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ME/CFS Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome Informationen für Ärzte 3. überarbeitete Auflage 2013

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ME/CFSMyalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome

Informationen für Ärzte3. überarbeitete Auflage 2013

2 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

Wir geben ME/CFS ein Gesicht

ImpressumME/CFS - Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome30 von 300.000 Gesichtern des ME/CFSInformationen für Ärzte3. Auflage März 2013

Diese Broschüre wurde von der Barmer GEK imRahmen der Selbsthilfeförderung §20c SGB V zuGunsten der Selbsthilfegruppe Netzwerk-CFSHannover ermöglicht.

v.i.S.d.P., Layout und Redaktion: Regina Clos (www.cfs-aktuell.de))

InhaltEditorial - Wir geben ME/CFS ein Gesicht 2Was ist ME/CFS? 3Die Definitionen des CFS 4Kanadische Klinische Kriterien 5Skala des Grads der Behinderung nach Bell 6Fakten und Anomalien bei ME/CFS 7Das OMI-MERIT-Projekt 8Rituximab und Valaciclovir in der Erforschung 9Leitfaden zu Diagnose und Behandlung 10Symptomatische Behandlung des ME/CFS 11Das belgische Experiment mit GET/CBT 13Leben mit ME/CFS - Bericht von Nina N. 14Filme zu ME/CFS 15

Die ME/CFS-Patienten auf dem Titelblatt haben sichauf unseren Aufruf gemeldet, ein Foto zur Verfügungzu stellen, um der hierzulande so wenig bekanntenKrankheit ME/CFS ein Gesicht zu geben. Wie Siesehen, ist ein ganz normaler Querschnitt durch dieBevölkerung herausgekommen, und vielen sieht mandie Schwere ihrer Erkrankung nicht an.

Wir möchen Ihnen mit dieser kurzen Einführungeinen Anstoß geben, sich mit dieser Multi -systemerkrankung zu beschäftigen. Trotz der verwir-renden Vielfalt der Symptome ist sie an den zentralenMerkmalen recht einfach zu erkennen. ME/CFS lässtsich mit der klinischen Falldefinition (S. 4) diagnosti-zieren und von anderen Krankheitsbildern mit ähnli-chen Symptomen abgrenzen, auch wenn es noch kei-nen einfachen diagnostischen Test gibt.

Die schätzungsweise 300.000 Betroffenen inDeutschland – und nicht nur diese 30 auf demTitelblatt – wären dankbar, wenn ihre Ärzte ihre Noterkennen und sie unterstützen würden, soweit es ebengeht. Das Leiden der Patienten ist oft unbeschreiblichund entspricht in schweren Fällen dem Zustand vonAIDS-Patienten wenige Wochen vor ihrem Tod.

Eine Heilung ist nicht in Sicht, aber die Patientenbrauchen Ärzte, die sich über die neuesten wissen-schaftlichen Erkenntnisse und über charakteristischeimmunologische und neurologische Störungen kun-dig machen und vorhandene Behandlungsansätzeumsetzen.

www.buendnis-mecfs.de

Das Bündnis ME/CFS ist ein Aktionsbündnis vonVertretern verschiedener Patientenvereinigungen, diesich bemühen, dieser vergessenen, oft diskriminiertenPatientengruppe eine Stimme zu geben.

Bitte helfen Sie uns in unserem Bemühen, dasWissen um diese schwere neuro-immunologischeErkrankung zu verbreiten und die „unsichtbar”gewordenen ME/CFS-Patienten sichtbar zu machenund zu sehen als das, was sie sind: Menschen, die aneiner schweren organischen Erkrankung leiden, dieoft lebenslang anhält.

Wir bedanken uns für Ihr Interesse.

Ihr Bündnis ME/CFS

Was ist ME/CFS?Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic FatigueSyndrom (ME/CFS) ist eine neuro-immunologischeMultisystemerkrankung, die von der WHO in denICD-10 unter G93.3 klassifiziert wird.w Große epidemiologische Studien in den USA und

Großbritannien legen nahe, dass wir allein inDeutschland von 300.000 Betroffenen ausgehenmüssen, weltweit von ca. 17 Millionen.

w Zentrales Merkmal ist eine überwältigendeSchwäche, verbunden mit schwerem Krankheits -gefühl und zahlreichen weiteren Symptomen wieSchmerzen, neurologischen, endokrinen undimmunologischen Manifestationen.

w Auslöser sind häufig akute virale und/oder bakteri-elle Infektionen, von denen sich die Patienten nichtmehr erholen. Man vermutet, dass es infolge sol-cher Infektionen und/oder anderer Stressoren wieetwa Toxinen zu einer Entgleisung zahlreicher bio-chemischer Regulationsprozesse kommt, die dannihrerseits die Störung perpetuieren.

w Die Mehrzahl der Erkrankten ist dadurch arbeits-unfähig, viele sind zu Pflegefällen geworden, weilsie einfachste Alltagsverrichtungen nicht mehrbewältigen können.

w ME/CFS bedeutet für die Patienten in der Regelden Verlust des Berufes und der finanziellenSicherheit, den Verlust der körperlichen und geisti-gen Kräfte, den Verlust der Selbstständigkeit undSelbstbestimmung.

w Schon geringe körperliche und geistige Belastungenführen zu massiver Zustandsverschlechterung, d.h.einer Verstärkung aller Symptome.

w Viele Patienten sind über Monate oder sogar Jahrenicht in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen.Besonders schwer Erkrankte sind dauerhaft ansBett gebunden und müssen von ihren Angehörigenrund um die Uhr gepflegt werden.

w Insbesondere die schwer erkrankten Patientenhaben oft keine medizinische Versorgung, weil sienicht in der Lage sind, Arztpraxen oder einen derwenigen Spezialisten für ME/CFS aufzusuchen.

w ME/CFS kann töten. Es sind zahlreiche Fälle jun-ger Menschen dokumentiert, die nach Jahrzehntenschwerer Erkrankung verstorben sind. Die Zahl derTodesfälle durch Krebs und Herzversagen ist in derPopulation der ME/CFS-Patienten signifikanterhöht, so dass ihre Lebenserwartung um ca. 20Jahre verkürzt ist.

w In Deutschland ist das Wissen um diese Krankheitnoch wenig verbreitet oder entspricht nicht demStand der wissenschaftlichen Forschung. Nochimmer wird ME/CFS fälschlicherweise als eine psy-chische oder somatoforme Erkrankung angesehenbzw. mit solchen Krankheitsbildern verwechseltund dementsprechend mit Verhaltenstherapie undAufbau training (Graded Exercise) „behandelt“.

w Aktivierung jenseits der sehr engen Grenzen dieserPatienten macht diese krank, führt oft zu schwerenRückfällen und verschlechtert die langfristigePrognose erheblich.

w Diesen Patienten mangelt es nicht an Willen oderAntrieb – im Gegenteil. Vielen fällt es schwer, ihrerheblich eingeschränktes Leistungsvermögen zuaktzeptieren und sich nicht zu überfordern.

w Mittlerweile belegen mehr als 5.000 Forschungs -arbeiten weltweit typische biologisch-organischeAnomalien bei ME/CFS-Patienten, die sich vonKrankheitsbildern mit auf den ersten Blick ähnli-cher Symptomatik unterscheiden.

w In fast allen Fällen werden die Kosten fürMedikamente, die das Leiden auf der symptomati-schen Ebene lindern können, von denKrankenkassen nicht erstattet.

w Es gibt für die Betroffenen keinerlei Versorgungs -struktur, keine einzige geeignete Klinik oderPflegeeinrichtung und nur sehr wenige Ärzte mitentsprechendem Fachwissen, sodass sie sowohl aufder sozialen wie auf der medizinischen Ebenedurch alle Netze fallen.

w Kurz: Die Lage der ME/CFS-Patienten inDeutschland ist katastrophal.

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 3

Wir stehen vor einer nationalen Katastrophe und wir müssenuns dieser Tatsache stellen. Die Krankheit ist heruntergespieltworden – durch Täuschung, Un wissen heit der Ärzteschaftund durch Abwürgen der biomedizinischen Forschung.Derweil sind Tausende von Patienten schwer erkrankt. Manzweifelt an ihnen und erklärt sie für selbst schuld an ihrerKrankheit, und so leiden viele an ärztlicher Vernachlässigungund Misshandlung.

Professor Leonard A. Jason, Ph.D., DePaul University, Chicago

Diese Krankheit istgenauso bedeutsamwie jede andere schwe -re Krankheit, ob dasKrebs, Herz ver sagenoder AIDS ist.

4 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

Schon im Jahr 1959 hat der Arzt E.D. Acheson dasSyndrom der Myalgischen Enzephalomyelitis (ME) imAmerican Journal of Medicine beschrieben (1). Erzählt 14 historische Clusterausbrüche der Erkrankungauf, die rund um den Erdball zwischen Island undSüdafrika aufgetreten waren. Der Ausbruch amLondoner Royal Free Hospital im Jahr 1955 führteschließlich zur Namensgebung „benigne MyalgischeEnzephalomyelitis“, kurz: ME, orientiert an den neu-rologischen und muskulären Leitsymptomen.

Schon damals schloss man auf ein infektiösesGeschehen, und Symptomatik sowie der oft lebens-lange Verlauf der Krankheit glichen dem heutebeschriebenen Krankheits bild auf verblüffende Weise.

Dass die Centers for Disease Control (CDC) beierneuten Ausbrüchen Mitte der 1980er Jahre in denUSA nicht auf diese Namens gebung und Definitionzurückgriffen, obwohl die WHO das Krankheitsbildbereits 1969 als neurologische Erkrankung klassifizierthatte, ist bis heute Gegen stand vieler Debatten undVermutungen. Die CDC gaben der Krankheit 1988mit der Holmes-Definition den verharmlosendenNamen „Chronic Fatigue Syndrome“, kurz CFS (2),der die massive, lebensverändernde Symptomatik unddas schwere Krank heitsgefühl der Betroffenen in kei-ner Weise abbildet. Wenn dies dann noch als„Chronisches Müdigkeitssyndrom“ übersetzt wird,sind Missverständnissen Tür und Tor geöffnet.

Die Definition des „CFS“, die heute noch weit ver-breitet und in der biomedizinischen Forschunggenutzt wird, ist die revidierte Fassung der CDC-Definition von 1988, die sogenannte Fukuda-Definition aus dem Jahr 1994 (3). Da sie immernoch relativ unspezifisch ist und bei ungenauerAnwendung auch Fälle von Erschöpfung ohne dasKardinalsymptom der Zustandsverschlechterungnach Belastung (Post-exertional Malaise) identifiziert,haben sich Anfang des neuen Jahrtausends zahlreicheKliniker und Forscher aus dem Bereich ME/CFSzusammengesetzt und die sehr viel spezifischere,sogenannte Kanadische Fall definition von 2003erarbeitet (4). Sie wird zunehmend in der ME/CFS-Forschung eingesetzt und erlaubt eine relativ sichereklinische Diagnose. Der nebenstehende Fragebogenberuht auf dieser Falldefinition und emöglicht auchohne aufwendige Testverfahren eine recht spezifischeund relativ einfache Diagnosestellung. Dieses

Kanadische Konsens dokument ist nochmals überar-beitet worden und 2011 als InternationalesKonsens dokument veröffentlicht worden (5).

Damit noch nicht genug der Definitionen - eineGruppe einflussreicher britischer Psychiater umSimon Wessely hat für weitere Definitionen vonErschöpfungszuständen gesorgt und diese ebenfallsals „CFS“ bezeichnet. Dazu gehören etwa dieOxford-Kriterien, die London-Kriterien oder dieReeves-Definition, auch als „operationalisierteFukuda-Definition“ verkauft (6). Alle identifizierenein breites Spektrum von „Erschöpften“, darunterauch zahlreiche psychiatrische Patienten. Sie ergebeneine bis zu zehnfach höhere Prävalenzrate wie dieFukuda- und Kanadischen Kriterien.

Studien auf der Basis dieser losen Kriterien sagendemnach in der Regel nichts mehr über ME/CFS-Patienten aus, sollen aber dennoch für diese Gültigkeitbesitzen. Das gilt z.B. für die PACE-Studie, auf dieman die Therapieempfehlungen (CBT/GET in denAWMF-Leitlinien „Müdigkeit“ stützt.

Patienten wie ME/CFS-Experten bevorzugen fürKlinik und Forschung hingegen die hochspezifischeKanadische bzw. die Internationale Definition.

Die Definition(en) des ME/CFS - ein wenig Geschichte

Der Tag, an dem ME den blödsinnigen Namen 'ChronicFatigue Syndrom' bekam, war ein schlimmer Tag für dieKinder. Manche unserer Kinder können weder sprechen nochschlucken und müssen mit einer Sonde ernährt werden. Dasist nicht 'Erschöpfung' oder 'Müdigkeit'. Das ist die abso -lute Verheerung. Jane Colby, TYMES TRUST

(1) Acheson ED: The clinical syndrome variously called Benign MyalgicEncephalomyelitis, Iceland Disease and Epidemic Neuromyasthenia.Am J Med 1959 PMID 13637100 (2) Holmes G, Kaplan J, Gantz N, et al.: Chronic fatigue syndrome: aworking case definition. Ann Intern Med 1988 PMID 2829679. (3) Fukuda K; Straus S, Hickie I, et al.: The chronic fatigue syndro-me. A comprehensive approach to its definition and study. Annales ofInternal Medicine 1994 PMID 7978722. (deutsch unter: www.cfs.vir-tuga.com/defin.txt)(4) Carruthers BM et al: Myalgic Encephalomyelitis/Chronic FatigueSyndrome: Clinical Working Case Definition, Diagnostic andTreatment Protocols Journal of Chronic Fatigue Syndrome, Vol. 11(1)2003 (Deutsch unter: http://www.cfs-aktuell.de/Konsensdokument.pdf)(5) Carruthers BM, van de Sande MI et al. "Myalgic encephalomyeli-tis: International Consensus Criteria.". J Intern Med 270 (4): 327–38. doi:10.1111/j.1365-2796.2011.02428.x. PMID 21777306(6) http://en.wikipedia.org/wiki/Clinical_descriptions_of_chronic_fatigue_syndrome

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 5

KANADISCHE KLINISCHE KRITERIEN 2003 (GEKÜRZTE FASSUNG)

Es wird empfohlen, diesen Bogen zum Ankreuzen in der ersten Konsultation zu verwenden. Er kann als Hilfestellungbei der möglichen Diagnosestellung eines ME/CFS dienen. (Beachte: Die Abschnitte 1 bis 6 müssen allesamt wieunten beschrieben erfüllt sein.)

1) Zustandsverschlechterung nach Belastung und

Erschöpfung:

(Alle Kriterien dieses Abschnitts müssen erfüllt sein.)

a) Der Patient muss unter einem deutlichen Ausmaßeiner neu aufgetretenen, anderweitig nicht erklär-baren, andauernden oder wiederkehrenden körper-lichen oder mentalen Erschöpfung leiden, die zueiner erheblichen Reduktion des Aktivitätsniveausführt. .....................................................................p

b) Erschöpfung, Verstärkung des schwerenKrankheitsgefühls und/oder Schmerzen nachBelastung mit einer verzögerten Erholungsphase(der Patient benötigt mehr als 24 Stunden, um sichzu erholen). ..........................................................p

c) Die Symptome können durch jede Art vonAnstrengung oder Stress verschlechtert werden. p

2) Schlafstörungen:

(Dieses Kriterium muss erfüllt sein.)

Nicht erholsamer Schlaf oder veränderteSchlafmuster (einschließlich einer Störung desTag-Nacht-Rhythmus') ........................................p

3) Schmerzen:

(Dieses Kriterium muss erfüllt sein.)

Arthralgien und/oder Myalgien ohne klinischeBelege für eine entzündliche Reaktion im Sinnevon Schwellungen oder Rötungen der Gelenkeund/oder starke Kopfschmerzen eines neuen Typs,Musters oder Schweregrades ..............................p

4) Neurologische / Kognitive Manifestationen:

(Zwei oder mehr der folgenden Kriterien müssenerfüllt sein.)

a) Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit unddes Kurzzeitgedächtnisses ...................................p

b) Schwierigkeiten mit der Informationsverarbeitung,der Kategorisierung, Wortfindungsschwierigkeitenein schließ lich periodisch auftretenderLesestörungen.......................................................p

c) Es kann zu Überlastungserscheinungen kommen:bei Überlastung durch zu viele Informationen, beikognitiver und sensorischer Überlastung (z.B.Lichtempfindlichkeit und Überempfindlichkeitgegenüber Lärm) und/oder bei emotionaler Überla-stung. Dies kann zu Rückfällen und/oder Ängstenführen....................................................................p

d) Wahrnehmungs- und sensorische Störungen.......pe) Desorientierung oder Verwirrung .........................pf) Ataxien Bewegungskoordinationsstörungen).......p

5) Autonome / Neuroendokrine / Immunologische

Manifestationen

(Mindestens ein Symptom in mindestens zwei der fol-genden drei Kategorien muss erfüllt sein):

A) Autonome Manifestationen: 1) Orthostatische Intoleranz (z.B. neural vermittelter

niedriger Blutdruck [NMH]) ................................p2) lagebedingtes orthostatisches Tachykardie-

Syndrom (POTS - Herzjagen) ...........................p3) Schwindel und/oder Benommenheit .................p4) Extreme Blässe .................................................p5) Darm- oder Blasenstörungen mit oder ohne

Colon Irritable (IBS - Reizdarm) oder Blasen -dysfunktionen ....................................................p

6) Herzklopfen mit oder ohneHerzrhythmusstörungen ....................................p

7) Vasomotorische Instabilität (Instabilität desGefäßtonus) ......................................................p

8) Atemstörungen ...................................................p

B) Neuroendokrine Manifestationen:1) Verlust der thermostatischen Stabilität ...............p2) Intoleranz gegenüber Hitze/Kälte ......................p3) Appetitverlust oder anormaler Appetit,

Gewichtsveränderungen ....................................p4) Hypoglykämie (verminderter Glucosespiegel)....p5) Verlust der Anpassungsfähigkeit und der Toleranz

gegenüber Stress, Verstärkung der Symptomedurch Stress sowie langsame Erholung und emo-tionale Labilität ...................................................p

C) Immunologische Manifestationen:1) Empfindliche Lymphknoten .............................. p2) Wiederkehrende Halsschmerzen ..................... p3) Grippeähnliche Symptome und/oder allgemeines

Krankheitsgefühl ................................................p4) Entwicklung bisher noch nicht aufgetretener

Allergien oder Veränderungen im Zustand bereitsvorliegender Allergien ........................................p

5) Überempfindlichkeit gegenüber Medikamentenund/oder Chemikalien .......................................p

6) Die Erkrankung besteht seit mindestens 6

Monaten:

(Dieses Kriterium muss erfüllt sein.)........................p

Beachte: ME/CFS hat normalerweise einen akutenBeginn, aber er kann auch schleichend sein. In denfrühen Stadien kann eine vorläufige Diagnose gestelltwerden. Die Störungen bilden im AllgemeinenSymptomgruppen, die häufig für den jeweiligenPatienten charakteristisch sind. Die Manifestationender Erkrankung können schwanken und sich im Laufeder Zeit verändern.

Aus: Myalgische Enzephalopathie (ME)/Chronic Fatigue Syndrom (CFS) – Ein Leitfaden für Ärzte Diese sog. „Australische Broschüre“ finden Sie hier www.cfs-aktuell.de/Australischer%20Leitfaden%20deutsch.pdf

6 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

Skala des Grads der Behinderung nach David BellDas Ziel dieser Punkteskala ist, einen Maßstab für Behinderung und Einschränkung bei CFS/ME festzulegen. Bekannte

Skalen, wie z.B. der Karnofsky-Score, erfassen CFS-spezifische Probleme nur bedingt. Als pragmatischer Ansatz bietet sich diefolgende von David S. Bell vorgeschlagene Punkteskala an.

David Bell ist ein anerkannter Experte für CFS/ME. Er wurde 1985 als Landarzt Zeuge eines Cluster-Ausbruchs inLyndonville im Staat New York und hat seitdem zahlreiche Fachartikel und Bücher zu CFS/ME veröffentlicht. Er istVorstandsmitglied der International Association of CFS/ME und war Vorsitzender der Beratungs kommission zumCFS/ME des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums.

Quelle: The Doctor’s Guide to Chronic Fatigue Syndrome, David S. Bell, MD, S. 122 f. Addison-Wesley Publishing Company

100 Punkte Keine Symptome in Ruhe; keine Symptome in Ruhe und bei körperlicher Belastung; insgesamt einnormales Aktivitätsniveau; ohne Schwierigkeiten in der Lage, Vollzeit zu arbeiten.

90 Punkte Keine Symptome in Ruhe; leichte Symptome bei körperlicher und geistiger Belastung; insgesamtein normales Aktivitätsniveau; ohne Schwierigkeiten in der Lage, Vollzeit zu arbeiten.

80 Punkte Leichte Symptome in Ruhe; die Symptome verstärken sich durch Belastung; nur bei Tätig keiten, dieanstrengend sind, ist eine geringfügige Leistungseinschränkungen spürbar; mit Schwierig keiten inder Lage, an Arbeitsplätzen, die Kraftanstrengungen erfordern, Vollzeit zu arbeiten.

70 Punkte Leichte Symptome in Ruhe; deutliche Begrenzungen in den täglichen Aktivitäten spürbar; der funk-tionelle Zustand beträgt insgesamt etwa 90% der Norm – mit Ausnahme von Tätigkeiten, die einerKraftanstrengung bedürfen; mit Schwierigkeiten in der Lage, Vollzeit zu arbeiten.

60 Punkte Leichte Symptome in Ruhe; deutliche Begrenzungen in den täglichen Aktivitäten spürbar; Derfunktionelle Zustand beträgt insgesamt etwa 70%-90% der Norm; Unfähig, einerVollzeitbeschäftigung nachzugehen, wenn dort körperliche Arbeit gefordert wird; aber in der Lage, Vollzeit zu arbeiten, wenn es um leichte Arbeiten geht und die Arbeitszeit flexibel gehandhabt wer-den kann.

50 Punkte Mittelschwere Symptome in Ruhe; mittelschwere bis schwere Symptome bei körperlicher Belastungoder Aktivität; der funktionelle Zustand ist auf 70% der Norm reduziert; unfähig, anstrengendeArbeiten durchzuführen, aber in der Lage, leichte Arbeiten oder Schreib tischarbeit für 4-5 Stundentäglich durchzuführen, wobei Ruhepausen benötigt werden.

40 Punkte Mittelschwere Symptome in Ruhe; mittelschwere bis schwere Symptome bei Belastung oderAktivität; der funktionelle Zustand ist auf 50%-70% der Norm reduziert; unfähig, anstrengendeArbeiten durchzuführen, aber in der Lage, leichte Arbeiten oder Schreibtischarbeit für 3-4Stundentäglich durchzuführen, wobei Ruhepausen benötigt werden.

30 Punkte Mittelschwere bis schwere Symptome in Ruhe; schwere Symptome bei jeglicher Belastung oderAktivität; der funktionelle Zustand ist auf 50% der Norm reduziert; in der Regel ans Haus gefes-selt; unfähig, anstrengende Arbeiten durchzuführen, aber in der Lage, leichte Arbeiten oderSchreibtischarbeit für 2-3 Stunden täglich durchzuführen, wobei Ruhepausen benötigt werden.

20 Punkte Mittelschwere bis schwere Symptome in Ruhe; schwere Symptome bei jeglicher Belastung oderAktivität; der funktionelle Zustand ist auf 30%-50% der Norm reduziert; bis auf selteneAusnahmen unfähig, das Haus zu verlassen; den größten Teil des Tages ans Bett gefesselt;unfähig,sich mehr als eine Stunde am Tag zu konzentrieren.

10 Punkte Schwere Symptome in Ruhe; die meiste Zeit bettlägerig; ein Verlassen des Hauses ist nicht möglich;deutliche kognitive Symptome, die eine Konzentration verhindern.

0 Punkte Ständig schwere Symptome; immer ans Bett gefesselt; unfähig zu einfachsten Pflege maßnahmen.

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 7

Die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) wurde seit1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO inder International Classification of Diseases ICDunter dem Punkt G 93.3 aufgelistet. Die Umbenen -nung der ME in Chronic Fatigue Syndrom (CFS) imJahr 1988, mit der eine unangebrachte Betonung auf„Fatigue“ („Erschöpfung“) gelegt wurde, verharmlostdie beträchtliche Behinderung, die von dieserKrankheit ausgeht (1) und die soweit gehen kann, dassdie Betroffenen im Rollstuhl sitzen oder bettlägerigsind und 24 Stunden am Tag betreut werden müssen.

ME/CFS ist durch neurologische, immunologische,gastrointestinale, kardiovaskuläre und Skelettmuskel-Anomalien gekennzeichnet. Schwere Formen derErkrankung können zu Lähmungen, Anfällen, hart-näckigen, schweren Kopfschmerzen und lebensbe-drohlichen Komplikationen führen.

Chaotische Krankheitsdefinitionen und diagnosti-sche Symptomkriterien haben die Studienkohortenverdorben und Forschungsdaten unbrauchbargemacht (2, 10). Deshalb haben die Forscher undKliniker, die im Jahr 2005 an dem ME/CFS-Forschungsforum in Adelaide teilgenommen haben,einstimmig für die Übernahme der allseits gelobtenKanadischen Klinischen Kriterien von 2003gestimmt.

ME/CFS kann sich durch klinische Syndromeäußern, die mit infektiösen Erregern und einer Gif t -stoff exposition im Zusammenhang stehen (11-15). Da -zu gehören das Epstein-Barr-Virus, Ciguatoxin (13),Organophosphat- und Organochlorpestizide (12, 14)

Die Prävalenz wird auf 235-700 Betroffenen pro100.000 Menschen geschätzt. Hierbei sind alle sozioö-konomischen und ethnischen Gruppen und Männerund Frauen aller Altersgruppen betroffen (16-21).Damit tritt ME/CFS häufiger auf als AIDS, Lungen-oder Brustkrebs (19).

Die Beeinträchtigung durch die Krankheit (22-26)entspricht in vielen Fällen der Lebensqualität einesMenschen im Endstadium von AIDS (17, 27),Menschen mit chronisch obstruktiver Lungen -erkrankung (25, 28) oder Herzerkrankungen oder demEndstadium von Nierenversagen (29).

Einige wenige Menschen erholen sich (durch-schnittlich nach sieben Jahren [17], manche erholensich partiell und ein beträchtlicher Anteil von 25% (20)ist auf Dauer schwer behindert (17-20, 2-23)

Biomedizinische Anomalien:

Immunsystem, beispielsweise:w Chronische Aktivierung und Dysfunktion des

Immunsystems (24,30-32), Hinweise auf persistie-rende virale Infektionen (33) (enterovirale [34-41],EBV [42-47] und HHV-6/7 [43,45-50]), Aktivierungdes 2-5A-antiviralen Pfades (47, 51-56), niedrige Zahlund Zytotoxizität der Natürlichen Killerzellen (33,47, 54, 57-63), Anomalien der T-Zellen (59, 61-62, 64-66), erhöhte Zelltod-Rate (73-74) sowie Allergien (54,75-77)

w Anomalien der Genexpression im Bereich derImmunfunktionen (61, 66, 78-81)

Gehirn/Zentrales Nervensystem, beispielsweise:w Objektive Messergebnisse verschiedener

Dysfunktionen (54,82-86) – Defizite beimArbeitsgedächtnis, bei der Konzentration, derInformations verarbeitung (87-95) und den autono-men Funktionen einschließlich neural vermitteltemniedrigen Blutdruck und orthostatischer Intoleranz(96-98).

w Anomalien – regionale Minderdurchblutung desGehirns, zu sehen im SPECT (99-106), Anomalien inder weißen und grauen Gehirnsubstanz, festzustel-len durch MRT (106-112), Entzündungsprozesse (66,106-107, 113-114), Hypomyelinisierung (83, 113-114),Dysfunktionen der Neurotrans mitter (115-116, 119)und metabolische Dysfunktionen (117-121), zusehen im MRT/PET sowie Anomalien derProteine in der Rückenmarksflüssigkeit (122-123)

Fakten und Anomalien bei ME/CFSDie biomedizinische Literatur zwischen 1955 und 2006Von Malcom Hooper

Malcom Hooper istBiochemiker und eme-ritierter Professor fürMedizinische Chemieder Univer si tätSunderland, Groß -britannien. Er enga-giert sich seit vielenJahren für die Be langeder ME/CFS-Patienten.

8 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

w Anomalien in der Genexpression im neurologi-schen Bereich (115)

Endokrines System:

Hypothalamus - Beeinträchtigung in der Aktivierungder Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse (HPA-Achse) (124-131) und Anomalien derGenexpression im neuroendokrinen Bereich (78)

Herz-Kreislauf-System:

Minderdurchblutung (54, 83, 99-106, 132-136),Beeinträchtigung der Gefäßspannung (27, 134-137),einschließlich einer abnormalen Reaktion aufAcetylcholin, geringes Blutvolumen (134-135),Vaskulitis (136-137), d.h. entzündliche Erkrankungender Blutgefäße, wozu auch erhöhter oxidativerStress, Entzündungen und arterieller Gefäß -steifigkeit (138-139) sowie Funktionsstörungen desHerzens (132, 135, 140-141)

Muskuläre Störungen:

strukturelle und biochemische Anomalien (38, 68, 89,142-148) einschließlich einer gestörten Erholung derMuskeln nach körperlicher Belastung (149-154), wobeidie Genexpression in der Reaktion auf Belastungabnormal ist und es zu einer Zustandsverschlech -terung nach Belastung kommt (155).

Weitere Störungen:

Gastrointestinale Störungen (156-158) einschließlichNahrungsmittelunverträglichkeiten (159-160) undReizdarmsyndrom IBS (156, 161), Dysfunktion derMitochondrien (38, 82, 125, 162-163) einschließlichAnomalien der Genexpression im Bereich derMitochondrien (164) und des Ionentransports undFunktionsstörungen der Ionenkanäle (155, 165-166)

Die Literaturliste zu diesem Artikel finden Sie unter:www.cfs-aktuell.de/Hooper.htm n

Das OMI-MERIT-Projekt Ein multifaktorieller Forschungsansatz

Im Juni 2012 trafen sich in New York eine Reiheinternationaler Wissenschaftler und Kliniker auf demGebiet der Immunologie und Neurologie, um eineneue Initiative zur Erforschung des ME/CFS zu star-ten: Die MERIT-Initiative (ME Roundtable onImmunology and Treatment). Andreas Kogelnik, Gründer und Leiter des OpenMedicine Institutes, hatte dieses Treffen organisiert.Diese MERIT-Gruppe verfolgt einen multifaktoriel-len Ansatz zur Entdeckung und Entwicklung vonneuen diagnostischen Verfahren und Behandlungs -möglichkeiten für ME/CFS. Eine IT-gestützteVernetzung der beteiligten Forscher ist zentralesElement dieser MERIT-Initiative.

1. Behandlungsstudie 1: große, randomisierte, place-bokontrollierte Studie zu Rituximab undValganciclovir, bei der über den gesamten Verlaufhinweg Messungen zu physiologischen, genomi-schen, virologischen und immunologischenMarkern durchgeführt werden.

2. Aufbau eines internationalen Neuroregisters undeiner Biobank.

3. Protein-Panel bei behandelten und unbehandeltenPatienten (innovative Protein-Analyse ausgewählterProben aus der Biobank, um Protein-basierteSubstanzen von Bakterien, Viren, Hormonen,Antikörpern, Zytokinen zu identifizieren).

4. Behandlungstudie 2: Mono- und Pilotstudien mitKombinationstherapien. Zu den Therapien, diegeprüft werden sollen, gehören Ampligen,Etanercept, Rifaxamin, Issentris, Famcyclovir undmögliche andere.

5. Explorationsstudien zu immunologischen Bio -markern. Diese Explorationsstudien sollen B-Zell-,T-Zell- und Natürliche Killerzell-Antworten aufKrankheit untersuchen.

6. DNA Genetik: Einsatz der modernsten Methoden,um entscheidende Abschnitte des Humangenomsbei einer Gruppe von Patienten, Kontrollen,betroffenen Familien und nicht verwandtenPersonen zu sequenzieren.

7. Massenspektroskopie/Umweltmessungen: DieseExplorationsstudie wird Patientenproben aufunbekannte Verbindungen, Toxine, Proteine undandere Substanzen untersuchen, die in der Genesedieser Krankheit möglicherweise eine Rolle spielen

Vorrangige Projekte von OMI-MERIT

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 9

oder auf andere Weise zur Immundysfunktion bei-tragen.

8. Umfassende Virustestung: Aufbau eines Grund -bestands von sinnvollen Virustest methodiken, diein der klinischen Anwendung verwendbar sind. DieTestung wird Blut, Urin, Speichel und andereGewebe umfassen, wenn diese zur Verfügung ste-hen, und wird auf spezifische Viren wie EBV,HHV6, CMV, Parvovirus, HSV1 und HSV2 testensowie zusätzliche Verfahren mit Testplatten zurIdentifikation neuer Viren und Hochdurch -satzverfahren anwenden.

9. Eine zweite zukunftsweisende Studie zu immunolo-gischen Biomarkern wird zusätzliche Zelltypenuntersuchen, die das Projekt Nr. 5 (oben) ergänzen,wie beispielsweise Monozyten, Makrophagen unddendritische Zellen.

10. Behandlung mit Naturheilverfahren und rezept-freien Substanzen: der potentielle Nutzen verschie-dener rezeptfreier Substanzen bzw. Naturheil -verfahren soll in einem geprüften wissenschaftli-chen Setting untersucht werden. Zu den untersuch-ten Substanzen gehören Moringa olifera, GcMAF,Vit B12 und Artemesin.

Rituximab und Valaciclovir Erfolgversprechene Behandlungen für ME/CFS?

Für Deutschland besonders interessant dürfte dieZusammenarbeit zwischen der deutschen Hämato-Onkologin Prof. Carmen Scheibenbogen, CharitéBerlin Mitte, mit den norwegischen OnkologenØystein Fluge und Olaf Mella sein. Mella und Flugehatten Anfang der 2000er Jahre beobachtet, dass beieiner ME/CFS-Patientin, die zusätzlich an einem B-Zell-Lymphom erkrankt war, die Symptome desME/CFS einige Monate nach Verabreichung desKrebsmittels Rituximab vollkommen verschwanden,jedoch nach einigen Monaten wiederkehrten und eineerneute Infusion erforderten. Sie erprobten diesenBehandlungsansatz an einer größeren Patienten -gruppe und veröffentlichten 2011 die Ergebnisseeiner randomisierten Doppel blind-Studie*, bei der 10von 15 ME/CFS-Patienten eine erhebliche Besserung

erzielt hatten. Eine große Phase-III-Studie ist inPlanung, jedoch bislang an fehlender Finanzierunggescheitert.Rituximab, ein monoklonaler Antikörper gegenCD20-B-Zellen, wird bereits seit Mitte der 90er Jahrestandardmäßig in der Behandlung von Lymphomen,d.h. bösartigen B-Zell-Erkrankungen und Rheumato -ider Arthritis eingesetzt sowie auch bei anderenErkrankungen, die mit einer Reaktivierung bzw.Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) verbun-den sind, das sich in den B-Zellen vermehrt. Es ist jedoch sehr teuer – ein Behandlungszyklus, wieer von Mella und Fluge durchgeführt wird, beläuftsich allein für das Medikament auf ca. 16.000 €.Bislang kommen die Kassen wegen der fehlendenIndikation bei ME/CFS nur in Einzelfällen für einesolche Behandlung auf.

Schlussfolgerungen aus den Rituximab-StudienDa bei den Patienten, die auf das Rituximab anspra-chen, sich alle Symptome des ME/CFS besserten,schließen die Forscher, dass die B-Zellen beiME/CFS eine wichtige Rolle bei der Aufrecht -erhaltung der Symptome spielen. Die Hypothesen,die man aus diesen Behandlungserfolgen hinsichtlichder Ursache des ME/CFS zieht, sind: Entweder istME/CFS eine Autoimmun erkrankung oder es han-delt sich um eine Reaktivierung der Infektion mit dem

Die Professoren Øystein Fluge und Olaf Mella, Haukeland University Hospital, Bergen, Norwegen

Informationen: http://openmedicineinstitute.org/research-initiatives/mecfs-merit/

10 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

Leitfaden zur Diagnose und Behandlung des ME/CFS Auf der Basis der Internationalen Konsenskriterien für ME ist 2012 ein sogenannter Primer veröffentlichtworden (1). Die 36-seitige Broschüre richtet sich vorrangig an Ärzte in der Primärversorgung und Fachärztefür Innere Medizin. Sie enthält eine Zusammenfassung der pathophysiologischen Befunde bei ME(CFS),eine Zusammenfassung der Internationalen Konsenskriterien des ME sowie Richtlinien für die Diagnoseund Behandlung. Besonders begrüßenswert ist ein im Anhang befindliches ausführliches Schreiben fürSchulen und Behörden, die mit Kindern und Jugendlichen mit ME(CFS) konfrontiert sind.

Der Leitfaden wurde von einem 26-köpfigen Gremium aus Klinikern, Forschern und Lehrenden aus ver-schiedenen Fachrichtungen und geographischen Regionen erstellt, das bereits die InternationalenKonsenskriterien für ME (2) verfasst hatte. Zusammengenommen haben sie mehr als 50.000 ME-Patientendiagnostiziert und behandelt und insgesamt schätzungsweise 500 Jahre Erfahrung in Behandlung, Forschungund Lehre. Sie haben Hunderte von Fachartikeln veröffentlicht. (1) Myalgic Encephalomyelitis – Adult & Paediatric: International Consensus Primer for Medical Practitioners:

http://www.cfs-aktuell.de/ICC%20primer%202012.pdf (2) International Consensus Criteria (ICC) von 2011: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1365-

2796.2011.02428.x/pdf

Epstein-Barr-Virus, und mit der Eliminierung der B-Zellen wird ein Virusreservoir beseitigt. Diese beiden Hypothesen – ME/CFS als Auto -immunerkrankung oder als chronisch schwelende,reaktivierte EBV-Infektion – widersprechen sich u.U.gar nicht. Auslösend muss auch gar nicht das EBVsein, sondern es können auch andere Infektionenoder andere schwere Erkrankungen sein, die dann zuME/CFS und einer Reaktivierung des EBV und dergestörten Immunantwort führen.

Prof. Scheibenbogen erforscht derzeit die von ihrimmer wieder beobachtete gestörte Immunantwortder ME/CFS-Patienten auf das EBV und entwickeltzusammen mit einer Berliner Firma einen Serospot,mit dem in den Pilotstudien 90% der ME/CFS-Patienten identifiziert werden konnten.Möglicherweise ist diese gestörte Immunantwort aufeinzelne Proteine und Peptide des EBV und die sichdaraus ergebende Unfähigkeit, die Virusreaktivierungin Schach zu halten, eine Art Marker für ME/CFS.Ein zur Marktreife entwickelter Test könnte danneine einfache und relativ eindeutige Diagnose -möglichkeit des ME/CFS bieten.Darüber hinaus ergibt sich aus den o.g. Hypothesen

und Forschungsarbeiten ein zweiter Behandlungs -ansatz – mit Valaciclovir, einem Mittel gegen EBVund andere Viren der Herpes-Gruppe. Auch hier hates bereits erfolgversprechende Pilotstudien anME/CFS-Patienten gegeben. Die Krankenkassenerstatten jedoch – wieder wegen fehlender Indikation– häufig die Kosten für dieses Mittel nicht.Prof. Scheibenbogen sucht außerdem noch nach wei-teren Markern, um eine einfache Diagnostik beiME/CFS zu ermöglichen. Diese Marker beziehensich auf die immer wieder zu findende Immun -aktivierung, die Störung der Mitochondrienfunktion(die mit der charakteristischen Schwäche und derZustands verschlechterung nach Belastung beiME/CFS in Verbindung steht) und die evtl. durch dasEBV angestoßene Verschiebung der Immunantwortvon Th1- zu Th2-Helferzellen, sowie auf weitereimmunologische und neurologische Faktoren. Und man versucht, Marker dafür zu finden, wer aufeine Behandlung mit Rituximab nicht anspricht.Hierzu steht sie in regem Austausch mit den norwegi-schen Forschern, die, genauso wie sie, am OMI-MERIT-Projekt beteiligt sind.

Prof. CarmenScheibenbogenerforscht die gestör-te Immunantwortder Patienten aufdas Epstein-Barr-Virus und suchtnach Biomarkern

Informationen: http://www.cfs-aktuell.de/november12_1.htm http://www.dsai.de/fileadmin/user_upload/Vortraege/Scheibenbogen_Berlin2013.pdf

* Benefit from B-Lymphocyte Depletion Using theAnti-CD20 Antibody Rituximab in Chronic FatigueSyndrome. Oystein Fluge et al. PLOS one, 2011

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 11

Es ist wohl kein Zufall, dass die Rubrik „Behandlung“in den Veröffentlichungen zu ME/CFS und vielenPatientenorganisationen nicht oder kaum vorkommt,denn es gibt noch keine ursächliche Behandlung desME/CFS, sondern nur die Möglichkeit, den Zustandder Patienten durch Abschwächung der verschiedenenSymptome zu bessern.

ME/CFS-Patienten haben eine komplexe Multi -systemerkrankung, die eine ganze Palette von Inter -ventionen erfordert, abhängig von individuell vorlie-genden und dominierenden Symptomen und vonStadium und Schweregrad der Erkrankung.

Was für den einen Patienten hilfreich ist, kann beieinem anderen völlig wirkungslos oder sogar kontra-produktiv sein. Eine komplexe Erkrankung machtauch die Behandlung kompliziert, und so sind Arztund Patient auf eine gute Kommunikation undVersuch und Irrtum angewiesen. Aus denErfahrungen der Ärzte, die ME/CFS-Patienten seitvielen Jahren behandeln, haben sich die folgendenPunkte herausgeschält:

w Erfahrene Kliniker wie etwa Nancy Klimas raten,als allererstes die Schlafstörungen des Patientenanzugehen.

w Die Behandlung der Schmerzen ist damit eng ver-bunden. Hierzu gehören Medikamente ebenso wiedie Vermittlung von Coping-Strategien.

w Häufig entwickeln die Patienten im Laufe derKrankheit eine erhöhte Durchlässigkeit desDarmes und damit Lebensmittelallergien undUnverträglichkeiten. Diese müssen ermittelt undbehandelt werden.

w Die Frage der Gabe von Antibiotika und antivi-ralen Mitteln ist im Einzelfall entsprechend dervorliegenden Infektionen und Reaktivierungen zuentscheiden. Manche Patienten mit aktiviertenEBV-Infektionen oder anderen Herpesvirus- oderEnterovirus-Infektionen profitieren davon sehrstark, andere wiederum nicht. Hierbei ist auchimmer die Frage möglicher Nebenwirkungen vonlangfristiger Antibiotikagabe in Betracht zu ziehen.

w Chronisch degenerative Entzündungsprozessemüssen angegangen werden, gleichgültig, ob siedurch bakterielle, virale oder retrovirale Infektionenoder auch Umweltschadstoffe hervorgerufen wer-den. Der damit verbundene oxidative Stress mussdurch eine antioxidative Therapie reduziert werden.Ziel muss die Herabregulierung des zentralenSchalters in der Immunantwort NF-kappaB sein.

w Neben vermehrter Inflammation und vermin-derter Abwehrfunktion steht im Zentrum derErkrankung eine Dysfunktion derMitochondrien mit einer Verminderung desEnergiestoffwechsels, die wahrscheinlich zu derüberwältigenden Schwäche und den zahlreichenDysregulationen der Organsysteme führt. EineStärkung der Zellfunktion mit NADH, CoenzymeQ10, Carnithin, essentiellen Amino- und Fettsäuren(Omega-3 und-6) kann hier angezeigt sein.

w Dazu gehört auch die Substitution vonVitaminen (B-1, B-6 und B-12, D-3)undMikronährstoffen. . Die B-Vitamine wirken bes-ser, wenn sie subkutan oder intramuskulär verab-reicht werden.

w Eine Reihe weiterer komplementärer und alter-nativer Behandlungsansätze können ebenfalls zusymptomatischen Besserungen führen.

w Verbessern lassen sich auch die Symptome derautonomen Dysfunktionen wie Ortho statischeIntoleranz, d.h. neural vermittelter niedrigerBlutdruck - NMH und das lagebedingte ortho -statische Tachykardie-Syndrom (POTS - Herz jagen.Neben Hilfestellung zu geeigneten Verhaltens -weisen können u.a. Kompressions strümpfe, Beta -blocker, Fludrocortison oder vasokontriktiv wir-kende Medikamente (a1-Adreno zeptoragonisten,Midodrin) zum Einsatz kommen.

w Antidepressiva und andere Psychopharmakabringen in der Regel keinerlei symptomatischeBesserung, können aber in Einzelfällen angezeigtsein, wenn der Patient infolge der Krankheits -erfahrung etwa eine sekundäre Depression ent-

Symptomatische Behandlung des ME/CFS

12 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

wickelt. Durch die chronischen Entzündungs -prozesse findet man häufig einen stark erniedrigtenSerotoninspiegel.

w Psychotherapie, insbesondere die immer wiederempfohlene kognitive Verhaltenstherapie, könnenden Patienten beim Krankheitsmanagement unter-stützen, sind jedoch in keiner Weise kurativ. Hinzukommt, dass die meisten ME/CFS-Patienten vielzu krank sind, um regelmäßig einen Psychologenaufzusuchen. Die beste „Psychotherapie“, so dieselbst von ME/CFS betroffene PsychiaterinEleanor Stein, ist immer noch eine wirksameBehandlung der körperlichen und kognitivenSymptome und eine Besserung des Zustands derPatienten. Zudem muss jegliche Form vonPsychotherapie auf der Basis des Wissens um dieorganische Natur dieser Erkrankung beruhen.

w Pacing hat sich nach allen Erfahrungen undgroßen Umfragen unter Patienten als das wirksam-ste Mittel zum Energiemanagement erwiesen.Auf jeden Fall muss vermieden werden, dass derPatient seine individuelle Belastungsgrenze über-schreitet, da dies zu Push-und-Crash-Zyklen undeiner Verschlechterung der Prognose führt. Aufjeden Fall zu vermeiden ist die immer wieder pro-pagierte „Graded Exercise“-Therapie, ansteigendeskörperliches Training ohne Rücksicht auf dieReaktion des Patienten. Körperliche und kognitiveÜberlastung heizen die Krankheitsmechanismenan! Und die Belastungsgrenzen sind oft für einenGesunden schwer vorstellbar eng. (Zum Themakognitive Verhaltenstherapie (CBT) undAktivierung (GET) beachten Sie bitte nebenstehen-den Bericht von Kathy Hugaerts.)

In der Behandlung von ME/CFS-Patienten brauchenArzt wie Patient Geduld. Schnelle Erfolge sind nichtzu erwarten. Manchmal dauert es, so der erfahreneArzt Prof. Wolfgang Huber, Heidelberg, zwei Jahre,bis sich eine Besserung einstellt. Und selbst wenn allediese Maßnahmen zu einer Abschwächung derSymptomatik und auch zu einer Verbesserung desGesamtzustandes führen, ist ein ME/CFS-Patientimmer noch sehr beeinträchtigt und weit entfernt vondem, was ein einigermaßen gesunder Mensch sowohlan körperlichen als auch an kognitiven Leistungenvollbringen kann.

Bei manchen Patienten jedoch kann trotz allerBemühungen keine Besserung erzielt werden, manch-

mal kann nicht einmal ein Abwärtstrend gestopptwerden. Dabei handelt es sich oft gerade um die amschwersten betroffenen Menschen. Diese Patientenbleiben Jahre und Jahrzehnte schwer krank, und gera-de sie brauchen eine ärztliche und pflegerischeBetreuung.

Ein vertrauensvolles Arzt-Patient-Verhältnis undeine gute Kommunikation sind deshalb für beideSeiten extrem wichtig. Sich angesichts der Schwere derErkrankung und den sich langsam oder gar nicht ein-stellenden Behandlungserfolgen gegenseitig Ohn -machts- und Wutgefühle zuzugestehen, ohne siegegen einander in Form von Schuldzuweisungen zuwenden, ist für Arzt wie Patient eine ständigeHerausforderung.

Den Patienten zu „halten“ in den Monaten undJahren der Verzweiflung, ihn zu unterstützen, wennsoziale und finanzielle Probleme zu bewältigen sind,ist die beste „Psychotherapie“, die ein Arzt seinemME/CFS-Patienten bieten kann. Offen zu sein fürneue Erkenntnisse der Wissenschaft kann für Arztwie Patient die Hoffnung auf Besserung nicht nurnähren, sondern ihr vielleicht sogar in nicht allzufer-ner Zukunft zur Realität verhelfen.

Deshalb: Besuchen Sie gelegentlich die Webseitender Patientenorganisationen und sehen Sie sich derenPublikationen an. Diese verfolgen ständig die neue-sten wissenschaftlichen Entwicklungen und sindbemüht, diese schnell und in solider Weise darzustel-len und zu vermitteln.

Ich glaube, was wir jetzt brauchen ist, dass die Medizin sichdieser Krankheit annimmt, dass sie die Verantwortung fürsie als einer organischen Krankheit übernimmt, dass sie ver-stärkt Forschung betreibt, um die biologischen Ursachen zufinden, dass sie die Betonung der Psychiatrie herunterfährtund dementsprechend die medizinische Ausbildung verbes-sert. Wenn diese Krankheit nicht 30 oder 40 Jahre von derPsychiatrie gekapert worden wäre, dann hätten wir jetztlängst die Ursache dafür gefunden. Und die Situation wäresehr viel besser.

Nigel Speight, britischer Pädiater

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 13

In Belgien hat die Regierung in den letzten fünfJahren fünf CFS-Referenz-Zentren finanziert, indenen Patienten mit ME/CFS ausschließlich mitCBT/GET behandelt wurden. Dort wurden dieFukuda-Kriterien zur Auswahl der Patienten verwen-det. Jedes Jahr wurden 1,5 Millionen Euro an dieZentren verteilt. Das ergibt in fünf Jahren eineGesamtsumme von 7,5 Millionen €. In diesemZeitraum wurden dort 800 Patienten behandelt.

Das Belgian Health Care Knowledge Centre (KCE)hat 2009 nach fünf Jahren Laufzeit die Ergebnisseuntersucht. Das KCE ist eine halbstaatlicheInstitution, die Analysen und Studien imGesundheitsbereich durchführt. Ergebnis: w Patienten, die sich besser fühlen: 6 % w Patienten, die sich schlechter fühlen: 38 % w Patienten, die sich weder besser noch

schlechter fühlen: die restlichen 56%Das Endziel der Referenz-Zentren und ihrer

CBT/GET-Therapie wurde nicht erreicht: NICHTEINER DER PATIENTEN IST INS ARBEITS -LEBEN ZURÜCKGEKEHRT.

Dies bestätigt, dass CBT/GET wirkungslos undvielleicht sogar schädlich ist. Ein Artikel von Bagnallet al. (2007) zeigte, dass es keine Follow-up-Studiegibt, die die positiven Wirkungen von CBT/GETbestätigen würde. Trotz der überwältigenden Beweisebiomedizinischer Studien, dass körperliche Belastungfür ME-Patienten schädlich ist und trotz der ver-heerenden, negativen Ergeb nisse des belgischen„Experiments“ wird die belgische Regierung im Jahr2010 weiterhin 1,2 Millionen in Form vonGutscheinen für Therapie mit körperlicherAktivierung ausgeben. Die Gutscheine werden vonHausärzten verteilt.

Dem zugrunde liegt natürlich die Idee, dass diePatienten eine Bewegungsphobie hätten und man siefür „selbst schuld“ erklärt. Ich kenne Patienten, dieSelbstmord begangen haben, weil ihre Familien undFreunde diesen Theorien Glauben schenkten und denME-Patienten ständig vorwarfen, sie seien „fauleSäcke“.

Die biopsychologische Schule trägt hier eineschwere Verantwortung. Mit ihren Theorien haben siezu unnützem Leid beigetragen. Und statt denPatienten beizubringen, wie man mit Stress besser

umgeht, haben sie noch tonnenweise Stress auf ihnenabgeladen. Der Fall von Lynn Gilderdale* ist ein trau-riges Beispiel dafür, was passiert, wenn keine wirk-same biomedizinische Behandlung zur Verfügunggestellt wird. www.bmj.com/cgi/eletters/340/feb11_1/c738#231460

Wenn ME/CFS das Leben beendet* Lynne Gilderdale, eine junge Britin, hatte sich im Dezember2009 im Alter von 31 Jahren nach 17 Jahren schwerem CFSmit einer Überdosis Morphium das Leben genommen. Der Fall wurde in den britischen Medien ausführlich disku-tiert. Auf diesen bezieht sich der oben abgedruckte Leserbriefvon Kathy Hugaerts. Lynns Mutter Kay hat als ausgebildete Krankenschwester allesnur Menschenmögliche getan, um ihrer geliebten Tochter dasLeben zu erleichtern. Sie ist ebenso wie ihre Tochter ein Opfervon Verhältnissen, in denen Menschen mit schwerem

ME/CFS und ihre pflegen-den Angehörigen vomMedizin system allein gelassenwerden.Kay Gilderdale hat ein Buchüber das Leiden und Sterbenihrer Tochter veröffentlicht -„One last Goodbye“,erschienen bei Ebury Press.Dieser erschütternde Berichtwird jeden Leser davon , dassME/CFS eine schwere neu-roimmunologische Krankheit

und keine „harmlose Befindlichkeitsstörung“ ist.Auch in Deutschland gibt es Menschen mit ME/CFS, diesich das Leben nehmen, weil sie – allein gelassen vom Medizin-und Sozialsystem und oft noch als Hypochonder oderSimulanten verhöhnt – ihr Leiden nicht mehr ertragen undkeinen anderen Ausweg als den Freitod sehen. Sie sind imWortsinne die Lost Voices unserer Gesellschaft. Damit dasLeiden der Menschen mit ME/CFS aufhört, brauchen sieUnterstützung wie jeder andere Kranke auch. Sie brauchenÄrzte und Pflegedienste, die sich sachkundig machen, dieInformationen weitertragen und mithelfen zu verhindern, dassMenschen derart jämmerlich zugrunde gehen – und auchleichter Erkrankte brauchen Hilfe und eine respektvolleBehandlung.

Das belgische Experiment mit CBT und GETLeserbrief von Kathy Hugaerts an das Britisch Medical Journal

Leben mit CFS bedeutet,die bittere Erfahrung zumachen, dass „Wollen“manchmal nicht genug ist.Mit Willenskraft ist gegendiese Krankheit nichtanzukommen. Je mehr ichmit Aktivität dagegenankämpfte, desto rasanterwar der körperliche Verfall.

Wie viele andere erinnere auch ich mich genau an denTag, an dem ich krank wurde. Möglicherweise war esauch nur der Tag, an dem es offensichtlich wurde dassich schon länger krank war.

Ich war eine normale, zufriedene 27-jährige. Mit bei-den Beinen fest im Beruf, einer glücklichen Beziehung,Hobbies und Spaß am Leben. Wie hätte ich ahnen kön-nen, dass ich fast alles innerhalb kürzester Zeit verlierensollte? All das und noch vieles mehr, was ich als selbst-verständlich hingenommen hatte?

Nach einem grippalen Infekt, der mich einige Wochenbegleitete, kamen plötzlich immer mehr Symptomehinzu. Den Anfang machten Schwindel attacken,Muskelzuckungen, komaartige Müdigkeit, ein schreckli-ches Benommenheitsgefühl. Bald darauf bemerkte ichzunächst beim Sport, dass meine Leistungsfähigkeitstark nachließ. Ich bekam Kreis lauf probleme,Herzstolpern, plötzliches Herzrasen.

Irgendwann fiel mir auf, dass ich an den Tagen nachmeinem Tanztraining besonders schlecht dran war.Aber welcher Mensch hat in seinem Leben schon maletwas von „post-exertional malaise“, also einerSymptomverstärkung nach Anstrengung gehört?Bestärkt von meinem Hausarzt, versuchte ich denAbwärtstrend mit dem Motto „Zähne zusammen-beißen“ aufzuhalten. Für wenige Wochen gelang es mir,weiterhin arbeiten zu gehen und zweimal die Woche zutrainieren, oft im wahrsten Sinne des Wortes bis zumUmfallen.

Das ging nicht lange gut, und das Symptom, das sichlangsam aber sicher als das mit Abstand stärkste undschlimmste herauskristallisierte, war eine totale körper-liche Schwäche. Innerhalb weniger Wochen baute meinKörper rapide ab, und ich wurde von einer gut trainier-ten, aktiven jungen Frau zum Pflegefall.

Nur wenige Wochen nach dem Auftreten der ersten

Symptome war ich bereits zu schwach, längere Zeit auf-recht auf einem Stuhl zu sitzen oder mehr als dreiMinuten zu stehen.

Jegliche Überschreitung dieser engen Grenzen rächtesich mit noch größerer Schwäche. Dazu kamen nachungefähr einem Jahr Parästhesien in den Beinen: einpermanentes starkes Kribbeln und Brennen, das auchden Schlaf stört.

Unzählige Arzttermine, Krankenhausaufenthalte undalternativer Behandlungs versuche später hatte ich nochimmer keine Ahnung, was mit mir los war. Der anfäng-lich geäußerte Verdacht auf eine Muskel erkrankungkam mir immer unwahrscheinlicher vor. MeineSchwäche bezog sich nicht nur auf die Muskeln, es fühl-te sich so an, als wäre meinem Körper derHauptenergiehahn zugedreht worden. Zwar zeigten etli-che Untersuchungen Auffälligkeiten, von denen ichheute weiß, dass viele davon typisch für CFS sind.Dennoch konnte niemand die Puzzlestücke zusammen-fügen, und so war der Rat am Ende immer derselbe:Versuchen Sie es doch mal in der Psychosomatik.

Was jedoch ungebrochen war: mein Wille, der Sacheauf den Grund zu kommen. Ich rechnete praktisch jedeMinute damit, dass sich die Sache von selbst erledigenwürde, oder dass Hilfe nicht weit war.

Obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass die Psycheder Auslöser meines Dilemmas war, begab ich mich aufAnraten eines Arztes in eine Psychotherapie, versuchtees sogar mit Antidepressiva. Doch auch die Therapeutinwar sich sicher, dass etwas mit meinem Körper ganzund gar nicht in Ordnung war.

Einige Monate später las ich auf einer InternetseiteBerichte von CFS-Erkrankten. Obwohl sich dieBerichte untereinander deutlich unterschieden, entdeck-te ich doch unzählige Gemeinsamkeiten, vor allemeinen gemeinsamen Nenner, der für mich heute zumLeitsymptom des CFS zählt: Die Zustands -verschlechterung nach Anstrengung.

Ich wünschte mir, dass ich einen Arzt gehabt hätte,der mir von Anfang an den richtigen Rat gegeben hätte,nämlich unbedingt auf meine Grenzen zu achten undsie nicht mit Gewalt immer wieder zu überschreiten.Mir wäre wahrscheinlich einiges erspart geblieben.

Ungefähr ein Jahr nach Krankheitsbeginn erreichtemein Zustand einen neuen Tiefpunkt. Ich konnte nurnoch im Bett liegen, selbst lesen, fernsehen, reden oderLicht strengten mich unglaublich an. Wenn mein Mannmir das Essen ans Bett brachte, kamen mir die Tränen,weil ich nicht wusste, wie ich die Kraft zum Aufsitzenund zum Essen aufbringen sollte. Wir kauften mir einen

14 INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS

„Leben” mit ME/CFSNina N. berichtet

Nina N.

INFORMATIONEN FÜR ÄRZTE - BÜNDNIS ME/CFS 15

Bettsitz und eine Trockenhaube, mit der ich im Bettmeine Haare trocknen konnte. Zum Zähneputzenmusste man mir alles ans Bett bringen. Zur Toilettekonnte ich nur kriechen oder getragen werden. Ichvertrug viele Nahrungsmittel nicht mehr. Auf dieSchmerzmittel gegen meine Migräneanfälle, die ichschon seit Kindheitstagen hatte, reagierte ich ebenfallsmit heftigen Beschwerden.

Nach wenigen Monaten besserte sich mein Zustandwieder leicht, so dass ich wieder tagsüber alleine in derWohnung sein konnte. Dennoch verbringe ich nochimmer Monat um Monat im Bett, bin darauf angewie-sen, dass mir etwas zu Essen gebracht wird. Ich bin zu99% ans Haus gebunden. Ich benötige für alle Aktivi -täten außer Haus einen Rollstuhl. An den meistenTagen fehlt mir selbst die Kraft dafür, mein Haus mitdem Rollstuhl zu verlassen, obwohl ich das Leben„draußen“ jeden einzelnen Tag vermisse. Sobald esdie Kraft zulässt, möchte ich ins Grüne fahren, oderganz selten vielleicht mal in einem Café sitzen. Füreinen solchen „Luxus“ muss ich anschließend immermit einer Verstärkung aller meiner Symptome bezah-len, aber ohne solche gelegentlichen Ausbrüche ausmeinem „Gefängnis“ wäre das Leben nicht mehrlebenswert.

Ich habe einen Hausarzt gefunden, der bereit war,sich in das Thema CFS einzulesen und der michunterstützt, soweit es in seiner Macht steht.

Viele Patienten haben nicht so viel Glück! Dennochrichtet sich meine ganze Hoffnung auf die Forschung,da sämtliche Therapieansätze bisher ohne Wirkunggeblieben sind.

CFS ist eine unglaubliche Herausforderung für dieErkrankten: Sie müssen sich nicht nur damit abfinden,innerhalb kürzester Zeit ihr gewohntes Leben aufge-ben zu müssen und abhängig von Ärzten, Pflegendenund Ämtern zu werden, sondern auch damit, dass dieKrankheit vielerorts nach wie vor verharmlost oderabgetan wird. Immer wieder wird unser Geistes -zustand angezweifelt, statt dass wir Hilfe finden. So istes nicht verwunderlich, dass die Suizidrate beiME/CFS überdurchschnittlich hoch ist!

Bitte, nehmen Sie Ihre Patienten ernst und helfenSie ihnen, mit dieser zerstörerischen Krankheit umzu-gehen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Nina N.

Anm.d.Red.: Ninas Zustand hat sich extrem ver-schlechtert, seitdem sie diesen Text verfasst hat. Siekann seit drei Jahren nicht einmal mehr im Bett auf-sitzen. Einen 10-minütigen „Ausflug“ im Liegeroll -stuhl auf den Balkon bezahlte sie mit einerwochenlangen Zustandsverschlechterung. Wirfürchten mittlerweile um ihr Leben. Und sie ist beiweitem nicht der einzige schwere „Fall“, von demwir Kenntnis haben.

„Anschauliches“ über das Leben mit ME/CFS„In engen Grenzen - Leben mit CFS“ Ein Film von Gabriele und Werner Knauf überden Alltag von Menschen mit ME/CFS, darunterauch zwei Schwestern im Alter von 11 und 18Jahren; Deutschland 2012 (55 min)Online abrufbar unter: www.in-engen-grenzen.de

„Voices from the Shadows“ Ein Film von Josh Biggs und Natalie Boulton überden skandalösen Umgang mit schwer an ME/CFSerkrankten Menschen und den destruktiven Ein -fluss der britischen Psychiater; Großbritannien2011, englisch mit deutschen Untertiteln (63 min.)Zu beziehen über www.lost-voices-stiftung.org oderwww.voicesfromtheshadowsfilm.co.uk

„AusnahMEzustand“ - Katharina Voss

Katharina Voss, Mutter von zwei Töchtern, beideschwer an ME/CFS erkrankt und seit Jahren nichtmehr in der Lage, die Schule zu besuchen, schildertin diesem erschütternden Buch ihr „Leben“, dieVerheerungen durch die Krankheit und den kata-strophalen Umgang von Schul behör den, Ärztenund Öffentlichkeit mit ihrer Familie. Erscheint im September 2013 im Scoventa Verlag,ISBN 978-3-942073-16-5

Invest in ME Konferenzen in LondonDiese Gruppierung organisiert seit 2007 jährlicheine internationale Konferenz in London. InEuropa ist dies die bedeutendste Tagung zumThema. Informatio nen unter www.invest-in-me.org

www.buendnis-mecfs.de

Lost Voices Stiftung & Netzwerk-CFS Hannover Nicole Krüger/Hanna SeidelGroß-Buchholzer Str. 36B30655 HannoverTel. 0511/[email protected] [email protected]

CFS-aktuell.deRegina ClosEberleinstraße 165195 WiesbadenTel. [email protected]

Aktion ME auf Facebook

SHGUmweltkrankheiten/MCS+CFSMarc Plü[email protected]

Das Bündnis ME/CFS setzt sich ein für:w die WHO-konforme Einordnung von ME/CFS als Erkrankung des zentralen Nervensystems

(ICD-10 G93.3),w die Abgrenzung des ME/CFS von anderen, insbesondere psychisch bedingten Erschöpfungs -

zuständen wie Depressionen oder Burnout,w ein Ende der Vermischung und „Verwässerung“ des eigenständigen Krankheitsbegriffs

ME/CFS mit unspezifischen Zustandsbeschreibungen wie „Chronische Müdigkeit“,w die Verwendung der Kanadischen oder Internationalen Konsensdefinition zur Diagnosestellung,w Aus- und Weiterbildung von Ärzten und medizinischem Personal auf der Basis aktueller wissen-

schaftlicher Erkenntnisse durch die zuständigen Stellen, um ME/CFS zuverlässig diagnostizie-ren und behandeln zu können,w die Verhinderung des Einsatzes von nachweislich schädlichen Therapien wie Aufbautraining

(Graded Exercise – GET) und die Revision der AWMF-Leitlinien, die dies als „Heilmittel“ emp-fehlen,w die Einrichtung von Abteilungen für besonders schwer erkrankte ME/CFS-Patienten in

Kliniken mit speziell geschultem medizinischen Fachpersonal,w die Übernahme der Kosten für bereits vorhandene, symptomorientierte Behandlungsansätze

durch die Krankenkassen.