Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft

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5.348 GS 8, 354 Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag Das Gewohnheitsrecht hat sich herausgebildet, daß der abgehende Vor sit zende der Deutschen Gesell - schaft für Soziologie zur Sache selbst sich äußert. Dabei sind seine eigene Position und die Deutung der Problemstellung nicht strikt zu trennen: in diese geht unvermeidlich jene ein. Andererseits kann er keine de- finitiven Lösungen vortragen, wo es eben der Diskus- sion auf dem Kongreß beda rf . Dessen Thematik wurde ursprünglich angeregt von Otto Stammer. In den Sitzungen des Vorstands, die mit dem Kongreß sich befaßten, wurde sie allmählich abgewandelt; der gegenwärt ige Tit el kri sta llisie rte sich durch tea m- work. Der mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdacht geraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit; Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob die gegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Indu- str iegese llscha ft hei ßen sol le. In Wahrheit geht es nicht um Termini sondern um inhaltlich Entscheiden- des. Referate und Diskussionen sollen zum Urteil dar- über helfen, ob noch das kapitalistische System nach seinem wie immer auch modifizierten Modell herr- 5.349 GS 8, 355 Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? sche, oder ob die industrielle Entwicklung den Begriff des Kapitalismus selbst, den Unterschied zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Staaten, gar die Kritik am Kapitalismus hinfällig gemacht habe. Mit anderen Worten, ob die heute innerhalb der So- ziologie so weit verbreitete These, Marx sei veraltet, zutreffe. Dieser These zufolge ist die Welt so durch und durch von der ungeahnt entfalteten Technik be- sti mmt , daß demgegenüber das sozial e Ver häl tni s, das einmal den Kapitalismus definierte, die Verwand- lung lebendiger Arbeit in Ware und damit der Klas- sengegensatz, an Relevanz einbüßte, sofern es nicht zum Aberglauben wurde. Dabei kann man sich auf unverkennbare Konvergenzen zwischen den technisch fortgeschrittensten Ländern, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, beziehen. Nach Lebensstandard und Bewußtsein werden vollends in den maßgebenden westlichen Staaten Klassendifferenzen weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und nach der industriellen Revolution. Prognosen der Klassentheo- rie wie die der Verelendung und des Zusammenbruchs sind nicht so drastisch eingetroffen, wie man sie ver- stehen muß, wenn sie nicht um ihren Gehalt gebracht werden sollen; nur mit Komik ist von relativer Ver- elendung zu reden. Selbst wenn das bei Marx nicht eindeutige Gesetz von der sinkenden Profitrate sy- stemimmanent sich bewahrheitet hätte, wäre zu kon- Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?

Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag

Das Gewohnheitsrecht hat sich herausgebildet, daßder abgehende Vorsitzende der Deutschen Gesell-

schaft für Soziologie zur Sache selbst sich äußert.Dabei sind seine eigene Position und die Deutung der Problemstellung nicht strikt zu trennen: in diese gehtunvermeidlich jene ein. Andererseits kann er keine de-finitiven Lösungen vortragen, wo es eben der Diskus-sion auf dem Kongreß bedarf. Dessen Thematik wurde ursprünglich angeregt von Otto Stammer. Inden Sitzungen des Vorstands, die mit dem Kongreßsich befaßten, wurde sie allmählich abgewandelt; der gegenwärtige Titel kristallisierte sich durch team-work. Der mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen

Kontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdachtgeraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit;Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob diegegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Indu-striegesellschaft heißen solle. In Wahrheit geht es

nicht um Termini sondern um inhaltlich Entscheiden-des. Referate und Diskussionen sollen zum Urteil dar-über helfen, ob noch das kapitalistische System nachseinem wie immer auch modifizierten Modell herr-

5.349 GS 8, 355Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?

sche, oder ob die industrielle Entwicklung den Begriff des Kapitalismus selbst, den Unterschied zwischen

kapitalistischen und nichtkapitalistischen Staaten, gar die Kritik am Kapitalismus hinfällig gemacht habe.Mit anderen Worten, ob die heute innerhalb der So-ziologie so weit verbreitete These, Marx sei veraltet,zutreffe. Dieser These zufolge ist die Welt so durch

und durch von der ungeahnt entfalteten Technik be-stimmt, daß demgegenüber das soziale Verhältnis,das einmal den Kapitalismus definierte, die Verwand-lung lebendiger Arbeit in Ware und damit der Klas-sengegensatz, an Relevanz einbüßte, sofern es nichtzum Aberglauben wurde. Dabei kann man sich auf 

unverkennbare Konvergenzen zwischen den technischfortgeschrittensten Ländern, den Vereinigten Staatenund der Sowjetunion, beziehen. Nach Lebensstandardund Bewußtsein werden vollends in den maßgebendenwestlichen Staaten Klassendifferenzen weit weniger 

sichtbar als in den Dezennien während und nach der industriellen Revolution. Prognosen der Klassentheo-rie wie die der Verelendung und des Zusammenbruchssind nicht so drastisch eingetroffen, wie man sie ver-stehen muß, wenn sie nicht um ihren Gehalt gebrachtwerden sollen; nur mit Komik ist von relativer Ver-elendung zu reden. Selbst wenn das bei Marx nichteindeutige Gesetz von der sinkenden Profitrate sy-stemimmanent sich bewahrheitet hätte, wäre zu kon-

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objektiver Irrationalität hin. Das, nicht allein der ste-rile Dogmatismus ihrer Anhänger, dürfte erklären hel-

fen, warum es längst zu keiner überzeugenden objek-tiven Gesellschaftstheorie mehr kam. Unter diesemAspekt wäre der Verzicht auf jene kein kritischer Fortschritt wissenschaftlichen Geistes, sondern Aus-druck zwangshafter Resignation. Parallel zur Rück- bildung der Gesellschaft läuft eine des Denkens über sie.

Dem indessen stehen nicht weniger drastische Fak-ten entgegen, die ihrerseits wieder nur gewaltsam undwillkürlich ohne Verwendung des SchlüsselbegriffsKapitalismus zu interpretieren sind. Weiter wird

Herrschaft über Menschen ausgeübt durch den ökono-mischen Prozeß hindurch. Dessen Objekte sind längstnicht mehr nur die Massen, sondern auch die Verfü-genden und ihr Anhang. Der alten Theorie gemäßwurden sie weithin zu Funktionen ihres eigenen Pro-

duktionsapparats. Die vieldiskutierte Frage nach der managerial revolution, nach dem angeblichen Über-gang der Herrschaft von den juridischen Eigentümernan die Bürokratie ist demgegenüber sekundär. Jener Prozeß produziert und reproduziert nach wie vor,wenn schon nicht die Klassen so, wie sie in ZolasGerminal dargestellt sind, zumindest eine Struktur,welche der Antisozialist Nietzsche mit der FormelKein Hirt und eine Herde vorwegnahm. In ihr aber 

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 birgt sich, was er nicht sehen wollte: die alte, nur an-onym gewordene gesellschaftliche Unterdrückung.

Hat schon die Verelendungstheorie nicht à la lettresich bewahrheitet, so doch in dem nicht weniger be-ängstigenden Sinn, daß Unfreiheit, Abhängigkeit voneiner dem Bewußtsein derer, die sie bedienen, entlau-fenen Apparatur universal über die Menschen sichausbreitet. Die allbeklagte Unmündigkeit der Massenist nur der Reflex darauf, daß sie so wenig wie je au-tonome Meister ihres Lebens sind; wie im Mythos wi-derfährt es ihnen als Schicksal. – Empirische Untersu-chungen verweisen übrigens darauf, daß auch subjek-tiv, ihrem Realitätsbewußtsein nach, die Klassen kei-

neswegs so nivelliert sind, wie man es zuzeiten ver-mutete. Selbst die Imperialismustheorien sind mitdem erzwungenen Verzicht der großen Mächte auf Kolonien nicht bloß veraltet. Der Prozeß, den siemeinten, setzt sich fort in dem Antagonismus der bei-

den monströsen Machtblöcke. Die angeblich überhol-te Lehre von den gesellschaftlichen Antagonismen,mit dem Telos des Zusammenbruchs, wird von denmanifesten politischen unmäßig überboten. Ob und inwelchem Maß das Klassenverhältnis umgelegt wardauf das zwischen den führenden Industrienationen undden umworbenen Entwicklungsländern, mag unerör-tert bleiben.

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sen oder aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Scheinaber ist dies Bewußtsein von der Gesellschaft, weil es

zwar der technologischen und organisatorischen Ver-einheitlichung Rechnung trägt, davon jedoch absieht,daß diese Vereinheitlichung nicht wahrhaft rationalist, sondern blinder, irrationaler Gesetzmäßigkeit un-tergeordnet bleibt. Kein gesellschaftliches Gesamt-subjekt existiert. Der Schein wäre auf die Formel zu bringen, daß alles gesellschaftlich Daseiende heute sovollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Mo-ment der Vermittlung durch seine Totalität verstelltwird. Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sichmehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu

nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit istder Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer undich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologi-schen Schleiers. Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die

totale Expansion der Technik läuft auf die Bestäti-gung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblichforscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind.Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen,auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht.

Sie ist zu jener Fatalität geworden, die in der allge-genwärtigen, nach Freuds Wort, frei flutenden Angstihren Ausdruck findet; frei flutend, weil sie an keine

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Lebendigen, an Personen nicht und nicht an Klassen,länger sich zu heften vermag. Verselbständigt aber 

haben sich am Ende doch nur die unter den Produkti-onsverhältnissen vergrabenen Beziehungen zwischenMenschen. Deshalb bleibt die übermächtige Ordnungder Dinge zugleich ihre eigene Ideologie, virtuell ohn-mächtig. So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann. Soll Soziologie, anstatt bloß Agenturen und In-teressen willkommene Informationen zu liefern, etwasvon dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzi- piert ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht sel- ber dem universalen Fetischcharakter erliegen, dasIhre, sei's noch so Bescheidene, beizutragen, daß der 

Bann sich löse.

1968

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