Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

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Pietro Archiati 'GEISTESWISSENSCHAFT IM 3. JAHRTAUSEND Anlässlich der Erscheinung von SKA Band 5 Rudolf Steiner

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Anlässlich der Erscheinung von SKA Band 5

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Pietro Archiati

'GEISTESWISSENSCHAFT IM 3. JAHRTAUSEND

Anlässlich der Erscheinung

von SKA Band 5

Rudolf Steiner

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Page 2: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Inhaltsverzeichnis

1. C. Clements «Einleitung» zu Band 5 der SKA

Gibt es überhaupt eine Geisteswissenschaft? s. 7

II. Versuch der Einsargung der Anthroposophie

Der Glaube und der Geist als Privatsache S.29

III. Hat die Anthroposophie eine Zukunft?

Die amtlichen Vertreter und das freie Individuum S.45

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I.

C. Clements «Einleitung» zu Band 5 der SKA

Gibtes überhaupt eine Geisteswissenschaft?

Im Folgenqen versuche ich, einige wesentliche Gedanken

der «Einleitung» von Prof. Christian Clement zu Band 5 -

Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsge­

schichte - der Reihe: Rudolf Steiner, Schriften - Kritische

Ausgabe (SKA) aufzugreifen und sie vor allem in Bezug auf

den Geist, der aus ihnen spricht, zu hinterfragen. Das von mir

Zitierte kann selbstverständlich nicht die Lektüre dieser «Ein­

leitung>> ersetzen. Ich habe mich aber bemüht, so vorzugehen,

dass von dem von Clement Geschriebenen nichts fehlt, was

nötig ist, um meine Erörterungen nachvollziehen zu können.

Christian Clement spricht in seiner «Einleitung» zu

Steiners Mystik und Christentum* von «konzeptionel­

len Umrissen der später ausgebildeten Anthroposophie»

(S. XXIX). Darin soll sich die «Methode [ ... ] anthropo­

sophischen Forschens [ ... ]nämlich die Weiterbildung der

phänomenologisch-morphologischen Methode Goethes

durch deren Anwendung auf Seelisches und Geistiges»

(S.XXIX-XXX) bewahrheiten. Clement führt weiter aus:

«Wie Goethe versucht hatte [ ... ] so unternahm Steiner

hier den Versuch einer morphologischen Rückführung

*Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901 ); Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums (1902).

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der verschiedenen Formen des sich entwickelnden Be­

wusstseins - Mythos, Philosophie, Religion, Mystik,

Kunst und Wissenschaft- auf eine einzige geistig-see­

lische Grundgestalt. Diese Grundgestalt, diesen <Pro­

teus> aller menschlichen Vorstellungsbildung, sah er in

der Selbsterfahrung des Geistes im Denk-Erlebnis bzw.

im Ich-Erlebnis des Menschen.» (S.XXX).

Diesen Ausführungen liegt eine unausgesprochene Annahme

zugrunde. Sie lautet: Alles, was der Mensch hervorbringt,

entspringt einer einzigen Quelle, die Clement «menschli­

che Vorstellungsbildung» nennt. Alle Ausführungen in sei­

ner «Einleitung» ergeben sich, wie sich zeigen wird, aus die­

ser Grundannahme, die nicht thematisiert wird. Das «Denk­

bzw. Ich-Erlebnis» wird zwar von ihm als die «Grundge­

stalt» aller «Vorstellungsbildung» dargestellt, aber aufge­

fasst als ein das Denken und das Ich gleichsetzendes «Er­

lebnis», ist es selbst ein Ergebnis der Vorstellungsbildung.

Das Wesentliche beim Phänomen Steiner liegt in der

Aussage, dass der Mensch das Denken weiterentwickeln

kann. Alles nicht sinnlich Wahrnehmbare, alle Inhalte von

«Mythos, Philosophie, Religion» usw., können vom Denken

genauso als Wahrnehmung erlebt werden wie die Gegen­

stände der sinnlichen Wahrnehmung. Es kann durch Wei­

terentwicklung des Denkens auch das Geistige als Wahr­

nehmung erlebt werden. Einer solchen Wahrnehmung

gegenüber kann das Denken genauso tätig werden wie an­

hand der Wahrnehmung im Sinnlichen. Dadurch entstel\t

eine früher nie dagewesene, ganz andersartige «Form

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des [ ... ]Bewusstseins». Clement kennt in seiner «Einlei­

tung» nur eine Art der Wahrnehmung, es ist nirgendwo die

Rede von einer Wahrnehmung im Geistigen, weshalb für

ihn alle «Formen des [ ... ]Bewusstseins» nur verschiede­

ne"Arten der «Vorstellungsbildung» sein können. So wird

das Wesen von Steiners Geisteswissenschaft in allen seinen

Ausführungen im Grunde gar nicht berührt.

In Steiners Philosophie der Freiheit, dem Fundament

der Anthroposophie, geht es nicht um eine abstrakt-un­

bestimmte, keine wissenschaftliche Erkenntnis ergeben­

de «Selbsterfahrung des Geistes im Denk-Erlebnis biw.

im Ich-Erlebnis des Menschen». Es geht vielmehr um die

Wahrnehmung des Denkens und um die Begriffsbildung

über das Denken anhand dessen Wahrnehmung. Das Den­

ken wird als erste rein geistige «Wesenheit» (R. Steiner) er­

fasst, die für jeden Menschen wahrnehmbar ist. Aufgrund

einer solchen Wahrnehmung und dmch Bildung des ent­

sprechenden Begriffs entsteht eine objektiv-wissenschaft­

liche Erkenntnis des Denkens als eine rein geistige Wirk­

lichkeit. Das ist der Anfang einer Geisteswissenschaft, die

neben dem Denken vieles andere durch Wahrnehmung im

rein Geistigen und durch denkende Begriffsbildung objek­

tiv erkennt, und deren Methode dieselbe ist, wie sie für

die Naturwissenschaft gilt. Die Forschungsergebnisse die­

ser Geisteswissenschaft sind nicht anders und nicht weni­

ger gesichert als die der Naturwissenschaft.

Prof. Clement bleibt seiner Grundannahme treu, indem

er meint, besser als Rudolf Steiner zu wissen, woher die In­

halte des Buches Das Christentum als mystische Tatsache

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stammen. So lässt er aufS.XXX-XXXI im Text seine eige­

ne Meinung darüber vorangehen und verweist Steiners

Aussage auf den bescheidenen Platz einer Fußnote. Hier

aber sei zuerst die Aussage Rudolf Steiners angeführt:

«Was im <Christentum als mystische Tatsache> an

Geist-Erkenntnis gewonnen ist, das ist aus der Geist­

welt selbst unmittelbar herausgeholt. Erst um Zuhö­

rern beim Vortrag, Lesern des Buches den Einklang des

geistig Erschauten mit den historischen Überlieferun­

gen zu zeigen, nahm ich diese vor und fügte sie dem In­

halte ein. Aber nichts, was in diesen Dokumenten steht,

habe ich diesem Inhalte eingefügt, wenn ich es nicht

erst im Geiste vor mir gehabt habe.» (Mein Lebens­

gang, Kap. XXVI.).

Christian Clement führt dazu aus:

«So trat Steiner hier einerseits als Gelehrter auf, der

historisch greifbare Texte und Autoren bespricht und

sachlich deutet; andererseits nahm er, zumindest im

biographischen Rückblick, für sich in Anspruch, in

· diesen Büchern vor allem über seine eigene mystische

Erfahrung zu sprechen und die jeweils besprochenen

Denker und Theoreme nur zur Illustration anzufüh­

ren.» (S.XXX).

Clement behauptet, Steiner würde als «Gelehrtem auftre­

ten. Dem widerspricht die Aussage Steiners, dass er - ganz

im Gegensatz zu einem «Gelehrtem> - wie jemand auftre; ..

ten will, der das schildert, was er «aus der Geistwelt selbst

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unmittelbar herausgeholt» hat, was von ihm «an Geist-Er­

kenntnis gewonnen ist». Es hat noch keinen «Gelehrten»

gegeben, der solches von sich behauptet hätte. Clement re­

det davon, dass Steiner «Texte und Autoren bespricht und

sachlich deutet». Das widerspricht wiederum der erklär­

ten Absicht Steiners, «den Einklang des geistig Erschau­

ten mit den historischen Überlieferungen» zeigen zu wol­

len. Steiner will das Überlieferte dem Inhalt lediglich «ein­

fügen». Es ist ganz und gar nicht seine Absicht, sie zu «be­

sprechen», er will sie schon gar nicht «sachlich deuten».

Prof. Clement fährt fort: «[ ... ] nahm er, zumindest im

biographischen Rückblick, für sich in Anspruch, in die­

sen Büchern vor allem über seine eigene mystische Erfah­

rung zu sprechen[ ... ]». Das ist weit von dem entfernt, was

Steiner «für sich in Anspruch» nimmt. Unzählige Male hat

er seine innere Erfahrung - wenn man sie so nennen will -

von jeder «mystischen Erfahrung» abgegrenzt, sie sogar als

Gegensatz dazu dargestellt. Das von Clement Zitierte sagt

deutlich, dass den Ausführungen Steiners in Christentum

die direkte Wahrnehmung des Geistigen zugrunde liegt.

Clement gibt vor, sachlich-objektiv das wiederzuge­

ben, was Steiner für sich in Anspruch nimmt. In Wirklich­

keit entstellt bzw. fälscht er Steiners Aussagen darüber. Das

Wesentliche der Anthroposophie ist die wissenschaftliche,

das heißt durch Wahrnehmung und Denken gewonnene Er­

kenntnis der geistigen Welt. Dadurch entsteht eine nach al­

len Seiten ausgebaute und inhaltlich komplexe Geisteswis­

senschaft. Indem eine solche Geisteswissenschaft sich auf

direkte Wahrnehmung des Geistigen gründet, steht sie im

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Gegensatz zu jeder «mystischen Erfahrung», die keine ob­

jektiv-wissenschaftliche Erkenntnis ergibt.

Weil aber Clement eine solche Art der Wahrnehmung

nicht kennt oder nicht anerkennt, wirft er Steiner vor, dass

er für eine saubere Quellenforschung «das nötige wissen­

schaftliche Rüstzeug nicht besaß» (S.XXXI). Indem er

Steiners Geisteswissenschaft als bloßes Ergebnis einer

«menschlichen Vorstellungsbildung» oder einer «mysti­

schen Erfahrung» bezeichnet, erreicht er mit einem Schlag,

dass die Anthroposophie buchstäblich vom Tisch aller sei­

ner Ausführungen gefegt ist. Der Begriff des Geistigen als

Realität, die objektiv-wissenschaftlich durch Wahrneh­

mung und Begriffsbildung erkannt werden kann, kommt

in seiner «Einleitung» nicht vor.

Auf S. XXXII fasst Clement nochmals seine Interpre­

tation des Phänomens Steiner zusammen. Er redet von

«Steiners Methode der Interpretation». Damit verkennt er

wiederum völlig, dass Steiners Geisteswissenschaft nicht

das Ergebnis einer «Interpretation» von irgendetwas durch

«menschliche Vorstellungsbildung» ist, sondern genau das

Gegenteil davon.

Die drei Faktoren, aus denen sich laut Clement Steiners

Methode ergeben soll, werden von ihm wie folgt formu­

liert (S. XXXII). Das Erste ist die «morphologische Be­

trachtungsart» im Sinne Goethes und deren «Anwendung

auf Seelisches und Geistiges». Es bleibt dabei aber offen,

was geschieht, wenn Goethes Metamorphosenlehre auf­

hört, eine bloße Lehre zu sein, wenn sie zur realen Wand~,,

lung der eigenen Seele und des eigenen Geistes wird. Das

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Zweite, was Clement Steiner zuschreibt, ist ein «radikaler

Individualismus». Dieser Begriff bleibt ebenfalls abstrakt,

denn er kann im Sinne des «ethischen Individualismus»,

von dem in der Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners

die Rede ist, richtig verstanden aber auch missverstanden

werden. Das Dritte wird ausführlicher dargestellt:

«Drittens ergab sich Steiners Methode der Interpreta­

tion durch Selbstprojektion aus der mystischen Grund­

haltung selbst: Wer das menschliche Innere als denjeni­

gen Bereich ansieht, in dem allein das Wesen aller Din­

ge sich offenbart, der ist schließlich nur konsequent,

wenn er dieses Wesen auch dann aus dem eigenen Ich

zu ziehen sucht, wenn er die Manifestation dieses We­

sens im Denken anderer Persönlichkeiten darzustellen

unternimmt. In den Schriften von 1901 und 1902 ging

es Steiner also[ ... ] um eine bewusst subjektiv-persön-~ .

lieh gefärbte [ ... ] Betrachtung verschiedener Gestal-

tungen dieses Wesens im menschlichen Bewusstsein.

Ziel [ ... ] war, das zentrale Postulat von der Bedeutung

der Selbst-Erkenntnis als Ursprungsort der innerhalb

der Kulturentwicklung auftretenden Jenseits- und Na­

turvorstellungen zu illustrieren und zu legitimieren.»

Auch diese Ausführungen, in denen keine Unterscheidung

von Wahrnehmung und Begriff erkennbar ist, sind vol­

ler Abstraktionen. Ohne Eindeutigkeit der Wahrnehmung

kann sich das Denken beliebig in alle Richtungen bewe­

gen. So behauptet Clement im ersten Teil: Wo «Selbstpro­

jektion>> stattfindet, werde das eigene Selbst in alle Dinge

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hineinprojiziert. Dies schließt aber aus, dass auf objektive

Weise «das Wesen aller Dinge sich offenbart». Wer «aus

dem eigenen Ich zu ziehen sucht» die Inhalte, die «im Den­

ken anderer Persönlichkeiten» sind, kann nur deren Fäl­

schung betreiben. Im zweiten Teil des Zitats wird dann

das Gegenteil behauptet. Nachdem gerade davon die Rede

war, dass sich bei Steiner das eigene Selbst in «alle Din­

ge» durch «Selbstprojektiom> hineinversetzt, soll sich jetzt

umgekehrt das Wesen aller Dinge in das menschliche Be­

wusstsein hineinprojizieren, es soll eine «Betrachtung ver­

schiedener Gestaltungen dieses Wesens im menschlichen

Bewusstsein» stattfinden. Dies alles gilt für Clement als

Bestätigung seiner Grundannahme, dass bei Steiner alles

«bewusst subjektiv-persönlich gefärbt» bleibt.

Über viele Seiten hinweg wird Prof. Clement nicht mü­

de, seine Deutung des Phänomens Steiner dem Leser durch

zahlreiche, zuweilen langatmig variierte Wiederholungen

einzuschärfen. So heißt es auf S. XXXVI:

«Diese Idee einer letztlichen Identität von <Welt> und

<Ich>, von Sein und Bewusstsein und das Verständnis

· der menschlichen Freiheit als Vollzugsort der Selbst­

schöpfung des Weltwesens: das waren die aus dem

deutschen Idealismus rezipierten zwei <Wurzelgedan­

ken> [ ... ] von Steiners philosophischem Frühwerk.»

Auch hier fehlt das, was bei Steiner das Entscheidende und

bis heute in der Menschheit Einmalige ist: der Begriff und

die Erfahrung einer Wahrnehmung im Geistigen, die für da~,.

Denken alle Eigenschaften der sinnlichen Wahrnehmung

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besitzt - vor allem die Haupteigenschaft, dem Denken

gegenüber ein rein Negatives, ein wesenloses Spiegelbild

zu sein. Solange die «Identität von <Welt> und <Ich»> nicht

an irgendeinem Zipfel wahrgenommen wird - wie das in

Steiners Philosophie der Freiheit in Bezug auf das Den­

ken selbst geschieht -, bleibt sie eine völlig inhaltsleere

Abstraktion, die alle möglichen Deutungen zulässt.

Die Wahrnehmung ist immer konkret. Wer anhand der

Wahrnehmung denkt, kann nur beschreiben, schildern oder

erzählen, was er jeweils wahrnimmt. Auch das «Erklären»

einer Sache ergibt sich aus den vielen Wahrnehmungen, die

die Sache in ihrem Sein und Wirken von den verschiedensten

Seiten beschreiben. Deshalb sieht Steiner die Weiterentwick­

lung des Denkens darin, dass es möglichst wirklichkeitsge­

mäß und allseitig wird. Ich nehme niemals die «Welt» wahr,

nicht einmal das Birkenblatt nehme ich wahr, sondern ge­

rade dieses Birkenblatt. Und auch davon nehme ich jeweils

etwas anderes wahr: seine Farbe, seine Form, diese oder je­

ne Eigenschaft- ohne Ende. Wenn aber das Denken von der

Wahrnehmung abstrahiert, von ihr absieht, kann es behaup­

ten, was es will, weil es nicht an der Wahrnehmung geprüft

werden kann. Das Reden von «Welt» und<dch>>, gar von de­

ren «letztlichen Identität», besagt alles und nichts.

Durch Weiterentwicklung des Denkens entsteht Steiner

zufolge für das Denken selbst ein Gegenüber im rein Geis­

tigen, ganz wie bei der sinnlichen Wahrnehmung. Dieses

Gegenüber, das Steiner Imagination nennt, ist wie die sinn­

liche Wahrnehmung das leere, wesenlose Bild einer Wirk­

lichkeit. Das Denken ergänzt durch Begriffsbildung, die

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Steiner Inspiration nennt, die geistige Wahrnehmung nicht

anders als die sinnliche. Das Gewahrwerden einer geisti­

gen Wirklichkeit führt die Wahrnehmung im Übersinnli­

chen (Imagination) und die Begriffsbildung anhand dieser

Wahrnehmung (Inspiration) zu einer objektiven Wesens­

erkennung (Intuition), nicht anders als bei der sinnlichen

Wahrnehmung. Dies alles verbietet, die Wahrnehmung im

Geistigen als «Vorstellungsbildung» zu bezeichnen, die

einen bloß subjektiven Charakter hat und keine objektive

Erkenntnis ermöglicht. Imagination, Inspiration und Intui­

tion sind für Steiner drei verschiedene Bewusstseinszustän­

de, die neben dem normalen tagwachen Bewusstseinszu­

stand bestehen können und die jeweils das Erkennen von

zunächst unbekannten Welten ermöglichen.

Es ist hier nicht der Ort für eine eingehendere erkennt­

nistheoretische Auseinandersetzung. Diese findet sich ur­

bildlich im ersten Teil der Philosophie der Freiheit Rudolf

Steiners. Dort findet der Leser die Widerlegung des Grund­

dogmas des abstrakten Intellektualismus, das Wahrnehmung

und Vorstellung gleichsetzt. Steiner wird nie müde zu beto­

nen: Bei der Wahrnehmung täuscht das Objekt, das Gegen­

über, das als ein Äußerliches erscheint, eine volle Wirklich­

keit vor, die es nicht hat, die es nicht ist. Das Denken bringt

intuitiv den Begriff hervor, die der Wahrnehmung fehlen­

de Seite der Wirklichkeit. Es stiftet volle Wirklichkeit im

Umgang sowohl mit der sinnlichen als auch mit der über­

sinnlichen Wahrnehmung. So gesehen ist die Vorstellung

nichts anderes als eine Wahrnehmung, die am eigenen In,:,

neren gemacht wird, und die wie jede andere Wahrnehmung

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nur durch das Denken volle Wirklichkeit werden kann. Al­

le «Vorstellungsbildung», um Clements Kategorie zu ge­

brauchen, darf für das Denken nur als Wahrnehmung gelten.

Den inneren Weg, auf dem der Mensch objektive Er­

kenntnis der geistigen Welt erlangt, hat Rudolf Steiner im­

mer wieder in seinen Büchern und Vorträgen beschrieben.

Sein Bericht über die drei erwähnten Stufen der übersinn­

lichen Erkenntnis zeugt von einem bis heute einzigarti­

gen Phänomen in der Entwicklung des menschlichen Be­

wusstseins. Es zeugt von einer neuen Stufe in der Entwick­

lung des Denkens überhaupt. Von diesem Epochalen ist bei

Clement nirgendwo die Rede. Er meint, Steiner mit den­

selben Erkenntnismitteln verstehen zu können, mit denen

man den Denker Hegel oder den Mystiker Böhme verste­

hen kann. Diese machen aber keinen Anspruch auf vollgül­

tige Wahrnehmung im Übersinnlichen geltend - auf eine

«Geisteswissenschaft», die der Naturwissenschaft wesens­

gleich ist. Sie haben auch nichts von der inhaltlichen Fül­

le an Wahrnehmungen im Geistigen aufzuweisen, aus der

heraus Steiner ein Leben lang berichtet hat.

Weil Clement für den Bereich des Übersinnlichen Vor­

stellung und Wahrnehmung nicht voneinander unterschei­

det, schreibt er so, als ob die von Steiner geschilderten

Wahrnehmungen seine eigenen wären. Wenn Steiner Geis­

tiges wahrnimmt, denkend durchdringt und die Ergebnis­

se seiner geisteswissenschaftlichen Forschung darstellt,

so kann das jeder andere Mensch, der das hört oder liest,

denkend verstehen. Aber das Wahrnehmen und Verstehen

von Steiners Gedanken bedeutet nicht, dass man selbst das

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wahrnimmt, was Steiner wahrnimmt. Clement schreibt

aber so, als ob er aus eigener Wahrnehmung wüsste, wo­

von Steiner redet. Dies deshalb, weil ihm der Begriff einer

Wahrnehmung im Übersinnlichen gänzlich fehlt. Er denkt,

was Steiner an Erkenntnissen gewonnen hat, könne nur

durch die «Vorstellungsbildung» entstanden sein, die je­

dem Menschen zur Verfügung steht. So schreibt er weiter

aufS.LXXI:

«So läuft seine Betrachtung der Antike und des frü­

hen Christentums letztlich auf ihn selbst und sein Werk

als Zielpunkt der abendländischen Geistesentwicklung

hinaus. Wie ein gutes Jahrhundert zuvor Hegel fühlte

sich auch Steiner spätestens um 1910 als Träger eines

in der Weltentwicklung sich verwirklichenden Geis­

tes, der ihn [sie!] ihm und seiner Weltanschauung sei­

ne höchste Entwicklungsstufe gefunden hatte.»

Prof. Clement bleibt bis zuletzt seiner nicht bewusst the­

matisierten Grundannahme treu. Er definiert Steiners Geis­

teswissenschaft als spekulativ entstandene, sich verabso­

lutierende «Weltanschauung», und stellt sie als menschli­

che Hybris, als unerhörten Größenwahn dar. Dabei tut er

selbst das, was er Steiner zuschreibt: Er meint, das Phäno­

men Steiner beurteilen zu können von einer höheren Warte,

als Steiner selbst dies in der Selbsteinschätzung vermochte.

Die zentrale Frage bleibt bis zuletzt unberührt, die Frage:

Wenn Rudolf Steiner in Mein Lebensgang davon spricht,

dass alle Inhalte seines Christentums «aus der Geistwelt "-1 ~.

selbst unmittelbar herausgeholt» - das heißt, unmittelbar

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wahrgenommen - sind, meint Prof. Clement, dass Steiner

lügt? Oder meint er, dass Steiner sich täuscht oder irrt?

Nach allen seinen Ausführungen kann es nur eins von bei­

den sein, weil er kein Wahrnehmen im Geistigen kennt,

das eine objektiv-wissenschaftliche Erkenntnis geistiger

Wirklichkeit ermöglicht. Und weil er das nicht kennt, kann

er sich auch nicht seine Grundannahme zum Bewusstsein

bringen und aussprechen.

Dieses Schweigen hat auch einen psychologischen

Grund. Eine solche Annahme, einmal bewusst gemacht und

ausgesprochen, würde sogleich ihren unwissenschaftlichen

Charakter zeigen. Denn es ist nicht möglich, wissenschaft­

lich zu beweisen, dass eine wissenschaftlich-objektive Er­

kenntnis der geistigen Welt durch Wahrnehmen und Den­

ken bei keinem Menschen und zu keiner Zeit stattfinden

kann. Man kann nur sagen, dass man selbst eine solche Er­

kenntnis nicht kennt, dass man nicht weiß, was damit ge­

meint ist - und dass man deshalb als Wissenschaftler dazu

nur schweigen kann.

Um ein konkretes, von Clement selbst erwähntes Bei­

spiel zu nennen: Wenn Steiner über die Kindheitsgeschichte

des Jesus spricht oder schreibt, woher hat er die dargestell­

ten Inhalte? Für Clement gibt es nur zwei mögliche Quellen:

andere Autoren und die eigene «menschliche Vorstellungs­

bildung» oder «mystische Erfahrung». Aber beide Quellen

werden von Steiner unmissverständlich ausgeschlossen. Er

beansprucht für sich selbst eine wissenschaftliche Erkennt­

nis des Übersinnlichen, von der bei keinem noch so gro­

ßen der vergangenen Denker oder Mystiker die Rede war.

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Diese ist nur durch eine Metamorphose des Denkens selbst

möglich, wodurch das Denken eine qualitativ neue, in der

Menschheit zuvor nie dagewesene Stufe seiner Entwicklung

erreicht. Durch eigene Wahrnehmung, Begriffsbildung und

Wesenserkennung in der Erforschung der geistigen Welt er­

gänzt Rudolf Steiner auch die Inhalte der vier Evangelien.

Weil aber Clement dogmatisch verfügt, dass es keine sol­

che objektiv-wissenschaftliche Erkenntnis des Geistigen

gibt, bringt er es fertig, Folgendes zu schreiben:

«Zugleich entwickelte er hochkomplexe Vorstellungen

über die Zusammensetzung der Wesensglieder des das

Christuswesen tragenden Jesus: sein <Astralleib> sei

der des früheren Buddha gewesen, sein <Ätherleib> (zu­

mindest teilweise) der des Adam und sein <Ich> das des

Zarathustra. Ja noch mehr, unter Bezugnahme auf die

zwei Stammbäume Jesu bei Matthäus und Lukas[ ... ]

postulierte er die Existenz von zwei Jesusknaben (und

zwei heiligen Familien), welche in einem hochkom­

plizierten Prozess des wechselseitigen Austausches

von Wesensgliedern das hochentwickelte Gebilde des

Jesus-Leibes[ ... ] und damit einen geeigneten mensch­

lichen Träger für den Christus erst möglich gemacht

hätten.» (S.LVI).

Auch hier gilt für Clement: Steiner kann nicht durch unmit­

telbare Wahrnehmung das Geistige des Christus oder des Je­

sus objektiv-wissenschaftlich erkannt haben. Auch in Bezug

auf den Christus-Geist soll Clements Machtspruch geltei;i„

dass Steiner lediglich «hochkomplexe Vorstellungen» bloß

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Page 17: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

rationalistisch «entwickelte». Clement selbst postuliert ge­

radewegs, dass Steiner seine Angaben über die zwei Jesus­

Knaben einfach «postulierte», das heißt, frei erfunden habe.

Steiner redet von zwei Jesus-Knaben und von zwei

entsprechenden Familien - die fromme Bezeichnung der

zwei Familien als «heilig» stammt von Clement, nicht von

Steiner. Dazu in aller Kürze: Ob es einen oder zwei Jesus­

Knaben gegeben hat, kann nur die Wahrnehmung entschei­

den. Das Matthäus-Evangelium redet von einem Jesus­

Knaben, das Lukas-Evangelium redet auch von einem Jesus­

Knaben. Bei genauerem Hinsehen, beim genaueren Wahr­

nehmen der Inhalte beider Texte, entdeckt man, dass ihre

Angaben über den Jesus so gut wie nichts gemeinsam

haben. Nur eine Einzelheit herausgegriffen: Der Jesus­

Knabe bei Matthäus flieht nach Ägypten, wo er jahrelang

bleibt; der Jesus-Knabe bei Lukas kehrt nach der Geburt

nach Nazareth zurück, wo er aufwächst. Die wichtige Fra­

ge für den historisch-kritisch die Evangelien Erforschenden

lautet: Kann das ein und derselbe Knabe sein?

Rudolf Steiner weist aus seiner geisteswissenschaftli­

chen Forschung heraus darauf hin, dass sowohl Matthäus

wie auch Lukas getreu das wiedergeben, was sie im Geis­

tigen sehen. Er fügt hinzu, dass seine eigene geistige Er­

forschung des damals Geschehenen in allen Einzelheiten

nur bestätigen kann, was in beiden Evangelien geschrieben

steht. Aber Clement weiß es besser: Steiner «postulierte»

die Existenz von zwei Jesus-Knaben.

Prof. Clements Dogma, Steiner hätte durch «christo­

logische Theoriebildung» (S. LIV) die Existenz von zwei

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Page 18: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Jesus-Knaben «postuliert», ist nicht nur unwissenschaft­

lich, es ist zudem wissenschaftsfeindlich. Wissenschaft­

lich wäre es, bewusst und ehrlich seine Grundprämisse

zu thematisieren, dass es eine wissenschaftliche Erkennt­

nis des Geistigen durch Wahrnehmung und Denken nicht

geben kann, und dann zu versuchen, die Geisteswissen­

schaft Steiners als auf einem Irrtum oder einer Selbsttäu­

schung beruhend zu widerlegen. Unwissenschaftlich ist es

aber, sich seiner Grundannahme nicht bewusst zu werden

und sie ungeprüft als unumstößliches Dogma gelten zu las­

sen. Und wissenschaftsfeindlich ist: Das eigene Dogma als

Machtspruch walten zu lassen, der jeden der Unwissen­

schaftlichkeit zeiht, der sich wie Steiner nicht fügt. So kann

man mit akademischer Vollmacht versuchen, das Entstehen

einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Geistigen in der

Menschheit zu verhindern.

Aber noch etwas anderes liegt hier vor. Steiners «Vor­

stellungen» über Jesus bezeichnet Clement als «hochkom­

plex». Das ist so vernünftig, wie wenn jemand einem Ana­

tom vorwerfen würde, dass er «hochkomplexe Vorstellun­

gen über die Zusammensetzung» des physischen Organis­

mus «entwickelt». Jede Wirklichkeit, die in ihrer Objektivi­

tät erkannt wird, weist eine unendliche Komplexität auf, sei

sie ein Sonnensystem oder ein Birkenblatt. Clement argu­

mentiert aber wie jemand, der dem Anatom zweierlei vor:..

wirft: erstens, dass er etwas «postuliert», das es nicht gibt;

zweitens, dass er unterstellt, etwas sei «hochkomplex», was

hingegen ganz einfach ist. Genau so verfährt Clement mit Steiner.

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Page 19: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Das ist alles mit derselben Logik gedacht, mit der Cle­

ment an anderer Stelle schreibt, «unmöglich» sei eine

Steigerung von «unwahrscheinlich». Er unterstellt sogar,

Rudolf Steiner selbst hätte sich zu dieser Clement' sehen

«Idee» aufgeschwungen, die die physische Wiederverkör­

perung des Christus in Krishnamurti als «unwahrschein­

lich, ja unmöglich erscheinen» (S. LVII) lässt. Der gesunde

Menschenverstand sagt: Das, was «unwahrscheinlich» ist,

muss möglich sein, es kann nicht «unmöglich» sein; und

das, was <<Ulllllögliclm ist, kann weder wahrscheinlich noch

«unwahrscheinlich» sein.

In allen Ausführungen von Clements «Einleitung» gibt

es nur, was sich der Mensch - ganz gleich, ob er Clement

oder Steiner oder sonstwie heißt - intellektualistisch-ratio­

nalistisch ausdenkt, das heißt abstrakt-spekulativ hervor­

bringt, ohne sich um die Wahrnehmungsseite des Ausge­

dachten zu kümmern. Wenn aber das~Wahrnehmungsele­

ment fehlt, hat man ebenso wenig eine Wirklichkeit, wie

wenn das Begriffselement fehlt- ein Kerngedanke der Phi­

losophie der Freiheit Rudolf Steiners. In der rein intellek­

tualistischen Abstraktion, die die Wahrnehmung nicht be­

achtet, kann man ungestraft alles beweisen und zugleich al­

les widerlegen. Kants Antinomien der reinen Vernunft sind

ein berühmtes Beispiel dafür.

Clements «Einleitung» wimmelt von Formulierungen,

die nur beweisen, dass das abstrakt-intellektualistische Den­

ken, indem es der Wahrnehmung in ihrer Eindeutigkeit

aus dem Wege geht, immer nach allen Seiten recht behal­

ten kann. So, wenn Clement schreibt, dass Steiner in der

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Page 20: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Philosophie der Freiheit «das Denken als Element des Ur­

sprungs der Welt identifizierte» (S.XLIII). Alle fünf Begrif­

fe dieser Formulierung können in verschiedene Richtungen

gedeutet, präzisiert oder weiterentwickelt werden, je nach­

dem, wie man es braucht. Diese Beliebigkeit im Beweisen

erklärt auch, dass eine Reihe von acht Bänden mit Band 5

beginnt, in welchem Clement beteuert, dass Steiners Mystik

und Christentum seiner Interpretation der Philosophie der

Freiheit zufolge in voller Kontinuität zu diesem Werk ste­

hen, ohne dem Leser die Wahrnehmung dieser Interpretation

zu geben. Er muss wohl meinen, dass der Leser sie gar nicht

brauche. Sie soll erst später in Band 2 nachgeliefert werden.

Oder man nehme S.XLVII-XLVIII, wo wieder überse­

hen oder ignoriert wird, dass Steiner eindeutig von eigenen

Wahrnehmungen im Geistigen spricht:

«Und in seiner Autobiographie von 1924/25 knüpfte er

noch einmal an diesen Topos an, als er von einem per­

sönlichen geistigen <Gestanden-Haben vor dem Mys­

terium von Golgatha in innerster ernstester Erkennt­

nis-Feien sprach und sich so in gut böhmescher Ma­

nier selbst in die Menge der unmittelbaren Zeugen der

Kreuzigung Christi einreihte.»

Clement gliedert das Wort «geistigen» aus dem Zitierten

heraus, obwohl es dazugehört, und lässt sein eigenes Wort

«persönlichen» vorangehen, als ob persönlich und geistig

gleichbedeutend wären. So ist es aber nicht: Was «persön­

lich» ist, ist subjektiv, ganz und gar nicht objektiv; und w~s

«geistig» ist, ist objektiv, ganz und gar nicht subjektiv. Was

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Page 21: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

persönlich ist, ist bei jedem anders; was geistig ist, ist für

alle gleich. Wenn man es fertig bringt, «persönlich» und

«geistig» gleichzusetzen, wird das Denken so abstrakt, dass

man damit alles behaupten kann, was man nur will. Es fehlt

dann dem Denken die eindeutige Ergänzung, die ihm nur

die Wahrnehmung geben kann.

Und als Folge seiner Gleichsetzung von «persönlich»

und «geistig» schreibt Clement über die von Rudolf Steiner

angedeutete geistige Erfahrung so, als ob er aus eigener un­

mittelbarer Wahrnehmung wüsste, wovon Steiner spricht.

Aber schon allein das flapsige Reden von «gut böhmescher

Manien> verrät, dass er von dem tiefste Ehrfurcht Gebie­

tenden wenig Ahnung hat, auf das Rudolf Steiner mit den

zitierten Worten als auf ein von ihm geistig Wahrgenom­

menes hinweist. Mit seinen Ausführungen will Clement le­

diglich beweisen, dass Steinerauch verglichen mit Jakob

Böhme und der «Menge» der ihm ähnlichen Leute nichts

Neues zu sagen hat.

Und wann ist Ehrfurcht geboten? Das ist für mich im­

mer dann der Fall, wenn ich mir bewusst mache, der an­

dere redet aus der unmittelbaren Wahrnehmung, die ich

nicht habe. Wenn ich lese, was Charles Darwin in der süd­

lichen Hemisphäre alles wahrgenommen hat, sage ich mir:

Das kann ich genauso wahrnehmen, wenn ich dorthin rei­

se. Bei Steiner ist es anders: Ich bin noch nicht fähig, das

wahrzunehmen, von dem er sagt, dass er es wahrnimmt, ich

kann das nicht. Steiner redet von seinem «geistigen Gestan­

den-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster

ernstester Erkenntnis-Feiern, und ich weiß nicht aus eigener

25

Page 22: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Wahrnehmung, wovon er redet. Clement stellt sich aber über

Steiner, indem er das von Steiner geistig Wahrgenommene

beurteilt, ohne eine eigene Wahrnehmung davon zu haben.

Er weiß besser als Steiner, inwieweit das von Steiner Berich­

tete mit dem von Böhme mystisch Erlebten vergleichbar ist.

Es ist das unausgesprochene Dogma des modernen In­

tellektualismus, des abstrakten Rationalismus überhaupt: Es

gibt nur eine Art der Wahrnehmung, die sinnliche Wahrneh-

. mung - alles andere ist «Vorstellungsbildung». Der neuzeitli­

che Materialismus ist eine direkte Folge dieses abstrakten In­

tellektualismus, bei dem der Mensch nur die sinnliche Wahr­

nehmung zur Verfügung hat und über alles Nicht-Sinnliche

nur abstrakt spekulieren kann. Dagegen ist das Wesentliche

beim Phänomen Steiner die Weiterentwicklung des Den­

kens zum Organ der Wahrnehmung im Geistigen. Dadurch,

dass Clement die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners als

Ergebnis rein abstrakt-rationalistischer «menschlicher Vor­

stellungsbildung» darstellt, redet er am Phänomen Steiner

buchstäblich vorbei. In seiner «Einleitung» wird die Geistes­

wissenschaft Rudolf Steiners dogmatisch hinwegdekretiert.

Psychologisch betrachtet kann man dieses Phänomen

auch als Verdrängung sehen - Verdrängung in dem Sinne,

dass es höchst unbequem wäre, als Professor sich selbst

gestehen zu müssen, wie unwissend die akademische Wis­

senschaft über die Wirklichkeit des Geistes ist, wie be~

quem der intellektualistische Mensch ist, wenn er die Not­

wendigkeit der Weiterentwicklung des Denkens nicht er­

kennt und diese nicht in Angriff nimmt. Und wo es dann

um das Christentum geht, wird der Christ Clement, der bei

26

Page 23: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

seinem dogmatisch-frommen «Ich und der Vater sind eins»

(S. XXIII) bleiben möchte, besonders ungehalten. Er verrät

deutlich seinen Unwillen: Es darf nicht sein, dass Rudolf

Steiner als erster aller Menschen denkend wahrgenommen

hat: was vor zweitausend Jahren geschehen ist. Das würde

das traditionelle Christentum zu einer höchst unbequemen

Weiterentwicklung herausfordern!

Es ist offensichtlich: Clement fehlt völlig der Begriff

des Geistes als objektive, durch Wahrnehmung und Den­

ken wissenschaftlich zu erkennende Wirklichkeit. Sein un­

ausgesprochenes Dogma, dass das Geistige nicht wissen­

schaftlich erforscht und erkannt werden kann, ist die Fol­

ge seines Unverständnisses bzw. seiner Unkenntnis dessen,

was Geist überhaupt ist. Vom Geist kennt er in seinen Aus­

führungen nur dessen abstrakt-rationalistische Spiegelung

im menschlichen Bewusstsein, die er «menschliche Vorstel­

lungsbildung» oder «mystische Erfahrung» nennt. Er gibt

nirgendwo zu erkennen, ein Bewusstsein davon zu haben,

dass sich eine solche Spiegelung zur geistigen Wirklichkeit

so verhält wie das tote, wesenlose Spiegelbild zu der gespie­

gelten Wirklichkeit - wie die Wahrnehmung zum Denken.

Wenn das Bewusstsein fehlt, dass das Denken, um nicht

seine Grenze zu überschreiten und sich ins wesenlose Ab­

strakte zu verlieren, unentwegt die Ergänzung durch die

Wahrnehmung braucht, wenn man nicht die Grenze der

eigenen Äußerungen kennt, wird man prinzipiell dazu nei­

gen, auch dort dogmatisch vorzugehen und die Wahrneh­

mung zu missachten, wo sinnliche Wahrnehmung mög­

lich ist. So, wenn Clement Aussagen über die Latein- und

27

Page 24: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Griechischkenntnisse Steiners macht (s. S. XXXI), ohne

sich um die Wahrnehmung dessen zu kümmern, was

Steiner selbst darüber in Mein Lebensgang schreibt. Als

Wissenschaftler kann man versuchen, anhand von Fakten

das von Steiner Behauptete zu widerlegen oder zu relati­

vieren, aber kein ernsthafter Wissenschaftler darf es über­

gehen, wenn er darüber schreibt.

Mit der Gebärde des Steiner-Experten behauptet Cle­

ment in seiner «Einleitung» alles Mögliche über Steiner,

ohne auf die Wahrnehmungsseite dessen hinzuweisen, was

er behauptet. Dies bringt uns zurück zum Anfang dieser

Ausführungen, wo Clement von dem redet, was «im Denk­

Erlebnis bzw. im Ich-Erlebnis des Menschen» (S. XXX)

sein soll. Das Denken und das Ich werden wie gleich­

wertig behandelt, obwohl sie in der wichtigsten Hinsicht

gegensätzlich zueinander stehen. Vom Denken kann jeder

Mensch mit normalem Bewusstsein die Wahrnehmung ha­

ben, vom Ich kann sie keiner haben, der nicht das Denken

zu einer neuen Stufe weiterentwickelt hat.

Es mag in der akademischen Welt Sitte sein, der histo­

risch-kritischen Ausgabe eines Werkes solche ellenlangen

Einleitungen vorangehen zu lassen- mit Clements Forde­

rung nach «sauberer Quellenarbeit, Methodenschärfe und

sachlicher Distanz zum Gegenstand» (S. XXXI) hat das

wenig zu tun. Überhaupt zeigt sich das Nicht-Erkennel1

der eigenen Grenze bei Prof. Clement im Unterfangen, als

Herausgeber von Werken einer Geisteswissenschaft aufzu­

treten, deren Gegenstand ihm verborgen bleibt. ,„

28

Page 25: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

II.

Versuch der Einsargung der Anthroposophie

Der Glaube und der Geist als Privatsache

In der «Einleitung» von Christian Clement wird Schlag auf

Schlag die Bedeutsamkeit der scheinbar unscheinbaren pro­

grammatischen Devise klar, die er all seinen Ausführungen

vorangestellt hat. Sie nimmt zwei volle Seiten (S. XXIII und

S. XXIV) in Anspruch und gibt lapidar- im griechischen Ori­

ginal, sodass vor allem aufgeklärte, ihm zu- und dem Chris­

tentum abgeneigte Anthroposophen nicht zu schnell oder

gar nicht dahinterkommen - einen Satz aus dem Johannes­

Evangelium wieder: Ich und der Vater sind eins (S. XXIII):

«8yffi Kai 6 naTI}p sv foµsv

Joh. 10:30»

In einer sich hoch-wissenschaftlich gebenden historisch­

kritischen Textausgabe wird hier der eigene simple Glaube

nicht gerade unaufdringlich zur Schau getragen.

Bevor der Wissenschaftler Prof. Clement überhaupt zu

Wort kommt, stellt sich ostentativ der Gläubige Christian

Clement vor. Voran übergroß der Christus-Bekenner, hin­

terher überlang der Steiner-Stürmer. Seine Botschaft ist

unüberhörbar und unmissverständlich: In geistigen Din­

gen hat die Wissenschaft nichts zu suchen, in Sachen der

Religion hat nur der Glaube etwas zu sagen. Sein Grund­

dogma, dass es keine wissenschaftliche Erkenntnis des

Geistigen geben kann, ist die unmittelbare, nur zu logische

29

Page 26: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Folge - und Forderung - seines Glaubens fundamentalis­

tischer Prägung. Ein solcher Glaube erklärt auch den Hin­

weis - ebenfalls an höchst prominenter Stelle platziert,

nämlich im Impressum auf S. IV ganz oben - auf das Geld,

mit dem die Mormonen der Brigham Young Universität

(USA) den Druck des Bandes unterstützt haben.

Selbst wenn eine solche Universität allen ihren Dozen­

ten eine ähnliche finanzielle Förderung angedeihen lässt,

kann sie das machen, weil sie alles andere als wahllos ihr

Lehrpersonal anstellt. Vernünftigerweise geben die Mor­

monen nur für eine Sache ihr Geld, die sie fördern wollen.

Und was Rudolf Steiner betrifft, können sie, wenn sie mit

ihrem Glauben aufrichtig und konsequent sind, nur eines

fördern wollen: die Vernichtung oder zumindest die Archi­

vierung, die Einsargung seiner Anthroposophie, wie sie in

Clements «Einleitung» mustergültig vollzogen wird. Denn

die Anthroposophie betrachtet alle Formen des alten Glau­

bens als unzeitgemäß - in einer Zeit, wo jeder Mensch fä-

. hig wird, kraft des intuitiv-schöpferischen Denkens nach

wissenschaftlicher Erkenntnis des Geistigen zu streben .

. Der Wille zur Vernichtung der Anthroposophie zeigt sich

bei dem Gläubigen Prof. Clement vor allem dort unverhüllt,

wo es um das Christentum geht. Er redet in diesem Zusam­

menhang von «christologischer Theoriebildung Steiners»

(S. LIV). Er behauptet: Steiner «entwickelte [ ... ] hochkom­

plexe Vorstellungen» (S.LVI) über den Christus und den Je­

sus; Steiner «postulierte[ ... ] die Existenz von zwei Jesus­

knaben» (S. LVI); Steiner <<trat selbst als unmittelbare Quel\.~

direkter und un-erhörter Offenbarungen [ ... ] auf» (S. LVII).

30

Page 27: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Überhaupt das unqualifizierte Reden von «Theoriebildung»

und davon, dass Steiner als Quelle von <<Un-erhörten Offen­

barungen» «auftrat», stellt eine Verkennung, ja Verleum­

dung Rudolf Steiners und seiner Anthroposophie dar. Das

Reuen von «Theoriebildung» entbehrt jeder objektiv-wis­

senschaftlichen Grundlage. Was die «Offenbarungen» an­

geht, hat Steiner Zeit seines Lebens seine Geisteswissen­

schaft als das Gegenteil jeder Offenbarung dargestellt.

Offenbarungen empfmg der Mensch in alter Zeit von der

Gottheit passiv, als er durch Inspiration mit den Worten auch

die Gedanken bekam. Geisteswissenschaft entsteht ganz im

Gegenteil durch tätiges Denken. Sie setzt die Fähigkeit des

Wahrnehmens im Geistigen voraus, anhand derer die Be­

griffsbildung durch intuitives Menschendenken erfolgt. Die

alte Offenbarung war zwar-wie im Fall Moses - eine di­

rekte Erfahrung der geistigen Welt, aber der Mensch konnte

damals noch nicht objektiv-wissenschaftlich, durch Wahr­

nehmung und Denken, damit umgehen. Deshalb musste die­

se Offenbarung enden. Der Mensch musste sich bewusst­

seinsmäßig vom Geistigen sondern und eine Zeit lang nur

die sinnliche Wahrnehmung erleben - mit dem Ziel, anhand

der sinnlichen Wahrnehmung durch Naturwissenschaft eine

erste Schulung des Denkens durchzumachen.

Wir leben heute in der Zeit, wo der Mensch die zwei­

te Schulung des Denkens in Angriff nehmen kann, in der

er anhand der Wahrnehmung im Geistigen eine der Na­

turwissenschaft ebenbürtige Geisteswissenschaft aufbauen

kann. Die beiden naturgemäßen Erzfeinde dieser Geistes­

wissenschaft sind einerseits der moderne Intellektualismus

31

Page 28: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

mit seinem totalitären Dogma, dass es keine Wahrnehmung

im Geistigen und keine wissenschaftliche Erkenntnis des

Übersinnlichen geben kann, und andererseits der traditio­

nelle religiöse Glaube, der sich existenziell bedroht sieht

und der jeden Anspruch auf Geisteswissenschaft als frevel­

haften Hochmut des Menschen abstempeln muss.

Die Geister, die den Willen zur Vernichtung der Anthro­

posophie haben, wissen ganz genau, dass ihr bestes Werk­

zeug der menschliche Intellektualismus, der abstrakte Ra­

tionalismus ist, der, ohne sich um die Wahrnehmung zu

kümmern, alles «beweisen» kann. Ihr Vernichtungswil­

le kann am besten von Menschen ausgeführt werden, die

das Volk erz- oder blitzgescheit nennt. Rudolf Steiner hat

in seinen Mysteriendramen das Urphänomen des blitzge­

scheiten Menschen künstlerisch dargestellt - er heißt Fer­

dinand Reinecke. Reinecke ist so übennenschlich gescheit,

dass er mit seiner Beweiskunst einem genialen Wissen­

schaftler wie Strader das Vertrauen in das Denken ausbläst.

Ein Vernichtungsanschlag auf die Anthroposophie muss

nicht bewusst vom Menschen beabsichtigt sein. Rudolf

Stein er weist oft genug darauf hin, was alles durch einen

Menschen geschehen kann, von dem dieser selbst keine

Ahnung hat. Es gibt genug geistige Wesen, die sehr wohl

eine Ahnung haben und die vor allem genau wissen, dass

die Vernichtung der Anthroposophie in den Köpfen der

Menschen nur dann eine Chance bekommt, wenn bei mög­

lichst vielen Menschen, vor allem bei möglichst vielen

Anthroposophen der Eindruck erweckt wird, man tue al:;

les, um die Anthroposophie zu fördern. Auch der schlaue

32

Page 29: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Gegner der Anthroposophie weiß als Mensch genau: Um

Erfolg zu haben, muss er den Eindruck erwecken, dass er

die Anthroposophie fördern will.

Und es sind nicht wenige, die meinen: Ist es nicht ein

dankenswerter Rettungsdienst an der Anthroposophie,

wenn zu später Stunde eine historisch-kritische Ausgabe

der Werke Rudolf Steiners nach den «allgemein anerkann­

ten Standards wissenschaftlichen Arbeitens» (S. XXXI),

von einem Professor in den USA herausgegeben, erscheint?

Wird nicht dadurch die Geisteswissenschaft Steiners ge­

ehrt, ja geadelt? Wird nicht die Anthroposophie in der

Menschheit erst recht aufleben, wenn Steiners Werke von

Fachgelehrten eingeleitet und kommentiert in den Rega­

len der Universitätsbibliotheken stehen? Und ist es nicht

höchst begrüßenswert, wenn jemand es unternimmt, den

sauberen und vollständigen Quellennachweis nachzulie­

fern, den Steiner vermissen lässt? Clement schreibt dazu

in seiner «Einleitung»:

«Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachli­

che Distanz zum Gegenstand im Sinne der damals und

heute allgemein anerkannten Standards wissenschaft­

lichen Arbeitens waren also Steiners Sache nicht.»

(S.XXXI).

Auch eine solche Aussage ergibt sich aus Clements Diktat,

dass Steiners Behauptung, er habe seine Inhalte ganz unab­

hängig von jeder äußerlichen Quelle unmittelbar aus der geis­

tigen Welt heraus gewonnen, nicht wahr sein kann. Und über

die Wissenschaftlichkeit seiner eigenen Arbeit schreibt er:

33

Page 30: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

«So wird ein neuer Editions-Standard gesetzt, an dem

sich die künftige Anthroposophieforschung zu orientie­

ren haben wird.» (S. XXVI).

Bei dem hohen «Editions-Standard», den Prof. Clement für

sich geltend macht, seien folgende Fragen erlaubt: Ist es

zulässig, durch eigenmächtige Kursivsetzung direkt in den

Text einzugreifen? Wenn Worte, Sätze oder ganze Absätze

kursiv gesetzt sind- hat dann der Leser nicht das Recht, da­

von auszugehen, dass die Kursivschrift vom Autor und nicht

vom Herausgeber stammt? Kann nicht eine Kursivsetzung,

die nicht vom Autor selbst vorgenommen wurde, als Text­

fälschung betrachtet werden? Das ganze Augustinus-Kapi­

tel in Christentum (S.223-228), um nur ein Beispiel zu er­

wähnen, kann vielleicht durch den missionarischen Eifer des

Herausgebers erklärt werden, der dem Leser vor die Nase

halten will, was alles Steiner geändert oder hinzugefügt hat.

Zeugt es aberwirklich von «sauberer Quellenarbeit, Metho­

.denschärfe und sachlicher Distanz zum Gegenstand»?

Wenn Prof. Clement Steiner unsaubere Quellenarbeit

vorwirft, so möge er Folgendes bedenken. Mit dem Fort­

schritt der Technik ist die Möglichkeit, Zugriff auf Texte zu

haben und sie abzugleichen, heute schier unbegrenzt gewor­

den. Wie wäre es, wenn ein Professor X aus den USA mithil­

fe seiner fleißigen Assistenten es unternehmen würde nach­

zuweisen, dass zahlreiche Formulierungen in Clements Tex­

ten «unausgewiesene Paraphrasen» (S. XXXI), das heißt ein

Plagiat von anderen Autoren darstellen? Prof. Clement könn,~ ..

te sich dagegen wehren, aber wenn es sehr viele Leute gäbe,

34

Page 31: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

die Professor X und nicht Prof. Clement glauben, würde es

für Prof. Clement düster aussehen. Ähnlich ist es mit Cle­

ment und Steiner. Steiner behauptet, gar nichts von anderen

Autoren übernommen zu haben, aber Prof. Clement meint,

bewiesen zu haben, dass er es getan hat. Und es zeigt sich

deutlich, dass es auch unter Anthroposophen genügend Leu­

te gibt, die lieber Prof. Clement als Rudolf Steiner glauben.

Wenn ich Clements Band 5 der SKA in der Hand hal­

te, habe ich das folgende Bild vor mir. Ich sehe mich vor

vielen Jahren als junger Mensch in New York wieder, wo

ich in den funeral homes oft den Abschied von den Toten

begleitet habe. Der gerade Verstorbene war so aufgebahrt,

dass der Eindruck entstand, er lebe noch. Er war so perfekt

geschmückt, so <<nobilitiert» (s. S. 46), dass er noch le­

bendiger als im Leben erschien. Seine Wangen waren so

rosig, wie ich sie im Leben noch nie gesehen hatte.

In diesem Band 5 des neuen Herausgebers der Wer­

ke Rudolf Steiners, Prof. Christian Clement, sehe ich das

Ritual einer akademischen Einsargung der Anthroposo­

phie. Akademisch bedeutet unter anderem: von der Staats­

macht abgestempelt und mit Staatsgeld finanziert. Die bei­

den Flanken dieses wundersamen Sarges sehe ich in der

«Einleitung» und im «Stellenkommentar» - wozu auch die

Farbe des Umschlags gehört. Die Sargnägel der «Einlei­

tung» werden von der wiederholt eingehämmerten Beteue­

rung geliefert: Es ist nichts und wieder nichts - und noch­

mals nichts - mit der Geisteswissenschaft Steiners; und die

Hammerschläge des «Stellenkommentars» konterkarie­

ren Stelle um Stelle: Und mit seinem wissenschaftlichen

35

Page 32: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Umgang mit den Quellen ist auch nichts. Als Kopf- und

Fußseite des Sarges dienen vorzüglich passend einerseits

das Impressum mit Mormonengeld und Kooperation mit

dem Rudolf Steiner Verlag, andererseits des Gläubigen

Wahlspruch, der zu der Einleitung geistig den Ton angibt.

Und das eingesargte Caput mortuum, der zur Ruhe ge­

bettete Leichnam, ist die Anthroposophie Rudolf Steiners,

von zweien seiner Texte repräsentiert. Diese sind histo­

risch-kritisch so perfekt aufbereitet, dass man den Ein­

druck haben kann, Steiner lebe noch. Aber der akribische

Apparat macht deutlich: Steiner ist schon längst gestorben,

er ist historisch geworden. Einern Verstorbenen kann man

auch die «Un-erhörten Offenbarungen» verzeihen, die jen­

seits von Gut und Böse sind, solange man die Aufgabe des

akademischen Wissenschaftlers ernst nimmt, sie mit «sach­

licher Distanz zum Gegenstand», mit aufgeklärter Distan­

zierung unter die Lupe zu nehmen.

Und so ist es: Wenn man es auch schaffen würde, Ein­

leitung, Stellenkommentar, Mormonengeld und Christusbe­

kenntnis zu ignorieren, um sich auf die Steiner-Texte mit den

abertausend nicht nur sinnrelevanten sondern auch orthografi­

schen Angaben im Text und im kritischen Apparat zu kon­

zentrieren - wozu auch gehört, ganz wichtig, wann am En­

de eines Titels ein Punkt steht, und wann kein Punkt steht-,

dann blieben einem überhaupt keine Zeit und keine Kräfte

übrig, um den Gedanken Steiners eine Chance zu geben, im

eigenen Kopf und im eigenen Herzen Leben zu werden.

Der Leser darf mich nicht missverstehen: Mit versuch~.,.

ter Einsargung der Anthroposophie meine ich nicht, dass

36

Page 33: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

diese möglicherweise eingesargt werden kann. Sie ist ein

Geistiges, und auch für sie gilt, was für alles Geistige gilt:

Es ist nicht sinnlich wahrnehmbar, es kann nicht sterben.

Denen, die den Geist am Grab des Leichnams seines Trä­

gers~ an der Stätte der Einsargung, suchen, wurde schon vor

zweitausend Jahren geistig zugerufen: Der, den ihr sucht,

ist nicht hier, er lebt unsterblich als Geist.

Um Clements «Einleitung» besser zu verstehen, kann es hilf­

reich sein, wenn auch nur durch ein paar Streiflichter, die

Entwicklung seiner Denkweise bis zu seiner «Einleitung» iu

Band 5 zu verfolgen. Seine unausgesprochene Grundannah­

me, dass es keine wissenschaftliche Erkenntnis des Geisti­

gen geben kann, taucht nicht erst in seiner «Einleitung» auf.

Eine wichtige Quelle, Clements Gedankenentwicklung

zu verfolgen, ist seine Dissertation Die Geburt des moder­

nen Mysteriendramas aus dem Geiste U!.eimars (Logos Ver­

lag, Berlin 2007). In diesem Rahmen ist es nur möglich,

mit wenigen Strichen die Stellung der Wahrnehmung im

Geistigen zu skizzieren. Auf S. 49-50 finden sich wichtige

Ausführungen über die Imagination, die tiefer in Clements

Denkweise blicken lassen. Er führt aus:

«Man kann versuchen, um die Kontinuität in Steiners

Denken aufzuzeigen, die anthroposophische Imagi­

nationslehre anhand seiner philosophischen Schriften

[zu] interpretieren. Die Philosophie der Freiheit be­

schrieb das Erkennen als Prozess der gegenseitigen

Durchdringung von Wahrnehmung und Begriff [ ... ].

37

Page 34: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Man kann die Imagination in der Terminologie der

Philosophie der Freiheit also beschreiben als die zu

Bildern verdichtete innere Anschauung derjenigen see­

lisch-geistigen Prozesse, welche sich im gewöhnlichen

Bewusstsein zu Vorstellungen einer sinnlichenAussen­

welt ablähmen.»

Clement redet von «der gegenseitigen Durchdringung von

Wahrnehmung und Begriff». Dies ist insoweit irreführend,

als er das Durchdringen wie eine Tätigkeit sieht, die von

beiden Seiten gleichermaßen aktiv ausgeführt wird. Das ist

aber nicht der Fall. Es ist weder die Wahrnehmung noch der

Begriff das tätig Durchdringende, sondern allein das Den­

ken. Die Wahrnehmung ist wie ein momentanes Herausfal­

len aus dem Denken, wie ein leises Träumen oder Schlafen.

Das Denken ist wie ein Aufwachen durch tätige Begriffs­

bildung - ein Aufwachen in der überräumlichen und über­

zeitlichen Wirklichkeit des Geistes.

Im zweiten Teil des Zitats kommt deutlich zum Vor­

schein, dass Clement die «Imagination» nicht als eine

Wahrnehmung im Geistigen sieht, sondern sie mit dem

ganzen Vorgang des Erkennens gleichsetzt. Die Imagi­

nation ist aber Steiner zufolge nicht «die zu Bildern ver­

dichtete innere Anschauung» von «seelisch-geistigen Pro­

zessen» - sie ist geradezu das Gegenteil davon. Nicht we-'

niger als die sinnliche Wahrnehmung muss die Imagina­

tion in ihrem Grundcharakter als Täuschung erkannt wer­

den. Das Denken muss Steiner zufolge auch im Imaginie.;;-,,

ren etwas wie ein Einschlafen, wie ein Herausfallen aus

38

Page 35: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

der Wirklichkeit erkennen, und seine Aufgabe darin sehen,

auch der Imagination gegenüber geistige Wirklichkeit zu

stiften. Deshalb betont Steiner immer wieder: Es gibt keine

Kontinuität zwischen Imagination und Inspiration, sondern

einen qualitativen Sprung. Alles Imaginative muss fortge­

schafft werden, es muss ein völlig leeres Bewusstsein her­

gestellt werden.

Es ist also nicht sachgemäß, über die drei Stufen der

übersinnlichen Erkenntnis zu sprechen wie jemand, der

eigene unmittelbare Erfahrung davon hat, wenn man sie

nicht hat. Damit wird das Geistige auf ein Seelisches oder

Bewusstseinsmäßiges reduziert und dem abstrakten In­

tellektualismus Tür und Tor geöffnet. Dasselbe einfacher

gesagt: Auf S. 22 zitiert Clement Steiner mit den Worten:

«Will man Entwicklung, so wie sie sich erschaut in der

geistigen Welt, wirklich hinstellen [ ... ]». Das Wort «er­

schaut» weist deutlich auf ein Wahrnehmen im Geistigen

hin, das bei Steiner kein bloß visionäres oder bei der Ima­

gination verbleibendes, sondern ein denkendes Wahrneh­

men ist. Clement kommentiert (S. 23):

«Steiner sucht also das <Allgemein-Menschliche>, den

<Menschen an sich> und damit den <Geist> nicht, wie

Hegel, in einem abstrakten Absoluten jenseits des in­

dividuell-persönlichen Erlebnisses, sondern gerade in

demselben.»

Der eindeutige Hinweis Steiners auf seine Wahrnehmung

im Geistigen wird durch das Reden von «sucht» gar nicht

gesehen.

39

Page 36: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Einige Jahre später, in einem Aufsatz: «<Offenba­

res Geheimnis> oder <geheime Offenbarung>? Goethes

Märchen und die Apokalypse» (in: Goethe Yearbook,

Volume 17, 2010, Published by North American Goethe

Society, S. 254, Fußnote 11), weist Clement auf die «Ge­

meinsamkeiten» von Steiners und seinen eigenen Ausfüh­

rungen über Goethes Märchen hin. Er schreibt, Steiner

habe «detailierte [sie!] Analysen» unternommen, die als

eine zwar «unschätzbare», doch lediglich als eine «Vor­

arbeit für die hier [von Clement] vertretene Deutung des

Märchens gewürdigt» werden. Die Rede von «Vorarbeit»

hat nur einen Sinn, wenn Clement Steiner auf gleicher

Ebene wie sich selbst sieht. Das schließt aus, dass bei

Steiner eine zuvor nie dagewesene Art des Denkens zuta­

ge tritt, das durch die Wahrnehmung im Übersinnlichen

bedingt ist.

In dem Buch Weimar Classicism, Edited by David Galla­

gher, The Edwin Mellen Press 2010, schreibt Christian Cle­

ment - in: «Chapter 6. Weimar Classicism Reincamated:

Rudolf Steiner' s Theatre of Spiritual Realism» - über

Steiners Mysteriendramen. Es kommen in diesem Buch

verschiedene akademische Wissenschaftler zu Wort, die

über Autoren wie Goethe, Schiller, Forster und Berlepsch

schreiben. Was in Bezug auf Rudolf Steiner auffällt, ist,

dass er ganz bedeutungslos erscheint. Schaut man dann nä­

her auf das, was Clement über Steiner schreibt, erfährt man

den Grund für diese Bedeutungslosigkeit: Steiner wird als

ein Dramatiker dargestellt, der sich durch minderwertigt;J,,

Qualität auszeichnet.

40

Page 37: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Clement nennt die Mysteriendramen «abstrus» (S. 135).

Nachdem er gleich am Anfang Steiner als «Austrian philos­

opher and spiritualist» definiert, schreibt er:

~<Another outgrowth of his years defending and wri­

ting about Goethe is a series of four abstruse mystery

plays known as the Mysteriendramen (1910-1913).»

(S. 135). (Ein anderer Auswuchs aus den Jahren, in

denen er über Goethe schrieb und ihn verteidigte, ist

eine Reihe von vier abstrusen Mysterienspielen, die als

Mysteriendramen (1910-1913) bekannt sind.)

Wenn man Steiners Mysteriendramen lediglich als Produkt

dessen sieht, was Clement in seiner «Einleitung» zu SKA

Band 5 «menschliche Vorstellungsbildung» nennt, kann man

sie vielleicht als abstrus bezeichnen. Wenn man aber davon

ausgeht, dass ihre Inhalte objektiv-wissenschaftlich anhand

der Wahrnehmung im Geistigen gewonnen sind, wird man

alles in den Mysteriendramen als sehr ungekünstelt und ein­

fach dargestellt finden. Es werden aus einemjeden unend­

lich komplexen Leben nur einige Erlebnisse ausgewählt, und

diese nur in einigen typischen Zügen dargestellt. So ist der

schon erwähnte Ferdinand Reinecke nicht durch «abstruse»

Vorstellungsbildung erfunden, sondern als objektive Reali­

tät geistig wahrgenommen. Und warum ist dieser sogar über

einen Strader der Sieger? Weil dieser in der Ehe mitTheodo­

ra ein Nebeneinander von Wissen und Glauben, von Wissen­

schaft und Religion lebt, die nie zur Einheit werden.

Clement sieht in Rudolf Steiners Mysteriendramen

«einen Riesenballast von esoterischen Theoremen und

41

Page 38: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

einen unbestreitbaren Mangel an dramatischer und künst­

lerischer Reife»:

«Despite a huge ballast of esoteric theorems and an un­

arguable lack of dramatic and artistic maturity [ ... ]»

(S.153).

Das kann vernünftigerweise nur jemand schreiben, der sich

selbst künstlerische Reife zuschreibt, der weiß, was sie ist.

Weil Clement bei Steiner nur die Vorstellungsbildung

eines Dramatikers gelten lässt, wird auch erklärlich, dass er

in den vier Königen keine objektiv wahrgenommene geis­

tige Wirklichkeit sehen kann. Sie «repräsentieren» für ihn

bloß «symbolisch» innerlich-geistige («mental») Eigen­

schaften des Menschen:

«From their dialogues it is obvious that they are rep­

resentations of human mental faculties: the gold king

represents intellectuality and thought, the silver king

symbolizes emotionality and feeling, while the former

bronze king stands for intentionality and will.» (Weimar

Classicism, S.140). (Aus ihren Dialogen ist es offen-

. sichtlich, dass sie Darstellungsweisen für geistige Fä­

higkeiten des Menschen sind: Der goldene König be­

deutet Geistigkeit und Gedanke, der silberne König sym­

bolisiert Emotionalität und Gefilhl, während der frühere

bronzene König far Intentionalität und WiJ!e steht.)

Steiner wird daran gemessen, inwieweit er der Weimarer

Klassik treu bleibt. Trotz aller von Clement festgestell­

ten aber von ihm nicht genannten «Abweichungen und

42

Page 39: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Fehldeutungen Goethes und Schillers» vonseiten Steiners,

wird ihm bescheinigt, doch «dem intellektuellen und geis­

tigen Kern der Weimarer Klassik treu» geblieben zu sein:

& «[ ... ] Steiner's theatre of Spiritual Realism seems in­

deed, despite all his actual deviations :from and misin­

terpretations of Goethe and Schiller which we did not

mention here, to be true to the intellectual and spiritual

core of Weimar Classicism.» (Weimar Classicism,

S. 152). (Steiners Theater des spirituellen Realismus

scheint in der Tat, trotz aller seiner tatsächlichen Ab­

weichungen und Fehldeutungen Goethes und Schillers,

die wir hier nicht erwähnt haben, dem intellektuellen

und geistigen Kern der Weimarer Klassik treu zu sein.}

So wie ich mit vollem Ernst in Band 5 der SKA die akade­

mische Einsargung der Anthroposophie, von zweien ihrer

Texte vertreten, sehe, so sehe ich im Buch Weimar Classi­

cism die perfekte akademische Einsargung Rudolf Steiners

selbst. Er wird in seiner Bedeutungslosigkeit und Minder­

wertigkeit bei der akademische Gelehrsamkeit buchstäb­

lich beerdigt, als quantite negligeable abgefertigt. Damit

ist nichts über die Absichten von Christian Clement gesagt,

damit ist nur gesagt, wie sein Beitrag nach meiner Über­

zeugung und Erfahrung in der akademischen Welt und da­

rüber hinaus wirkt.

Es ist gar keine Frage: Die Vertreter der akademischen

Welt und der traditionellen Religion haben allen Grund,

Christian Clement zu feiern und mit allen Mitteln zu för­

dern. Sie können sich nur freuen, wenn die Anthroposophie

43

Page 40: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

als abstruse Theoriebildung und als unerhörte Offenbarung

abgetan wird. Die akademische Welt kennt vom Geist nur

den abstrakten Intellektualismus, sein totes Spiegelbild.

Der Glaube der Religion lebt von der Sehnsucht nach dem

Geist, dessen Wirklichkeit verloren gegangen ist. Die west­

liche Kultur fordert eine strikte Trennung von Wissen und

Glauben. Das Wissen, die Wissenschaft, beherrscht das öf­

fentliche Leben; der Glaube darf nur als Privatsachegel­

ten, er darf nur im privaten Leben eine Rolle spielen. Die

Wiedergewinnung der Wirklichkeit des Geistes durch Geis­

teswissenschaft ist für beide - für den Wissenschaftler und

den Gläubigen - die stärkste Herausforderung, zumal sie

die Trennung von Wissen und Glauben aufhebt.

Christian Clement repräsentiert nicht nur die eine oder

nur die andere Welt, sondern beide. In ihm wirken Wis­

senschaft und Glaube zusammen, in seiner Person sind

sie vereinigt. Der Lebenszusammenhang eines Menschen

entscheidet oft mehr als er selbst darüber, wie das, was er

schreibt, in der Menschheit wirkt. Darüber mehr im letzten

Teil dieser Ausführungen, in dem auch der Frage nachge­

gangen wird: Wie nehmen zum Phänomen Christian Cle­

ment mit seinem Hintergrund jene Menschen Stellung, die

in der Öffentlichkeit als die Vertreter der Anthroposophie

gesehen werden? Und wie kann der freie Mensch dazu

Stellung nehmen?

44

Page 41: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

III.

Hat die Anthroposophie eine Zukunft?

Die amtlichen Vertreter und das freie Individuum

Der erwähnte Band 5 der Reihe «Rudolf Steiner, Schrif­

ten - Kritische Ausgabe» (SKA) ist im frommann-holz­

boog Verlag in Kooperation mit dem Rudolf Steiner Ver­

lag erschienen. Damit macht sich die Rudolf Steiner Nach­

lassverwaltung die Kritische Ausgabe der Werke Rudolf

Steiners zu eigen, deren Herausgeber Christian Clemerit

ist. Diese wird zur offiziellen Ausgabe der Rudolf Steiner

Nachlassverwaltung selbst. Der Leiter des Rudolf Steiner

Archivs, David Marc Hoffmann, hatte sich Anfang 2013

darauf bezogen und kategorisch behauptet:

«Bei uns wird Clement Texte einsehen können, sie aber

nicht publizieren dürfen, das wollen wir uns verständli­

cherweise für eine eigene kritische Ausgabe selbst vor­

behalten. Insofern wird er selbst keine wirklich histo­

risch-kritische Ausgabe herausgeben können. [ ... ]An­

dererseits habe ich den Eindruck, seine Ausgabe wird

ein Prolegomenon, eine Art Vorläufer zu einer kriti­

schen Ausgabe sein, die wir in Zukunft machen wer­

den.» (Der Europäer, Februar 2013, S. 30).

Nur Monate später heißt es (s. Das Goetheanum, 13. Juli

2013): Der Leiter des Rudolf Steiner Archivs «empfahl[ ... ]

das Projekt [von Clement] dem Rudolf Steiner Verlag» -

im Namen der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung. Der

45

Page 42: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

offiziellen Ausgabe von Christian Clement, die Hoffmann

als «Nobilitierung» (s. S. 35) der Werke Rudolf Steiners

bezeichnet, könnten «Ergänzungsbände» erwachsen. Man

möchte es nicht glauben: Wenige Monate zuvor kann Cle­

ment laut Hoffmann nur einen bescheidenen «Vorläufern

zur angekündigten kritischen Ausgabe durch die Rudolf

Steiner Nachlassverwaltung herausgeben; wenige Mona­

te später wünscht sich die Rudolf Steiner Nachlassverwal­

tung, der von ihr gefeierten Ausgabe von Clement beschei­

dene «Ergänzungsbände» anhängen zu dürfen. Solche un­

glaublichen Purzelbäume nicht nur intellektueller, sondern

vor allem moralischer Natur zeugen davon, welcher Geist

den Nachlass Rudolf Steiners verwaltet.

Und welches sind die Gründe für diese Kehrtwende mit

unabsehbaren Folgen? Die Rudolf Steiner Nachlassverwal­

tung muss sich zweite, realistischere Gedanken darüber ge­

macht haben, ob sie überhaupt imstande ist, eine kritische

Ausgabe von Steiners Mystik und Christentum anzufer­

tigen, die besser, gediegener ist als die von Christian Cle­

ment. Aber es gibt auch noch einen anderen, gewichtigeren

Grund. Eine immer stärker werdende Strömung in der an­

throposophischen Welt sieht es als entscheidend für das Ge­

deihen der Anthroposophie an, dass diese nicht nur vom Bür­

gertum, sondern vor allem von der akademischen Welt an­

erkannt wird. Gerade aber in dieser Hoffuung liegt das größ­

te Dilemma für ernsthafte Anthroposophen in unserer Zeit.

Um die Anthroposophie Rudolf Steiners in den eige­

nen Wissenschaftsbetrieb einzugliedern, müsste die akade~ ..

mische Welt mit ihrem Absolutheitsanspruch buchstäblich

46

Page 43: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

sich selbst aufheben. Sie kennt und erforscht lediglich die

sinnlich wahrnehmbare Welt, in der für den Geisteswissen­

schaftler nur Wirkungen von Ursachen zutage treten, die

alle in einer nicht sinnlich wahrnehmbaren Welt liegen -

und'über das Nicht-Sinnliche kann sie nur abstrakt speku­

lieren. Sie findet damit keine Wirklichkeit, weil dem Intel­

lektualismus die Ergänzung durch die Wahrnehmung fehlt.

So fragt es sich, um nur ein paar Beispiele herauszugrei­

fen: Was soll die akademische Medizin dazu sagen, wenn

Steiner in England das Phänomen des «okkulten Fiebers»

in seinem objektiven pathologisch-therapeutischen Zusam­

menhang mit dem Silber, mit der Blutwärme und mit den

Kräften aus den früheren Leben des Menschen darstellt?

Oder was kann die akademische Welt mit Steiners Aussage

anfangen, dass die Psychical Research, die das Verhalten

eines Mediums untersucht, am Phänomen vorbeiredet, weil

sie nicht weiß, was im Geist des Mediums als Ursache sei­

nes Verhaltens geschieht? Oder gar, wenn Steiner ausführt,

dass, um den Präsidenten der USA W. Wilson wirklich zu

verstehen, man auf sein Leben als Muawij a im 7. J ahrhun­

dert schauen muss? Steiner selbst sagt dazu:

«[ ... ] wie soll man mit irgend jemandem von der heuti­

gen Zivilisation darüber diskutieren, daß die Seele des

Muawija in der Seele des Woodrow Wilson wieder­

erschienen ist! [ ... ] Wenn es sich um Argumente han­

delt, da kommt man ja ohnedies nicht zurecht [ ... ]

Man wird sich nicht der Illusion hingeben dürfen, daß

man über solche Sachen diskutieren kann. Die müssen

47

Page 44: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

sich durch ihre eigene Macht und Gewalt verbreiten.

Die lassen sich nicht durch Dialektik entscheiden.»

(Vortrag vom 12. April 1924, GA 236, S. 32).

Das einzig Vernünftige, was die akademische Welt mit

Steiner tun kann, ist: ihn ignorieren. Das hat sie bis heute

auch konsequent getan. In einem Vortrag am 23. Mai 1922,

der erst 81 Jahre später seinen Weg in die GA gefunden hat,

redet Rudolf Steiner von «Weltfremdheit», wenn jemand

denkt, die akademische Welt hätte die Möglichkeit, die An­

throposophie anzuerkennen:

«Dieser Zug von Weltfremdheit, der ist es, der uns

sehr, sehr viel geschädigt hat gerade in den letzten

Jahren, und diesen Zug von Weltfremdheit sollten

wir eben überwinden. Man sollte gar nicht glauben,

daß wir auf dem Umwege durch die Fachgelehrsam­

keit Anthroposophie verbreiten können. Wir sollten

uns klar sein darüber, daß die Fachgelehrsamkeit eben

von außen gezwungen werden muß, das Anthroposo­

phische anzunehmen - von sich aus wird sie das nicht

tun.» (GA 255b, 2003, S. 356).

Es gibt dazu noch ein anderes zu bedenken. Indem sich die

akademische Wissenschaft auf die sinnlich wahrnehmbare

Welt beschränkt hat, ist sie in deren Erforschung immer kom­

plexer, immer genauer geworden. Das hat auch die zuneh­

mende Betonung einer formalen Perfektion mit sich gebracht,

die dem behandelten Gegenstand gegenüber rein äußerlich. ..

bleibt. Clements Steiner-Ausgabe ist ein Musterbeispiel dafür.

48

Page 45: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Beim Verfolgen der Textentwicklung wird den rein ortho­

grafischen Schwankungen dasselbe Gewicht wie den inhalt­

lichen bzw. sinnrelevanten Textunterschieden verliehen.

Wer den Text zum Leben bringen will, ist dankbar für je­

den'auch kleinsten Hinweis bezüglich der Textentwicklung,

der mit dem Inhalt, mit dem Sinn zu tun hat. In dieser Hin­

sicht ist Clements Edition kaum zu übertreffen. Anders ist es

aber mit der äußerlich-formalen Perfektion in Bezug auf al­

les Orthografische, die als unerträgliche Störung erlebt wer­

den kann. Aber Prof. Clement muss in puncto Orthografie -

pardon, Orthographie! - formal perfekt vorgehen, wenn er

den akademischen Standards entsprechen will. Er hat ganz

recht, wenn er sagt, dass akademische Wissenschaftlichkeit

im Ausweisen von allen auch unbedeutendsten Textunter­

schieden absolute Genauigkeit verlangt. Er hat recht, wenn

er behauptet, dass diese Exaktheit bei Steiner nicht gegeben

ist. Dass Steiner sogar «Quellen» erwähnt, die für ihn keine

Quellen sein sollen, ist für den heutigen akademischen Wis­

senschaftler einfach ein Unsinn.

Man kann verstehen, warum Rudolf Steiner sein gan­

zes Leben mit Vertretern sowohl der Wissenschaft als auch

der Religion seine Mühe gehabt hat, warum er von ihnen

vielfach angefeindet wurde. Das Besondere bei Christian

Clement aber ist: Er tritt nicht nur als Wissenschaftler auf,

nicht nur als bekennender Christ, sondern er ist beides.

Wenn er als akademischer Wissenschaftler Steiners An­

throposophie als notwendige Ergänzung der Naturwissen­

schaft darstellen würde, die gleichen Anspruch auf Wissen­

schaftlichkeit hat, würde er sich in der akademischen Welt,

49

Page 46: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

zu der er gehört, ganz unmöglich machen. Und wenn er als

bekennender Christ (s. S. XXIII) die Anthroposophie, auch

was das Christentum betrifft, als Geisteswissenschaft mit

Anspruch auf sachliche Objektivität darstellen würde, statt

sie als Quelle von <mn-erhörten Offenbarungen» (S. LVII)

abzukanzeln, wäre seine Anstellung bei einer Mormonen­

Universität (s. S. IV) ganz unmöglich zustande gekommen.

Der abstrakte Intellektualismus schaut auf die Texte

Rudolf Steiners und meint, das Wichtige seien die Inhalte.

Er kümmert sich nicht um die Wahrnehmung dessen, was

noch viel wichtiger ist als die Inhalte. Und das viel Wich­

tigere ist: Bewirken diese Inhalte in der Menschheit etwas,

oder sind sie so gut wie tot? Werden sie zur inneren Kraft in

den Köpfen und Herzen der Menschen, gestalten sie das Le­

ben, oder sind die Bücherregale der Bibliotheken, in denen

sie stehen, ihr Friedhof - Konservenbüchsen, wie Steiner

sie nennt? Ein Kochbuch hat nur einen Sinn, wenn daraus

die lebendige Tätigkeit des Kochens wird. Die Anthropo­

sophie Steiners hat nur einen Sinn, wenn sie Leben wird.

Aber die akademische Welt muss, um ihre Macht zu be­

halten, alles tun, dass Steiners Geisteswissenschaft nicht

zum Leben wird. Deshalb betont sie die äußerliche Per­

fektion: In einer historisch-kritischen Ausgabe muss alles

absolut genau, das bedeutet tot sein. Denn das, was lebt,

kann nicht «genau» sein, kann nie perfekt-wissenschaft­

lich verobjektiviert werden, nur das Tote kann es werden.

Das zeigt die andere Seite der «Weltfremdheit», von der

Rudolf Steiner redet. Es ist die Weltfremdheit des Intel- ..,_,:,

lektualismus, der nur die theoretischen Inhalte der Texte

50

Page 47: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Rudolf Steiners für wichtig hält, ohne die verschiedenen

Lebenszusammenhänge ernst zu nehmen, in denen diese

Inhalte stehen. Es wird gar nicht gesehen, dass sie in dem

einen Lebenszusammenhang totgemacht, in dem anderen

zuni Leben werden. Ob ein Werk Steiners durch das Mi­

lieu, in dem es steht, totgemacht oder zum Leben wird -

das ist noch viel wichtiger als sein theoretischer Inhalt.

Rudolf Steiner führt dazu in einem öffentlichen Vortrag

vom 30. Oktober 1919 in Zürich Folgendes aus:

«Dasjenige, was abhält, ist zumeist nur die Mutlosig­

keit, der Mangel an Mut. [ ... ] Im äußeren Leben ist man

heute überzeugt, praktisch zu sein, aber man gibt sich

nicht die Mühe, die Dinge so anzusehen, dass man sie

in ihrem Wirklichkeitscharakter erkennt. Wer heute ir­

gendeine Behauptung vorgesetzt bekommt, der gibt sich

dieser Behauptung hin, er nimmt nur den abstrakten In­

halt. Da kann er sich gerade dadurch vom Leben ent­

fernen. [ ... ] Nicht darum handelt es sich heute, dass

man mit dem wortwörtlichen Inhalt von etwas einver­

standen ist, sondern dass man sich ein Urteil darüber

erwirbt, wie dieser Inhalt mit der Wirklichkeit zusam­

menhängt. [ ... ] Weil die Menschen nicht das Bedürfnis

haben, immer vorzudringen von dem, was ihnen wort­

wörtlich als Inhalt gesagt wird, zur.wahren Wirklich­

keit, deshalb wird heute so viel an den Dingen vorbei­

geurteilt. Es wird gar nicht auf die Dinge eingegangen.

Die Menschen sind zufrieden mit dem, was bloß als

eine Oberschicht des Lebens die wahren Wirklichkeiten

51

Page 48: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

zudeckt. Auf die wahren Wirklichkeiten losgehen, das

ist die erste Forderung im Leben unserer Zeit [ ... ] Wenn

man diese Thromede [von Kaiser Karl, 1917] vom An­

fang bis zum Ende nimmt, bloß ihrem äußeren wort­

wörtlichen Inhalt nach, ist sie eine schöne feuilletonis­

tische Leistung [ ... ] Aber man sehe auf die Wirklich­

keit. Da muss man das, was wortwörtlich ist, in sein

Milieu hineinstellen. Da muss man fragen: Wer sagt

das? In welcher Umgebung sagt er das? [ ... ] Was ist das

wortwörtliche Reden von Demokratie, wenn es noch

so schön ist, in einem solchen Elaborat? Eine weltge­

schichtliche Lüge! Man muss heute von dem wortwört­

lichen Inhalt der Dinge bis zur Anschauung der Wirk­

lichkeit zurückgehen. Man muss nicht bloß mit dem In­

tellekt die Dinge auffassen, man muss auf die Wirk­

lichkeit eingehen. Das ist dasjenige, was Geisteswissen­

schaft fordert.» (Rudolf Steiner, Eine Menschheit, S. 34-

37; in der Textredaktion der GA: GA332a, S.203-206).

Auch der Lebenszusammenhang, in dem Christian Clement

steht, ist nicht ohne Einfluss darauf, wie seine Steiner-Aus­

gabe in der Welt wirkt. Durch ihn wirkt nicht nur die aka­

demische Wissenschaft, die die Anthroposophie nur igno­

rieren kann, sondern auch der religiöse Fundamentalismus,

der nur den Willen haben kann, sie einzusargen. Durch sei­

ne «Einleitung» und seinen «Stellenkommentar» entfalten

beide Lebenszusammenhänge ihre machtvolle Wirksam­

keit. Der Erfolg von Christian Clement erklärt sich durch.,,,

die Tatsache, dass in der westlichen Kultur das öffentliche

52

Page 49: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Leben vom Fortschrittsrationalismus und das private Leben

vom konservativen Glauben geprägt sind. Prof. Clement

hat mit Band 5 auf einen Schlag die Macht sowohl bei der

Rudolf Steiner Nachlassverwaltung wie auch bei der An­

throposophischen Gesellschaft errungen.

Kein anderer als die Rudolf Steiner N achlassverwaltung

feiert Prof. Clement als den besseren Herausgeber der Wer­

ke Rudolf Steiners und stellt sich folgsam hinter ihn. Sie

tut so, als ob die Inhalte der Anthroposophie unabhängig

vom Lebenszusammenhang wirken könnten, in den sie ge­

stellt werden. Auch die Anthroposophische Gesellschaft in

Deutschland lobt Christian Clement in hohen Tönen durch

den Redakteur Andreas Neider in den Mitteilungen aus der

anthroposophischen Arbeit in Deutschland (in: Anthropo­

sophie weltweit), Ausgabe 10/2013 Oktober, S. 7:

«Dem Herausgeber [Clement] kommt es, und das

macht seine herausragend formulierte und das Gesamt­

werk überschauende Einleitung besonders deutlich, vor

allem darauf an [ ... ] So kommt er in seiner Einführung

zu dem aus großer Überschau gefassten Schluss, dass

nicht nur die Betrachtungsweise Rudolf Steiners [ ... ]

einem anschauenden Denken [ ... ] entspringt, sondern

dass auch dem Entwicklungsgang Steiners selber ein

solcher, auf dem Metamorphosegedanken beruhender

Lebensimpuls zugrunde liegt.»

Eine solche Charakterisierung besagt im Grunde nichts

über das Besondere Rudolf Steiners als erster und bis heute

einziger Geisteswissenschaftler der Menschheit, in dem das

53

Page 50: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

«anschauende Denkern> zur Wahrnehmung im Geistigen

und der «Metamorphosegedank:e» zur Metamorphose des

Denkens selbst geworden ist.

Das erwähnte Dilemma, mit dem heute alle Anthropo­

sophen zu ringen haben, hat im Laufe der Zeit zwei Lager

entstehen lassen, deren Gegensatz sich immer weiter ver­

schärft. Die einen tun alles, um die Anthroposophie für die

Öffentlichkeit und für die akademische Welt annehmbar

zu machen. Dazu müssen sie sich aber mit dem herrschen­

den Intellektualismus messen, mit der gleichen Waffe der

Abstraktion kämpfen. Das kann ihnen aber nur gelingen, wie

Clements «Einleitung» schlagend beweist, wenn vom Wahr­

heitsgehalt der Anthroposophie kaum etwas übrig bleibt. Die

anderen schrecken vor dieser ihnen unerträglichen Verwäs­

serung zurück. Sie halten die Menschheit für nicht reif oder

nicht willig, die Anthroposophie aufzugreifen und pflegen

sie abseits aller Öffentlichkeit. Dass die Strömung der Welt­

offenen im Laufe der Zeit immer mächtiger geworden ist,

zeigt sich unter anderem am Sieg dieser Strömung im Vor­

stand der Anthroposophischen Gesellschaft und am engeren

Schulterschluss dieser Gesellschaft mit der Rudolf Steiner

Nachlassverwaltung, der sich in letzter Zeit vollzogen hat.

Es gibt aber einen Weg nach vom, wenn man der An­

throposophie in der heutigen Menschheit eine neue Chan­

ce geben will. Diese Chance hängt ganz von der Zahl der

Individuen ab, die rückhaltlos zur Wahrheit stehen und in

der Wahrheit leben wollen. Gewiss kann kein Mensch für

sich die Wahrheit beanspruchen, aber jeder, der ehrlich mit,,,

sich ist, weiß, ob er uneingeschränkt nach Wahrheit strebt,

54

Page 51: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

oder ob er persönliche oder Gruppeninteressen hat - wie

menschlich und verständlich auch immer -, die den Blick

auf die Wahrheit trüben und den Mut zur Wahrheit lähmen

können. Wenn ich im Folgenden in aller Kürze versuche,

das~auszusprechen, was ich für die Wahrheit über die jetzige

Lage und über die Zukunft der Anthroposophie halte, so tue

ich das nicht mit der Absicht, Kritik oder Polemik zu üben,

sondern weil es mir Ernst ist mit der Anthroposophie, in

der ich etwas Überlebenswichtiges für die Menschheit sehe.

Auf das Wesentliche zusammengefasst: Rudolf Steiner

sprach zum Menschen in jedem Menschen. Das liegt in der

Natur seines Geistes. Sein Wort galt gleichermaßen dem

Menschen im Beamten, im Bauern, im Professor, im Arbei­

ter, im Bürger, im Theosophen und im Anthroposophen.

Entscheidend für jeden, der ihn hörte oder las, war, inwie­

weit der individuelle Mensch neben der Schablone in ihm

lebte. In der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) ist es an­

ders. In sehr vielen Bänden der GA ist der Text so bearbei­

tet worden, dass Steiner weniger zum Menschen im Men­

schen als zum Bürger im Menschen spricht. Es ist ein an­

derer Geist als der Geist Rudolf Steiners. Vielen Menschen,

die über die Jahrzehnte den Zugang zu den Vorträgen

Rudolf Steiners weniger als Bürger und mehr als Menschen

gesucht haben, hat die GA den Zugang sehr erschwert. Sie

hat dazu beigetragen, dass in der Öffentlichkeit mehr die

bürgerlich-intellektualistische Seite der Anthroposophie als

ihre menschliche Seite wahrgenommen wurde.

Mancher Leser dieser Zeilen wird sich fragen: Wie kann

es sein, dass in der GA ein anderer Geist als der Geist von

55

Page 52: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Rudolf Steiner den Ton angibt? Die 50 «Zyklen», um nur

ein Beispiel zu nennen, sind noch zu seiner Lebenszeit ge­

druckt worden, sie sind doch von ihm autorisiert worden!

So naheliegend dieser Gedanke zu sein scheint, so trüge­

risch ist er. Rudolf Steiner kann versuchen sicherzustel­

len, dass keine groben inhaltlichen Fehler gedruckt wer­

den, aber nicht einmal dafür fand er die Zeit. Dass aber der

Redakteur, um seinen theosophischen, später anthroposo­

phischen Lesern gerecht zu werden, durch Bearbeiten, Er­

weitern und Kommentieren einen Steiner fremden, bürger­

lichen Geist einführt, das muss Steiner gelten lassen. Selbst

er kann nicht verfügen, dass die Menschen anders sein sol­

len, als sie sind. Das will er auch nicht, denn das hieße, im

Kern gegen die menschliche Freiheit zu verstoßen.

Anhand von ursprünglichen, unredigierten Klartext­

nachschriften, die erst in jüngster Zeit allgemein zugäng­

lich geworden sind, ist durch die Rudolf Steiner Ausgaben

in zahlreichen Veröffentlichungen Folgendes nachgewie­

sen worden - man kann es nach dem späten Geständnis des

Leiters des Rudolf Steiner Archivs selbst sagen:

«Mir als Archivleiter und auch dem Vorstand der Nach­

lassverwaltung ist klar, dass vor allem im Vortrags­

werk viele Stellen und ganze Vorträge in einem Mass

redigiert worden sind, das heute kaum mehr nachvoll­

ziehbar ist.» (Brief von David Marc Hoffmann vom

15.4.2013, s. www.rudolfsteinerausgaben.com).

Das gilt nicht nur für «ganze Vorträge», sondern für viel~ ,, ganze Bände der GA. Durch die systematische Bearbeitung

56

Page 53: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

der Vorträge Rudolf Steiners spricht aus der GA ein anderer

Geist als der Geist, den man bei der Lektüre der ursprüngli­

chen Klartextnachschriften erlebt. Auch in die schlichte Rein­

heit von Steiners Denken ist viel Unreines, viel Ungereimtes

hineingebracht worden. Man vergleiche auch nur den Geist

im Zarathustra-Vortrag in GA 69b (2013) mit dem in den

Rudolf Steiner Ausgaben (Rudolf Steiner, Zarathustra, 2012).

Es seien hier nur drei Beispiele angeführt, die symp­

tomatisch den Geist der GA zeigen, und die für unzähli­

ge andere stehen (alle Textvergleiche in den Rudolf Stein er

Ausgaben, früher: Archiati Verlag): 1. Gesundheit, S. 57-

58: Steiner redet vom Clown im Zirkus. Die bearbeitete

Fassung, die sonst üblicherweise in der GA gedruckt wird,

schränkt peinlich-bürgerlich Steiners Wort «volkstümlichs­

tem> auf «eine bestimmte Menschenklasse» ein und än­

dert des Clowns «drolliges Treibern> in «Dummheiten des

Clowns»; 2. Christus und die menschliche Seele, S.105: Je­

mand hat dem anderen die Augen ausgestochen und wird

das durch lange Arbeit an sich selbst ausgleichen müssen.

In der GA genügt stattdessen für den karmischen Ausgleich

eine einzelne bürgerliche «Guttat» - etwa eine großzügi­

ge Spende, wenn man Geld genug hat; 3. Einweihung im

Alltag, Band 2, S. 149: Die GA lässt Steiner von einer bür­

gerlich-gleichgültigen «Gleichbedeutung der Religionen»

sprechen, was eine folgenschwere Unwahrheit ist.

Der Leser der GA fühlt sich als Bürger angesprochen,

der ohne bösen Willen der Anthroposophie die Spitze neh­

men muss, wenn er sich in der bürgerlichen Gesellschaft

nicht unmöglich machen will. Um Anthroposophie in der

57

Page 54: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Öffentlichkeit zu vertreten, muss man einerseits die inne­

re Kraft haben, eine gewisse unvermeidliche Einsamkeit

zu ertragen - Einsamkeit auch innerhalb der anthroposo­

phischen Welt -, andererseits am eigenen Denken so zu

arbeiten, dass man die Gediegenheit und Notwendigkeit

der Geisteswissenschaft für die Weiterentwicklung der

Menschheit für die suchenden Menschen nachvollziehbar

macht. Wenn man das versucht, wird man sich an beiden

Fronten immer als Anfänger empfinden.

Rudolf Steiner spricht zum Menschen, die GA spricht

zum Bürger - und die SKA von Prof. Clement spricht zum

Wissenschaftler. Die Rudolf Seiner Nachlassverwaltung

bleibt ihrem Geist treu, indem sie jetzt, nachdem sie durch

die GA den Schritt vom Menschen zum Bürger vollzogen

hat, den Schritt zum Akademiker durch die SKA mitmacht.

Auch die Wissenschaft, die von der akademischen Welt

vertreten wird, ist weniger durch den theoretischen Inhalt

wichtig, als durch das, was sie in der Menschheit bewirkt. Mit

ihrem Intellektualismus ist sie immer elitärer geworden, und

als Folge wirkt sie zunehmend diskriminierend und exklusiv.

Sie erzeugt in der Gesellschaft zwei Klassen von Menschen:

einerseits die wenigen ganz «Gescheiten», die mitreden kön­

nen, gefolgt von den wenigen, die mithalten möchten, ande­

rerseits die vielen anderen, die weder mitreden noch mithal- .

ten können. Im Reden und Schreiben zeigt sich bei nicht we­

nigen akademisch Gebildeten eine selbstverständliche Miss­

achtung des sogenannten nicht-gebildeten Menschen. Sie

scheinen zu denken: Je weniger Menschen das verstehen, was"'

ich schreibe oder sage, desto gescheiter bin ich.

58

Page 55: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

"K:

All die Millionen, die nicht mitreden oder mithalten kön­

nen, dürfen auf diese Weise keinen aktiven Anteil am öf­

fentlichen Leben haben. Die vielen, die nicht verstehen,

werden auf ihr privates Leben zurückgeworfen. Die Macht

über das öffentliche Leben liegt ausschließlich beim Wis­

senschaftsbetrieb. Ein gutes Beispiel für die elitäre Haltung

des Akademikers ist gerade die «Einleitung» von Prof. Cle­

ment. Sie ist so geschrieben, dass Otto Normalverbraucher

nichts davon versteht, obwohl er verstehen könnte, wenn

derjenige, der schreibt, die Fähigkeit hätte, selbst die kom­

plexesten Dinge allgemeinverständlich darzustellen. Rudolf

Steiner schreibt, er möchte seine Philosophie der Freiheit

so verfassen, dass sie sich so spannend wie ein Roman liest:

«Ich würde mich freuen, wenn es dahin käme, durch

die Form den Inhalt so nahe zu bringen, daß man phi­

losophische Gedanken wie einen unterhaltenden und

lehrreichen Roman liest. Ich glaube wohl, daß es mög­

lich ist.» (GA 38, S. 19).

Die Forderung nach formaler Perfektion ist die andere Waf­

fe, um das Volk von der Wissenschaft und von ihrer Macht

auszuschließen. Als Beispiel nehme man hypothetisch zwei

historisch-kritische Ausgaben-A und B - der Philosophie

der Freiheit Rudolf Steiners. Aist nach allen wissenschaft­

lichen Anforderungen der akademischen Welt ediert, die

Textentwicklung in den kleinsten inhaltlichen und ortho­

grafischen Änderungen dokumentiert. Ausgabe B ist genau­

so wissenschaftlich wie A in Bezug auf alles, was den In­

halt betrifft, aber in Bezug auf das Orthografische, auf die

59

Page 56: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Rechtschreibung, will sie menschenfreundlich, das heißt

für den heutigen Menschen zugänglich sein. Weil heute,

um nur ein Beispiel zu nennen, viele sich vom altertümli­

chen Dativ-e in der Konzentration gestört fühlen, ist es in

B weggelassen. Der Herausgeber von B ist der Meinung:

Ausgabe A darf nicht fehlen, aber warum soll es nicht da­

neben auch Ausgabe B geben? Der Herausgeber vonA sieht

es aber ganz anders, er meint: B ist unwissenschaftlich, ist

dilettantisch. So etwas darf man nicht machen. Es darf nur

Edition A geben, B darf es nicht geben.

Und weil der Herausgeber von A die Möglichkeit hat,

sich Gehör zu verschaffen und der von B nicht, so kann der

Herausgeber vonA dafür sorgen, dass Ausgabe Bin der Öf­

fentlichkeit schlechtgeredet oder ignoriert wird. So werden

nur die ganz Gescheiten die Philosophie der Freiheit for­

mal perfekt ediert lesen (oder auch nicht) und ihre wissen­

schaftlichen Auseinandersetzungen führen - mit dem Er­

gebnis, dass dieses Buch in der breiten Bevölkerung nicht

einmal wahrgenommen wird. Dasselbe gilt für die Geis­

teswissenschaft insgesamt: Die Anthroposophie Steiners in

die akademische Welt einzuführen, ist das sicherste Mittel,

sie in der Menschheit unwirksam zu machen.

In seinen vermächtnishaften Vorträgen zum Ost-West­

Kongress in Wien 1922 weist Rudolf Steiner vor zweitau­

send Zuhörern darauf hin, wie wichtig es ist, dass die intellek­

tualistisch gebildete Schicht das neue Streben nach dem Geist

ernst nimmt, das sich bei der vermeintlich abergläubischen

unteren Schicht ankündigt. Es soll eine Brücke gebaut wer-,„,

den, über die diese zwei Menschenarten zueinander finden:

60

Page 57: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

«Es kommt heute nicht darauf an, dass man einen Weg

findet, um die breiten Massen zu verstehen, sondern

es kommt darauf an, dass man die Möglichkeit findet,

" von den breiten Massen verstanden zu werden, dass

man [ ... ] so spricht, dass man nicht als akademisch,

dass man nicht als gebildet, nicht als theoretisch emp­

funden wird, sondern dass man als Mensch empfunden

wird - empfunden wird so, dass man etwas zu sagen

hat, was in die Seelen hineinspricht. [ ... ] ich habe auch

niemals ein Hindernis im Verständnis gefunden, das mir

gerade vonseiten des Proletariers entgegengebracht wor­

den ist. [ ... ] Redet man aus dem vollen Menschentum

heraus, redet man so, dass die Zuhörer den Eindruck ha­

ben: Da wird uns etwas gesagt, was uns bis ans Herz

herandringt, was mit unserer Menschlichkeit zu tun hat,

dann betrachten sie dieses aus einer Weltanschauung

heraus Kommende als das Wichtigste, was an sie heran­

treten kann. Ein Gefühl dafür ist vorhanden, dass vor al­

len Dingen Aufklärung [ ... ] unter die Massen kommen

muss. Die Leute lechzen, mehr oder weniger unbewusst,

aber sie lechzen nach dem, was aus einer Weltanschau­

ung heraus kommt. [ ... ] Wenn wir aber heute mit einer

Weltanschauung an die Menschen herantreten, die wir

aus dem nehmen, was heute aus der Wissenschaft ge­

wonnen werden kann - wir werden uns bald überzeu­

gen, dass es unmöglich ist, damit ins Herz der Menschen

hineinzugreifen, etwas dem Menschen zu geben, das an

sein Menschentum rührt. Der Mensch wird das immer

61

Page 58: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

als etwas Äußerliches empfinden, was man ihm da ge­

ben kann. Er wird es so empfinden, dass er, wenn er sich

vertrauensvoll ausspricht, dass er dann einem sagt: Ja,

das mag alles recht schön sein. Aber wir können es nicht

verstehen, denn es sind so viele Dinge darin, zu denen

man eine besondere Vorbildung haben muss. Es ist uns

nicht einfach genug, es ist etwas, wo wir uns sagen müs­

sen: Da kommst du nicht mit. Viele Menschen habe ich

so reden gehört[ ... ]. Wer genauer hinsieht, was da aus

den Tiefen des Menschentums in der heutigen Zeit he­

raufkommt, wer auf den Menschen hinschaut, der sich

gerade durch das technische Wesen der neueren Zeit he­

rangebildet hat, wer in dessen Herz, in dessen Seelenbe­

schaffenheit hineinschaut, der sieht, dass in diesem Men­

schen, der nicht durch die Mittel- und Hochschulbildung

hindurchgegangen ist, die uns heute den Intellekt so

wertvoll macht, dass in diesem Menschen nicht vorhan­

den ist ein innerliches Interesse für all das, was innerhalb

der Intelligenz werden kann, sondern etwas ganz anderes

vorhanden ist. Hier offenbart sich ein Elementares, was

aus den Tiefen heraufkommt und was sich in unserer so­

zialen Ordnung nach oben bewegt - ein Elementares,

das man im allergeringsten Maße heute in Europa noch

versteht, weil es etwas Neues ist, und, wenn es verstan­

den wird, zeigen kann, wie man vor die breite Masse mit

Weltanschaulichem hintreten muss.» (Leben im dritten

Jahrtausend, Vortrag vom 10. Juni 1922, S. 278-287; in

der Textbearbeitung der GA: GA 83, S. 254-263).

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Page 59: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

Diese Ausführungen Rudolf Steiners machen deutlich, wa­

rum es ihm ein großes Anliegen war, selbst seine inhaltlich

anspruchsvolle Philosophie der Freiheit so zu schreiben,

dass jeder Mensch sie verstehen kann.

"Der Mensch sehnt sich nach Anthroposophie, weil er

in seinem Alltag den Materialismus überwinden möchte.

Der Bürger empfindet hingegen eine nicht immer zum Be­

wusstsein gebrachte Abneigung gegen die Anthroposophie,

weil er es schwer hat, mit dem Geist Ernst zu machen und

sein materialistisches Leben zu ändern. Der Wissenschaft­

ler kann nicht anders, als die Anthroposophie unschädlich

zu machen. Er behandelt sie wie eine Weltanschauung unter

anderen, die der Vergangenheit angehören. Was sie einma­

lig macht - so das nicht offen eingestandene, aber offen­

kundige Fazit von Prof. Clement-, ist der in der Geschichte

des Abendlandes einzigartige Größenwahn Rudolf Steiners.

Der Schlüssel zum Weg nach vom, zum Gedeihen der

Anthroposophie nicht nur im privaten Leben, sondern in

allen Lebensbereichen, liegt in der Besinnung auf die Tat­

sache, dass in jedem Menschen der Mensch lebt. Zu einer

solchen Besinnung kann nicht eine Gruppe oder eine Ge­

sellschaft kommen. Sie kann nur im Innersten des Indivi­

duums geschehen. Jede Individualität, die den Mut findet,

zum Menschen in sich selbst zu finden - zum Menschen

auch im Anthroposophen, zum Menschen auch im Mitglied

der Anthroposophischen Gesellschaft oder der «Klasse»-,

wird zur Anthropos-Sophia, zur Weisheit vom Menschen

finden können. Denn nicht der Bürger, der Wissenschaftler

oder der Anthroposoph sucht die Anthroposophie, sondern

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Page 60: Achiati: Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend

der Mensch im Bürger, der Mensch im Wissenschaftler und

der Mensch im Anthroposophen. Das ist die hoffnungsvolle

Perspektive der Anthroposophie, dass sie vom Menschen in

jedem Menschen mit aller Kraft gesucht wird!

Das ist auch der Weg, auf dem Rudolf Steiner aus der

unerträglichen, aber auch nicht überzeugenden Lage des

Einzel- oder Sonderfalls erlöst werden kann. Der demokra­

tische Sinn des modernen Bürgertums verlangt die Gleich­

heit aller Menschen. Die akademische Welt meint, Ernst

damit zu machen, indem sie dekretiert: Den Sonderfall

eines Wissenschaftlers in geistigen Dingen kann es nicht

geben, darf es nicht geben.

Es liegt an jedem Menschen, der es will, mit seinem Le­

ben den Beweis zu erbringen, dass Rudolf Steiner ganz und

gar nicht ein Einzel- oder Sonderfall ist, sondern lediglich

ein «Erstfall». Jeder Mensch ist gleich jedem anderen befä­

higt, im Laufe seiner Entwicklung zu einem Geisteswissen­

schaftler zu werden. Der bürgerlich-akademische Macht­

spruch sieht die Gleichheit aller Menschen darin, dass kei­

ner ein Geisteswissenschaftler sein kann. Im freien Indivi­

duum strebt die Menschheit nach jener Gleichheit, in der

alle Menschen gleichermaßen Geisteswissenschaftler sind.

Ich weiß, damit ist sehr viel und sehr wenig gesagt, aber

ich habe schon zu lange geschrieben und danke dem Leser,

der es mit mir bis zum Ende ausgehalten hat.

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