmacht.
Auch die Wissenschaft, die von der akademischen Welt
vertreten wird, ist weniger durch den theoretischen Inhalt
wichtig, als durch das, was sie in der Menschheit bewirkt. Mit
ihrem Intellektualismus ist sie immer elitärer geworden, und
als Folge wirkt sie zunehmend diskriminierend und exklusiv.
Sie erzeugt in der Gesellschaft zwei Klassen von Menschen:
einerseits die wenigen ganz «Gescheiten», die mitreden kön
nen, gefolgt von den wenigen, die mithalten möchten, ande
rerseits die vielen anderen, die weder mitreden noch mithal- .
ten können. Im Reden und Schreiben zeigt sich bei nicht we
nigen akademisch Gebildeten eine selbstverständliche Miss
achtung des sogenannten nicht-gebildeten Menschen. Sie
scheinen zu denken: Je weniger Menschen das verstehen, was"'
ich schreibe oder sage, desto gescheiter bin ich.
58
"K:
All die Millionen, die nicht mitreden oder mithalten kön
nen, dürfen auf diese Weise keinen aktiven Anteil am öf
fentlichen Leben haben. Die vielen, die nicht verstehen,
werden auf ihr privates Leben zurückgeworfen. Die Macht
über das öffentliche Leben liegt ausschließlich beim Wis
senschaftsbetrieb. Ein gutes Beispiel für die elitäre Haltung
des Akademikers ist gerade die «Einleitung» von Prof. Cle
ment. Sie ist so geschrieben, dass Otto Normalverbraucher
nichts davon versteht, obwohl er verstehen könnte, wenn
derjenige, der schreibt, die Fähigkeit hätte, selbst die kom
plexesten Dinge allgemeinverständlich darzustellen. Rudolf
Steiner schreibt, er möchte seine Philosophie der Freiheit
so verfassen, dass sie sich so spannend wie ein Roman liest:
«Ich würde mich freuen, wenn es dahin käme, durch
die Form den Inhalt so nahe zu bringen, daß man phi
losophische Gedanken wie einen unterhaltenden und
lehrreichen Roman liest. Ich glaube wohl, daß es mög
lich ist.» (GA 38, S. 19).
Die Forderung nach formaler Perfektion ist die andere Waf
fe, um das Volk von der Wissenschaft und von ihrer Macht
auszuschließen. Als Beispiel nehme man hypothetisch zwei
historisch-kritische Ausgaben-A und B - der Philosophie
der Freiheit Rudolf Steiners. Aist nach allen wissenschaft
lichen Anforderungen der akademischen Welt ediert, die
Textentwicklung in den kleinsten inhaltlichen und ortho
grafischen Änderungen dokumentiert. Ausgabe B ist genau
so wissenschaftlich wie A in Bezug auf alles, was den In
halt betrifft, aber in Bezug auf das Orthografische, auf die
59
Rechtschreibung, will sie menschenfreundlich, das heißt
für den heutigen Menschen zugänglich sein. Weil heute,
um nur ein Beispiel zu nennen, viele sich vom altertümli
chen Dativ-e in der Konzentration gestört fühlen, ist es in
B weggelassen. Der Herausgeber von B ist der Meinung:
Ausgabe A darf nicht fehlen, aber warum soll es nicht da
neben auch Ausgabe B geben? Der Herausgeber vonA sieht
es aber ganz anders, er meint: B ist unwissenschaftlich, ist
dilettantisch. So etwas darf man nicht machen. Es darf nur
Edition A geben, B darf es nicht geben.
Und weil der Herausgeber von A die Möglichkeit hat,
sich Gehör zu verschaffen und der von B nicht, so kann der
Herausgeber vonA dafür sorgen, dass Ausgabe Bin der Öf
fentlichkeit schlechtgeredet oder ignoriert wird. So werden
nur die ganz Gescheiten die Philosophie der Freiheit for
mal perfekt ediert lesen (oder auch nicht) und ihre wissen
schaftlichen Auseinandersetzungen führen - mit dem Er
gebnis, dass dieses Buch in der breiten Bevölkerung nicht
einmal wahrgenommen wird. Dasselbe gilt für die Geis
teswissenschaft insgesamt: Die Anthroposophie Steiners in
die akademische Welt einzuführen, ist das sicherste Mittel,
sie in der Menschheit unwirksam zu machen.
In seinen vermächtnishaften Vorträgen zum Ost-West
Kongress in Wien 1922 weist Rudolf Steiner vor zweitau
send Zuhörern darauf hin, wie wichtig es ist, dass die intellek
tualistisch gebildete Schicht das neue Streben nach dem Geist
ernst nimmt, das sich bei der vermeintlich abergläubischen
unteren Schicht ankündigt. Es soll eine Brücke gebaut wer-,„,
den, über die diese zwei Menschenarten zueinander finden:
60
«Es kommt heute nicht darauf an, dass man einen Weg
findet, um die breiten Massen zu verstehen, sondern
es kommt darauf an, dass man die Möglichkeit findet,
" von den breiten Massen verstanden zu werden, dass
man [ ... ] so spricht, dass man nicht als akademisch,
dass man nicht als gebildet, nicht als theoretisch emp
funden wird, sondern dass man als Mensch empfunden
wird - empfunden wird so, dass man etwas zu sagen
hat, was in die Seelen hineinspricht. [ ... ] ich habe auch
niemals ein Hindernis im Verständnis gefunden, das mir
gerade vonseiten des Proletariers entgegengebracht wor
den ist. [ ... ] Redet man aus dem vollen Menschentum
heraus, redet man so, dass die Zuhörer den Eindruck ha
ben: Da wird uns etwas gesagt, was uns bis ans Herz
herandringt, was mit unserer Menschlichkeit zu tun hat,
dann betrachten sie dieses aus einer Weltanschauung
heraus Kommende als das Wichtigste, was an sie heran
treten kann. Ein Gefühl dafür ist vorhanden, dass vor al
len Dingen Aufklärung [ ... ] unter die Massen kommen
muss. Die Leute lechzen, mehr oder weniger unbewusst,
aber sie lechzen nach dem, was aus einer Weltanschau
ung heraus kommt. [ ... ] Wenn wir aber heute mit einer
Weltanschauung an die Menschen herantreten, die wir
aus dem nehmen, was heute aus der Wissenschaft ge
wonnen werden kann - wir werden uns bald überzeu
gen, dass es unmöglich ist, damit ins Herz der Menschen
hineinzugreifen, etwas dem Menschen zu geben, das an
sein Menschentum rührt. Der Mensch wird das immer
61
als etwas Äußerliches empfinden, was man ihm da ge
ben kann. Er wird es so empfinden, dass er, wenn er sich
vertrauensvoll ausspricht, dass er dann einem sagt: Ja,
das mag alles recht schön sein. Aber wir können es nicht
verstehen, denn es sind so viele Dinge darin, zu denen
man eine besondere Vorbildung haben muss. Es ist uns
nicht einfach genug, es ist etwas, wo wir uns sagen müs
sen: Da kommst du nicht mit. Viele Menschen habe ich
so reden gehört[ ... ]. Wer genauer hinsieht, was da aus
den Tiefen des Menschentums in der heutigen Zeit he
raufkommt, wer auf den Menschen hinschaut, der sich
gerade durch das technische Wesen der neueren Zeit he
rangebildet hat, wer in dessen Herz, in dessen Seelenbe
schaffenheit hineinschaut, der sieht, dass in diesem Men
schen, der nicht durch die Mittel- und Hochschulbildung
hindurchgegangen ist, die uns heute den Intellekt so
wertvoll macht, dass in diesem Menschen nicht vorhan
den ist ein innerliches Interesse für all das, was innerhalb
der Intelligenz werden kann, sondern etwas ganz anderes
vorhanden ist. Hier offenbart sich ein Elementares, was
aus den Tiefen heraufkommt und was sich in unserer so
zialen Ordnung nach oben bewegt - ein Elementares,
das man im allergeringsten Maße heute in Europa noch
versteht, weil es etwas Neues ist, und, wenn es verstan
den wird, zeigen kann, wie man vor die breite Masse mit
Weltanschaulichem hintreten muss.» (Leben im dritten
Jahrtausend, Vortrag vom 10. Juni 1922, S. 278-287; in
der Textbearbeitung der GA: GA 83, S. 254-263).
62
Diese Ausführungen Rudolf Steiners machen deutlich, wa
rum es ihm ein großes Anliegen war, selbst seine inhaltlich
anspruchsvolle Philosophie der Freiheit so zu schreiben,
dass jeder Mensch sie verstehen kann.
"Der Mensch sehnt sich nach Anthroposophie, weil er
in seinem Alltag den Materialismus überwinden möchte.
Der Bürger empfindet hingegen eine nicht immer zum Be
wusstsein gebrachte Abneigung gegen die Anthroposophie,
weil er es schwer hat, mit dem Geist Ernst zu machen und
sein materialistisches Leben zu ändern. Der Wissenschaft
ler kann nicht anders, als die Anthroposophie unschädlich
zu machen. Er behandelt sie wie eine Weltanschauung unter
anderen, die der Vergangenheit angehören. Was sie einma
lig macht - so das nicht offen eingestandene, aber offen
kundige Fazit von Prof. Clement-, ist der in der Geschichte
des Abendlandes einzigartige Größenwahn Rudolf Steiners.
Der Schlüssel zum Weg nach vom, zum Gedeihen der
Anthroposophie nicht nur im privaten Leben, sondern in
allen Lebensbereichen, liegt in der Besinnung auf die Tat
sache, dass in jedem Menschen der Mensch lebt. Zu einer
solchen Besinnung kann nicht eine Gruppe oder eine Ge
sellschaft kommen. Sie kann nur im Innersten des Indivi
duums geschehen. Jede Individualität, die den Mut findet,
zum Menschen in sich selbst zu finden - zum Menschen
auch im Anthroposophen, zum Menschen auch im Mitglied
der Anthroposophischen Gesellschaft oder der «Klasse»-,
wird zur Anthropos-Sophia, zur Weisheit vom Menschen
finden können. Denn nicht der Bürger, der Wissenschaftler
oder der Anthroposoph sucht die Anthroposophie, sondern
63
der Mensch im Bürger, der Mensch im Wissenschaftler und
der Mensch im Anthroposophen. Das ist die hoffnungsvolle
Perspektive der Anthroposophie, dass sie vom Menschen in
jedem Menschen mit aller Kraft gesucht wird!
Das ist auch der Weg, auf dem Rudolf Steiner aus der
unerträglichen, aber auch nicht überzeugenden Lage des
Einzel- oder Sonderfalls erlöst werden kann. Der demokra
tische Sinn des modernen Bürgertums verlangt die Gleich
heit aller Menschen. Die akademische Welt meint, Ernst
damit zu machen, indem sie dekretiert: Den Sonderfall
eines Wissenschaftlers in geistigen Dingen kann es nicht
geben, darf es nicht geben.
Es liegt an jedem Menschen, der es will, mit seinem Le
ben den Beweis zu erbringen, dass Rudolf Steiner ganz und
gar nicht ein Einzel- oder Sonderfall ist, sondern lediglich
ein «Erstfall». Jeder Mensch ist gleich jedem anderen befä
higt, im Laufe seiner Entwicklung zu einem Geisteswissen
schaftler zu werden. Der bürgerlich-akademische Macht
spruch sieht die Gleichheit aller Menschen darin, dass kei
ner ein Geisteswissenschaftler sein kann. Im freien Indivi
duum strebt die Menschheit nach jener Gleichheit, in der
alle Menschen gleichermaßen Geisteswissenschaftler sind.
Ich weiß, damit ist sehr viel und sehr wenig gesagt, aber
ich habe schon zu lange geschrieben und danke dem Leser,
der es mit mir bis zum Ende ausgehalten hat.
64