Alte Häuser – alte Hasen

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    Alte Häuser – alte Hasen

    In sehr vielen deutschen Städten stehen sie, liebevoll restauriert: die Altbauten.Manche stehen unter Denkmalschutz. Ihre Sanierung erfordert einiges Fach-Know-how. Unter den Altbausanierern gibt es viele alte Hasen.

    Sprecher:Wilhelm von Humboldt, der ältere Bruder des berühmten Forschungsreisenden Alexandervon Humboldt, war ein großer Sprachgelehrter. Viele seiner Erkenntnisse gelten noch

    immer. So seine Beobachtung aus dem Jahre 1830, dass sprachliche Neuerungen häufigmit dem Aufkommen neuer Berufe zusammenhängen. Die moderne Soziolinguistikmachte daraus den Grundsatz "Neue Wörter antworten auf neue Dinge und Sachverhalte"wie neue Berufe auf neue gesellschaftliche Herausforderungen. Mit einem dieser Berufewollen wir uns heute beschäftigen. Es ist der Beruf des Altbausanierers.

    Sprecherin:Wie es zum Beruf des Altbausanierers kam, lässt sich genau rekonstruieren. DenGrundstein legte der Europarat, als er die Parole "Eine Zukunft für unsere Vergangenheit"ausgab und das europäische Denkmalschutzjahr 1975 proklamierte. Ziel dieser Initiativewar es, die fast überall vom Untergang bedrohten historischen Altstädte zu retten und die

    kulturell wertvolle Bausubstanz neu und sinnvoll zu nutzen. Heftige Auseinandersetzungengab es um die Frage, wie alt ein Haus sein muss, um als schützenswerter Altbau oder garals Baudenkmal angesehen zu werden. In Deutschland verständigte man sich auf dasJahr 1910 als Grenze. Als Modell diente dabei die niedersächsische Stadt Oldenburg,deren historischer Kern nur wenige Kriegsschäden davongetragen hatte, jetzt aber dengestiegenen Ansprüchen der Wohnungssuchenden nicht mehr genügte. Aus Oldenburgkommt auch unser Sprachzeuge Peter Niemeyer.

    Sprecherin:Peter Niemeyer ist auf die Sanierung von Bauten aus der Jahrhundertwende spezialisiert.Wie er begann, wird er uns gleich erzählen.

    Peter Niemeyer:"Es gab vor Jahren wenig Leute, die sich an Altbauten heranmachten, man riss lieberAltbauten ab und baute neu, wahrscheinlich auch, weil man sehr viel mehr Geld verdienenkonnte. Und ich bin dann hier in Oldenburg einer der wenigen und einer auch der erstenmit gewesen, die Altbauten gekauft haben, die Altbautenkernsaniert haben, in der Weise,dass man nur noch die Außenmauern stehen ließ. Man hat die ganzen Innereienrausgezogen, hat neue Decken eingegossen."

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    Sprecher:Wer Kernobst essen will, beispielsweise einen Apfel, tut aus gesundheitlichen Gründengut daran, zunächst das Kerngehäuse herauszunehmen, den Apfel zu entkernen. InAnalogie dazu sprechen auch die Altbausanierer von der Entkernung eines Gebäudes.Drastischer ist ein anderes Bild, das unser Gewährsmann zur Umschreibung des BegriffesKernsanierung verwendet: Dem alten Haus werden die Innereien herausgezogen.Unter Innereien verstehen wir eigentlich die Eingeweide des Schlachtviehs. So kann mandenn für entkernen  oder kernsanieren  auch ausschlachten  sagen. Bevor ein verfallenderAltbau wiederhergestellt werden kann, muss er zunächst einmal die Tortur des

    Ausschlachtens über sich ergehen lassen.

    Sprecherin:Jagdinstinkt gehört auch zum Beruf des Altbausanierers, denn bevor er sanieren kann,muss er zunächst einmal akquirieren, das heißt Gebäude ausfindig machen und erwerben,bei denen sich die Wiederherstellung auch lohnt. In der hemdsärmeligen Sprache derBaubranche nennt man diesen Vorgang ein Objekt aufreißen .

    Peter Niemeyer:"Es ist bei uns so, dass wir Objekte versuchen aufzureißen in der Weise, dass wir hier inOldenburg oder Umgebung eben planquadratmäßig vorgehen, indem wir uns die

    Altbausubstanz des Ortes anschauen und dann feststellen, an dem Haus muss also 'neMenge gemacht werden und die jetzigen Eigentümer sind wahrscheinlich finanziell nicht inder Lage, das zu tun, und dann gehen wir in der Weise vor, dass wir unsern Notarbeauftragen, mal ins Grundbuch zu gucken und dann stellen wir sehr schnell fest, wer derEigentümer ist."

    Sprecher:Ein Wort zu zwei Wörter: Zu dem Verbum gucken  und zu dem Adverbplanquadratmäßig . Die Nachsilbe –mäßig  hat das Deutsche wie ein Schimmelpilzbefallen, klagte schon vor zwei Jahrzehnten ein namhafter deutscher Kritiker. Man magdas unter mehr literarischen Gesichtspunkten bedauern, für das Geschäftsleben aberbringt die beanstandete Nachsilbe einigen Vorteil, denn sie erlaubt es, gewisse –hauptsächlich technische Informationen – sprachlich abzukürzen. Mit dem guten altenZeitwort gucken  hingegen geht es langsam, aber sicher bergab. Zwar kann es sich in derUmgangssprache noch einigermaßen gegen die sinnverwandten sehen , schauen  undblicken  behaupten. Aus der Schriftsprache aber wird es immer stärker verdrängt 

    Sprecherin:Das gilt natürlich nicht für alteingeführte Redensarten, etwa die Wendung in die Röhregucken . Als Röhre  bezeichnen die Jäger den Dachsbau. Dieser Bau ist meistens so eng,dass selbst ein Dachshund, ein Dackel nicht hineinkriechen, sondern nur in die Röhre

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    gucken  kann. Hund und Jäger haben dabei das Nachsehen. Sie gehen beide leer aus.Ein dummes Gefühl. Unser Altbausanierer weiß ein Lied davon zu singen.

    Peter Niemeyer:"Uns gehen  natürlich auf viele Objekte durch die Lappen , weil wir das Interesse desEigentümers gar nicht befriedigen können. Der will dann durch die Bank 'ne Wohnung imHause behalten, will zusätzlich noch sehr viel Geld bekommen, will sich an denSanierungsaufwendungen nicht beteiligen, und das ist dann sehr schwierig und, ja, dannsind wir eben durchgefallen."

    Sprecher:Noch einmal serviert uns hier Peter Niemeyer einen weidmännischen Ausdruck, den heutefreilich kaum noch einer mit der Jägersprache in die Verbindung bringt. Es ist dieRedewendung durch die Lappen gehen . Früher versuchte man bei der Treibjagd demaufgescheuchten Wild die Fluchtwege durch bunte Tuchfetzen, die so genannten Lappen,zu verstellen. Ein Tier, dem es dennoch gelang, mit heiler Haut davon zu kommen, wardann eben durch die Lappen gegangen  und der Jäger musste in die Röhre gucken . Beider Jagd auf Altbauten sind es allerdings nicht nur die Hausbesitzer, diedurch die Bank,das heißt ohne Ausnahme, zu viel verlangen und dadurch oftmals die Sanierung vonGebäuden vereiteln. In vielen deutschen Großstädten haben dabei auch die Hausbesetzer

    ihre Finger im Spiel.

    Sprecherin:Die Hausbesetzerszene entstand kurz nach dem europäischen Denkmalschutzjahr 1975,dem auch die Altbausanierer ihre Existenz verdanken. Die Mitglieder der Szeneentstammen den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten, sind hier Asoziale, daMittellose, dort Studenten oder ideologische Feinde allen Eigentums. Die Taktik derHausbesetzer ist einfach und fast überall gleich. Auch sie gehen planquadratmäßig vor,ermitteln leer stehende Häuser, darunter oft Altbauten und nisten sich für eine kürzereoder längere Zeitspanne ein. Vor mehreren Jahren gaben sie sich die Devise "LieberInstandbesetzen  als Kaputtbesitzen". Das zielte eindeutig auf Hausbesitzer undAltbausanierer. Welche Erfahrung hat unser Gewährsmann mit den Hausbesetzern?

    Peter Niemeyer:"Die Szene gibt es natürlich allerorten. Das sind die Instandbesetzer, so bezeichnen siesich. Die wollen also mit ihren eigenen Mitteln die Häuser in Ordnung bringen, was ihnenaber nie gelingt, ja, wir sagen, das sind die Kaputtbesitzer. Die machen nämlich wirklichalles kaputt und wenn sie dann in die Wohnungen reinkommen, dann stellen Se fest, dasieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Alles dreckig, ja, da liegen die Klamottenungewaschen seit Jahrenden ungefähr rum, da muss die Polizei kommen und zur Not hat

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    man das Glück, dass die denen dann zeigt, wo der Zimmermann das Loch gelassenhat."

    Sprecher.Mit dieser Aussage allein ließe sich ein kleiner idiomatischer Grundkurs imFachalltagsdeutsch bestreiten. Dass Klamotten seit Jahrenden und nicht nur seit Jahrenungewaschen herumliegen, notieren wir als einen typisch oldenburgischen, alsoplattdeutschen Plural. Bei der Redensart, die auf den Beruf des Zimmermanns anspielt,können wir uns kurz fassen. Jemandem zeigen, wo der Zimmermann das Loch

    gelassen hat, bedeutet ganz einfach, jemandem die Tür weisen , ihn vor die Tür setzen .Befremdlich aber ist das Bild vom Sofa der Familie Hempel. Das bedarf dringend derDeutung. Unsere Reporterin ist der Sache nachgegangen und auf einen Brief von LorenzHagenbeck gestoßen. Lorenz war der Sohn von Carl Hagenbeck, der, bevor er denTierpark Stellingen bei Hamburg begründete, lange Jahre mit seinem Zirkus durch dieLande zog. Lorenz Hagenbeck schreibt:

    Sprecherin:"Die Artisten in aller Welt haben eine besonders hohe Meinung von Moral, Ordnung undSauberkeit. Überall, wo wir mit unserem Zirkus erschienen, fanden wir daher vorbildlicheVerhältnisse einer Gemeinschaft von Varieté- und Zirkuskünstlern. Nur einmal, um die

    Jahrhundertwende, tanzte ein Budenbesitzer namens Hempe l aus der Reihe, da erregelmäßig Müll und andere Abfälle einfach unter seinen Wohnwagen kehrte. Es gelanguns schnell, ihn nach vergeblichen Ermahnungen des Geländes zu verweisen. Was vonihm übrig blieb, war die Redensart 'Bei euch sieht's ja aus wie bei Hempels untermWohnwagen'."

    Sprecher:Die Pointe sprach sich herum, war bald ein geflügeltes Wort und erfuhr nur eineunbedeutende Abänderung. Da seinerzeit nur wenige einen Wohnwagen, die meistenaber ein Sofa besaßen, verlegte die Redensart den ordnungswidrigen Schuttabladeplatzkurzerhand unter das hochbeinige Sitz- und Liegemöbel. Dass es in den europäischenAltstädten nicht mehr aussieht wie bei Hempels unterm Sofa , haben wir auch dem Berufdes Altbausanierers zu verdanken.

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    Fragen zum Text

    In Deutschland gilt ein Haus als Baudenkmal, wenn es …1. vor 1910 gebaut wurde.2. nach 1910 gebaut wurde.3. nach dem Zweiten Weltkrieg entstand.

    Peter Niemeyer sagt, er habe sich an Altbauten herangemacht . Das bedeutet: …1. Er hat sich für sie interessiert, um sie zu kaufen.

    2. Er hat sie verkauft.3. Er hat die Altbauten beobachtet.

    Wenn jemandem etwas durch die Lappen geht , dann …1. hat jemand Erfolg mit etwas.2. entgeht jemandem etwas.3. entkommt ein Tier.

    ArbeitsauftragJemand guckt in die Röhre   – etwas geht einem durch die Lappen : Nur zwei

    Redewendungen aus der Jägersprache im Deutschen. Suchen Sie weitere und erklärenSie deren Bedeutung. 

    Autor: Franz-Josef MichelsRedaktion: Beatrice Warken