agora42 4 2015 Vorschau Nutzen

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AGORA 42 Das philosophische Wirtschaftsmagazin AUSGABE 04/2015 NUTZEN Ausgabe 04/2015 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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Die Ausgabe zum Thema NUTZEN, in der die Revolution in der Lehre thematisiert wird, ist die 30. Ausgabe der agora42 - zugleich markiert sie das sechsjährige Jubiläum des Magazins. Dass sich die agora42 als anspruchsvolles Magazin auf dem hart umkämpften Magazinmarkt etablieren konnte, ist etwas Außergewöhnliches - schließlich ist das Magazin absolut unabhängig und wird von keinem großen Verlag getragen. Darüber hinaus ist die neue Ausgabe auch insofern etwas Besonderes, als wir dieses Mal nur jungen Autorinnen und Autoren das Wort gegeben haben - schließlich werden sie darüber entscheiden, was künftig als nützlich oder als unnütz definiert wird..

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 04/2015

NUTZEN

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T E R R A I N

THier werden Begri!e,

"eorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellscha#liches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 10DIE AUTOREN

— 11Tom Berthold Heute schon Nutzen maximiert? – Die Nutzen-Mechanik der Wirtscha!stheorie — 18Tanja WillNützling oder Schädling? – Der Mensch im Fokus

— 22Patricia NitzscheDer Kapitalismus und seine Kritik – ein altes Ehepaar

— 28Peter WildeDer Nutzen, den wir wollen

— 34Lia Polotzek Was nutzt Corporate Social Responsibility?

— 40PORTRAIT„Das Vergnügliche ist nützlicher als das Nützliche“–Giacomo Leopardi und das Unnütze (von Diana Di Maria)

— 48EXTRABLATT

— 3 EDITORIAL

— 6 INHALT

— 98IMPRESSUM

— 94MARKTPLATZagora42 in der ehemaligen Maschinenfabrik – Das internationale Sommer- festival 2015 auf Kampnagel

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INHALT

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H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIAuf zu neuen Ufern! Wie lässt sich

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete

Veränderungen herbeiführen?

LAND IN SICHT

— 82Tandemploy –Die 15-Stunden-Woche kann kommen

— 84Die Revolution der ökonomischen Lehre –Curriculum für Gesellscha!sverbesserer

— 90GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 67 Essaywettbewerb der Bayreuther Dialoge 2015 und der agora42

— 68 Gewinneressay Nr. 1Martin Urschel Diktat der Nützlichkeit? – Neue Perspektiven für den Nutzen

— 74 Gewinneressay Nr. 2Lukas Wetzel Der Philosoph –Paradebeispiel für einen Nichtsnutz?

agora 42 Inhalt

— 50Der Morgen danachInterview mit Srecko Horvat

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Hier werden Begri!e, "eorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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THier werden Begri!e, "eorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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Tom Berthold ist aktives Mitglied im Netzwerk Plurale Öko- nomik und Mitbegründer der Dresdener Hoch- schulgruppe Plurale Ökonomik Dresden.

— Seite 11

Lia Polotzek absolviert derzeit ihren Master in Politik, Philo- sophie und Wirtscha! und ist Redakteurin bei der agora42.

— Seite 34

Tanja Will studierte Soziologie, Ethnologie und Wirtscha!s- und Sozialgeschichte. Sie ist Redakteurin der agora42.

— Seite 18

Patricia Nitzsche ist Sozialwissen- scha!lerin und Redakteurin der agora42.

— Seite 22

Peter Wilde hat Sozialwissenscha!en, Sozialpädagogik und Abenteuer- und Erlebnis- pädagogik studiert. Sein Blog: „Ein Winter in Mainz“ http://petethepionier.blogspot.de

— Seite 28

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DIE AUTOREN

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»Was sind Denkmodelle? Denkmodelle sind die Gewohnheiten des Geistes. Wie Gewohnheiten, sind sie vielfach unbewußt, aber dennoch nicht weniger wirksam. Sie formen das Denken, geben ihm Richtung und Gestalt, noch bevor eine Beobachtung, eine Anschauung zu ihrer Bestätigung herangezogen wird. Denkmo-delle bestimmen in sozialer Resonanz feststehende Überzeu-gungen. Sie führen ein eigenständiges Leben, das nur mäßig von gegensätzlichen Erfahrungen geprägt wird. Vor aller Wirklich-keitserkenntnis sind Denkmodelle soziale Wirklichkeit.« Karl-Heinz Brodbeck

Text: Tom Berthold

Heute schon Nutzen

maximiert? –

Die Nutzen-Mechanik der Wirtscha!stheorie

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Wenn ich mein Beet bearbeite, ist folgende Au!eilung klar: Es gibt Nützlinge und es gibt Schädlinge. Nützlinge werden an-gelockt und Schädlinge mehr oder weniger rabiat beseitigt. So einfach ist das. Liegt es da nicht nahe, den Menschen selbst die-ser einleuchtenden Au!eilung zu unterziehen und menschliche Nützlinge von menschlichen Schädlingen zu unterscheiden?

Text: Tanja Will

Nützling oder

Schädling?—

Der Mensch im Fokus

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Vor knapp 200 Jahren fand Joseph von Eichendor! in der Unter-scheidung zwischen menschli-

chen Nützlingen und Schädlingen genug Sprengsto! für seine Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts. Der Taugenichts, der weder tüchtig noch leistungsfähig ist, zählt zu den verträumten Romantikern. Er kennt keinen Ernst des Lebens, son-dern nur herausfordernde Abenteuer; er scha" keine Verbindlichkeiten und Zwän-ge, sondern lebt frei und ungebunden auf Wanderscha#. Spießbürgertum ist ihm langweilig. In Eichendor!s Novelle wer-den Taugenichtse mit dem Schöngeistigen, aber Nutzlosen eng verbunden: Sie singen, $deln, zupfen auf der Gitarre oder malen – ihr Brot verdienen sie aber nicht. Dem gegenüber stehen bodenständige Beruf-ler wie Bauern, Zöllner oder Gärtner, die in ihren Moralpredigten die Lebensweise der Taugenichtse verurteilen. Ihre Arbeit und ihr Broterwerb verscha!en ihnen das vermeintliche Recht, die „Faulpelze“ zu be-schimpfen und ihnen jeglichen Genuss zu missgönnen. Eichendorffs Novelle ist aktueller denn je. „Es wird wieder akzeptiert, Menschen in nützliche und unnütze zu unterteilen“, resümiert der Politikwis-senschaftler Christoph Butterwegge in der Wochenzeitung Der Freitag (Februar 2015). Die in den 1970er-Jahren entdeck-te Spezies des „Sozialschmarotzers“ ver-weist darüber hinaus auf das Bestreben, neben dem unnützen, aber harmlosen „Menschenmüll“ auch zu bekämpfende Schädlinge zu identifizieren. Es scheint, dass mit der Zunahme unsicherer Ar-beitsplätze, mit steigenden Arbeitslo-senzahlen, grassierenden Burn-outs und depressiven Erkrankungen die Toleranz für „unnütze“ Menschen sinkt. Ja, mehr noch, Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen, sondern die Staats-kasse leeren, geraten zunehmend unter Rechtfertigungsdruck und sehen sich mit Anfeindungen konfrontiert. Die spärlich gesäten, meist betagten Festangestellten können sich hingegen entspannt zu-rücklehnen. Sie gelten als „nützlich“. Für eine vom Wohlstandschauvinismus und Sozialdarwinismus geprägte Massenge-sellschaft wird das Land zum Beet und werden Menschen zu Schädlingen.

Was nutzt?Wie erstaunlich, dass vor unserer Zeitrech-nung, vor den erlösenden Worten Jesu und der christlichen Morallehre ganz andere, versöhnlichere Worte $elen. Marcus Tul-lius Cicero, der berühmte römische Po-litiker und Schri#steller, wusste: „Nächst Gott aber ist das nützlichste Wesen für den Menschen der Mensch.“ Der gläubige Cicero erwähnt nur am Rande, dass selbst-verständlich nur ein Gott keinen Schaden anrichten könne. Gott verkörpere den rei-nen Nutzen. Doch die Tatsache, dass der Mensch – wie alle Lebewesen – Schaden anrichten kann, bedeutet für Cicero nicht, dass er ein Schädling ist. Im Gegenteil be-merkt Cicero etwas viel Grundlegenderes und Erstaunlicheres: den verbindenden und erhöhenden Aspekt des Nutznießens. Er wird nicht müde, Gegenstände aufzu-zählen, die durch menschlichen Fleiß und Einfallsreichtum zu nützlichem Alltagsgut geworden sind. Gegenstände, die ohne ih-ren vom Menschen erkannten und heraus-gearbeiteten Nutzen nur nutzloses Zeug geblieben wären. Eine Unterscheidung in Menschen, die nützlich sind, und jene, die unnütz sind, interessiert Cicero nicht. Der Mensch ist für ihn per se nützlich. Ein Aus%ug in die Wortgeschichte des Nutzens zeigt dessen menschliches Ant-litz: Nutzen stammt von dem Wort nießen ab und bezeichnet etwas, das man genießt, das einem äußerlich oder innerlich zugute kommt, aus dem man etwas zieht, das dien-lich und tauglich ist. Diese De$nition des Nutzens bezieht sich nicht nur auf materi-elle Dinge. Gespräche, Musik, Dü#e und Wetterlagen können ebenso von Nutzen sein wie ein Schuhlö!el. Welche Dinge für jemanden tatsächlich von Nutzen sind und welche nicht, kann nicht absolut de$niert werden. Nutzen wird erzeugt, empfunden und hergestellt – er ist relativ. Genauer ge-sagt: Es lassen sich Dinge nutzbar machen, ohne per se für jeden nützlich zu sein. Der Nützling, der sich durch seinen gottglei-chen Nutzen auszeichnet und niemandem schadet, ist in etymologischen Lexika des-halb nicht zu $nden: Es gab ihn schlicht-weg nicht. Es gab nützliche Handlungen, Dinge von Nutzen oder das Nießen von Gegenständen und Personen. Für das Su&x „-ling“, das eine Person durch ihren totalen Nutzen charakterisiert, reichte es aber nicht.

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agora 42 Nützling oder Schädling?

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Ich tue nichts ohne meinen Nutzen. Was ich auch beginne: Das Nutzen-Kalkül nimmt die Verfolgung auf. Ich sehe es näher kommen. Es setzt mich unter Druck. Vor allem dann, wenn mir nicht klar ist, worin sein Nutzen eigentlich besteht. Ein Essay über die Unmöglichkeit, das Kosten-Nutzen-Kalkül abzuhängen – und warum wir ihm gar nicht entkommen müssten.

Text: Peter Wilde

Der Nutzen, den wir wollen

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»Achtung! Der steht noch mal auf!«

Es ist wie in einem mittelprächtigen Horror!lm: Die Protagonistin hat den Zombie endlich zur Strecke

gebracht. Es scheint, als sei die Spannung raus. Aber der geneigte Zuschauer ahnt: Mindestens ein letztes Au"äumen wird es geben. Nervös ruckelt man im Sessel hin und her und möchte schreien: „Ach-tung! Der steht noch mal auf!“ Auch beim Homo oeconomicus wähnten sich Teile des Publikums bereits in Sicherheit. Ob-wohl sie es besser wissen müssten. Vieles deutet zwar auf sein zeitnahes Ableben hin: ö#entliche Kühlschränke, die freiwillig bestückt werden, damit sich dort Lebens-mittel abholen kann, wer möchte; Com-munities wie Couchsur!ng oder Warm Showers, wo Reisenden ohne Gegenleis-tung Schlafplatz, Dusche und mehr ange-boten wird; ehrenamtliches Engagement in vielen Bereichen der Gesellscha$. Davon lässt sich jedoch kaum beruhigen, wer die mit Mitfahrgelegenheiten vollgestop$en Autos sieht, mit denen Fahrer/innen ihre Portokasse au"essern – auf Strecken, die sie ohnehin gefahren wären; oder die Pro-duktionsstätten und Konzerne dieser Welt, in denen Menschen beschä$igt sind, die für die gleiche Arbeit unterschiedlich viel Geld bekommen. Warum mehr ausgeben als nötig? Oder nicht gleich doppelt abkas-sieren? Ist da jemand doch nicht ganz so leicht totzukriegen?

Zugegeben: Der Horror!lm-Vergleich hinkt, denn die Urheber des Homo Oeco-nomicus waren keineswegs mit dem Ziel angetreten, einen Zombie zu erscha#en. Der „Ho“ ist zunächst weder gut noch böse. Das liegt vor allem an der Grundidee: Sein Wesen schließt moralische Erwägun-gen und Fragen des guten Gewissens der Einfachheit halber aus. Angetreten ist er lediglich, um Entscheidungen von Markt-teilnehmern vorauszusagen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Akteure zum eigenen Vorteil und mithilfe rationaler Kosten-Nutzen-Rechnungen das für sie wirt-scha$lich Sinnvolle tun – und dieses bei vollständigem Wissen über die Vielfalt der Optionen. Ein echter Unsympath ist er für viele möglicherweise deshalb geworden, weil er zwischen Gangstern und Sama-ritern keinen Unterschied macht – und obendrein Pate steht für die Ökonomi-sierung der Gesellscha$ und ihre fatalen Folgen. Um sich auf die Suche nach der Zukun$ des Nutzens zu begeben, kann die Auseinandersetzung mit dem „Ho“ eine gute Ausgangsbasis darstellen. Wir wer-den jedoch sehen, dass er als mikroöko-nomisches Konstrukt schon heute weitaus weniger unseren Lebensalltag bestimmt, als man annehmen könnte. Selbst in den Reihen der Marktgläubigen hat er bereits an Sex-Appeal verloren. Wer aber hat dann noch ein Wörtchen mitzureden, wenn es

HOMO OECONOMICUS In Abwandlung von Homo sapiens (von lateinisch homo = Mensch und sapiens = weise) bezeichnet Homo oeconomicus (Wirtschaftsmensch) in der Wirtschaftstheorie das Modell eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen. Der Homo oeconomic-us ist auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedacht und vollständig über das Marktgesche-hen informiert.

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agora 42 Der Nutzen, den wir wollen

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Glaubt man den CSR-Berichten vieler Unternehmen, scheinen sie ihre moralische Verantwortung der Gesellscha! gegenüber vorbildlich wahrzunehmen: Sie messen den CO2-Ausstoß, über-prüfen die Arbeitsbedingungen in ihren weit entfernten Produk-tionsstätten und schütten Spenden an lokale Vereine aus. Und das alles über gesetzliche Vorgaben hinaus. Nutzen CSR-Akti-vitäten also letztlich allen? Oder tri" die Kritik zu, sie würden dazu dienen, unverantwortliches unternehmerisches Handeln geschickt zu verschleiern? Ist die wachsende Bedeutung des CSR-Ansatzes womöglich ein Symptom dafür, dass es Gesellscha! und Politik versäumt haben, klare Regeln für Unternehmen fest-zulegen?

Text: Lia Polotzek

Was nutzt Corporate Social Responsibility?

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Wem nutzen CSR-Aktivitäten?Für Unternehmer ist klar: CSR-Maßnah-men sollten dazu dienen, den Nutzen be-ziehungsweise Pro!t ihres Unternehmens zu steigern. Die Managementliteratur spricht vom „Business Case for CSR“. Be-sonders im Bereich des Reputations- und Risikomanagements, zur Steigerung der Energie- und Materiale"zienz sowie der Kunden- und Mitarbeiterbindung sollte CSR nach dieser Sichtweise strategisch genutzt werden. Als positiver Nebene#ekt entsteht dann automatisch ein Nutzen für die breitere Gesellscha$. Dieses Verständnis von CSR löst häu-!g Kritik aus. Der Tenor: Unternehmen würden, selbst wenn sie mit ihren Maß-nahmen auch gesellscha$lichen Nutzen scha#en, aus einer falschen Absicht he-raus agieren. Ihr wahres Motiv sei die Pro!tmaximierung und CSR eine will-kommene Möglichkeit, über die Schäden hinwegzutäuschen, die aufgrund ihres Pro!tstrebens verursacht werden. Diese Kritik suggeriert jedoch, Unternehmen be-säßen eine menschliche Intentionalität, an welcher man Anstoß nehmen könnte. Es wird implizit unterstellt, man könnte Un-ternehmenshandeln mit den Kategorien einer deontologischen Ethik bewerten. Da Unternehmen jedoch gesellscha$liche

Unternehmen sind keine Men-schen. Sie haben weder Bewusst-sein noch Wünsche oder Ansich-

ten über die Welt. Bereits die Frage, ob man das, was sie tun als „Handlung“ be-zeichnen kann, ist philosophisch umstrit-ten, da Unternehmen keinerlei Absich-ten im menschlichen Sinn besitzen, an welchen sie ihr vermeintliches Handeln ausrichten könnten. Will man das „Han-deln“ von Unternehmen dann noch einer moralischen Bewertung unterziehen und ihnen eine moralische Verantwortung zuschreiben, begibt man sich schnell auf philosophisches Glatteis.Es gibt jedoch gute Gründe, Unterneh-men trotzdem die Fähigkeit zuzugeste-hen, moralische Verantwortung tragen zu können. Denn Unternehmen erfüllen wie Menschen elementare Bedingungen der Verantwortungsfähigkeit. Sie wei-sen eine innere Entscheidungsstruktur auf, können auf gesellscha$liche Forde-rungen, bestimmte Werte einzuhalten, reagieren und dieses Engagement sogar kommunizieren. Man denke zum Beispiel an die Bemühungen von Unternehmen wie Nike, die Kinderarbeit in ihren Zulie-ferbetrieben abzuscha#en, nachdem die Zustände in den sogenannten Sweatshops ö#entlich angeprangert wurden.

CSRCorporate Social Responsibility (wörtlich: unternehmerische Gesellschaftsverantwortung) hat sich in Unternehmen, Verbänden, Politik und Interessensgruppen als Fachbegriff für diejenigen Aktivitäten etabliert, die Unterneh-men durchführen, um ihrer sozialen und ökologischen Verantwortung der Gesellschaft gegenüber gerecht zu werden. Allerdings gibt es bislang noch keine einheitliche Definition, worin diese Verantwor-tung genau besteht. Insofern lässt sich auch kaum beurteilen, in welchem Maß ein Unternehmen seiner gesellschaftlichen Verant-wortung gerecht wird.

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agora 42 Was nutzt Corporate Social Responsibility?

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Portrait

„Das Vergnügliche

ist nützlicher als das Nützliche“

—Giacomo Leopardi und das Unnütze

Text: Diana Di Maria

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Giacomo Leopardi wird am 29. Juni 1798 in dem kleinen Städtchen Recanati, das damals dem Kirchenstaat angehört und in der heutigen Region der Marken liegt, als erstgebore-ner Sohn des Grafen Monaldo Leopardi (1776–1847) und der Marquise Adelaide Antici (1778–1857) geboren. Recanati untersteht zu diesem Zeitpunkt der Macht der französi-schen Truppen unter Napoleon Bonaparte. Der aus einer langen Linie von Aristokraten und Geistlichen stammende Monaldo, der sich beim Einmarsch der Franzosen einer De-legation antifranzösischer Rebellen angeschlossen hatte, wird kurzerhand zu deren An-führer ernannt. Als 1799 der jüngere Bruder Carlo zur Welt kommt, ist Recanati noch immer in französischer Hand und Monaldo droht wegen Aufrührertums die Todesstrafe. Der Schwager Carlo Antici kann letztlich eine Widerrufung des Urteils erwirken. Wieder rehabilitiert, zählt Monaldo, als 1800 Giacomos Schwester Paolina zur Welt kommt, zu den vier höchsten Abgeordneten der Stadt. Im Jahr darauf erfüllt Monaldo sich einen Herzenswunsch, indem er in Recanati die Akademie für Sprache und Dichtung Disuguali placidi aus dem 15. Jahrhundert wiederbelebt und diese in den ersten Jahren ihres Be-stehens im heimischen Palais tagen lässt. Giacomo und Paolina werden bald Mitglieder dieses illustren Kreises, der sich gleichermaßen der Verfeinerung der Sprache und der Sitten verp!ichtet sieht. Die Grä"n hingegen wird als überaus strenge und gottesfürchtige Frau beschrieben, die selbst ihren Kindern gegenüber distanziert und kühl au#ritt. Nach-dem sich Monaldo bei einem Geschä# verspekuliert und die Familie aufgrund hoher Rückzahlungen an Gläubiger ihren – dennoch weiterhin aristokratischen Mindeststan-dards entsprechenden – Lebenswandel stark vereinfachen muss, übernimmt sie auch die Verantwortung über die Finanzen.

Das WunderkindDas ist das familiäre, moralische, politische und intellektuelle Umfeld, in dem Giacomo Leopardi aufwächst. In Heimunterricht genießen die Kinder bei jesuitischen Lehrern, die Monaldo sorgsam auswählt, eine umfassende humanistische Bildung. In jährlich statt"ndenden ö$entlichen Prüfungen führen die Geschwister einem größeren Kreis von Freunden und der Familie die Früchte ihrer Studien vor. Giacomo lernt auf diesem Wege zunächst die Schri#en Homers kennen (und lieben) und vertie# seinen Unterricht im autodidaktischen und zurückgezogenen, zum Teil nächtlichen Studium in der reich gefüllten väterlichen Bibliothek. Schon ab dem Alter von elf Jahren beginnt er, an ers-ten literarischen Erzeugnissen – Gedichten, Tragödien, philosophischen Aufsätzen und Epigrammen – zu arbeiten und erwirkt sich infolgedessen die Erlaubnis zur Lektüre der kirchlich indizierten Bücher, für die Monaldo über einen päpstlichen Erlass verfügt und die sich in einem abgeschlossenen Regal der väterlichen Bibliothek be"nden. Er lernt Französisch, Spanisch, Latein, Griechisch und Hebräisch, fertigt poetische Übersetzun-gen an und verfasst schon im Alter von 14 Jahren eine umfangreiche Geschichte der As-tronomie von den Anfängen bis 1811. Der Astronomie spricht er als Wissenscha# den Vorrang gegenüber allen anderen Errungenscha#en des menschlichen Geistes zu und bezeichnet sie in der Einleitung zum Traktat als die erhabenste und nützlichste derer aller, weil sie Erkenntnis bedingt und damit den Menschen zu veredeln und vervollkommnen vermag. Zugleich klingt hier bereits der an Rousseau geschulte Fortschrittspessimismus an, wenn skeptisch über den tatsächlichen Nutzen der Wissenscha#en insgesamt geur-teilt wird. Der zu jener Zeit in Europa vorherrschenden romantischen Dichtung steht er in den frühen Jahren seines Scha$ens skeptisch gegenüber. So verfasst er 1816 die Lette-ra ai compilatori della „Bibiloteca italiana“, einen Antwortbrief an die Herausgeber der Zeitschri#, in der zuvor ein Pamphlet der ein!ussreichen französischen Schri#stellerin Madame de Staël erschienen war. In ihrem Aufsatz Über die Art und Weise und den Nut-zen der Übersetzungen wendet sich die Autorin an die italienischen Dichter mit der Auf-

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forderung, sich in ihrer literarischen Produktion an den europäischen Beispielen fran-zösischer, deutscher und englischer Autoren ihrer Zeit zu orientieren. Dem Vorschlag begegnet der kaum 18-jährige Leopardi in einem empörten Brief mit einem pathetischen Lobgesang auf das Können der antiken Dichter, die es nachzuahmen gelte. Er o!enbart darin seine klassizistische Prägung sowie eine tiefe Abneigung gegen das Finstere und Fantastische der Romantik. Die Replik wird nicht publiziert, aber gerade Madame de Staëls Buch Über Deutschland, welches das Deutschlandbild vieler Europäer stark beein-"usste, wird prägend für Leopardi und seine Vorstellung von der deutschen Literatur.Der Vorschlag des Onkels mütterlicherseits, Carlo Antici, Giacomo in der kirchlichen Akademie in Rom einzuschreiben, scheitert daran, dass Monaldo sich von dem Sohn und „einzigen Freund“ in Recanati nicht zu trennen vermag. Im Jahr 1817 macht Leopardi Bekanntscha# mit dem Literaturkritiker Pietro Gi-ordani, nachdem er ihm seine Übersetzung des zweiten Buches von Vergils Äneis zuge-schickt hat. Damit beginnen ein reger Brie$ontakt, der Leopardi tiefer in die Debatte um die romantische Dichtung eintauchen lässt, sowie eine ehrliche Bewunderung und enge Freundscha#, die bis zu Giacomos Lebensende halten wird. Giordani, der zwei Jahre älter als Monaldo Leopardi ist, fungiert für Giacomo dabei als Freund und väterlicher Lehrer. Zu dieser Zeit entsteht neben weiteren Dichtungen auch ein Terzinengedicht, Il primo amore (Die erste Liebe), verfasst aus Anlass der unglücklichen Liebe zur Cousine Gertru-de Cassi Lazzari und somit das früheste Gedicht, das in die spätere Sammlung der Canti (Gesänge) aufgenommen werden wird. Das neben seiner Dichtung wichtigste Werk Leopardis, der Zibaldone, entsteht ebenfalls ab dem Sommer des Jahres 1817. Es handelt sich dabei um eine Sammlung verschiedener philosophischer, literarischer und sprachtheoretischer Überlegungen. Diese Aufzeichnungen, die im Umfang vom Aphorismus bis zum Traktat variieren, setzt Leopardi bis 1832 fort. Der Titel – Zibaldone – kann mit dem Begri! „Sammelsurium“ wiedergegeben werden und ist inhaltlich etwa zwischen Lichtenbergs Sudelbüchern und Pessoas Buch der Unruhe zu verorten. Der Zibaldone bildet eine wesentliche Quelle für jegliche Auseinandersetzung mit dem Denken und dem Werk Leopardis und ist doch durch seine Ablehnung jeglichen Systems ein komplexes, ungeordnetes und vielschichti-ges Werk.

»So geschieht es, dass mir das Ver- gnügliche über allen Nutzen das Nützlichste zu sein scheint, und die Literatur wahrhaft und sicherlich die nützlichste unter allen diesen staubtrockenen Disziplinen.«

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Der Morgen danach

Interview mitSrecko Horvat

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Angesichts der Entwicklungen in Griechenland wird deutlich, dass Auste-ritätsmaßnahmen nicht zur Bekämpfung der Krise taugen. Auf der ande-ren Seite weiß man aber auch, dass eine expansive Geldpolitik – wie sie schon allzu lange betrieben wird – auch keine Lösung ist, weil sie riesige Blasen und neue Krisen produziert. Gibt es noch einen dritten Weg, wie man mit der Krise und ihren Folgen umgehen kann?

Ich stimme voll mit Ihnen überein, dass die Austeritätsmaßnahmen nicht funktionieren. Aber mit dieser Ansicht stehen wir von der radikalen Linken ja nicht allein. Auch Chris-tine Lagarde vom Internationalen Währungsfond, zahlreiche renommierte Ökonomen, ja sogar zahlreiche deutsche Parlamentsabgeordnete weisen immer wieder darauf hin, dass Griechenland seine derzeitigen Schulden wohl nie wird zurückbezahlen können. Die Tatsache, dass nun dennoch ein neues Rettungspaket beschlossen wurde, das sich grundsätzlich nicht von den vorherigen Rettungspaketen unterscheidet, wir! die Fra-ge auf, warum man wider besseres Wissen dennoch an diesem Weg festhält. Ich wüsste nicht, wie man das erklären sollte, wenn nicht mit Ideologie: Es wird der ideologische Standpunkt eingenommen, dass die Banken ihr verliehenes Geld unter allen Umständen zurückbekommen müssen. Man hätte ja auch darüber diskutieren können, ob die Ban-ken, die Griechenland Geld geliehen haben, nicht einfach unvorsichtig waren und für ihre Fehler nun bezahlen müssen. Aber nein! Stattdessen "ossen von den Geldern aus den sogenannten Rettungspaketen 77 Prozent an die Banken und kamen so gar nicht bei den Menschen an, die das Geld wirklich benötigen. Wesentlich interessanter als die Diskussion über das Für und Wider der Auste-ritätsmaßnahmen ist jedoch eine Entwicklung, die ich in Griechenland beobachtet habe, als ich zuletzt dort war; eine Entwicklung, welche die wenigsten Menschen in Europa kennen und die tatsächlich einen dritten Weg darstellen kann. Denn sie führt zu einer ganz anderen Wahrnehmung der eigenen Rolle in der Wirtscha! und der menschlichen Interaktion. So sind beispielsweise die griechischen Landwirte dazu übergegangen, die sogenannten Marktgesetze einfach zu umgehen. Das begann im Jahr 2009, als die Zwi-schenhändler den Landwirten aufgrund der Krise große Mengen ihrer Karto#eln nicht mehr abnahmen und die Landwirte so buchstäblich auf den Karto#eln sitzen blieben. Damals haben die Landwirte einfach den Zwischenhändler außen vorgelassen und sich direkt an die Abnehmer gewandt. So trivial das klingt, unterscheidet sich diese Form der Wirtscha! doch grundsätzlich von der Art und Weise, wie Wirtscha! heute funktioniert. Schließlich wird dadurch nicht nur die machtvolle Verhandlungsposition der Zwischen-händler durchbrochen, sondern auch die Abhängigkeit von ausländischen Märkten und somit von weltweiten Warenströmen. Da das Beispiel dieser sogenannten Karto#elbewe-gung inzwischen Karriere gemacht hat und heute immer mehr Waren in Griechenland direkt von den Erzeugern an die Konsumenten verkau! werden, entwickelt sich dort ein Versorgungssystem, aus dem tatsächlich ein alternatives Wirtscha!ssystem hervorgehen kann. In Kreta sind sie sogar noch weiter gegangen und haben eine eigene Währung eingeführt, die regional organisiert ist und sich mehr an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Parallel dazu hat in Griechenland außerdem die Zivilbevölkerung neue Dinge hervorgebracht, beispielsweise rund 40 Kliniken, in denen die Ärzte umsonst arbeiten und wo man kostenlos Medikamente bekommen kann; oder die Suppenküchen, die im ganzen Land für die Bedür!igen eingerichtet wurden.

Fotos: Janusch Tschech

Srecko Horvat wurde 1983 in Osijek/Kroatien geboren. Er lebte die ersten sieben Jahre seines Lebens im Exil in Deutschland und kehrte 1990 nach Kroatien zurück. Er studierte Philosophie und Linguistik an der philosophischen Fakultät in Zagreb, wo er zurzeit als Dozent tätig ist. Horvat schreibt zudem unter anderem für The Guardian, Al Jazeera, Il Manifesto, El Pais und die The New York Times. Er nahm an zahlreichen Protestbewegungen teil, angefangen bei Fakultätsbesetzungen an der Universität bis hin zu großen Versammlungen in Sarajevo, im Rahmen von Occupy Wall Street in New York und des Weltsozialforums in Senegal und Tunesien. Er ist Mitbegründer und war lange Zeit Direktor des Subversive Festivals in Zagreb, einer der wichtigsten Veranstal-tungen zu gesellschaftspolitischen Themen in Südosteuropa. Prominente Gäste waren zum Beispiel Oliver Stone, Slavoj !i"ek und Zygmunt Bauman. Im Jahr 2013 waren auch Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis auf dem Subversive Festival, kurz bevor SYRIZA an die Regierung kam. Zuletzt sind von ihm folgende Bücher erschienen: Nach dem Ende der Geschichte – Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung (LAIKA-Verlag, 2013); Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern (zusammen mit Slavoj !i"ek; LAIKA-Verlag, 2013). Im Winter erscheint The Radicality of Love (Polity Press).

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agora 42Srecko Horvat

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen?

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen? HH O R I Z O N T

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Zu gewinnen gab es eine Freikarte für die Bayreuther Dialoge 2015, ein Jahresabo der agora42 sowie die Veröffentlichung der beiden Gewinner-Essays in der agora42. Wir danken allen, die mitgemacht haben und freuen uns, die Gewin-ner-Essays von Martin Urschel und Lukas Wetzel auf den kommen-den Seiten abdrucken zu dürfen. Viel Freude bei der Lektüre!

Essaywettbewerb der Bayreuther Dialoge 2015 und der agora42Die Bayreuther Dialoge sind eine Veranstaltung, die jährlich von Stu-denten des Programms „Philosophy & Economics“ der Universität Bay-reuth organisiert werden. Seit 2004 treffen sich jedes Jahr Politiker, Wis-senschaftler, Unternehmer und Studierende in Bayreuth, um Themen an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie zu diskutieren. In diesem Jahr dreht sich bei den Bayreuther Dialogen alles um das The-ma „Nützlicher Mensch – menschlicher Nutzen“. „Das passt!“, dachten wir uns, ist doch auch die vorliegende Ausgabe dem Thema Nutzen gewidmet. So ist eine Kooperation entstanden, deren Sahnehäubchen ein Essaywettbewerb ist, den wir gemeinsam mit den Veranstaltern der Bayreuther Dialoge ausriefen. Viele spannende, originelle und visionäre Texte haben uns daraufhin erreicht, die sich mit folgenden Leitfragen beschäftigt haben:

1. Wohin mit dem ganzen Nutzen? – Zeit den Nutzenbegriff zurecht zu stutzen?

2. Aufwärts, schneller, weiter, besser! Wohin soll uns das denn bringen? Zeit vom Aufwärtstrend abzuspringen?

3. Was nutzt uns wirklich?

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Diktat der Nütz- lichkeit?—Neue Perspektiven für den Nutzen

Wer nur tut, was nützlich erscheint, verpasst das Beste. In jedem Sinn. Das entspricht der gängigen Kritik am Homo oeconomicus und liegt ganz einfach daran, dass wir nicht immer im Voraus wissen können, was in jeder Si-tuation nützlich sein wird. Wir können nur spekulieren. Wenn ich etwa ein Gebäude baue und die Grundregeln der Statik beherrsche, so ist das nütz-lich. Denn mit Statik kann ich das Ge-bäude so bauen, dass es nicht gleich wieder zusammenbricht. Aber wir dür-fen nicht vergessen, woher die Regeln

der Statik kommen: Wir haben aus ähnlichen Situationen in der Vergan-genheit gelernt und übertragen das, was damals funktioniert hat, auf das aktuelle Projekt. Die Spekulation kann in so einem Fall auf einigen soliden Erfahrungen aufbauen, von denen wir manchmal sagen: „Hier wissen wir, wie diese Sache funktioniert.“ Dabei ver-gessen wir leicht, dass man nie sicher sagen kann, ob aus der Erfahrung eine so klare Ableitung für den konkreten Fall möglich ist.

Text: Martin Urschel

Gewinner- essay Nr.1

Martin Urschelpromoviert seit 2014 an der University of Oxford über kreativitätsfördernde und einengende Strukturen in der deutschen Filmlandscha!, zu-dem entwickelt er seit 2013 als freier Redakteur im ZDF das "ktionale Programm strategisch weiter.

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Der Philosoph –Paradebeispiel für einen Nichtsnutz?

Text: Lukas Wetzel

Studenten der Altphilologie und Kunst-geschichte teilen ein gemeinsames Schicksal mit mir: Sie leiden unter ei-nem Tinnitus, der eigentlich gar keiner ist. Mit einem echten Tinnitus gemein-sam hat dieser Tinnitus, dass er zum ständigen Begleiter geworden ist, sich dabei als äußerst unangenehm erweist

und man ihn wohl nur los wird, wenn man lernt wegzuhören. Doch anstatt mich unaufhörlich piepsend um meine innere Ruhe zu bringen, raubt er mir beständig quasselnd den letzten Nerv: „Aber was fängt man denn bitte mit Philosophie nach dem Studium an?“

Gewinner- essay Nr.2

Lukas Wetzel studiert Philosophie und Empirische Kultur- wissenscha! in Tübingen.

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Das internationale Sommerfestival 2015

auf Kampnagel

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aufgeschoben. Und weil diese Me-lange aus alten Fabrikhallen und Theateraufführungen vom Publikum so gut angenommen wurde, blie-ben die Hallen stehen. Und so, wie es gerade aussieht, ist die Existenz dieses Kulturorts für weitere 30 Jahre gesichert.

Seitdem füllen Kunst und Kultur die Hallen und bieten Inspiration für zahlreiche Festivals auf dem Gelän-de. Zugleich haben die Verantwortli-chen von Anfang an ihren Anspruch – mit ihrem Schaffen einen gesell-schaftlichen Beitrag zu leisten – da-durch untermauert, dass der Kultur-betrieb regelmäßig durch Vorträge

und Diskussionsrunden ergänzt wird. So ging man beispielsweise beim sogenannten Zukunftscamp, das zur Spielzeiteröffnung 2014 gemeinsam mit der ZEIT-Stiftung ausgerichtet wurde, der Frage nach, ob angesichts von NSA-Skandal, Schuldenkrise, Erderwärmung, Terrorismus, wachsender Ungleich-heit und Kämpfen um Ressourcen eine andere Welt möglich oder ob schon alles verloren ist.

Zuletzt diskutierte man im Theorieteil des Interna-tionalen Sommerfestivals 2015 die Frage, warum deutsche Medien in der Griechenland-Krise so einseitig und überraschend einstimmig berichte-ten. Griechenland wurde als „‚Trickser’, a swindler, a ‚Betrüger’, ‚ein unaufrichtiger Kleinkrimineller’, a corrupt little criminal. And also as a undisciplined schoolchild“ beschimpft, wie die Kuratorin des Theorieteils, Margarita Tsoumou, in ihrem Eröff-nungsvortrag ausführte. Weil man klarstellen wollte, dass das von den Medien gezeichnete Bild nicht dem wahren Griechenland entspricht, standen die Vorträge und Diskussionsrunden unter dem Motto „This is not Greece“. Und weil es beim Thema Grie-chenland letztlich um die Frage geht, wie sich Eu-ropa künftig definieren und aufstellen will, lagen für die Gäste auch zahlreiche Exemplare der agora42-Ausgabe zum Thema Europa bereit.

Im Jahr 1865 beschließt der Kongress der Verei-nigten Staaten den 13. Zusatzartikel in die Verfas-sung aufzunehmen, mit dem die Sklaverei auf dem gesamten Gebiet der USA endgültig abgeschafft wird. Im gleichen Jahr schafft das Fürstentum Ru-mänien als einer der ersten Staaten in Europa die Todesstrafe ab, der Augustinermönch Gregor Men-del stellt die mendelschen Regeln der Vererbung anhand von Pflanzenkreuzungen vor und die Bil-dergeschichte Max und Moritz von Wilhelm Busch wird zum ersten Mal publiziert. Außerdem wird in Hamburg-Winterhude die Maschinenfabrik „Nagel & Kaemp, Zivilingenieure“ gegründet. Doch wäh-rend die Sklaverei in Amerika und die Todesstrafe in Rumänien nach wie vor verboten sind, die men-delschen Gesetze weiterhin Bestand haben und Max und Moritz die Bücherregale bevölkern, gibt es die – zuletzt als Kampnagel firmierende – Ma-schinenfabrik nicht mehr. Einzig die leeren Fabrik-hallen existieren noch – und auch das nur aufgrund eines glücklichen Zufalls. Schließlich war der Abriss der Hallen schon beschlossene Sache, nachdem der Betrieb 1981 eingestellt wurde. Doch weil just zu diesem Zeitpunkt das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg aufgrund von Bauarbeiten am Stamm-haus ein Ausweichquartier benötigte und dieses in den alten Maschinenhallen fand, wurde der Abriss

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