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AUSGABE 04 | 2019 MITTWOCH, 13. NOVEMBER 2019 „Deutschland ist digitales Entwicklungsland“ Wandel in der Wirtschaft: An allen Ecken und Enden hört man von der „Digitalisierung“. Was das genau ist, warum Deutschland bei diesem Thema hinterher hängt und wie man auch als Arbeitnehmer davon profitieren kann, statt womöglich wegrationalisiert zu werden, erklärt Experte Felix Plötz im Interview Herr Plötz, Digitalisierung wird als „heißester Scheiß“ in der Wirtschaftswelt gefeiert. Dabei gibt es sie doch eigentlich schon länger als uns beide, oder? FELIX PLÖTZ: Ja! (lacht) Der Ursprung der Digitalisierung liegt im Jahr 1703. Damals wur- de erfunden, dass man Infor- mationen in Form von Nullen und Einsen darstellen kann. Dieses Prinzip hat man sich zum Beispiel mit dem Morse- telegraph und der Blinden- schrift zu eigen gemacht. Neu ist allerdings die Qualität und Geschwindigkeit, die sie in den vergangenen fünf bis zehn Jah- ren aufgenommen hat – und noch weiter aufnimmt. Aber was bedeutet Digitalisie- rung jetzt ganz genau? PLÖTZ: Es gibt keine Defini- tion, die man allumfassend nennen kann. Das, was uns im Moment betrifft, ist die Macht der Algorithmen. Dass sie im- mer besser werden und da- durch Maschinen mehr und mehr menschliche Tätigkeiten nicht nur übernehmen, son- dern auch besser können. „Das Ende der dummen Arbeit – wie du als Angestellter zu mehr Sinn, Geld und Freiheit kommst“ – lautet der Titel Ihres aktuellen Buches. Wie kann denn der „kleine Mann“ von der Digitalisierung profitieren? PLÖTZ: Auch als „normaler Mensch“ lohnt es sich, sich mit Digitalisierung und Wandel zu beschäftigen. Vor ein paar Jah- ren war es zum Beispiel noch völlig ungewöhnlich, dass je- mand im Homeoffice arbeitet. Durch die Digitalisierung und die sich wandelnde Arbeits- welt ist das mittlerweile mög- lich! Das ist aber nur ein Rand- bereich. Und der Hauptbereich? PLÖTZ: Hinter der sich schnell verändernden Wirtschafts- welt, die durch Start-ups ge- prägt und zum Teil auch be- droht ist, steht der Wunsch nach mehr Agilität. Der Wunsch, schlagkräftiger, nä- her dran und nicht mehr so starr und hierarchisch zu sein. Das hat sich in den vergange- nen fünf Jahren einmal quer durch die Wirtschaft gezogen. Und das ist extrem spannend, denn das bringt für mich als normalen Angestellten ganz viele neue Freiheiten. Wie könnte die neue Freiheit des Angestellten denn aussehen? PLÖTZ: Ich könnte mich zum Beispiel mit meinen eigenen Ideen einbringen, auch wenn ich nicht derjenige bin, der in der Hierarchie ganz oben steht. Aber ich bin der, der dafür viel- leicht viel näher dran ist – am alltäglichen Geschäft und am Kunden. Warum ist es in einer digitalen Welt plötzlich einfacher, dass sich solche Ideen durchsetzen? PLÖTZ: Oft braucht man kei- ne große Maschine, die man teuer anschaffen oder erstmal herstellen müsste. Häufig geht es um ein digitales Geschäfts- modell, das man ohne großes Risiko einfach ausprobieren kann. Deswegen können heu- te auch ganz normale Mit- arbeiter zu „Unternehmern“ werden. Ein schönes Beispiel dafür ist die Gründung des Unternehmens „Pakadoo“. Worum geht es dabei? PLÖTZ: Die Idee ist aus einem eigenen Problem heraus ent- standen: Ein Mitarbeiter, der etwas bestellt hatte, fand es wahnsinnig nervig, dass er abends nicht sein Päckchen, sondern einen Zettel mit der sinngemäßen Botschaft „Ihr Paket wäre heute zugestellt worden, aber weil Sie nicht da waren, können Sie es ab Sams- tagmorgen bei der Post abho- len“ fand. Das wäre im Prin- zip der analoge und langwie- rige Weg. Und der schnelle, digitale? PLÖTZ: Der Mitarbeiter arbei- tet in einer Logistikfirma und hat überlegt, ob es nicht mög- lich wäre, Packstationen in die Firmen zu stellen. Und ein Sys- tem entwickelt, wie man pri- vate von Geschäftspost trennt und wie und wann die Päck- chen abgeholt werden kön- nen. Dazu brauchte es kein gro- ßes, technisches Gerät. Man musste sich einfach nur Ge- danken machen, wie man das schlank und digital aufbaut. Der Mitarbeiter hat für diese Idee geworben und Unterstüt- zer gefunden. Das hat letzt- endlich dazu geführt, dass dar- aus eine Firma in der Firma ge- worden ist – mit dem Ideen- geber als Chef. Können Sie Menschen verste- hen, die sagen: Ich habe auch Angst vor diesen Entwicklun- gen? PLÖTZ: Ja, absolut. Diese Angst ist in gewisser Weise auch berechtigt. Zumindest insofern, als dass ich mir Ge- danken machen sollte, wie meine persönliche Arbeits- welt in fünf bis zehn Jahren aussehen könnte. Es reicht ja schon, wenn man zu Mc Do- nald’s geht. Es stehen mitt- lerweile in vielen Filialen Automaten, wo ich meine Be- stellung abgeben kann. Wenn ich bei Rewe bin, gibt es Kas- sen, an denen ich meine Ein- käufe selbst scanne. Oder Ale- xa mit der Sprachsteuerung. Auch wenn man vielleicht denkt, das ist so schlecht, das setzt sich nie durch, kann es sein, dass das in der digitalen Welt sehr, sehr schnell geht. Klingt, als ob man schnell über- flüssig werden kann in der Arbeitswelt. PLÖTZ: Man sollte sich sehr genau überlegen, ob der ak- tuelle Job einer ist, den ich wie eine Maschine erledige, ob es eine Rolle spielt, ob ich da bin und ob ich mich mit meinen persönlichen Fähigkeiten ein- bringe. Oder ob man da eigentlich jeden hinsetzen könnte. Man sollte sich die Frage stellen: Wenn ich heute wie eine Maschine arbeite, ob das dann nicht in ein paar Jah- ren auch eine Maschine ma- chen kann. Ein Beispiel dafür ist Volkswagen, wo 5.000 bis 7.000 Stellen wegfallen, weil Routineaufgaben durch Auto- matisierung übernommen werden. Man hört ja auch oft, dass nicht nur einzelne Personen, sondern ganz Deutschland im Vergleich zu Ländern wie China in Sa- chen Digitalisierung ins Hin- tertreffen geraten könnte. Könn- ten wir sogar zum Entwick- lungsland werden oder ... PLÖTZ: Das sind wir schon. Da muss man gar nicht in die Zukunft gucken. Das gilt aber im Prinzip für Europa insge- samt. Wenn Sie sich anschau- en, wo die Innovationen der vergangenen zehn Jahre her- kommen, die uns in unserem täglichen Leben berühren, dann sind das in erster Linie amerikanische Tech-Konzer- ne wie Google, Amazon oder Facebook. Aus unserer Per- spektive könnten man sagen: Der Vorreiter sind die USA. Das stimmt in gewisser Weise auch. Aber nur, weil wir den ganzen chinesischen Teil nicht mitbekommen. Verraten Sie uns, was genau wir davon nicht mitbekommen. PLÖTZ: Die Digitalisierung in China ist schon viel, viel wei- ter. Da kann man an der Kas- se mit Gesichtserkennung be- zahlen. Ein anderes Beispiel ist ein komplettes Kantinen- essen, das von einer Kamera erkannt und abgerechnet wird, ohne dass ich sagen muss: einmal Pommes und einmal Currywurst. Ein Punkt ist, dass wir in Europa und ein bisschen auch in den USA die ganzen Datenschutzbedenken haben – aber durchaus auch zurecht. Gibt es in China denn gar kei- ne Datenschutzbedenken dieser Art? PLÖTZ: Falls es diese ganzen Bedenken in China gibt, wer- den sie nicht so wahrgenom- men oder berücksichtigt. Das bedeutet, wenn Sie Techno- logien wie eine Gesichts- oder Spracherkennung haben, brauchen Sie am Anfang her- ausragende Wissenschaftler, die grundlegende Arbeit ma- chen, damit das überhaupt funktioniert. Der Teil ist aber mittlerweile durch. Dann brauchen Sie viele Ingenieu- re, die das vorantreiben. Und was Sie dann vor allen Din- gen brauchen, ist Input von Daten. Wenn in China über eine App von der Gesichts- erkennung bis zur Zahlung al- les funktioniert, dann sind da- für sehr viele Daten erforder- lich gewesen. Hat die Digitalisierung die Macht, die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse auf der Welt nochmal ganz neu zu ord- nen? PLÖTZ: Ja! Zu 100 Prozent ja. Die globalen Machtverhältnis- se werden sich Richtung Chi- na verschieben. In ungefähr fünf bis zehn Jahren werden die Chinesen auf Augenhöhe mit den Amerikanern sein und vielleicht auch noch darüber hinauswachsen. Wir in Deutschland werden dann Im- porteure der Technik sein und sie nicht selbst herstellen. Wenn Sie bei einer Fee einen analogen Wunsch frei hätten, welcher wäre das? PLÖTZ: Die meisten Dinge, die für mich wirklich von Bedeu- tung sind und die ich mir wün- sche, sind tatsächlich nicht di- gital. Für mich zählt, wie wir miteinander umgehen, wie wir einander bereichern und wie wir unsere menschlichen Stär- ken einbringen. Das alles kön- nen Maschinen nicht. Das Gespräch führte Monika Dütmeyer Digitalisierung macht’s möglich: Autor, Unternehmer und Vortragsredner Felix Plötz hat sein erstes Buch im Digitaldruckverfahren in kleiner Auflage gedruckt und über Amazon vertrieben – vor der Digitalisie- rung wäre das vermutlich nicht für vergleichsweise kleines Geld möglich gewesen. FOTO: HEINER HÄNSEL

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AUSGABE 04 | 2019 MITTWOCH, 13. NOVEMBER 2019

„Deutschland ist digitales Entwicklungsland“Wandel in der Wirtschaft: An allen Ecken und Enden hört man von der „Digitalisierung“. Was das genau ist, warum Deutschland bei diesem Thema hinterherhängt und wie man auch als Arbeitnehmer davon profitieren kann, statt womöglich wegrationalisiert zu werden, erklärt Experte Felix Plötz im Interview

Herr Plötz, Digitalisierung wirdals „heißester Scheiß“ in derWirtschaftswelt gefeiert. Dabeigibt es sie doch eigentlich schonlänger als uns beide, oder?FELIX PLÖTZ: Ja! (lacht) DerUrsprung der Digitalisierungliegt im Jahr 1703.Damalswur-de erfunden, dass man Infor-mationen in Form von Nullenund Einsen darstellen kann.Dieses Prinzip hat man sichzum Beispiel mit dem Morse-telegraph und der Blinden-schrift zu eigen gemacht. Neuist allerdings die Qualität undGeschwindigkeit, die sie in denvergangenen fünf bis zehn Jah-ren aufgenommen hat – undnoch weiter aufnimmt.

Aber was bedeutet Digitalisie-rung jetzt ganz genau?PLÖTZ: Es gibt keine Defini-tion, die man allumfassendnennen kann. Das, was uns imMoment betrifft, ist die Machtder Algorithmen. Dass sie im-mer besser werden und da-durch Maschinen mehr undmehr menschliche Tätigkeitennicht nur übernehmen, son-dern auch besser können.

„Das Ende der dummen Arbeit– wie du als Angestellter zu mehrSinn, Geld und Freiheitkommst“ – lautet der Titel Ihresaktuellen Buches. Wie kanndenn der „kleine Mann“ von derDigitalisierung profitieren?PLÖTZ: Auch als „normalerMensch“ lohnt es sich, sich mitDigitalisierung und Wandel zubeschäftigen. Vor ein paar Jah-ren war es zum Beispiel nochvöllig ungewöhnlich, dass je-mand im Homeoffice arbeitet.Durch die Digitalisierung unddie sich wandelnde Arbeits-welt ist das mittlerweile mög-lich! Das ist aber nur ein Rand-bereich.

Und der Hauptbereich?PLÖTZ: Hinter der sich schnellverändernden Wirtschafts-welt, die durch Start-ups ge-prägt und zum Teil auch be-droht ist, steht der Wunschnach mehr Agilität. Der

Wunsch, schlagkräftiger, nä-her dran und nicht mehr sostarr und hierarchisch zu sein.Das hat sich in den vergange-nen fünf Jahren einmal querdurch die Wirtschaft gezogen.Und das ist extrem spannend,denn das bringt für mich alsnormalen Angestellten ganzviele neue Freiheiten.

Wie könnte die neue Freiheit desAngestellten denn aussehen?PLÖTZ: Ich könnte mich zumBeispiel mit meinen eigenenIdeen einbringen, auch wennich nicht derjenige bin, der inder Hierarchie ganz oben steht.Aber ich bin der, der dafür viel-leicht viel näher dran ist – amalltäglichen Geschäft und amKunden.

Warum ist es in einer digitalenWelt plötzlich einfacher, dasssich solche Ideen durchsetzen?PLÖTZ: Oft braucht man kei-ne große Maschine, die manteuer anschaffen oder erstmalherstellen müsste. Häufig gehtes um ein digitales Geschäfts-modell, das man ohne großesRisiko einfach ausprobierenkann. Deswegen können heu-te auch ganz normale Mit-arbeiter zu „Unternehmern“werden. Ein schönes Beispieldafür ist die Gründung desUnternehmens „Pakadoo“.

Worum geht es dabei?PLÖTZ: Die Idee ist aus einemeigenen Problem heraus ent-standen: Ein Mitarbeiter, deretwas bestellt hatte, fand eswahnsinnig nervig, dass erabends nicht sein Päckchen,sondern einen Zettel mit dersinngemäßen Botschaft „IhrPaket wäre heute zugestelltworden, aber weil Sie nicht dawaren, können Sie es ab Sams-tagmorgen bei der Post abho-len“ fand. Das wäre im Prin-zip der analoge und langwie-rige Weg.

Und der schnelle, digitale?PLÖTZ: Der Mitarbeiter arbei-tet in einer Logistikfirma undhat überlegt, ob es nicht mög-

lich wäre, Packstationen in dieFirmen zu stellen. Und ein Sys-tem entwickelt, wie man pri-vate von Geschäftspost trenntund wie und wann die Päck-chen abgeholt werden kön-nen.Dazubrauchtees keingro-ßes, technisches Gerät. Manmusste sich einfach nur Ge-danken machen, wie man dasschlank und digital aufbaut.Der Mitarbeiter hat für dieseIdee geworben und Unterstüt-zer gefunden. Das hat letzt-endlich dazu geführt, dass dar-aus eine Firma in der Firma ge-worden ist – mit dem Ideen-geber als Chef.

Können Sie Menschen verste-hen, die sagen: Ich habe auchAngst vor diesen Entwicklun-gen?PLÖTZ: Ja, absolut. DieseAngst ist in gewisser Weiseauch berechtigt. Zumindestinsofern, als dass ich mir Ge-danken machen sollte, wiemeine persönliche Arbeits-welt in fünf bis zehn Jahrenaussehen könnte. Es reicht jaschon, wenn man zu Mc Do-nald’s geht. Es stehen mitt-lerweile in vielen FilialenAutomaten, wo ich meine Be-stellung abgeben kann. Wennich bei Rewe bin, gibt es Kas-

sen, an denen ich meine Ein-käufe selbst scanne. Oder Ale-xa mit der Sprachsteuerung.Auch wenn man vielleichtdenkt, das ist so schlecht, dassetzt sich nie durch, kann essein, dass das in der digitalenWelt sehr, sehr schnell geht.

Klingt, als ob man schnell über-flüssig werden kann in derArbeitswelt.PLÖTZ: Man sollte sich sehrgenau überlegen, ob der ak-tuelle Job einer ist, den ich wieeine Maschine erledige, ob eseine Rolle spielt, ob ich da binund ob ich mich mit meinen

persönlichen Fähigkeiten ein-bringe. Oder ob man daeigentlich jeden hinsetzenkönnte. Man sollte sich dieFrage stellen: Wenn ich heutewie eine Maschine arbeite, obdas dann nicht in ein paar Jah-ren auch eine Maschine ma-chen kann. Ein Beispiel dafürist Volkswagen, wo 5.000 bis7.000 Stellen wegfallen, weilRoutineaufgaben durch Auto-matisierung übernommenwerden.

Man hört ja auch oft, dass nichtnur einzelne Personen, sondernganz Deutschland im Vergleichzu Ländern wie China in Sa-chen Digitalisierung ins Hin-tertreffen geraten könnte. Könn-ten wir sogar zum Entwick-lungsland werden oder . . .PLÖTZ: Das sind wir schon.Da muss man gar nicht in dieZukunft gucken. Das gilt aberim Prinzip für Europa insge-samt. Wenn Sie sich anschau-en, wo die Innovationen dervergangenen zehn Jahre her-kommen, die uns in unseremtäglichen Leben berühren,dann sind das in erster Linieamerikanische Tech-Konzer-ne wie Google, Amazon oderFacebook. Aus unserer Per-spektive könnten man sagen:Der Vorreiter sind die USA.Das stimmt in gewisser Weiseauch. Aber nur, weil wir denganzen chinesischen Teil nichtmitbekommen.

Verraten Sie uns, was genau wirdavon nicht mitbekommen.PLÖTZ: Die Digitalisierung inChina ist schon viel, viel wei-ter. Da kann man an der Kas-se mit Gesichtserkennung be-zahlen. Ein anderes Beispiel istein komplettes Kantinen-essen, das von einer Kameraerkannt und abgerechnetwird, ohne dass ich sagenmuss: einmal Pommes undeinmal Currywurst. Ein Punktist, dass wir in Europa und einbisschen auch in den USA dieganzen Datenschutzbedenkenhaben – aber durchaus auchzurecht.

Gibt es in China denn gar kei-ne Datenschutzbedenken dieserArt?PLÖTZ: Falls es diese ganzenBedenken in China gibt, wer-den sie nicht so wahrgenom-men oder berücksichtigt. Dasbedeutet, wenn Sie Techno-logien wie eine Gesichts- oderSpracherkennung haben,brauchen Sie am Anfang her-ausragende Wissenschaftler,die grundlegende Arbeit ma-chen, damit das überhauptfunktioniert. Der Teil ist abermittlerweile durch. Dannbrauchen Sie viele Ingenieu-re, die das vorantreiben. Undwas Sie dann vor allen Din-gen brauchen, ist Input vonDaten. Wenn in China übereine App von der Gesichts-erkennung bis zur Zahlung al-les funktioniert, dann sind da-für sehr viele Daten erforder-lich gewesen.

Hat die Digitalisierung dieMacht, die wirtschaftlichen undpolitischen Verhältnisse auf derWelt nochmal ganz neu zu ord-nen?PLÖTZ: Ja! Zu 100 Prozent ja.Die globalen Machtverhältnis-se werden sich Richtung Chi-na verschieben. In ungefährfünf bis zehn Jahren werdendie Chinesen auf Augenhöhemit den Amerikanern sein undvielleicht auch noch darüberhinauswachsen. Wir inDeutschland werden dann Im-porteure der Technik sein undsie nicht selbst herstellen.

Wenn Sie bei einer Fee einenanalogen Wunsch frei hätten,welcher wäre das?PLÖTZ:DiemeistenDinge,diefür mich wirklich von Bedeu-tung sind und die ich mir wün-sche, sind tatsächlich nicht di-gital. Für mich zählt, wie wirmiteinander umgehen, wie wireinander bereichern und wiewir unsere menschlichen Stär-ken einbringen. Das alles kön-nen Maschinen nicht.

Das Gespräch führteMonika Dütmeyer

Digitalisierung macht’s möglich: Autor, Unternehmer und Vortragsredner Felix Plötz hat sein erstes Buchim Digitaldruckverfahren in kleiner Auflage gedruckt und über Amazon vertrieben – vor der Digitalisie-rung wäre das vermutlich nicht für vergleichsweise kleines Geld möglich gewesen. FOTO: HEINER HÄNSEL

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2 MITTWOCH13. NOVEMBER 2019

Smarte AusbildungInnovationszentrum: Der smarten Produktion gehört die Zukunft. Doch für viele Unternehmen ist diese gar nicht so einfach zu stemmen.

Individuelle Hilfe bietet die Deutsche Angestellten-Akademie in Bad Oeynhausen – unter anderem in Form digital geprägter Aus- und Weiterbildungen

Von Julia Fahl

S tephan Mielke macht esvor. Ein Fingertippen aufden Touchscreen. Die di-

gitale Lern-App öffnet sich aufdem Tablet. Tipp. Er wählt einProjekt aus: Herstellung eineseinfachen Stufenbolzens. Tipp.Ein Video spielt ab, Schritt fürSchritt zeigt es, wie dieser Stu-fenbolzen an einer Drehma-schine gefertigt wird. Eben-falls nur wenige Fingerbewe-gungen entfernt: ein detailge-treuer Bauplan, Fotos, ein be-wegliches virtuelles 3D-Mo-dell des Bolzens und Fachlite-ratur. Individuelles Lernen ineiner smarten Ausbildung – dieDigitalisierung macht’s mög-lich am Berufskolleg der Deut-schen Angestellten-AkademieOstwestfalen (DAA) im Inno-vationszentrum Fennel (IZF)in Bad Oeynhausen.

INNOVATIONSZENTRUMDie DAA ist ein bundesweiterAus- und Weiterbildungsträ-ger und bietet in Bad Oeyn-hausen industrielle und tech-nologische Aus- und Weiter-bildungen insbesondere fürkleine und mittelständischeUnternehmen an. In dem pri-vaten Berufskolleg lernen zu-dem junge Menschen im Al-ter von 17 bis 25 Jahren, diean anderen Berufskollegs kei-ne Chance haben, erklärtStandort- und BereichsleiterinMandy Franziska Grunau. „Beiuns bekommen sie diese Chan-ce – unabhängig von ihren No-ten oder ihrem Hintergrund.“Aber bewerben müssen sie sichum einen Platz. „Und die Pro-

bezeit überstehen. Geschenktwird ihnen hier nichts“, sagtStephan Mielke. Denn auch aufsie wartet am Ende eine IHK-Prüfung.

TIPP, TIPP – TABLETDort, wo ein gelbes Schild ander Einfahrt auf das „Morgenin OstWestfalen-Lippe“ ver-weist, ist Stephan Mielke stell-vertretender Bereichsleiter undtechnischer Berater – und be-gleitet Schüler und Mitarbei-ter in dieses digitale Morgen.„Wir wollen allen hier die best-mögliche Ausbildung ermög-lichen“, sagt er – und da sinddie Tablets nur ein kleiner, aberwesentlicher Bestandteil derDigitalisierungsstrategie. Mitden handlichen Computernsind alle Schüler auf demsel-ben technischen Stand. Egal obin Gruppenarbeiten, für Prä-sentationen vor der Klasse, inden Betriebspraktika – dieSchüler haben immer die rich-tige technische Unterstützungan ihrer Seite. „Gleichzeitig er-weitern und professionalisie-ren wir ihre digitale Kompe-tenz“, so Mielke.

APP-GESTÜTZTES LERNENÜber das Tablet – und jedes an-dere internetfähige Gerät –können die Schüler von über-all die mobile Lern- undArbeitsplattform MLS aufru-fen. Entwickelt von der „Nach-wuchsstiftung Maschinenbau“aus Bielefeld-Sennestadt bie-tet die Anwendung den ange-henden Industriemechanikernsowie Maschinen- und Anla-genführern die Möglichkeit,ihre Arbeitsaufgaben an der

Maschine, im Büro oder zu-hause zu bearbeiten – indivi-duell, unkompliziert und oh-ne hohen Papierverbrauch.„Jeder kann seine ProjekteSchritt für Schritt abarbei-ten“, erklärt Mielke. Und dasselbstständig und handlungs-orientiert. Wer Unterstützungbraucht, findet diese in Formweiterführender Materialien.Das Programm dokumentiertdabei den jeweiligen Lernfort-schritt, der Ausbilder kann die-sen jederzeit überprüfen. „DasSystem vereinfacht die Kom-munikation“, sagt Grunau. „Sosparen wir viel Zeit, die wir in

die Qualität der Ausbildung in-vestieren können.“

MODERNE LERNFABRIKTheorie und Praxis im Inno-vationszentrum Fennel untereinem Dach vereinen und nochenger miteinander verzahnen– das ist das Ziel der DAA. Unddie Digitalisierung hilft dabei.Tablets sind das eine,moderns-te Maschinen, an denen ge-lernt werden kann, das ande-re. „Die Maschinen im Werk-zeug- und Formenbau wer-den immer digitaler“, sagtMielke. Um sie effektiv bedie-nen zu können, braucht esKnow-how. Die DAA hat des-halb eine zukunftsweisendeLernfabrikaufgebaut, inderdieFachkräfte von morgen in einerhochtechnologischen Umge-bung praxisnah das lernen, wassie nachher im Unternehmenkönnen müssen: nämlich di-gitalisierte Prozesse im Werk-zeug- und Formenbau verste-hen und steuern.

TECHNISCHE ZUKUNFTMöglich machen es moderns-te Maschinen, die dank derUnterstützung von Koopera-tionspartnern wie Siemens undHeidenhain einziehen durf-ten. Besonders stolz ist Lern-fabrik-Leiter Klaus Schom-burg auf eine Hochgeschwin-digkeitsfräse, die eine simul-tane Fünf-Achsen-Bewegungermöglicht. Aber auch dieDrahterodiermaschine, die aufden tausendstel Millimeter ge-nau arbeitet, und die Hoch-präzisions-Senkerodierma-schine sind für viele Unter-nehmen noch Zukunftsmusik.

Alle zusammen machen dieeinzelnen Schritte einer digi-tal vernetzten Fertigung nichtnur erlebbar, sondern auch er-lernbar: vom rechnerunter-stützten Konstruieren bis hinzum fertigen Produkt wie einerElektrode, einem Werkzeugoder einem Spritzgussteil.

NEUE COACHING-ROLLEDie Technik kann noch so fort-schrittlichsein,esbrauchtFach-kräfte, die sie bedienen kön-nen. Die wahre Herausforde-rung der Digitalisierung ist des-halb die Personalentwicklung,sindsichMielkeundGrunauei-nig. „Jeder muss mitgenom-men werden“, sagt Mielke, „dasbraucht Zeit.“ Vor allem klei-nere Maschinenbau-Betriebebräuchten Hilfe. „Wir sind inder Lage, ihre Mitarbeiter andie Hand zu nehmen“, betontGrunau. Erst Mitte Oktober istdas vom Land NRW und vonder EU geförderte, 24-monati-ge Projekt „DIPA|Q“ gestartet.Gemeinsam mit dem Techno-logienetzwerk „OWL Maschi-nenbau“, kleinen und mittle-ren Unternehmen und Trans-ferpartnern will die DAAUnternehmen bei der Perso-nalentwicklung helfen. „Wiranalysieren zunächst, welchenBedarf es gibt“, erklärt Gru-nau. „Dann wollen wir Bil-dungsprodukte entwickeln, diedie Unternehmen nutzen kön-nen, um das nötige Know-howbei ihren Mitarbeitern aufzu-bauen.“ So schlüpft die DAAerstmals in die Coaching-Rolleund macht eine Verwandlungdurch:vomBildungsträgerzumBildungsdienstleister.

Blick in die Lernfabrik: Klaus Schomburg, Stephan Mielke und Mandy Franziska Grunau (v. l.) stehenan der Hochpräszisions-Senkerodiermaschine. FOTOS: JULIA FAHL

Hier wird am Morgen gearbeitet: Das Innovationszentrum Fennel, indem die DAA beheimatet ist.

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3MITTWOCH13. NOVEMBER 2019

Mathe fürsMiteinanderKooperation: In Zeiten des digitalen Wandels braucht es mehr denn je ein Miteinander statt ein Gegeneinander.

Thomas Kottmann und Kurt Smit haben mit ihrem Paderborner Unternehmen eine Formel für bessere Zusammenarbeit gefunden

Von Julia Fahl

D er digitale Wandel be-trifft uns alle. GefühltdrehtsichdieWelt im-

mer schneller, Abläufe werdenkomplexer. Immer mehr In-formationen prasseln auf unsein, in immer kürzeren Ab-ständen müssen wir lernen, mitNeuem umzugehen. Das be-trifft unser Privatleben, vor al-lem aber unseren Arbeitsplatz.

Die digitale Transforma-tion ist eine Herausforderung,die sich nicht mehr aufhaltenlässt. Der sich Unternehmennur erfolgreich stellen kön-nen, wenn Chef und Ange-stellte an einem Strang ziehenund Ziele gemeinsam verfol-gen. Miteinander statt gegen-einander, Kooperation stattKonkurrenz, Zusammen-arbeit statt Wettkampf. Nurwenn die Ellenbogen eingezo-gen werden, kann ein Unter-nehmen langfristig effizientund erfolgreich in die Zu-kunft starten.

DIE GESCHÄFTSIDEEGenau da setzen Thomas Kott-mann und Kurt Smit vom Pa-derborner Trainings- und Be-ratungsunternehmen Kott-mann GmbH an. Sie haben einKonzept entwickelt, mit demsie die Bereitschaft zur Zu-sammenarbeit in Unterneh-men messen und im An-schluss in einem Vier-Stufen-Programm verbessern kön-nen. „Transkooption“ – einKofferwort aus „Transforma-tion“ und „Kooperation“ – ha-ben sie diesen Prozess ge-nannt. „Unser Ziel ist es, dieArbeitswelt lebenswerter zumachen und die Kultur in denUnternehmen zu verbessern“,fasst Kottmann zusammen.Auf das Wir-Gefühl komme esan, damit der digitale Wandelgelingen kann.

PROBLEM WETTBEWERBImmer noch glauben vieleChefs, dass sie nur den Wett-bewerb unter ihren Angestell-ten fördern müssen, um dieProduktivität und Innova-tionskraft ihres Unterneh-mens zu steigern. „Ein Irr-tum“, sagt Smit. Wenn Mit-arbeiter um Geld, Positionenoder die Anerkennung ihresVorgesetzten konkurrieren,werden nur selten Erfahrun-gen und Wissen ausgetauscht– weil jeder auf seinen Vorteilbedacht ist. Effizient ist dasnicht. „Gleichzeitig wird eineDruckkulisse aufgebaut und eswerden Misstrauen und Ängs-te geschürt“, sagt Kottmann.Das mache unzufrieden, ziehezu viel Energie und verursa-che Stress. PsychosomatischeKrankheiten bis hin zum Burn-

out seien nicht selten die Fol-ge.DamitsinktauchderUnter-nehmenserfolg.

VORTEIL KOOPERATION„Ein Unternehmen brauchtMenschen, die mitarbeiten.Die neugierig sind und Dingeaus eigener Kraft vorantrei-ben“, so Kottmann. Deshalbsollte jedes Unternehmen aufKooperationsetzen,umein an-genehmes Betriebsklima zuschaffen, in dem die Mitarbei-ter wertgeschätzt werden, mit-einander kooperieren, Wissenaustauschen und einen Hand-lungsspielraum erhalten. Ko-operation erleichtere nicht nurdie Arbeit jedes Einzelnen undleiste einen entscheidendenBeitrag zur jeweiligen Zufrie-denheit und Gesundheit, soSmit. „Auch die Produktivitätsteigt,wennalle gemeinsamaufdas gegnerische Tor zustür-men“, fasst Kottmann zusam-men. Dafür braucht es nur Ver-trauen. „Vertrauen ist dieGrundlage für Kooperation“,sagt Smit. „Man muss Aufga-ben auch abgeben können.“

KEINER IST FEHLERFREIWichtig dabei: Fehler dürfenpassieren. Sie sollten in einerKooperationskultur sogar alsChance betrachtet werden.„Aus Fehlern lernt man undsie sind die Voraussetzung fürechte Innovationen“, sagtSmit. Geschäftspartner Kott-mann ergänzt: „Innovationenkönnen nur in einem angst-freien Raum entstehen.“

GUT GEFÜHRTAls erstes müssen Führungs-kräfte umdenken. „Angesichtsder Digitalisierung hat sich derautoritäre Führungsstil einesvermeintlich allwissendenChefs, der seine Mitarbeiternur als Befehlsempfänger sieht,längst überholt“, sagt Smit.„Wir brauchen einen anderenFührungsstil als früher, einenkooperativen Stil, der esschafft, Mitarbeiter intrinsischzu motivieren, damit sie ver-mehrt aus eigenem Antriebhandeln.“ Ein Chef müssemehr ein Dienstleister für sei-ne Mitarbeiter sein. „Er solltedafür sorgen, dass sie alles ha-ben,wasnötig ist,umgutarbei-ten zu können.“ Ein an-spruchsvoller Job für einenVorgesetzten, der sich immermehr in der Rolle des Coa-ches befindet. Ein Job, der Grö-ße und innere Stärke, aber auchdie Bereitschaft zu einem Dia-log auf Augenhöhe verlangt.Aber es ist ein Job, der sichlohnt. „Nur wenn ein Mit-arbeiter seine Selbstwirksam-keit spürt, verstärkt sich seinPotenzial für das Unterneh-men“, sagt Kottmann. Je mehr

Aufgaben er von seinem Chefzugeteilt bekommt, destoselbstbewusster und selbst-ständiger kann er arbeiten –und desto mehr bekommt derChef zurück. In Form von Lo-yalität, Qualität – und Erfolg.

SCHWIERIGER WANDELEs ist laut Kottmann zwar eine„Investition in die Zukunft“,

aber gar nicht so einfach, einenneuen Führungsstil und damitverbunden auch eine neue Kul-tur zu etablieren. „Die Unter-nehmenskultur verändert sichnur von oben herunter. Als ers-tes muss also der Chef erken-nen, dass er anders führenmuss.“ Erst dann kann ein Pro-zess beginnen, bei dem Kott-mann und Smit aber helfen.

WISSENSCHAFT DAHINTERThomas Kottmann und KurtSmit als studierter Physiker undwissenschaftlicher Leiter desPaderborner Unternehmenshaben dafür das spieltheoreti-sche Konzept der „Transkoop-tion“ entwickelt. Die Spieltheo-rie ist eine mathematischeTheorie, in der Entscheidungs-situationen modelliert werden,in denen mehrere Beteiligtemiteinander interagieren. DieBasis für das Konzept der bei-den bilden die Forschungs-ergebnisse des amerikanischenOrganisationspsychologenAdam Grant. Er hat nachge-wiesen, dass der berufliche Er-folg ganz wesentlich davon ab-hängt, wie hilfsbereit sich einePerson verhält. Der ForscherunterscheidetzwischenvierKo-operationstypen mit verschie-denen Verhaltensstrategien:Nehmer, Tauscher, selbstloseund fremdbezogene Geber (sie-he Grafik). „Wichtig: Es han-delt sich dabei nicht um klas-sische Persönlichkeitstypen,

sondern um Verhaltensstrate-gien, die vom Umfeld abhän-gen“, sagt Kurt Smit. In ihmreifte schnell die Idee, dass sichdie Anwesenheit dieser Koope-rationstypen doch auch ma-thematisch beweisen lassenmüsse. Und es hat geklappt:Smit übersetzte die StrategienGrants in die mathematischeSprache.

SO FUNKTIONIERT’SZuerst füllen ausgewählte Mit-arbeiter Fragebögen aus, aufdenen sie die Hilfsbereitschaftihrer Kollegen bewerten. An-hand dessen ermitteln Kott-mann und Smit mathematischund objektiv die Anzahl der Ko-operationstypen in einemUnternehmen, gleichzeitig aberauch die Art der Beziehungenund die Schwachstellen. In Pha-se 2 führen sie Kurzinterviewsmit ausgewählten Führungs-kräften und Mitarbeitern, umden Ursachen für mangelndeKooperation auf den Grund zugehen. „Nicht immer ist es das

Zwischenmenschliche, das einekooperative Arbeitsbeziehungverhindert“, betont Smit.Manchmal sind es auch be-triebsinterne Prozesse, techni-sche Herausforderungen,strukturelle Probleme, eine zuhohe Arbeitsbelastung, Ziel-konflikte oder fehlende Kom-petenzen. Oder das eigene Ver-halten. Selbstreflexion ist des-halb wichtig.

ES FOLGEN MASSNAHMENIn Phase 3 erarbeiten ThomasKottmann und Kurt Smit kon-krete Maßnahmen, die eine Ko-operationskultur entstehen las-sen können. Und abschließendwerden diese Maßnahmen –zum Beispiel Mediationen,Coachings und Prozessanpas-sungen – in Absprache mit derUnternehmensleitung umge-setzt. „Unsere Arbeit ist mess-bar“, betont Kottmann. Zueinem späteren Zeitpunkt kannalso durch eine erneute Mes-sung überprüft werden, ob sichdas Kooperationsverhalten ver-bessert, die Kollegen zufriede-ner sind, sich vielleicht derKrankenstand verringert oderdie Fluktuation nachgelassenhat.

DAS IDEALE TEAM„Ein ideales Team besteht ausfremdbezogenen Gebern“, er-klärt Kurt Smit. Sie glauben andas Gute im Menschen und ge-hen in Vorleistung, bewertenaber immer wieder, ob sie vomGegenüber auch eine entspre-chende Gegenleistung erwar-ten dürfen. Wird ihr Vertrau-en missbraucht, sanktionierensie das. Fremdbezogene Gebersind aber nicht nur wertvoll fürdas Unternehmen, sondern ste-hen auch an der Spitze der Kar-riereleiter. „Eine Kultur ausselbstlosen Gebern wäre hin-gegen zu instabil.“ Zu groß istdie Gefahr, dass sie ausgenutztwerden.

FRAGE DER HALTUNGDer Wille zur Veränderung seibei Unternehmern oft keineFrage der Generation, sondernvor allem eine des Charaktersund der Haltung. „Haupttrieb-feder sind Schmerzen“, sagtSmit. Keine körperlichenSchmerzen, mehr die Erkennt-nis, dass die Mitarbeiter nichtmehr hinter einem stehen, derKrankenstand zunimmt oderdie Fluktuation hoch ist – undletztlich der Erfolg leidet. Kott-mann und Smit machen die Er-fahrung, dass immer mehrUnternehmen bereit sind, sichzu hinterfragen. „Sie erken-nen, dass sie sich bewegen müs-sen, um den jungen Fachkräf-ten eine andere Arbeitswelt bie-ten und deren Ansprüchen ge-recht werden zu können.“

Coachen Unternehmen, die etwas ändern wollen: Thomas Kottmann(links) und Kurt Smit. FOTO: PRIVAT

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4 MITTWOCH13. NOVEMBER 2019

Digitaler Eisberg voraus!Start-up trifft Mittelstand: Wie einst die Titanic am Eisberg, können Betriebe an der Digitalisierung zerbrechen – oder die Potenziale nutzen. So wie die Firma

Marantec aus Harsewinkel, die mithilfe einer smarten Software des Start-ups Valuedesk nach Sparpotenzialen sucht. Mehr als 100 sind schon gefunden

Von Monika Dütmeyer

Eisberg voraus! Alle Zu-schauer des Films „Ti-tanic“ wissen, was jetzt

zu tun ist: Statt entgegen allerWarnungen highspeed daraufzuzusteuern und in Selbstherr-lichkeit zu versinken, sollteman den weißen Riesen in al-lerTiefeernstnehmenundvor-ausschauend manövrieren. Istder Berg erfolgreich um-schifft, eröffnen sich zur Be-lohnung ganz neue Perspekti-ven auf die Welt.

So eine Art Eisberg treibt seiteiniger Zeit auf den „Welt-meeren der Wirtschaft“. SeinName: Digitalisierung. Die Lis-te seiner prominenten Opferund Verwundeten: mit Nokia,Kodak, Quelle und vielen wei-teren verdammt lang. EinUnternehmen aus Harsewin-kel hat sich vorgenommen,niemals einen Platz auf einerListe der verpassten Möglich-keiten einzunehmen.

„Wir haben uns dazu ent-schieden, die Digitalisierungmit ihren Chancen und Vor-teilen zu nutzen, statt zu ver-suchen,siezuumschiffen“,sagtKerstin Hochmüller. Sie ist Ge-schäftsführerin von Marantec,des Herstellers von smartenTor- und Steuerungssystemenfür privat und industriell ge-nutzte Tore in Harsewinkel.Frei nach dem Unternehmens-motto „Super sein ist wichti-ger“ setzt sie auf die Zusam-menarbeit mit einer neuenUnternehmergeneration von„Supermännern“ und „Super-frauen“. Die kommen in derRegion sogar besonders häu-fig vor.

Das Motto »Supersein ist wichtiger«ist Programm

Die Rede ist von Start-up-Unternehmern, für die es mitder „Founders Foundation“ inBielefeld seit 2016 eine bun-desweit einzigartige „Ausbil-dungsschmiede“ gibt. Dahin-ter steht die Bertelsmann-Stif-tung mit einem Budget von 17Millionen Euro und dem ehr-geizigen Ziel, in Ostwestfalen-Lippe das gründerfreundlichs-te Start-up-Ökosystem derWelt aufzubauen. Die Start-ups sollen einen neuen Mit-telstand bilden und dem „al-ten“ dabei helfen, wettbe-werbsfähig zu bleiben. Außer-dem sollen sie beim Buhlen umden Job des „Königs der Welt“in Wirtschaftsangelegenheitendafür sorgen, dass Deutsch-land gegenüber Bewerbern wieChina und den USA den An-schluss nicht verliert.

Ein Vertreter dieser Start-up-Generation ist mit TorstenBendlin gerade auf dem Wegzu Marantec. Während derFahrtaufdereinspurigenLand-straße gibt es vor der AnkunftGelegenheit, noch etwasHerbstsonne zu tanken, demTanz der gefärbten Blätter imWind zuzusehen und braun-weiß gezeichnete Mitgliedereine Mutterkuhherde auf derWiese zu beobachten. „Das istmal ein Anfahrtsweg“, sagt der50-Jährige und lacht. Wie deroriginale Superman setzt er aufein blaues Berufsoutfit mitBuchstabe.Statteinem„S“trägter aber ein „V“ auf der Brust.

Das steht für sein Unter-nehmen „Valuedesk“, wört-lich übersetzt „Wert-Schreib-tisch“. Lehnt man sich inter-pretatorisch ein Stück weiteraus dem Fenster, könnte manihn als einen modernen Schatz-sucher beschreiben. Gemein-sam mit den Leuten von Ma-rantec spürt er Sparpotenzialeim Unternehmen auf, die bis-lang einfach noch keiner gese-hen hat. Die Funde können da-

bei locker millionenschwerausfallen.

„Gemessen am Umsatz sinddauerhaft bis zu 6,8 ProzentKostenersparnis pro Jahrdrin“, erklärt er. Wie viel jähr-lich im Bauch des Firmen-Sparschweins landen könnte,kann man sich durch das Ver-schieben von zwei Reglern fürdie Größen „Umsatz“ und„Einsparpotenzial in Prozent“auf der Homepage von Value-desk anschauen: Bei einemUmsatz von 40 Millionen undeinem Optimierungsziel vonfünf Prozent kann ein Unter-nehmen eine Million Euro imJahr sparen. Bei einem Um-satz von 1,5 Milliarden undfünf Prozent Einsparpotenzialmehr als 37 Millionen.

GemeinsammillionenschwereSparpotenziale finden

Damit dieses Geld in den Ta-schen der Unternehmen lan-det, kommt statt Landkarteund Spaten neuzeitlichesSchatzsucher-Equipment inForm einer Software zur An-wendung. Doch mit Pro-

gramm installieren und maleben Millionen kassieren ist esnicht getan.

Die Software erfüllt fürUnternehmen eine ähnlicheFunktion wie ein Fitnesstra-cker für den Körper. Sie ist diezentrale Sammelstelle für Fir-men-Fitness-Maßnahmen, dieMitarbeiter aus allen einbezo-genen Abteilungen, Manage-ment und Partnern wie Liefe-ranten zunächst als Idee skiz-zieren. Dazu können sie überihr persönliches Profil ihre Ideeaufschreiben, Fotos oder Do-kumente anhängen. Die„schlaue“ Software checktdann nicht nur die Sparpoten-ziale, sondern auch möglicheWechselwirkungen mit ande-ren Maßnahmen. Wenn je-mand zum Beispiel vor-schlägt, einen viel dünnerenund günstigeren Verpackungs-karton zu kaufen, klingt daserstmal gut. Wenn jemandaußerdemvorschlägt, zueinemgünstigeren Lieferanten zuwechseln auch. Doch nicht im-mer ist das die ganze Wahr-heit.

Dagegen könnte zum Bei-spiel sprechen, dass der güns-tigere Lieferant die dünnere

Kartonstärke gar nicht anbie-tet. Die Software hilft Unter-nehmen dabei, Unstimmigkei-ten dieser Art zu vermeidenund am richtigen Ende zu spa-ren. „So eine Software hätte ichmir wirklich in meiner frühe-ren Tätigkeit als Einkaufslei-ter gewünscht“, sagt Bendlin.Mit übersichtlichen Darstel-lungen wie einem News-Feed,der zum Beispiel neue Ideenoder umgesetzte Maßnahmenanzeigt, behalten alle Teilneh-mer den Überblick. Doch aus-rechnen kann die Software nur,was vorher eingegeben wurde.Deshalb verhält es sich mit derFitness für die Firma ein biss-chen so wie mit dem Wasch-brettbauch.

„Wer ein maximales Ergeb-nis erzielen möchte, muss da-für auch maximalen Einsatzleisten“, sagt Bendlin. Heißt:Die Sit-ups kann keine Soft-ware der Welt übernehmen.Erst die Ideen der Nutzer ma-chen sie zum funktionieren-den Kompass bei der Schatz-suche im Betrieb. Um eine ak-tive Firmen-Fitness-Kultur beiMarantec zu etablieren, dis-kutieren alle Beteiligten in wö-chentlichen Workshops dar-

über, ob Ideen funktionierenkönnten und ob sie umgesetztwerden sollen. „Die Mitarbei-ter merken ganz genau, ob je-mand von ‚oben‘ ihr Engage-ment wahrnimmt“, erläutertBendlin. Im schönsten Start-up-Slangunterstreichter:„Ma-nagement-Attention ist bei soeinem Prozess extrem wichtig.Ist sie nicht da, kann sie auchein Show-Stopper sein.“

»Wir mögen beiMarantec keineHierarchien«

Bei Marantec ist übrigensautomatisch derjenige Chefeiner Idee, der sich für sie en-gagiert. „Wir mögen keineHierarchien“, sagt Geschäfts-führerin Kerstin Hochmüllerund lacht. „Daher haben wirbei uns auch keine Titel zu ver-geben, aber jede Menge Ver-antwortung.“ Davon über-nimmt Valuedesk eine Mengebeim wahren Kraftakt: Wennaus Ideen Maßnahmen wer-den und auf Worte Taten fol-gen sollen.

Denn mit dem Ende vom„Haben-wir-immer-so-ge-

macht“ tut sich mancherschwer. Um das Ding mit denMenschen und der Verände-rung hinzukriegen, unter-stützt Valuedesk bei Aufgabenwie der Terminüberwachung.Außerdem bringt das Start-upMethodenwissen ein, damitaus Ideen Maßnahmen undmessbare Ersparnisse werden.Das Valuedesk-Team ist beiMarantec auch selbst auf derPlattform aktiv; entwickeltIdeen, Maßnahmen und einekostensensible Unterneh-menskultur mit. „Diesesgegenseitige Vertrauen ist mirganz wichtig“, sagt Bendlin.„Ich glaube zu 100 Prozent anShare-Economy. Und daran,derIndustrieetwasandieHandgeben zu können, womit sie auseigener Kraft überleben kann.Und den Mitarbeitern etwas,damit sie gehört werden.“ ObBetriebe das nicht auch aufeigene Faust schaffen könn-ten?

„So etwas kann kein Unter-nehmen allein schaffen“, sagtKerstin Hochmüller. „Die Zu-sammenarbeit mit Start-upsmotiviert und macht Spaß. Siesind agil, sehen nicht in allemein Problem und probieren

einfach mal aus.“ Kennenge-lernt haben sich die Leute vonMarantec und Valuedesk beider diesjährigen Hinterland-Konferenz der Founders Foun-dation in Bielefeld. „Wir ha-ben von dem Software-Toolgehört und wollten uns das malnäher anschauen“, erinnertsich Eva Stankewitz, Mitglieddes Führungsteams bei Ma-rantec. Das Ziel des Unter-nehmens war gesteckt: DieMitarbeiter vernetzen und dieProzesse mithilfe ihrer Ideenzukunftsorientiert und effizi-ent gestalten. Dazu setzt dasTeam von Valuedesk darauf,durch begleitende Beratungs-angebote wie Workshops Per-sönliches und Digitales best-möglich zu verbinden. Im Sep-tember hat die gemeinsameSchatzsuche bei Marantec be-gonnen.

Die Ideen-Ausbeute war soergiebig, dass das Unterneh-men damit ein Roll-up be-druckt hat, das für alle drei Ge-sprächspartnerals Foto-Hinter-grund ausreicht. „Mehr als 100Ideen sind eingegangen, zehnsind schon geprüft und in derUmsetzung“, sagt Stankewitz.

»So etwas kann keinUnternehmen alleineschaffen«

Mit den Ideen ist es Be-rechnungen von Valuedesk zu-folge so wie mit den Eisber-gen: An der Oberfläche sicht-bar und in einzelnen Fachbe-reichen bereits umgesetzt sindnur zehn Prozent. „Darunter“liegen die unsichtbaren 90 Pro-zent – 30 davon im eigenen Be-trieb und 60 bei externen Part-nern. Das Start-up vernetzt siealle. Zukünftig ist beim Eis-berg-Potenzial sogar noch Luftnach unten: Denn die smarteMaßnahmendatenbank sollnoch schlauer werden und ausErfahrungswerten zusätzlicheIdeen vorschlagen. Dann heißtes im besten Sparsinn: Nochmehr Eisberg voraus!

Schatzsucher bei der Arbeit: Eva Stankewitz (l.), Kerstin Hochmüller und Torsten Bendlin arbeiten ver-trauensvoll zusammen. Um gemeinsam erfolgreich sein zu können, sind die Bereitschaft zur Verände-rung, Umsetzungswille und Vertrauen Voraussetzung. FOTO: DÜTMEYER

Rettung naht: Fast so heldenhaft wie Superman helfen einige Start-ups wie Valuedesk Traditionsbetrieben dabei, in Zeiten der Digitali-sierung nicht unterzugehen. Sie bringen „neue“ und „alte“ Wirtschaftswelt in Einklang, zeigen etablierten Unternehmen zeitgemäße Chan-cen auf und transportieren sie gemeinsam in den betrieblichen Alltag. Weil Start-up-Unternehmer in Bielefeld in der bundesweit einzig-artigen „Founders Foundation“ ausgebildet werden, gibt es besonders viele in der Region. ILLUSTRATION: SEBASTIAN RÖSLER

Marantec und Valuedesk´ Die Marantec Antriebs-und SteuerungstechnikGmbH & Co. KG entwi-ckelt und produziert seit1957 in Ostwestfalen An-triebs- und Steuerungssys-teme für Tore. 130 Mit-arbeiter sind am Stamm-sitz in Harsewinkel be-schäftigt, weltweit sindrund 550 Mitarbeiter inder Marantec Company-Group tätig.´ Das Unternehmen setztauf die Zusammenarbeitmit Start-ups und Hoch-schulen. Ein weiteres Bei-spiel dafür ist der BereichKonnektivität, in dem dieGruppe seit 2016 gemein-sam mit dem Wiener

Start-up „nymea“ smarteIOT-Lösungen für Toreentwickelt.www.marantec-group.de´ Valuedesk wurde 2017auf Initiative von TorstenRolf Bendlin gegründet,der als früherer Leiter desKonzerneinkaufs derNolte-Gruppe langjährigeErfahrung aus der Indus-trie einbringt. Das Teamzählt 15 Köpfe. Zu denKunden gehören Miele,Dr. Oetker, Schüco, Alpe-cin, Linola und die Bau-man Group. 2018 hat Va-luedesk für seine Kundenrund 100 Millionen Euroeingespart.www.valuedesk.de

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Smart und druckvollSprechende Maschinen: Wie Boge aus Bielefeld-Jöllenbeck seine Kompressoren durch Digitalisierung zu höchster Effizienz bringt –

und gleichzeitig seinen Kunden mehr Wirtschaftlichkeit und neue Zukunftsmodelle bietet

Von Horst Biere

Eigentlich ist ein Kom-pressor, der Drucklufterzeugt, eine unspekta-

kuläre Maschine – seit Jahr-zehnten erprobt, immer wie-der optimiert, technisch aus-gereift. Anwendungsgebietegibt es weltweit und offenbarohne Ende. 70 Branchen ste-hen auf der Kundenliste vonBoge, des renommierten Her-stellers, mit Hauptsitz in Bie-lefeld-Jöllenbeck: von A wieAutomobilindustrie bis Z wieZimmerei.

Die Autolackierer nutzenzum Beispiel qualifizierteDruckluft, um Farbschichtenhauchdünn auf die Fahrzeugeaufzutragen. Die Zimmerleutebenötigen gepresste Arbeits-luft, um ihre Druckluftschrau-ber anzutreiben oder um dieWerkstücke sauber zu blasen.Ein Leben ohne Kompresso-ren ist undenkbar. OhneDruckluft liegen Kraftwerkelahm, die Lebensmittel blie-ben ungereinigt, das Lager undTransportwesen kämen zumStillstand, in der Medizintech-nik liefe nichts.

1907 startete OttoBoge mit dem Vertriebvon Türschließern

Seit mehr als einem Jahr-hundert macht das Unterneh-men Boge richtig Druck. 1907gründete Otto Boge die Firmaund startete mit dem Vertriebvon Türschließern, die derBruder des Firmengründersherstellte. Nach dem ErstenWeltkrieg erwarb sich Otto Bo-ge mit Spezialwerkzeugen fürdie noch junge Autoindustrieund mit Motorrädern rascheinen guten Namen. Schließ-lich wurde Boge zum Spezia-listen für Kompressoren undDruckluftanlagen – und ist aufdiesem Gebiet heute einer derweltweit führenden Premiu-manbieter. Wolf D. Meier-Scheuven, Urenkel von OttoBoge, leitet das Unternehmenin vierter Generation.

Doch ein technisch reifes,solides Produkt ist heute längstkein Garant mehr für dauer-haften Erfolg auf den Märk-ten. Die Digitalisierung hat dieKarten neu gemischt. Boge hatsich daher frühzeitig auf diemoderne, smarte Welt einge-stellt und bereits seit 2009 sei-nen Kompressoren so etwaswie ein eigenes Monitoring-System eingebaut. Das inte-grierte Datenübertragungsmo-dul, Airstatus genannt, liefertseither Informationen überden aktuellen Zustand und dieArbeitsleistung des Aggregats.„Die Maschinen an sich sindstumm“, sagt Georg Willmes,Leiter Produktmanagementbei Boge, „wir haben frühernach dem Verkauf über unse-re Händler eigentlich nichtsmehr über ihre wirtschaftlicheFunktion gehört“.

„Kompressoren sindfür die Kunden Mittelzum Zweck“

„Kompressoren sind Mittelzum Zweck“, erläutert Will-mes weiter, „mit ihrer Hilfe willder Kunde eine Ware herstel-len oder eine Dienstleistung er-bringen.“ Doch durch die Di-gitalisierung gelang es Bogenun, auch nach dem Verkaufnoch mit dem Kompressor zukommunizieren: „Boge Con-nect“ nennt man das moder-ne Geschäftsfeld heute. Die Di-gitalisierung ermöglicht einepräzise Analyse, ob Anlagenökonomisch arbeiten. „Durchdie Sammlung von ungezähl-ten Daten, die wir heute un-mittelbar aus unseren Maschi-

nen im Markt generieren“, er-läutert Georg Willmes, „ent-wickeln wir Algorithmen, dieuns die Wirtschaftlichkeit dereinzelnen Aggregate – auch imZusammenhang mit anderen– zeigen.“

Georg Willmes nennt einBeispiel: „In einem Industrie-betrieb arbeiten fünf unsererKompressoren. Der durch-schnittliche Wirkungsgrad vondrei Maschinen liegt im Nor-malbereich, nur zwei Maschi-nen liegen bei 60 Prozent.“ Infrüheren Zeiten wäre so eineverminderte Leistung erst sehrspät entdeckt worden. Die heu-tige Maschine-Maschine-Kommunikation führt jedochzu einer permanenten Wirt-schaftlichkeitsanalyse und diebeiden leistungsschwachenMaschinen werden rechtschnell identifiziert.

Die Vorzüge des digitalenReportings erstrecken sich je-doch nicht nur auf die eigeneBoge-Technik. Wenn nämlichein tadellos arbeitender Kom-pressor mit einem alten Lei-tungsnetz beim Kunden ver-bunden ist, meint Georg Will-mes, kann es durchaus sein,dass auf diese Weise eine Min-derleistung entsteht. „Lecka-gen in veralteten Systemen ausdenen es herauspfeift, führenzu erheblichen Energiekos-ten“, sagt der Boge-Spezialist.Indizien, die auf marode Lei-tungen hinweisen, entdecktman heute blitzschnell. Die ge-sammelten Daten machen esmöglich.

Und letztlich tragen diesmarten und kommunikati-ven Kompressoren ganz er-heblich zur Planbarkeit im Ser-vice bei. „Unsere Maschinensind in den Fabriken der Kun-den eigentlich ein Produk-tionsmittel“, meint Willmes.Über ihre permanente Funk-tion macht sich der Kundennur wenige Gedanken. Dochjede Maschine braucht Ser-vice, wenn sie täglich funktio-nieren solle. „Datenauswer-tungen der Maschinen imMarkt, nutzen wir für geplan-te Serviceaktionen. Die kannman dann kostengünstig aufNichtproduktionszeiten le-gen.“

„Das wirklich Teuream Kompressor ist derEnergieeinsatz“

Wie aber sieht die Zukunftder digital optimierten Anla-gen aus? Liefert der „smarteKompressor“ bereits eine auto-matische Kundenzufrieden-heit für die nächsten Jahrzehn-te? „Wir werden zu neuen Ge-schäftsmodellen kommen“,prognostiziert Georg Willmes.Vor allem vor dem Hinter-grund der künftigen höherenEnergiekosten steht die Effi-zienz beim Kunden im Fokus.„Das wirklich Teure am Kom-pressor ist der Energieein-satz“, meint der Leiter Pro-duktmanagement. „Er machtetwa 75 Prozent der Gesamt-kosten aus.“

Und so sind künftig neueEinsatzmodelle für Kompres-soren beim Kunden denkbar,die sich wesentlich stärker anden aktuellen Energie- undNachhaltigkeitspreisen orien-tieren. Das bedeutet, dieDienstleistung „Drucklufter-zeugung“ werde in den kom-menden Jahren das Produktsein, das der Anwender benö-tigt. „Der Kunde der Zukunftmöchte nicht in erster Linie ineine Maschine investieren,sondern er will qualifizierte,ökonomisch und ökologischgünstige Druckluft verfügbarhaben“, sagt Georg Willmes.Und damit rückt wohl auch einmodernes Bezahlmodell „Payper Use“ in den Blickpunkt.

Made by Boge: Der Kompressorhersteller aus Bielefeld-Jöllenbeck gilt als Premium-Produzent in der Druck-lufterzeugung. Die Digitalisierung hat die Karten neu gemischt – und Boge hat ein eigenes Monotoring-system in seine Maschinen eingebaut. FOTO: BOGE

Digitale Zukunft: Georg Willmes, Boge-Spezialist für neue Produkteund Märkte, hat bereits ganz neue Anwendungsszenarien der Kom-pressoren im Blick. FOTO: HORST BIERE

MITTWOCH13. NOVEMBER 2019 5

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Wegweiser durch den DatendschungelData Science: Wer sorgt eigentlich dafür, dass E-Scootern nicht der Strom ausgeht und autonome Fahrzeuge stets den richtigen Weg finden? In einem neuen

Studiengang an der Universität Bielefeld bekommen Studierende beigebracht, wie man große Datenmengen in den Griff bekommt

Von Maximilian Mühlenweg

Aus Daten Wissen gene-rieren“: So fasst RolandLangrock von der Fa-

kultät für Wirtschaftswissen-schaften den Master-Studien-gang Data Science an der Uni-versität Bielefeld in der kürzestmöglichen Form zusammen.Was in vier Worten einfachklingt, erfordert in Wahrheitkomplexe Kenntnisse aus dreiDisziplinen: der Mathematik,InformatikundWirtschaftswis-senschaften.

Sehr viel Theorie, die je-doch in praxisorientierten Be-reichen Anwendung findet undso eine wichtige Basis für die Di-gitalisierung darstellt.

Digitalisierung, ein Begriffder in den vergangenen Jahrenso inflationär verwendet wur-de, dass er stets schwammigundselten greifbar scheint. Doch ge-

nau dafür werden die „DataScientists“ an der UniversitätBielefeldausgebildet:UmDatenzur Digitalisierung von ver-schiedensten Prozessen greif-bar und anwendbar zu ma-chen.

PRAKTISCHE ANWENDUNGIn nahezu allen Betrieben undGroßunternehmen werdenUnmengen von Daten erfasst,die nur in analysierter Formnützlich sind, beispielsweise umPaketlieferungen von Logistik-dienstleistern anhand vonWohnort- und Routendatenressourcenschonender koordi-nieren zu können – oder aber,um das Fahrverhalten von E-Scooter-Nutzern auszuwerten,damit möglichst niemand voreinem Gerät mit leerer Batteriesteht. Autonome Fahrzeugeproduzieren ebenfalls unzähli-ge Daten, die nur ausgewertet

dafür sorgen, dass Spuren ge-halten und das Ziel gefundenwird.„AuchjedesWindradpro-duziert zahlreiche Daten, dieanalysiert werden müssen, umzum Beispiel die Netzeinspei-

sung später korrekt abrechnenzu können“, sagt Fakultätsde-kan Hermann Jahnke. EinigeUnternehmen bauten sich re-gelrechte Data-Science-Teamsauf, um beispielsweise zielsi-

chereNachfragevorhersagenimEinzelhandel treffen zu kön-nen, ergänzt er. Auch in denWissenschaften selbst sind dieim StudiengangerlerntenKom-petenzen gefragt. So helfen die-se auch dabei, Wildtierbewe-gungsdaten zum besseren Ver-ständnis der Lebensweisen aus-zuwerten.

ANGEBOT SCHAFFENDie Nachfrage nach „DataScientists“ seitens der Indus-trie sei enorm, sagt Langrock,der vor vier Jahren nach Biele-feld kam und mit seiner Idee,einen Data-Science-Studien-gang einzurichten „offene Tü-ren eingerannt“ hat. Auch Jahn-ke war überzeugt vom ThemaDatenanalyse, „das in den USAund Großbritannien längst sehrgroß ist“. Aus einer Strategie-entwicklung folgte 2018schließlich die Ausschreibungs-runde und die Einrichtung derersten 20 Studienplätze. Einekünftige Ergänzung des Stu-dienangebots durch einen Ba-chelor-Studiengang sei eben-falls möglich.

HOHE ANFORDERUNGENBis dahin können Studieren-dederWirtschaftswissenschaf-

ten bereits mit einem Data-Sci-ence-Profilschwerpunkt in dieWelt der Datenanalyse hin-einschnuppern und sich aufdie hohen Anforderungen desMaster-Studiengangs vorbe-reiten. Denn während „Wirt-schaftswissenschaftler undMathematiker häufig tech-nisch nicht ausreichend ver-siert sind, fehlen Informati-kern mitunter mathematisch-statistische Grundlagen derDatenanalyse“, sagt Langrock.Im ersten Semester würden da-her die Kenntnisse der Stu-dierenden aus verschiedenenFachrichtungen auf einen an-nähernd gleichen Stand ge-bracht. Die unterschiedlichenFachgebiete der künftigen„Data Scientists“ hätten aller-dings auch große Vorteile, sagtJahnke. In den zahlreichenGruppenarbeiten während desStudiums würden sich dieKompetenzen der Einzelnenwunderbar ergänzen. „Dievollständig interdisziplinäreAusrichtung des Studien-gangs ist eine besondere Stär-ke“, sagt Langrock.

KOOPERATIONENEchte Probleme, echte Kun-den: Beides erwartet die Stu-

dierendenbereitswährendihrerAusbildung. So gibt es ein Pro-jekt mit Arminia Bielefeld, beidem Studierenden die Trai-ningsdaten der Sportler aus-wertenundentsprechendeAna-lysen und darauf aufbauendeEmpfehlungen automatisieren.Auch die Kooperation mit cir-ca 20 anderen, regionalen Part-nern wie Miele oder Claas seieine wunderbare Sache für dieangehenden „Data Scientists“,so Jahnke. „Die Studierendenkönnen das Erlernte praktischanwenden und die Unterneh-men bekommen kostenloseHilfe bei ihren Projekten“, sagtLangrock – „Eine Win-win-Si-tuation.“

ZUKUNFTSSICHER„Was Digitalisierung angeht,sind wir erst am Anfang zu ver-stehen, wo sie überall Verän-derungen hervorbringen wird“,so Jahnke. Bei einer Sache sindsichderDekanundLangrockje-doch sicher: Wer die Metho-den der Datenanalyse einmalbeherrsche, brauche sich umseine Karriere wenig Sorgen zumachen. Denn die Anzahl anDaten und derer, die sie analy-sieren müssen, wird künftigweiterwachsen.

Problemlöser: Hermann Jahnke (l.) und Roland Langrock. FOTO: MM

6 MITTWOCH13. NOVEMBER 2019

Wie die Digitalisierung Rathaus-Arbeit verändertUmstellung: Vieles läuft in der Stadtverwaltung Spenge heute elektronisch. Warum die Kommune dadurch Geld und Platz spart und

warum sie mithilfe der Digitalisierung sogar Gutes für die Umwelt tut. Drei Fachbereiche geben Einblick

Von Mareike Patock

Heidrun Warnckeblickt auf den schwe-ren hölzernen Kas-

ten, der auf dem Tisch vor ihrsteht. Hunderte Karteikartensind darin. Sie sind vergilbt undabgegriffen – das zeugt davon,dass sie vielfach durchgese-hen, herausgezogen und wie-der einsortiert wurden. Frü-her waren diese Karten dasHerz des Einwohnermeldeam-tes der Stadt Spenge.

„Für jeden Bürger gab eseine solche Karteikarte“, sagtdie Teamleiterin des Bürger-büros. Mit der Schreibmaschi-ne seien darauf alle wesentli-chen Daten der Bürger ver-merkt worden: Anschrift undGeburtsdatum zum Beispiel,aber auch Ausweisnummeroder – im Fall der Fälle – vonwoder jeweiligeEinwohnerzu-gezogen war.

Heute, im Zeitalter derComputer, haben die Melde-karteikarten lange ausgedient.Als Teil der Spenger Stadtge-schichte schlummern sie jetztim Rathauskeller. Die Digita-lisierung – sie hat auch dieArbeit im Rathaus verändert.Wie sehr, verrät ein Blick indie verschiedenen Abteilun-gen der Stadtverwaltung.

Die Arbeit einer öffentli-chen Verwaltung kennt Heid-run Warncke seit 1981: Zu-nächst war sie bei der StadtPreußisch Oldendorf beschäf-tigt, seit 1990 arbeitet sie beider Stadt Spenge. In dieser Zeithabe die Digitalisierung vielesverändert, sagt sie: Zu analo-

gen Zeiten, als es noch diegrauen Pässe gegeben habe,hätten sie zum Beispiel alleDaten noch selber in das Do-kument eintippen müssen.„Da musste man aufpassen,dass man sich nicht ver-schreibt, sonstwar der Pass un-gültig.“

Heute sei das einfacher: DieDaten jedes Einwohners seienim Melderegister gespeichertund könnten für einen neuenReisepass oder Personalaus-weis leicht übernommen wer-den. „Der Antrag wird dannvon der Bundesdruckerei elek-tronischabgerufen–samtFotound Unterschrift.“

Die Digitalisierung habe et-liche Erleichterungen mit sichgebracht, sagt sie. „Wir habenzum Beispiel einen schnelle-ren Zugriff auf die Daten undkönnen den Bürgern dadurchauch schneller Auskunft ge-ben.“ Ein langwieriges Su-cheninunterschiedlichenKar-teien, Büchern und Akten ent-falle, betont auch Fachbe-reichsleiter Bernd Pellmann.

Zum Beispiel könnten dieBürger heute auch die Steuer-ID im Rathaus erfragen, sagtWarncke. „Die hätte man frü-her nur beim Finanzamt be-kommen.“

Positiv auch: „Wir produ-zieren nicht mehr so vielPapier.“ Papier einsparen – da-bei hilft die Digitalisierung derStadt Spenge auch auf einemanderen Gebiet: bei der Gre-mienarbeit. Bis vor knapp fünfJahren hat die Verwaltung dieSitzungsunterlagen und Pro-tokolle aller Fachausschuss-

und Ratssitzungen für dieKommunalpolitiker ausge-druckt und anschließend andiese verschickt. Das seien imJahr etwa 46.000 Kopien ge-wesen, sagt Karsten Heid-brink, Leiter der AbteilungZentrale Verwaltung bei derStadt Spenge. Dafür seien Kos-ten in Höhe von etwa 2.100Euro angefallen und zusätz-lich rund 2.600 Euro an Por-to für den Versand der Unter-lagen per Post.

Zum 1. Januar 2015 hat dieStadt Spenge darum ein neu-es System eingeführt: die elek-tronische Gremienarbeit. Dieetwa 30 Ratsmitglieder wur-den mit iPads und entspre-chender Software ausgestattetund rufen ihre Sitzungsunter-lagen seither digital ab.

Rund 4.700 Euro für Ko-pien und Porto spare die Stadtdadurch jährlich ein – undzehn Arbeitsstunden pro Wo-che fürs Kopieren, sagt Heid-brink. Das mache im Jahr nocheinmal mal eine Summe vonetwa 14.000 Euro aus. Weite-rer positiver Aspekt: Die Stadtbrauche nur noch kleinere Ko-pierer – auch das sei eine Er-sparnis.

Für die Anschaffung deriPads und der Software hat dieKommune laut Heidbrinkknapp 25.000 Euro investiert.Sie würden über einen Zeit-raum von fünf Jahren abge-schrieben – mache summasummarum etwa 5.000 EuroKosten im Jahr. Dem gegen-über stünden jährliche Ein-sparungen von rund 20.000Euro.

Daneben verbessere dieelektronische Gremienarbeitden ökologischen Fußab-druck der Stadt, denn jede Ko-pie ziehe Strom. Heidbrink be-tont: „Wir haben nicht be-reut, dass wir das gemacht ha-ben.“

Auch in der Kämmerei derStadt hat die Digitalisierungvieles erleichtert: „Früher hat-ten wir zum Beispiel Hausak-ten für jedes steuerpflichtigeGebäude in der Stadt“, erin-nert sich Kämmerin Britta Jen-niches. „Dafür hatten wir hierriesige Schränke mit an die10.000 Akten stehen.“ Heutelägen diese Daten alle im digi-talen Finanzarchiv vor, das dasKommunale Rechenzentrumin Lemgo der Stadt Spenge zurVerfügung stelle, ergänzt Sa-rah Beck, AbteilungsleiterinFinanzen.

2009 hat die Stadt außer-dem den „digitalen Rech-nungs-Workflow“ eingeführt.„Das heißt, die Bearbeitung derEingangs- und Ausgangsrech-nungen läuft elektronisch“, er-klärt die Kämmerin.

Viele Rechnungen würdenheute schon digital eingehen.Und was noch auf Papier rein-komme, werde eingescannt –und dann auf digitalem Wegezur Prüfung durch die Abtei-lungen geschickt. Der Vorteil:„WirhabenkeineOrdnermehrmit Rechnungsbelegen undauch das Archiv ist viel leich-ter händelbar“, sagt die Käm-merin und ergänzt: „Die Di-gitalisierung vereinfacht unse-re Arbeit sehr und beschleu-nigt sie.“

Früheres Herzstück des Einwohnermeldeamtes: Bernd Pellmann und Heidrun Warncke zeigen die alten Mel-dekarteikarten der Stadt Spenge. FOTOS: MAREIKE PATOCK

Auch in der Kämmerei hat die Digitalisierung vieles erleichtert: Sarah Beck (l.) und Kämmerin Britta Jen-niches vor dem PC.

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Echter DurchblickDigitale Technik: Ein Bielefelder Unternehmen zeigt, wie das Leben dank intelligenter Kameratechnik sicherer und umweltfreundlicher werden kann –

ob beim Recycling, in Rücknahmesystemen, Landwirtschaft oder Verkehrssicherheit

Von Horst Biere

Langsam fährt ein Autoüber den Feldweg. Lo-cker und entspannt

unterhält sich der Fahrer mitseinem Begleiter. Vor demPickup-Fahrzeug schwebt infünf Metern Höhe eine Droh-ne in der Luft. Ein langes dün-nes Kabel verbindet das sum-mende Flugobjekt mit dem Ge-ländewagen – immer im glei-chen Abstand saust die Droh-ne vor dem Fahrzeug her. EinScience-Fiction-Film?

„Das ist intelligente Kame-ratechnik, die wir heute längstbeherrschen“, sagt Eike Lin-nenbrügger, Vertriebs- undMarketingchef bei Insensiv ausBielefeld-Babenhausen, „diekabelgebundene Drohne kannstundenlang in vorgegebenerPosition zum Fahrzeug fliegenund ermöglicht so den Ein-satz vielseitiger Sensorik.“ Di-verse Kameras und exakte Bild-analyse ermöglichen die siche-re Führung. Die Energie zumFliegen kommt über ein dün-nes Kabel aus der Autobatte-rie.

Als ob Kinder einen Dra-chen steigen lassen – daran er-innert das Flugszenario, wennder sogenannte Podcopter sichvon der Ladefläche des Pick-up-Fahrzeugs in die Lüfte er-hebt. Doch der mit Kamera-modulen und Sensorik ge-spickte Flugkörper erfasstblitzschnell im Überflug seineUmgebung und erledigt dabeiseinen Job. Land- und Forst-wirte können so zum Beispielversteckte Wildtiere erkennenund sie rechtzeitig vor Ernte-maschinen schützen. Dennselbstständig informiert dieDrohne die Arbeitsmaschinenwie Holz-Harvester, Feld-häcksler oder Mähdrescherüber gefährliche Situationen.Auch Dünge- oder Pflanzen-schutzmittel lassen sich spar-sam und präzise einsetzen,wenn der Podcopter die Acker-fläche sensorisch unter die Lu-pe nimmt und Unkraut vonNutzpflanzen trennt.

Eike Linnenbrügger sprichtauch den Einsatz bei Siche-rungsaufgaben an. Videokon-trollen bei Großveranstaltun-gen, Überwachungen von Si-cherheitsbereichen oder aber –

ganz wichtig – die Verkehrs-technik. „Aufwendige Unfall-rekonstruktionen auf Auto-bahnen, die den Verkehr stun-denlang blockieren, könnenmitunsererKameratechnikausder Höhe in wenigen Minu-ten erfasst werden“, sagt er. DieEinsatzgebiete scheinen un-endlich zu sein.

Doch bei aller Zukunfts-orientierung: Die intelligenteKameratechnik von Insensivhat längst Einzug gehalten inunser Alltagsleben. Wer imSupermarkt seine leeren Fla-schen, Dosen oder Getränke-kisten in den Rücknahmeauto-maten gibt, stößt zumeist aufdie Bielefelder Kamerasenso-rik, ohne es zu merken. Ring-förmig sind kleine Spiegel, Ka-meramodule und Platinen hin-ter der Einwurföffnung posi-tioniert. Sie erkennen den ge-strichelten Barcode auf demEtikett ebenso wie Form, Far-be und Material des Leerguts.

Die Eintrittskarte inden wachsendenRecyclingmarkt

Das kluge Erkennen und dasexakte Trennen – das ist of-fenbar auch die Eintrittskartefür Insensiv im wachsendenRecyclingmarkt. Dabei gilt dieWeiterverwertung vor demEintritt in die Abfallanlage na-türlich als ökologisch viel ver-nünftiger als das Durchleuch-ten der Stoffströme in derMüllsortierung.

Ein Beispiel? Ein modernesRücknahmesystem sichert demUnternehmen bereits heute dieMarktführerschaft in einer klei-nen, aber feinen Nische. „Wirhaben einen Gasflaschen-Tauschautomatentwickelt“,er-zählt Eike Linnenbrügger, „dersich für Baumärkte, Tankstel-len oder Campingplätze an-bietet.“ Das Bielefelder Unter-nehmen vertreibt einen 24-Stunden-Automaten, der dieStahl- oder Aluminiumfla-schen vollautomatisch zurück-nimmt und auch neue wiederausgibt. Die Kameratechnik desAutomaten überprüft dabei dieGröße der Flasche, die Her-kunft (Kauf- oder Leihfla-sche), den Gasabfüller bei Leih-flaschen, die weitere Betriebs-

sicherheit und auch das Mate-rial der Gasflasche.

„Wer also um Mitternachtnoch eine Grillparty startet, derkann sich an unseren Auto-maten des nachts eine volleGasflasche besorgen“, erzähltLinnenbrügger humorvoll.Der Kunde zahlt den Kauf oderden Tausch der Gasflasche perEC- oder Kreditkarte am Ge-rät. Der Betreiber des Auto-maten wird per E-Mail oderHandy über die Ein- und Aus-gabe sowie den aktuellen Be-füllungszustand seines Auto-maten informiert.

Als höchst innovativ gilt einneues Pilotprojekt, das das Bie-lefelder Technologie-Unter-nehmen jüngst für die StadtWien entwickelt hat. Die ös-terreichische Metropole hatdem Milliarden-Verbrauchvon Einweg-Kaffeebechernden Kampf angesagt. Um dieWiederverwertung der Plastik-becher neu zu organisieren,sind verteilt im Wiener Stadt-gebiet diverse Rücknahme-automaten von Insensiv auf-gestellt worden, in die die Be-cher geworfen werden kön-nen. Die Automaten, die auchdie Form eines überdimensio-nalen Kaffeebechers besitzenkönnen, erkennen mit Kame-ratechnik, ob es sich um einenEinweg- oder Mehrwegbecherhandelt. Bei Mehrwegbecherngibt’s Pfand zurück – entwe-der als Bon, Münze oder perQR-Code aufs Handy. Undbeim nächsten Kaffee wird derBarcode verrechnet. „Rück-nahme auch im öffentlichenRaum“ nennt Eike Linnen-brügger das Prinzip, das den„Coffee to go“ wieder ökolo-gisch verträglich machen soll.

Viele Ideen lassen sich of-fenbar durch moderne Kame-rasysteme und smarte, also ver-netzte Digitaltechnik realisie-ren. Denn die neuen Entwick-lungen, die Landwirtschaft,Verkehr oder der Entsorgungs-branche mehr Nachhaltigkeitverleihen würden, stehen nachLinnenbrüggers Worten längstbereit. „Die Technik ist weiterals der Gesetzgeber“, sagt derExperte, „bestes Beispiel istunser kabelgebundener Pod-copter, für den nach deut-schem Recht immer noch einFlugschein erforderlich ist.“

Luftig: Die kamerabesetzte Drohne (Podcopter) kann im Überfliegen eine präzise Analyse der Umwelt vermitteln. 3-D-Kameratechnik, Wär-mebildkamera und weitere Systeme ermöglichen schnelle und genaue Erkenntnisse. FOTO: INSENSIV

Smart und umweltfreundlich: Insensiv-Vertriebschef Eike Linnenbrügger zeigt, wie intelligente Rücknah-mestationen für Kaffeebecher funktionieren. Das Becherpfand lässt sich per QR-Code auf das Smart-phone überspielen. FOTO: HORST BIERE

24-Stunden-Service: Insensiv hat einen Gasflaschen-Tauschautomaten entwickelt, der Stahl- oder Alumi-niumflaschen vollautomatisch zurücknimmt und neue wieder ausgibt. FOTO: INSENSIV

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MitWucht ins digitale Zeitalter„e-Space“ im Wachstum: Spätestens seit der geschäftsführende Gesellschafter vier Jahre in Asien gelebt hat, treibt die Dr.-Wolff-Gruppe

Online-Marketing, Social-Media und e-Commerce enorm voran – und stößt dabei an Grenzen, die sie zu überwinden sucht

Von Elli Brummel

Eine überregionale deut-sche Zeitung berichtetekürzlich eine Anekdote

aus Berlin. Dort stand ein Süd-koreaner staunend über deut-sche Rückständigkeit voreinem Ticketautomat der U-Bahn. So etwas kennt er nichtaus seinem Land. In Korea wer-den solche Transaktionenlängst digital abgewickelt. Edu-ard R. Dörrenberg kann das be-stätigen. Der geschäftsführen-de Gesellschafter der Dr.-Wolff-Gruppe mit Sitz in Bie-lefeld hat vier Jahre in Singa-pur gelebt, einem der fort-schrittlichsten Länder der Weltin Sachen Digitalisierung. Dortund in diversen asiatischenNachbarstaaten hat er erfah-ren, wie weit die Entwicklungandernorts schon ist – im Ver-gleich zu Deutschland. DieseErfahrung hat ihn dazu moti-viert, sein Unternehmen aufdiesem Gebiet nach vorne zupushen.

Von außen sieht die Unter-nehmenszentrale von Dr.Wolff so unspektakulär aus wieunzählige andere Industriebe-triebe. Doch drinnen gibt eseine Etage, die sich „e-Space“nennt und die sich in ihrer Ge-staltung fundamental von üb-lichen Büroräumen abhebt.Dort blicken die Mitarbeiterauf putzfreie Backsteinwändeund Innentrennungen ausGlas, in Besprechungsräumenhängen Groß-Flatscreens, flan-kiert von modernster Tech-nik, um den Tisch in Eichen-holzoptik stehen Second-Hand-Sitzmöbel. Eine offeneKüche mit italienischer Kaf-feemaschine dominiert dasAmbiente mit Werkstattcha-

rakter und lädt zum Aus-tausch bei einem Espresso ein;die Arbeitsplätze sind so ange-ordnet, dass jeder jederzeit denPlatz wechseln oder mit jedemin Kontakt treten kann. „Hierpflegen wir eine andere Art derKommunikation“, sagt MarcelKlöpping, Sprecher des Unter-nehmens. 25 Mitarbeiter zähltder „e-Space“ inzwischen, dieFrauen und Männer sind zwi-schen 20 und 30 Jahre alt. Siesind es, die ihren Arbeitgebermit Wucht ins 21. Jahrhun-dert katapultieren sollen.

Stationäre Shops, Vertriebüber Friseure oder Werbung in

TV und Zeitung – das alles gibtes immer noch für Dr.-Wolff-Produkte wie Alpecin, Alcina,Plantur, Linola oder Vagisan.Mit Geschwindigkeit hinzukommen Online-Marketing,Online-Kampanien, Kunden-ansprachen über Social Mediaoder Newsletter sowie so ge-nannte Learning-Pages undandere Webangebote. „In fünfTeams arbeiten wir daran“, er-klärt Klöpping. Die Erfahrun-gen mit dieser Art des Ver-triebs und der Werbung sindvielversprechend. „Wir kön-nen die Kunden direkter er-reichen“, sagt der Sprecher,

wenn auch die Kommunika-tion individueller, also klein-teiliger geworden ist. Aber eslohnt sich. Das Team Datakann das bestätigen. Es analy-siert das Nutzerverhalten derKunden genau.

Das „e-Space“-Team darfprobieren und testen, schei-tern inbegriffen.Dasgehörtda-zu. So lernen die, die Websei-ten gestalten, Keyword-Re-cherche betreiben, Social Me-dia bespielen, Influencer-Mar-keting verantworten und Zah-len und Daten interpretieren.Wenn etwas gut läuft, kom-men sie schnell zusammen und

treiben den Prozess voran;wenn etwas nicht klappt, wirdder Kurs kurze Hand korri-giert. Für so etwas braucht esgute Mitarbeiter, die dazu be-wegt werden müssen, in Bie-lefeld anzudocken. „Diese Leu-tesindsehrbegehrt“,sagtKlöp-ping. Der Markt ist unterver-sorgt mit geeignetem Perso-nal. Viele sind auf die Start-up-Metropolen der Welt ausge-richtet. „Wir müssen immereinpaarArgumentemehrbrin-gen, damit sie zu uns nach Bie-lefeld kommen“, berichtetKlöpping. Bisher ist das gut ge-lungen, auch, weil die Dr.-

Wolff-Gruppe ihre Digitalof-fensive außerhalb der eigenenMauern gestartet hat: in derFounders Foundation und imPioneers Club in Bielefeld. Indiesen beiden Einheiten für dieStart-up-Szene begann einekleine Gruppe namens „e-Wolff“, aus der das heutige „e-Space“-Teammit mehrals zweiDutzend Mitarbeitern gewach-sen ist. In den Anfangsjahrenwurden zahlreiche Kontakte inder Szene geknüpft. „Davonprofitieren wir.“

Die Vernetzung hilft, dieStrategie von Eduard R. Dör-renbergumzusetzen.„Auchbei

der Digitalisierung wollen wirunseren Schwerpunkt in Bie-lefeld etablieren“, sagt derUnternehmenschef. So lange esgelingt, innovative Kräfte an-zuwerben, steht dem nichtsentgegen. Andere Unterneh-men verlegen diesen zukunfts-trächtigen Bereich in Metro-polen. Dr. Oetker etwa ope-riert digital von Berlin aus,Miele baut eine solche Einheitin Amsterdam auf. Dabei hatdie Region, wie Klöpping sagt,einen großen Vorteil gegen-über vielen anderen: die star-ke mittelständische Wirt-schaft. „In Berlin gibt es Start-ups, allerdings ohne Kunden,bei uns gibt es Start-ups undKunden.“ Solide Unterneh-men wie Dr. Wolff verspre-chen Perspektiven.

Geschäftsführer Dörren-berg ist sich sicher, dass dieneue industrielle Revolutionvoranschreitet, auch wenn siehier (noch) verhaltener vor-angeht als in Asien. „Dort wur-den die Gesellschaften vom 19.direkt ins 21.Jahrhundert ka-tapultiert“, erklärt er, „deswe-gen gab es wenig Widerständevon Besitzstandwahrern“. Dassei hier anders, viele hättenÄngste, etwas zu verlieren,wenn sie auf Digitalisierungsetzen, sagt er. Aber der Dr.-Wolff-Chef ist sich sicher, dassdas unbegründet ist. Schließ-lich hätten vorherige Umwäl-zungen in der Wirtschaft auchnicht den Niedergang, son-dern Fortschritt und Wohl-stand gebracht. Er hat diesenProzess vier Jahre lang in Asienhautnah miterlebt. Er ist op-timistisch. Sein Unternehmenist gewappnet. Es gilt, neueMärkte mit neuen Methodenzu erschließen.

Teambesprechung im Herzen des „e-Space“: Benjamin Auer, Samira Weihs, Felix Obeloer, Stefanie Peter, Johanna Beilmann und Marcel Klöpping (v.l.). FOTO: SARAH JONEK

Gründergeist auf dem LandDigitale Geschäftsideen: Bielefeld, Herford und Paderborn haben es vorgemacht und jeweils schon erfolgreich eine Start-up-Szene etabliert.

Nun zieht das kleine Städtchen Salzkotten nach. Dort sollen Jung-Unternehmer im neuen „Heder-Lab“ an ebenso neuen Geschäftsideen tüfteln

Von Dieter Saake

S ie verkörpern die Eigen-schaften, die in Deutsch-land in diesen Zeiten

nicht mehr allzu häufig anzu-treffen sind: Aufbruchstim-mung und Zuversicht. Und dasnicht ohne Grund, dennYvonne Groening und MarcKeppler starten zusammen mitanderen engagierten Unter-nehmern im 25.000-Einwoh-ner-Städtchen Salzkotten einsehr ambitioniertes Projekt: Imschmucken alten Postamt inder Innenstadt entsteht aufzwei Etagen eine innovativeFirmen-Schmiede, ein Grün-der-Zentrum, für Start-ups, sowie sie eigentlich in Ham-burg, Berlin oder Bielefeld an-zutreffen sind.

Hier sollen schon in naherZukunft Jung-Unternehmer anneuen ungewöhnlichen Ge-schäftsideen tüfteln – Büroaus-stattung,ComputerundDaten-leitungen sowie eine professio-nelle Rechts-und Marketingbe-ratung in der Gründungsphasestellt das „Heder-Lab“.

Yvonne Groening, die Vor-sitzende des neuen Vereins„Heder-Lab“, benannt nachdem durch Salzkotten strö-menden Flüsschen, ist über-zeugt vom Standort: „Kreativeund geschäftstüchtige jungeMenschen gibt es auch abseitsder großen Städte, wir wollenihnen hier mit dem „Heder-Lab“ die Möglichkeit bieten,ihre Ideen unbürokratisch um-zusetzen“. Der Geschäfts-mann Marc Keppler hat mitseiner Werbeagentur „Silber-weiss“ schon vorher im altenPostamt etliche Existenzgrün-der beraten und dabei auch eng

mit der florierenden Start-up-Konkurrenz in Paderborn, derGarage 33, zusammengearbei-tet. Als ihm der Besitzer des his-torischen Gebäudes auch dieoberen beiden Etagen anbot,kam ihm die zündende Idee:Wie wäre es, wenn dort jungeExistenzgründereinziehen unddie heimische Geschäftswelt siemit Know-how und einer Fi-nanzspritze unterstützt?Schnell fand der 48 Jahre alteKreativdirektor Mitstreiter.

Um mangelnde Nachfragemacht sich Keppler keine Sor-gen: „Der Standort auf demLand ist zwar ungewöhnlich,aber es gibt hier viele verbor-gene Talente, die wir an dieHand nehmen und in engerAbstimmung mit unseren Fir-men fördern wollen.“

Imposant ist die Schnellig-keit, mit der die Start-up-Ideein Salzkotten umgesetzt wur-de. Anfang des Jahres erst wur-de sie geboren, jetzt im No-vember sind die Räume prak-tisch bezugsfertig. Auf 200Quadratmetern bietet das altePostamt auf zwei Etagen Platzfür fünf Existenzgründer undihre Mitarbeiter. Das es soschnell geht, liegt auch am En-gagement der Stadt. Bürger-meister Ulrich Berger erkann-te sofort die wirtschaftlichenChancen, die so ein Gründer-Labor für eine Kleinstadt er-öffnen kann.

Neue Unternehmen brin-gen nicht nur zusätzliche Ge-werbesteuern und Arbeitsplät-ze, wenn sie erst mal die Markt-reife erreicht haben, sie sor-gen auch für frischen Wind:„Wir brauchen solche Mut-macher bei uns“, betont Ber-ger, „die können für eine Auf-

bruchstimmung sorgen, dieunseren Bürgern gut tut.“

105.000 Euro Anschubfi-nanzierung hat die Stadt für dienächsten drei Jahre für das„Heder-Lab“ locker gemacht,der CDU-dominierte Rat hatdie Finanzierung gegen dieStimmen von FDP, Linken undTeilen der Grünen abgeseg-net; der Bürgermeister hält daswirtschaftliche Risiko für über-schaubar. Dafür spricht, dassdie örtlichen Unternehmenweitere 135.000 Euro ins „He-der-Lab“ investieren wollenund ein Förderantrag im Zu-sammenhang mit dem LEA-DER-Projekt gute Chancen aufGenehmigung bei der Bezirks-regierung in Detmold hat. Ins-gesamt verfügt das Gründer-Zentrum damit in den nächs-ten drei Jahren über 450.000

Euro; davon sollen ein Ge-schäftsführer und eine Assis-tenz bezahlt werden – Miete,Ausstattung und Betriebskos-ten des alten Postamts bis hinzu Getränken und Kaffeepul-ver kommen dazu.

Die Kosten für potenzielleGründer sind überschaubar: 19Euro pro Monat zahlen Uni-Abgänger für ihr Büro im „He-der-Lab“ inklusive Mobiliar,Telefon, Computernutzungund professioneller Beratung,49 Euro Gründer, die bereits imArbeitsleben stehen und sichmit einer eigenen Geschäfts-idee selbstständig machen wol-len. Maximal vier Jahre, so dieKonzeption, können die jun-gen Firmen im Gründerzen-trum entwickeln, denken undarbeiten, ehe sie auf eigenenBeinen stehen müssen.

Und was sollen die poten-ziellen Gründer mitbringen,um ins „Heder-Lab“ einziehenzu dürfen? „Ausschlaggebendsind schlüssige Geschäftsideenaus den Bereichen Innovation,Nachhaltigkeit und Digitalisie-rung. Die Details klären wir miteiner Auswahlkommission imausführlichen Bewerbungsge-spräch“, sagt Keppler.

Angesprochen werden sol-len nicht nur Uni-Absolven-ten. Auch bereits bestehendeFirmen, die es nicht länger alszwei Jahre gibt, und Berufstä-tige im Alter bis zu 40 Jahren,die sich selbstständig machenwollen, können sich mit einemneuen Geschäftskonzept [email protected] bewerben.Die Bandbreite dieser Konzep-te kann von der Entwicklunginnovativer Finanzdienstleis-

tungen per App über unge-wöhnliche Vorschläge zur Kos-tendämpfung im Gesundheits-wesen bis zur einfallsreichenMarketingberatung reichen.

Sorge vor der starken Kon-kurrenz in den nahen Groß-städten Bielefeld und Pader-bornmit ihrenschonbestehen-den Gründerzentren haben die„Heder-Lab“-Initiatorennicht: „Salzkotten muss sichnicht verstecken“, sagt Kepplerselbstbewusst, „hier läuft dasLeben zwar etwas langsamer,aber dafür mit viel Engage-ment und Herzblut, eher fa-miliär als universitär. Auchsteht der Großteil der heimi-schen Geschäftswelt hinterunserem Konzept.“

Besonderen Schwung für sei-ne Stadt verspricht sich Bür-germeister Ulrich Berger vom

Programmim„Heder-Lab“. ImKonferenzraum des alten Post-amtes sollen Kolloquien undVeranstaltungen rund um dasThema Gründer- und Wirt-schaftsförderung etabliert wer-den, die Industrie-und Han-delskammer will dort ihre Exis-tenzgründertage ansiedeln. Da-von wiederum sollen die Start-ups durch regen Ideen- und Er-fahrungsaustausch profitieren.Erste Anfragen von potenziel-len Existenzgründerngibt es be-reits, allerdings steht das „He-der-Lab“ gerade erst am An-fang der Bewerber-Sichtungen.

Yvonne Groening hat sichmit ihren Mitstreitern jeden-falls ein ehrgeiziges Ziel ge-setzt: Neben dem Denkwerk inHerford, der Founders Foun-dation in Bielefeld und der Pa-derborner Garage 33 soll dasneue Gründerzentrum in Salz-kotten dazu beitragen, die seiteinigen Jahren zurückgehendeZahl von Existenzgründungenin OWL wieder zu steigern.

Hier sollen neue Ideen verwirklicht werden: Marc Keppler, Peter Finke und Yvonne Groening (v. l.) stehenin den neuen Räumen des Heder-Lab im alten Postamt Salzkottens. FOTO: DIETER SAAKE

Die Partner´ Neben YvonneGroening und ihrerUnternehmensbera-tung „myconsult“ be-teiligen sich die Volks-bank Brilon-Büren-Salzkotten, die IT-Fir-ma SAMbase, das Elek-tronikunternehmenMüller, die Steuerkanz-lei WKF, der Automo-bilzulieferer CP Techund die Stadt Salzkot-ten mit ihrer Wirt-schaftsförderung amHeder-Lab. Die Indus-trie- und Handelskam-mer Paderborn will diepotenziellen Existenz-gründer außerdem mitgezielten Beratungsan-geboten unterstützen.

Eine Beilage derNeuen Westfälischen

Verantwortlich i.S.d.P.:Redaktion

Thomas SeimAnzeigen:

Michael-Joachim Appelt

Realisation:NOW-Medien GmbH& Co. KG

Redaktion:Patrick Schlütter (Ltg.)

Julia GesemannMonika Dütmeyer

Carsten Blumenstein

Druck:J.D. Küster Nachf.+Presse-DruckGmbH&Co.KG, Industriestr. 20

33689 Bielefeld

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9MITTWOCH13. NOVEMBER 2019

#dachdeckerZukunft des Handwerks: Der Zimmerei- und Dachdeckerbetrieb von Eugen Penner geht digitale Wege in der Kunden- und Mitarbeiterkommunikation.

„Geht nicht, gibt’s nicht“ gilt dabei auch für die sozialen Netzwerke

Von Magnus Horn

Ich kann auch mal abschal-ten. Wenn ich zuhausebin“, sagt Eugen Penner,

während er eine Nachricht insHandy tippt. „Ich bin aber erstsehr spät zuhause“, fügt der 36Jahre alte Zimmermeister hin-zu und lacht. Denn beim Zim-merei- und Dachdeckerbe-trieb ZEP-Team im Bielefel-der Osten gibt es viel zu tun.Nicht nur die klassischenHandwerksarbeiten auf demDach, sondern auch die Pflegedes eigenen Profils im Inter-net gehören zu den täglichenAufgaben.

Ob der Chat auf der eige-nen Homepage, auf der dieSteckbriefe der Mitarbeiterdenen von hippen Influencerngleichen, der firmeneigeneFacebook-Auftritt und der In-stagram-Account @zepteam –der Handwerksbetrieb setzt inder Kommunikation mit Kun-den und potenziellen Mitarbei-tern stark auf die digitalen We-ge. Das sei natürlich auch mitAufwand verbunden, erklärtMarlene von Tiesenhausen ausdem Büromanagement. „Aberwir sind ein junges Team, esmacht auch viel Spaß.“

Untereinander teilen sichdie Mitarbeiter die Aufgabenauf, die mit der Aktualisie-rung des Online-Auftritts ver-bunden sind. Mal bringt je-mand ein Foto oder Video voneiner Baustelle mit, mal pos-ten von Tiesenhausen oderPenner selbst etwas. Die Zielesind klar: Marketing, Vernet-zung, Kunden- und Mitarbei-ter-Akquise. Bereits zum Zeit-

punkt der Gründung im Jahr2013 haben Penner und seinTeam die sozialen Medien fürsich entdeckt. „Wir versuchen,uns dadurch von anderen Be-trieben etwas abzuheben. DieLeute sehen, dass wir innova-tiv sind“, sagt von Tiesenhau-sen. Penner ergänzt: „Ich sehedas Ganze als verlängertenArm, so kommen wir näher andie Leute heran.“ Über gleicheHashtags oder Verlinkungenentstehen so kostbare Verbin-dungen. Ein riesiges sozialesNetzwerk eben.

Techniken wie imposanteDrohnenaufnahmen dienenallerdings nicht nur der künst-lerischen Gestaltung der Web-site, des Instagram- oder desFacebook-Auftritts. Sie wer-den auch genutzt, um dieArbeit effizienter zu gestalten.Die Inspektionen und Aufnah-men aus der Luft helfen da-bei, Dach-Probleme zu erken-nen, sich einen Überblick zuverschaffen und die notwen-digen Arbeiten besser einschät-zen zu können. So kann Pen-ner auch schwierige Aufträgeentgegennehmen. Der Satz:„Geht nicht, gibt’s nicht“, fälltbei ihm häufiger.

Exemplarisch berichten diebeiden von einer Fensterkons-truktion, die in ein Dach ein-gebaut werden sollte. DieArbeit direkt am beziehungs-weise auf dem Dach war kaummöglich. Zudem hätte es lan-ge gedauert und schlechtesWetter hätte durch das offeneDach gegebenenfalls Schadenanrichten können. So bautePenner die Konstruktion in derFirma vor, sie konnte dann per

Krahn passgenau eingesetztwerden. „Eugen holt die Kun-den mit ins Boot. Die habeneine Vorstellung und er setztdas dann mit eigenen Ideenum“, sagt von Tiesenhausen.

Die Digitalisierung hat auchandere Bereiche beim ZEP-Team erreicht. So werden Ta-gesberichte über Tablets ineinem dafür vorgesehenen Sys-

tem angelegt. Papier soll so we-nig wie möglich verbrauchtwerden. Zudem laufen die Ge-räte, mit denen die Handwer-ker arbeiten, mit Akku. „Das isteinfacher und sicherer für dieJungs“, sagt von Tiesenhausen.

Die Kombination aus tradi-tionsreichem Handwerk unddigitaler Kommunikation zahltsich für Eugen Penner aus. Im

Märzdieses JahreserhielterdenZukunftspreis der Handwerks-kammer. Von Tiesenhausensagt: „Es ist ja eher ungewöhn-lich, dass eine Zimmerei so auf-gestellt ist. Was wir in den sechsJahren geschafft haben, ist toll.“Der Aufwand und die Investi-tionen am Anfang haben sichrentiert. Locker und nicht großüber das Risiko nachdenkend,sei Penner die Sache angegan-gen, habe gerade im BereichMerchandising viel investiert.Das Logo der Firma wurdeschnell verbreitet. Das bedeu-tete und bedeutet noch heuteviel Arbeit, doch „nur wer hartarbeitet, kann erfolgreich sein.Und wir wollen erfolgreich seinund mit zu den Besten gehö-ren“, sagt Penner selbst.

Dafür braucht es auch qua-lifizierte Mitarbeiter. Die so-zialen Medien sorgen dafür,dass sich viele angesprochenfühlen und sich bewerben – aufPraktika, einen Ausbildungs-platz oder einen Nebenjob. Re-gelmäßig führt Penner Bewer-bungsgespräche. Ihm ist aberauch wichtig, dass er es nichtüberspitzt. „Wenn jemand dasinteressiert, was wir machen,dann wird er es sehen. DieseLeute beschäftigen sich dannauch länger damit und neh-men es ernster“, sagt er.

Dennoch: Penner kann auseinem großen Bewerberpoolentscheiden und je nach Be-darf reagieren. Und dann ir-gendwann – so das Ziel vonPenner – kann er selbst denAufwand etwas herunterfah-ren. „Von 16 auf 10 Stundenoder so“, sagt er und vertieftwieder den Blick aufs Handy.

Das ZEP-Team im Internet´ Das ZEP-Team wurde2013 gegründet und hatderzeit 18 Mitarbeiter, vondenen vier Auszubildendesind. Bei Instagram hat derBetrieb 1.651 Abonnenten,bei Facebook sind es1.426. Die zwei hausinter-nen Katzen, Mirka und

Erika, die auf der Websiteals Therapeutin und Emp-fangsdame ebenfalls eineneigenen Steckbrief bekom-men haben, haben eineneigenen Instagram-Ac-count (@zep_cats), dermittlerweile 658 Abonnen-ten zählt.

Alles im Blick: Dank der eigenen Drohnenaufnahmen können Eugen Penner, Marlene von Tiesenhausen (kleine Fotos) und ihr Team not-wendige Arbeiten im Vorfeld besser einschätzen. FOTOS: ZEP-TEAM