„Ich sehe so wie Du nicht siehst“ - Kontaktlinsen-Preisvergleich · 2019-09-19 · SPEZIAL KIDS...

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SPEZIAL KIDS & TEENS 36 DOZ 06 | 2011 Folgende Situation: Sie haben – allein- reisend – den Anschlussflug verpasst. Sie verstehen die Landessprache nicht, können sie weder sprechen noch lesen; die Einheimischen verstehen ihre Spra- che nicht. Ihr Gepäck ist weitergeflogen. Stresshormone werden ausgeschüttet; Sie fühlen sich sehr unwohl. So oder so ähnlich geht es unter Umständen einem Schulkind, das in einem sehr wichtigen Test unvorbereitet mit dem Füller auf einer bisher unbekannten Lineatur in einer vorgegebenen Zeit richtig und schön schreiben soll. Entstehen bei den Kindern Fehler sind sie irritiert und unkonzentriert und werden möglicherweise Folgendes hören: Streng dich an; deine Augen sind in Ordnung; du hast doch eine Brille; du brauchst nur genau hinzuschauen, dann siehst du, ob da ein „b“ oder „d“ steht, wo die Linien und Rechenkästen sind. Abbildung 1 lässt unterschiedliche In- terpretationen zu: die junge und die alte Frau. Ein und dieselbe „Abbildung“ erzeugt zwei unterschiedliche Wahrnehmungen. Dies macht deutlich, dass das Bild auf der Netzhaut unsere gesamte Sehwahrneh- mung nicht erklären kann. Auch ist es nicht möglich, beide Frauen gleichzeitig wahrzunehmen; nur eine Wahrnehmung steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Visuelle Wahrnehmung Der Untertitel dieses Beitrages lautet „Sehen und Wahrnehmung bei Kindern“. Dies bedarf einer näheren Erklärung. Ist Sehen und Wahrnehmung nicht iden- tisch? Was ist Sehen, was ist Wahr- nehmung? Wird etwas aus der Umwelt beschrieben, spricht man von Wahrneh- mung. Wird dazu der Sehsinn genutzt, ist es die visuelle Wahrnehmung. Umgangs- sprachlich sagt man „Sehen“. Damit wer- den die Augen in Verbindung gebracht. Doch die Augen sind nur das periphere Aufnahmeorgan für die Lichtreize der Umwelt. Diese reichen nicht aus um die Umwelt zu „sehen“, zu erkennen – zu wissen, was da ist. Der Sehvorgang im Sinne von Augen- funktionen umfasst unter anderem Optik, Brille, Sehschärfe, dreidimensionales Einfachsehen. Der Sehvorgang im Sinne von Wahrnehmung – also das Wissen um die physikalische Umwelt – ist ein mehrstufiger hochkomplexer neuronaler Vorgang. Modellhaft ist die Gesamtwahrneh- mung in drei Teile zu gliedern: Sinnes- empfindung, Wahrnehmung, Kognition. Auf der ersten Stufe des Sehwahrneh- mungsprozesses – der Sinnesempfin- dung – handelt es sich um physikalische und chemische Elementarprozesse. Da- bei entsteht kein Bild auf der Netzhaut, „Ich sehe so wie Du nicht siehst“ Sehen und Wahrnehmung bei Kindern Wahrnehmung ist keine Eins-zu-eins-„Abbildung“ der physikalischen Umwelt, sie ist entwerfend bzw. subjektiv. www.istockphoto.com

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SPEZIAL KIDS & TEENS

36 DOZ 06 | 2011

Folgende Situation: Sie haben – allein-reisend – den Anschlussflug verpasst.Sie verstehen die Landessprache nicht,können sie weder sprechen noch lesen;die Einheimischen verstehen ihre Spra-che nicht. Ihr Gepäck ist weitergeflogen.Stresshormone werden ausgeschüttet;Sie fühlen sich sehr unwohl. So oder so ähnlich geht es unter Umständen einem Schulkind, das in einem sehrwichtigen Test unvorbereitet mit demFüller auf einer bisher unbekannten Lineatur in einer vorgegebenen Zeitrichtig und schön schreiben soll.

Entstehen bei den Kindern Fehler sind sieirritiert und unkonzentriert und werdenmöglicherweise Folgendes hören: Strengdich an; deine Augen sind in Ordnung; du hast doch eine Brille; du brauchst nurgenau hinzuschauen, dann siehst du, obda ein „b“ oder „d“ steht, wo die Linienund Rechenkästen sind.

Abbildung 1 lässt unterschiedliche In-terpretationen zu: die junge und die alte

Frau. Ein und dieselbe „Abbildung“ erzeugtzwei unterschiedliche Wahrnehmungen.Dies macht deutlich, dass das Bild auf derNetzhaut unsere gesamte Sehwahrneh-mung nicht erklären kann. Auch ist esnicht möglich, beide Frauen gleichzeitigwahrzunehmen; nur eine Wahrnehmungsteht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Visuelle Wahrnehmung

Der Untertitel dieses Beitrages lautet„Sehen und Wahrnehmung bei Kindern“.Dies bedarf einer näheren Erklärung. IstSehen und Wahrnehmung nicht iden-tisch? Was ist Sehen, was ist Wahr -nehmung? Wird etwas aus der Umweltbeschrieben, spricht man von Wahrneh-

mung. Wird dazu der Sehsinn genutzt, istes die visuelle Wahrnehmung. Umgangs-sprachlich sagt man „Sehen“. Damit wer-den die Augen in Verbindung gebracht.Doch die Augen sind nur das periphereAufnahmeorgan für die Lichtreize derUmwelt. Diese reichen nicht aus um dieUmwelt zu „sehen“, zu erkennen – zuwissen, was da ist.

Der Sehvorgang im Sinne von Augen-funktionen umfasst unter anderem Optik,Brille, Sehschärfe, dreidimensionalesEinfachsehen. Der Sehvorgang im Sinnevon Wahrnehmung – also das Wissen um die physikalische Umwelt – ist einmehrstufiger hochkomplexer neuronalerVorgang.

Modellhaft ist die Gesamtwahrneh-mung in drei Teile zu gliedern: Sinnes-empfindung, Wahrnehmung, Kognition.Auf der ersten Stufe des Sehwahrneh-mungsprozesses – der Sinnesempfin-dung – handelt es sich um physikalischeund chemische Elementarprozesse. Da-bei entsteht kein Bild auf der Netzhaut,

„Ich sehe so wie Du nicht siehst“Sehen und Wahrnehmung bei Kindern

Wahrnehmung ist keine Eins-zu-eins-„Abbildung“ derphysikalischen Umwelt, sie ist

entwerfend bzw. subjektiv.

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kein originalgetreues Abbild der physika-lischen Umwelt. Es handelt sich lediglichum ein neutrales bedeutungsloses Reiz-muster. Mehr steht für die nachfolgendenVerarbeitungen – für die Wahrnehmungder Umwelt – nicht zur Verfügung!

Die Signale der Umwelt lösen auf derNetzhaut unterschiedliche Empfindun-gen aus: z. B. Helligkeit, Farbe, Bewe-gung, Lage in der Umwelt. Diese werdenauf getrennten Bahnen in verschiedeneSehzentren im Gehirn weitergeleitet. Erstin den sehr gehobenen Sehzentren wer-den die getrennten Verarbeitungen wie-der zusammengesetzt. Jetzt spricht manvon Wahrnehmungen. In Verbindung mitdem Gedächtnis- und Bewertungssystemund dem Bewusstsein werden diese vor-herigen Verarbeitungen zu kognitivenProzessen – zu Wissen.

Konstruierte WahrnehmungWahrnehmung ist nicht abbildend – kei-ne Eins-zu-eins-„Abbildung“ der physi-kalischen Umwelt. Sie liefert nur Teil -aspekte im Sinne des Überlebens. Wahr-nehmung ist entwerfend – konstruierend;entsprechend handelt es sich nicht umobjektive Sachverhalte. Wahrnehmungist subjektiv. Die scheinbar „objektive“Umwelt wird durch Verarbeitung im Ge-hirn des Betrachters subjektiv. Und dabeischafft sich jedes Gehirn seine eigeneWirklichkeit! Diese Wirklichkeit ist ab-hängig von Erfahrung, Emotionen, Stim-mungen.

Die Prozesse auf der untersten Stufeder visuellen Wahrnehmung laufen vor-bewusst – präkognitiv ab. Sie sind durchErfahrung, Wissen nicht veränderbar, d. h. kognitive Prozesse können in dieseVerarbeitungsprozesse nicht eingreifen.Dies ist Grundvoraussetzung für eineschnelle stabile und gleichbleibendeWahrnehmung.

In der präkognitiven Phase der Wahr-nehmung geht es unter anderem um Verarbeitungen wie Figur-Hintergrund-Unterscheidung, Wahrnehmung vonscheinbaren Figuren, Konstanzmecha-nismen. Hier finden Prozesse zum „Erkennen der Lage im Raum“ statt, z. B.das Erkennen von formidentischen rich-tungsverschieden Symbolen – wie „b“und „d“. Auch die Wahrnehmungs -leistung „räumliche Beziehungen her-stellen“ wird hier verarbeitet; z. B. wo

steht ein Buchstabe im Wort. In Abbildung 2 ist gut zu erkennen,

dass bestimmte Prozesse nicht bewusst –durch Wissen, Kognition – beeinflusstwerden können. Es handelt sich um dieWahrnehmung von scheinbaren Figuren.Obwohl kein Reizmuster einer Form vor-handen ist, kann man sich der Wahrneh-mung einer ovalen Form nicht entziehen.

Gäbe es z. B. die Größenkonstanz nicht,wäre man ständig von wachsenden undwieder schrumpfenden Gegenständenumgeben. Die visuelle Umwelt ist kon -tinuierlich physikalischen Änderungenunterworfen. So führen u. a. wechselndeUmgebungsbeleuchtung und Kontrast-verteilungen, Objekt- und Eigenbewegungzu ständig wechselnden Reizmustern.Die präkognitiven Verarbeitungspro -zesse helfen, sich in dieser Welt zurecht-finden. Diese Prozesse sind zum Teil angeboren, sehr frühkindlich erworbenoder entwickeln sich im Laufe der kom-menden Lebensjahre.

So spielt in der frühkindlichen Wahr-nehmung z. B. die Raumlage keine we-sentliche Rolle. Das Nichtbeachten derRaumlage geht so weit, dass ein Kind imzweiten, unter Umständen auch noch imdritten Lebensjahr ein Bilderbuch ver-kehrt herum hält – ohne es zu bemerken.

Bei Schuleintritt müssen neben Ge-genständen des täglichen Lebens auchabstrakte Symbole – Buchstaben – identi-fiziert werden. Dabei spielt die Raumlageeine entscheidende Rolle. Jetzt muss dasLagebewusstsein so weit ausgereift sein,dass z. B. der Unterschied der Gestalt „b“und „d“ sofort erkannt wird. Diese Ent-wicklung ist etwa am Ende des erstenSchuljahres abgeschlossen.

In dieser Zeit lernen die Kinder z. B.Längen einzuschätzen. Wie lang ist etwas?Ist etwas gleich oder unterschiedlichlang? Ist eine Linie gerade oder gebo-gen? Sie lernen, was Symmetrie ist – woist die Mitte von etwas? Bei diesen visu -elle Fähigkeiten meint man: Das siehtman doch. Dieses „Sehen“ – das Wissen,ob etwas z. B. gleich oder unterschiedlich

Abb. 1: Die optische Illusion ermöglicht zweiunterschiedliche Wahrnehmungen.

Abb. 2: Bestimmte Prozesse können nicht bewusst beeinflusst werden.

Die visuelle Wahrnehmung wird im Allgemeinen nicht

hinterfragt. Man geht davon aus, dass das, was man sieht

für alle gleich ist.

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lang ist – wird gelernt. So wie Kleinkinderlernen was eine Blume, ein Fisch, eineSonne ist (Abb. 3).

Wahrnehmung lernen

Abbildung 4 zeigt eine Darstellung, dieunter Umständen nicht bekannt ist. Mansieht etwas im Sinne von Augenfunktio-nen, nimmt etwas wahr. Doch was es ist,weiß – „sieht“ – man nicht. Weil es nochnicht gelernt wurde; es nicht im Gedächt-nis abgespeichert ist.

Der gerippte, runde Bereich wird inder Regel als Gesicht, wahrgenommen.Weil das Gedächtnis vermittelt: So siehtein Gesicht aus. In diesem Fall ist es nichtso: Es ist eine Nase (eines Sternmull-Embryos). Das, was als Augen wahr -genommen wird, sind die Nasenlöcher.Die Augen befinden sich rechts und linksneben der Nase. Und schaut man noch-mals genau hin, kann man sich von derWahrnehmung „Gesicht“ – dass keinesist – lösen? Es ist unter Umständen nurschwer möglich. Obwohl man jetzt weiß,dass die Nase nicht das Gesicht ist.

Die visuelle Wahrnehmung wird imAllgemeinen nicht hinterfragt; das visuellWahrgenommene wird als objektiveWirklichkeit – Wahrheit – angenommen.Man geht davon aus, dass das, was man„sieht“, wahrnimmt für alle gleich ist. Esist davon auszugehen, dass aufgrund derevolutionären Entwicklung der Aufbaudes Gehirns und die Verarbeitungspro-zesse bei der Spezies Mensch identischsind. Es kann jedoch als gesichert ange-nommen werden, dass Menschen schonauf der Ebene der präkognitiven Phaseder Wahrnehmung unterschiedlich wahr-nehmen.

Auch gibt es Wahrnehmungen, dieganz ungewöhnlich sind. So gibt es Men-schen – Synästhetiker – die z. B. Geräu-sche nicht nur hören, sondern dabei auchFarben und Formen sehen. Oder definier-te Buchstaben haben bestimmte Farben.Das ist nur schwer verständlich, doch esist so.

Entsprechend sollte man mit dem Satz„das musst du doch genauso sehen“ sehrvorsichtig umgehen. So können auch dieArbeitsmaterialien in der Schule unter-schiedliche Empfindungen bei den Kin-dern auslösen. Bestimmte Lineaturen,Arbeitsblätter, Schrifttypen stellen fürdas eine Kind kein Problem dar; das andere ist irritiert, überfordert. Dies istim Sinne der Subjektivität der Wahrneh-mung sehr wohl möglich.

Zu bedenken gilt es auch, dass unserHandeln im Allgemeinen aus sehr vielenEinzelleistungen zusammengesetzt ist.Sie bestehen aus unbewussten und be-wussten Anteilen. Die unbewussten An-teile laufen automatisiert ab; z. B. beimSprechen: Lippen- und Zungenbewegun-gen, Luftholen geschieht unbewusst, au-tomatisch. Bewusst ist das, was gesagtwerden soll.

Probleme können entstehen, wennAnteile, die unbewusst ablaufen, nochnicht voll automatisiert sind. Funktioniertz. B. beim Schreiben die Finger- und Stift-haltung noch nicht automatisch, gehtAufmerksamkeit verloren, die für das Ein-halten von Linien, richtig und schön zuschreiben erforderlich wäre.

Funktionsstörungen

Dargestellt wurde bisher die normal ent-wickelte Wahrnehmung. Ungleich schwe-rer wird es, wenn z. B. ein oder mehrereProzesse der präkognitiven Phase der

Wahrnehmung nicht voll funktionstüch-tig sind. Das kann ganz gravierende Aus-wirkungen im schulischen Alltag und aufdas gesamte Leben haben. Diese Kinderbenötigen im Allgemeinen eine außer-schulische Betreuung.

Zusammenfassend ist wichtig: wirdgeäußert, man „sieht“ etwas, darf dasnicht mit den Augenfunktionen gleich-setzt werden. „Gesehen“ wird nur das,was man kennt, weiß – was gelernt wur-de. Das Reizmuster der Netzhaut enthältkeine bedeutungshaften und verläss -lichen Hinweise über die Umwelt. Diepräkognitive Phase der visuellen Wahr-nehmung ist die Grundvoraussetzung füreine schnelle stabile und einheitlicheWahrnehmung. Wird z. B. ein „b“ nichtals „b“ erkannt, kann diese Fehlwahrneh-mung nicht über das Wissen korrigiertwerden. Handelt es sich um eine Funk -tionsstörung, bedarf es einer entspre-chenden Therapie.

Besseres Verständnis

Lässt man sein Wissen über die Welt Revue passieren, ist mit Sicherheit nichtalles ganz verständlich. So existieren z. B. kosmische Entfernungen oder einegekrümmte Raumzeit. Beides ist nurschwer vorstellbar. Was im Detail im Autopassiert, wenn man den Schlüssel imZündschloss umdreht, weiß man im All-gemeinen nicht; man weiß nur, dass esdann fährt.

Und so ist es unter Umständen nichtverständlich, warum ein Kind ein „b“ voneinem „d“ nicht unterscheiden kann, Probleme beim Einhalten von Linien undRechenkästen hat. Oder sagt, es ist alleszu klein – obwohl das Sehen im Sinne vonAugenfunktionen belastungsfrei funktio-niert. Doch es kann so sein! Mit diesemAnerkennen ist ein besseres Verständnisfür Kinder möglich. Man kann sie stärken– ihnen Hilfestellungen an die Hand ge-ben, die den schulischen Alltag und dasLeben erleichtern.

Passend zum Thema ist ein Gedankevon Otto Fürst von Bismarck

„Verfallen wir nicht in den Fehler, beijedem Andersmeinenden entweder anseinem Verstand oder an seinem gutenWillen zu zweifeln.“

In diesem Sinne gilt es die Äußerun-gen, Handlungen der Kinder wahrzuneh-men und zu akzeptieren. n

Hilke Oberländer, Hamburg

Abb. 3: „Sehen“ muss gelernt werden.

Abb. 4: Das Ge-dächtnis vermitteltden Eindruck einesGesichts, tatsäch-lich handelt es sichaber um eine Nase.