Altersmythos: Infektionshäufigkeit im Pflegeheim · Das Angebot ist vielmehr aus dem Bewusstsein...

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Altersmythos: Infektionshäufigkeit im Pflegeheim Altersmythos Gebrechliche Betagte mit Multivitamin-Mineralien-Supplementation erleiden weniger Infektionen. Wirklichkeit Die Gabe von Multivitamin-Mineralien-Supplementation generell an PflegeheimpatientInnen schützt nicht vor Infektionen, höchstens nicht Demente profitieren möglicherweise. Begründung 848 durchschnittlich 85 + 8 Jahre alte Bewohnende von 21 kanadischen Pflegeheimen erhielten wäh- rend 1½ Jahren randomisiert entweder Placebo oder ein Multivitaminpräparat (mit 400 U Vitamin A, 160 U Vitamin D, 74 U Vitamin E, 80 mg Vitamin C, 2,2 mg Thiamin, 5,1 mg Riboflavin, 16 mg Niacin, 3 mg Vitamin B6, 4 μg Vitamin B 12, 400 μg Folate, 200 mg Calcium, 100 mg Magnesium, 16 mg Ei- sen, 200 μg Jod, 14 mg Zink, 1,4 mg Kupfer, 20 μg Selen; das heisst 16 - 200% des empfohlenen Tagesbedarfes). - Es ergaben sich 3,8 resp. 3,5 Infektionen pro 1000 Pflegetage (OR = 0,92, 95% CI 0,82 bis 1,03,p = 0,12) in der Placebo-, resp. Vitamingruppe. - Keine signifikanten Unterschiede fanden sich in der multivarianten Analyse für Antibiotika- gebrauch und Hospitalisation. - Personen ohne Demenz zeigten mehr Infektionen als solche mit Demenz (OR = 1,44, 95% CI 1,2 bis 1,8) und hatten in einer Post-hoc-Analyse weniger Infekte unter Vitaminsupplementati- on als unter Placebo (relatives Risiko 0,81, 95% CI 0,66 bis 0,99) Liu B. A. et al: Effect of Multivitamin and Mineralsupplementation and Episodes of Infection in nursing home Residents: A ran- domized placebo-controlled study. J Am Geriatr Soc 55: 35 - 42, 2007 Altersmythos: Schlafmittelverordnungen Altersmythos Das Verordnen von problematischen Schlafmitteln lässt sich kaum verändern. Wirklichkeit Mit automatisierten Warnungen lässt sich das Verordnen von problematischen Schlafmitteln im Akut- spital starkt qualitativ und quantitativ beeinflussen. Begründung Die Verordnung von Schlafmitteln wurde während 2 Jahren an einem Universitätsspital mit 944 Betten in den USA untersucht. Nach einem Jahr erschien bei jeder Schlafmittelverordnung für Betagte auto- matisch eine Warnung auf dem Screen und empfahl, warme Milch oder Kräuterteee als Mittel erster Wahl und Trazodon (Trittico®) oder Lorazepan (Temesta®) als Mittel zweiter Wahl. - Vor dem Eintritt war für 18% der durchschnittlich 76 + 8-Jährigen ein Schlafmittel verordnet gewesen. - Vor der Intervention wurde 20% der Eingetretenen in den ersten 7 Tagen ein Schlafmittel ver- ordnet, am Ende der Intervention 13% (d.h. Reduktion um 35%, p < 0,001). - Initial erhielten 14% Lorazepan, 3% Trazodon und 2% Diphenylhydramin (ein sedierendes An- tiallergikum mit Delirgefahr), am Ende der Intervention waren dies 7%, 5% und 1% (p < 0,001). - 1,4% haben neu zum Einschlafen warme Milch oder Kräutertee verordnet bekommen. Agostini J. V. et al: Use of a Computer-Based-Reminder to improve sedative-hypnotic prescribing in older hospitalized patients. J AM Geriatr Soc 55: 43 - 48; 2007

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Altersmythos: Infektionshäufigkeit im Pflegeheim

AltersmythosGebrechliche Betagte mit Multivitamin-Mineralien-Supplementation erleiden weniger Infektionen.

WirklichkeitDie Gabe von Multivitamin-Mineralien-Supplementation generell an PflegeheimpatientInnen schütztnicht vor Infektionen, höchstens nicht Demente profitieren möglicherweise.

Begründung848 durchschnittlich 85 + 8 Jahre alte Bewohnende von 21 kanadischen Pflegeheimen erhielten wäh-rend 1½ Jahren randomisiert entweder Placebo oder ein Multivitaminpräparat (mit 400 U Vitamin A,160 U Vitamin D, 74 U Vitamin E, 80 mg Vitamin C, 2,2 mg Thiamin, 5,1 mg Riboflavin, 16 mg Niacin,3 mg Vitamin B6, 4 μg Vitamin B 12, 400 μg Folate, 200 mg Calcium, 100 mg Magnesium, 16 mg Ei-sen, 200 μg Jod, 14 mg Zink, 1,4 mg Kupfer, 20 μg Selen; das heisst 16 - 200% des empfohlenenTagesbedarfes).

- Es ergaben sich 3,8 resp. 3,5 Infektionen pro 1000 Pflegetage (OR = 0,92, 95% CI 0,82 bis1,03,p = 0,12) in der Placebo-, resp. Vitamingruppe.

- Keine signifikanten Unterschiede fanden sich in der multivarianten Analyse für Antibiotika-gebrauch und Hospitalisation.

- Personen ohne Demenz zeigten mehr Infektionen als solche mit Demenz (OR = 1,44, 95% CI1,2 bis 1,8) und hatten in einer Post-hoc-Analyse weniger Infekte unter Vitaminsupplementati-on als unter Placebo (relatives Risiko 0,81, 95% CI 0,66 bis 0,99)

Liu B. A. et al: Effect of Multivitamin and Mineralsupplementation and Episodes of Infection in nursing home Residents: A ran-domized placebo-controlled study. J Am Geriatr Soc 55: 35 - 42, 2007

Altersmythos: Schlafmittelverordnungen

AltersmythosDas Verordnen von problematischen Schlafmitteln lässt sich kaum verändern.

WirklichkeitMit automatisierten Warnungen lässt sich das Verordnen von problematischen Schlafmitteln im Akut-spital starkt qualitativ und quantitativ beeinflussen.

BegründungDie Verordnung von Schlafmitteln wurde während 2 Jahren an einem Universitätsspital mit 944 Bettenin den USA untersucht. Nach einem Jahr erschien bei jeder Schlafmittelverordnung für Betagte auto-matisch eine Warnung auf dem Screen und empfahl, warme Milch oder Kräuterteee als Mittel ersterWahl und Trazodon (Trittico®) oder Lorazepan (Temesta®) als Mittel zweiter Wahl.

- Vor dem Eintritt war für 18% der durchschnittlich 76 + 8-Jährigen ein Schlafmittel verordnetgewesen.

- Vor der Intervention wurde 20% der Eingetretenen in den ersten 7 Tagen ein Schlafmittel ver-ordnet, am Ende der Intervention 13% (d.h. Reduktion um 35%, p < 0,001).

- Initial erhielten 14% Lorazepan, 3% Trazodon und 2% Diphenylhydramin (ein sedierendes An-tiallergikum mit Delirgefahr), am Ende der Intervention waren dies 7%, 5% und 1% (p <0,001).

- 1,4% haben neu zum Einschlafen warme Milch oder Kräutertee verordnet bekommen.

Agostini J. V. et al: Use of a Computer-Based-Reminder to improve sedative-hypnotic prescribing in older hospitalized patients.J AM Geriatr Soc 55: 43 - 48; 2007

Altersmythos: Hilfsbedürftigkeit im Alter

AltersmythosAuch im hohen Alter sind es Krankheiten und Funktionsstörungen, die zum Verlust der Selbstständig-keit führen.

WirklichkeitAuch im Alter von über 80 Jahren beeinflussen neben Funktionsstörungen körperliche und psychischeKrankheiten sowie soziale Faktoren das Risiko, die Selbstständigkeit zu verlieren. Der stärkste Ein-fluss übt der Schutzfaktor «enge Freundschaft» mit einer nicht verwandten Person aus.

BegründungIn der SWILOO-Studie, der Schweizer Interdisziplinären Longitudinalen Studie der ältesten Alten imWallis und in Genf, in der 306 80-84-Jährige während 5 Jahren jährlich untersucht und ihre Selbst-ständigkeit ohne Schwierigkeiten in den 8 Funktionen Toilette benützen, ankleiden, essen, aufstehenund zu Bett gehen, umhergehen in der Wohnung, Treppen steigen, 200 Meter gehen und spazierenbeurteilt wurden.

Das Durchschnittsalter initial betrug 81,8 Jahre, 48% waren Frauen, 42% Mittel- oder Ober-schicht, 52% lebten mit Ehepartner und 73% hatten eine Freundschaft.

Innert 5 Jahren starben 26% und in der 5. Untersuchung konnten noch 164 Personen befragtwerden.

Initial waren 64% in allen 8 Funktionen selbständig. In den folgenden Jahren waren es 58%,56%, 53% und nach 5 Jahren noch 45%.

In der logistischen Regressionsanalyse waren folgende Faktoren mit dem möglichst langenund umfassenden Erhalt der Selbstständigkeit signifikant assoziiert (Angaben als Odd-Ratio):- Alter 0,88- Funktionelle Gesundheit 0,858- Körperliche Krankheiten 0,74- Depressive Symptome 0,88- Mindestens eine enge Freundschaft 1,58- Kontakt mit Familienmitgliedern ausserhalb des Haushalts 1,12.

Bei Kontrolle für diese 6 Faktoren hatten folgende Befunde keinen Einfluss auf die Selbstständig-keit: Geschlecht, Zusammenleben mit Lebenspartner, ein Kind haben, ein lebendes Geschwisterhaben, Häufigkeit von sozialen Kontakten zu Familienmitgliedern und Freunden, Schichtangehö-rigkeit.

Tim S. et al: The Impact of Social Relationships on The Maintenance of The Independence in Advanced Old Age: Findings of aSwiss Longitudinal Study. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 38: 2003-2004, 2005.

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Vorwort

von Robert NeukommVorsteher Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich

Albert Wettstein ist sechzig. Als Chefarzt des Stadtärztlichen Dienstes Zürich, als den ich ihninsbesondere kenne, ist er ein Mensch voller Empathie und Menschenliebe, voller Tatendrang und„Power“. Wer ihn auch nur ein bisschen kennt, weiss, dass das Symposium „Empowerment im Alter“

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keineswegs ihm persönlich galt, sondern vielmehr den älteren Menschen im allgemeinen und ganzbesonders in unserer Stadt, denen er seit Jahrzehnten eben diese persönliche „Power“widmet. Sehrherzlichen Dank an Albert Wettstein, für seine diesbezügliche Arbeit und sein unermüdlichesEngagement!

Das zunehmende Alter ist in der Regel geprägt von häufiger und vielfältiger werdenden Gebrestenund Krankheiten, die nicht mehr - oder mindestens nicht mehr ganz - geheilt werden können. Zu Rechtfürchten sich deshalb viele Menschen vor dem Alter, denn solche Krankheiten führen häufig zu dreiBürden: Leid (zum Beispiel Schmerz, Angst, Einsamkeit und Langeweile) Eingeschränkte Autonomie (vor allem Funktionseinbussen bei Alltagsaktivitäten, wie zum Beispiel

bei der Mobilität) Soziale Einschränkungen (zum Beispiel Beziehungsverlust)

Diese Fakten werden sehr gerne verdrängt, nicht nur vom Individuum, sondern noch viel mehr imöffentlichen Leben und in der Politik. Ein Blick in unsere Medien genügt um dies festzustellen: Inpeppigen Fernsehsendungen und süffig geschriebenen Zeitungsartikeln werden die neustenErrungenschaften der Spitzenmedizin und der Spitzenpharmazeutik ausgebreitet, ja gefeiert. Als ob esden sagenhaften „Jungbrunnen“demnächst wirklich geben würde! Und Politikerinnen und Politikerpräsentieren sich oft lieber bei der Einweihung eines neuen Magnetresonanztomographen als bei derEröffnung einer neuen Geriatrieeinrichtung! (Womit ich nichts, aber auch gar nichts gegen dieSpitzenmedizin gesagt habe. Sie braucht es genauso wie die Anstrengungen für ein „Empowermentim Alter“.)

Darum ist es ein umso grösseres Mitverdienst von Albert Wettstein, dass die Stadt Zürich heute einenausgezeichneten Ruf in Sachen Alterspolitik wie in Sachen Alterseinrichtungen geniesst. IhrePflegeeinrichtungen (medizinisch geleitet vom Stadtärztlichen Dienst) brauchen schweizweit, javielleicht sogar weltweit, quantitativ wie qualitativ keinen Vergleich zu scheuen. Die Klinik fürAkutgeriatrie am Stadtspital Waid geniesst in Fachkreisen wie im Volk grosses Ansehen. Und dieunzähligen ambulanten Angebote und Kurse, die sich „Empowerment im Alter“ auf die Fahnegeschrieben haben, werden von unserer älteren Bevölkerung fleissig und gerne genutzt.

Nicht dass es in solchen Belangen nicht noch viel zu tun gäbe: Die Stadt Zürich beziehungsweise ihrGesundheits- und Umweltdepartement ist in diesen Monaten daran, die Strategien für dieGesundheitsförderung und die Gesundheitsversorgung insbesondere älterer polymorbider Menschenneu zu justieren und auszurichten. Ohne die Details hier schon verraten zu wollen: Im Zentrum wirdder Grundsatz „ambulant vor stationär“stehen, wohlwissend, dass ältere Menschen so lange wieimmer möglich in ihrem bisherigen Zuhause leben und bleiben wollen.

Den Exponenten von Universität und Forschung sei eines noch speziell ans Herz gelegt. DieUniversität Zürich braucht endlich einen Lehrstuhl für Geriatrie, und zwar einen, der unmittelbar amälteren Menschen forscht und lehrt. Das Angebot der Stadt Zürich, die dazu nötige universitäre Klinikam Waidspital einzurichten, steht nach wie vor. Der Stadt Zürich geht es dabei nicht ums Prestige.Das Angebot ist vielmehr aus dem Bewusstsein heraus entstanden, dass die Geriatrie für unseregealterte Gesellschaft zentral ist und dass es wichtig wäre, das Ansehen der Geriatrie gegenüberanderen medizinischen Disziplinen weiter anzuheben.

Robert NeukommStadtrat

1 Symposium "Empowerment im Alter" vom 28.11.2006 im Kongressformum Stadtspital Waid, Zürich, mitVorträgen von Dr. med. Ulrich Gabathuler, Dr. med. Daniel Grob, Prof. Dr. Daniel Hell, Prof. Dr. AndreasKruse, Kurt Meier

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Empowerment - Sicht eines Kantonsarztes

von Ulrich Gabathuler1

Referat am Jubiläums-Symposium Albert Wettstein(Modifizierter Text)

Empowerment ist ein schillernder Begriff. Nachfolgend möchte ich das Farbenspiel desBegriffes im Allgemeinen wie im medizinischen Umfeld betrachten.

Schon eine wörtliche Annäherung zeigt wichtige Elemente des Verständnisses auf. Power als Machtund Kraft assoziiert in unserer Nach-68iger Generation (Babyboomer) jugendliche Erinnerungen anflower power oder black power; das gefällt, da sagen wir es. Eine andere Bedeutung von power,nämlich Fähigkeit, rückt den Begriff aber doch weg davon und hin zu einer inhaltlicheren Aussage, dieRichtung bleibt aber offen, fähig wofür? Die Vorsilbe Em- legt die Richtung fest durch die BedeutungGeben, Weggeben. Es geht also um Fähigkeit, welche hier durch Vermittlung von Wissen durchExperten weg- oder besser gesagt abgegeben wird. Im Deutschen kommt die ÜbersetzungBefähigung am nächsten, wobei hier schon deutlich hervorsticht, dass es um eine Person geht,welche fähig wird bzw. werden soll. Aber auch andere Übersetzungen wie Ermächtigung oder auchErmutigung - wobei beim letzteren kein Lerninhalt mit eingeschlossen ist - zeigen diesen Inhalt.Hingegen greift das Wort Bemächtigung nun den Machtaspekt im Sinne der Power als Macht, welchean sich zu reissen ist, auf; da ist nichts drin von Geben und Befähigen.

Empowerment wurde anfangs der 80iger Jahre zuerst in der Psychologie durch Julian Rappaport indie wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Dabei ging es um die Betrachtungsweise derWohlfahrtssysteme, welche die Subjekte als „Kinder in Not“sehen und deshalb sich schützend vor siestellen. Dem wurde das autonome Subjekt „Bürger mit Recht“entgegengestellt. Darauf abgestützt hater in der sozialen Arbeit das Konzept des Empowerments entwickelt, welches den Bürger zur Nutzungseiner Rechte befähigen soll. In den Umkreis der Medizin kommt der Begriff über dieGesundheitsförderung, die Ottowa-Charta von 1986. Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess,allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und siedamit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Durch diesen Eingang in die Medizin und weiterenbefruchtenden Anstoss durch Antonovsky (siehe weiter unten) mit dem Konzept der Salutogenese,d.h. im medizinischen Kontext die Stärkung der gesunden Kräfte bei der Behandlung eines krankenMenschen, wird seit den 90iger Jahren Empowerment auch in unserem Fach diskutiert.Es braucht begünstigende Umweltbedingungen, dass Empowerment doch auf fruchtbaren Boden fällt.Im gesellschaftlichen Kontext sind dies verschiedene, hier nicht abschliessend genannte Faktoren:

In den letzten Jahrzehnten mit der zunehmenden Individualisierung haben sich traditionelleüber Generationen gespannte Netzwerke wie Familie oder Vereine, aber auch die frühereDorfgemeinschaft zumindest stark relativiert oder gar aufgelöst. Neue, häufig horizontalorientierte Netzwerke sind nur teilweise entstanden, dementsprechend haben institutionelleBeratungs- und Selbsthilfestellen an Wichtigkeit gewonnen.

Die Rolle des Staates als Fürsorger, welcher die Pflicht der Sicherstellung des Lebens seinerBürgerinnen und Bürger generell wahrzunehmen hat (und damit natürlich das Lebendefinieren muss), und dem Staat als Solidargemeinschaft durchaus im Sinne derVersicherung, welche für Ausnahmeereignisse die Bürgerin bzw. den Bürger schützen will.Beim letzteren Verständnis kann die selbstverantwortliche Rolle weiter gewichtet werden z.B.durch Bonus/Malussysteme. In dieser Spannung unterschiedlicher Sichtweisen eines Staatesmuss auch die an und für sich von niemandem bestrittene Rolle des Staates als ordnendeHand (mit Gewaltmonopol) in unserem Zusammenleben immer wieder korrigierend festgelegtwerden.

Die starke Betonung des Rechtsanspruches, ohne gleichzeitig die Waage zu halten zurPflichterfüllung, hat zunehmend einer fordernden Haltung für Freiheiten ohne die damitzwingend verbundene Pflicht zur Wahrung der Freiheit Platz gemacht.

Mit der zunehmenden Spezialisierung der Arbeit und deren zunehmenden Komplexität ist inden letzten Jahrzehnten eine noch nie dagewesene Bildungsstärke in der Bevölkerungeingetreten. Parallel dazu ist aber nicht – wie eigentlich von einer Aufklärungssicht her zuerwarten gewesen wäre – der selbstverantwortende Umgang mit der Freiheit z.B. in Sachen

1 Dr. med Ulrich Gabathuler, Kantonsarzt, Kanton Zürich

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Risiko gestärkt worden, die staatliche Reglementierungsdichte hat sich faktisch parallel zurzunehmenden Bildungsstärke verdichtet und die Abdeckung von Risiken werden an den Staatdelegiert, welcher gegenteilig aber als allmächtige, anonyme Bedrohung empfunden wird.

Die klassische politische Bühne des selbstbewussten Bürgers und der selbstbewusstenBürgerin hat einer medialen Marktbühne der Dienstleistungen Platz gemacht, wo die Bürgerinund der Bürger sich in einer eigentlich unfreien Rolle des Konsumenten wieder finden.

Im Umfeld der Medizin zeigen diese Veränderungen für ein Empowerment weitere, nichtabschliessend genannte Besonderheiten:

Die Grundbedürfnisse eines menschlichen Lebens wie Ernährung, Kleidung, Wohnraum undgesundheitliche Versorgung sind für jeden und jede gesichert; eine unabdingbareVoraussetzung für ein selbstbewusstes und selbstverantwortliches Leben.

Die moderne Medizin hat die früher dominierenden, schweren akuten und oft tödlichverlaufenden Erkrankungen wie Infektionen faktisch besiegt. Als Folge dieses Fortschrittesund der Lebensverlängerung sind zunehmend langsam verlaufende, chronischeErkrankungen in den Vordergrund getreten. Der Umgang mit Krankheit hat sich damit auchgeändert. Stand früher die erbarmungsvolle Pflege und Hilfe eines schwerkranken Menschen,so steht heute der Umgang mit der Krankheit im Alltag im Zentrum. Diese Entwicklung hatsich zuerst bei der Abspaltung der Invalidität von der Krankheit und in der Langzeitpsychiatriebemerkbar gemacht, wo man mit dem Begriff Hospitalismus die negative Seite derumfassenden, schützenden Hilfe umschrieb.

Auch in der Medizin hat das traditionelle Bild der Macht durch Wissen der Befähigung Platzgemacht, wie man sich das Wissen beschafft, welches für die Bewältigung der konkretenSituation notwendig ist. Das Management der Wissensbeschaffung ist damit heuteentscheidender in der Machtbeanspruchung als das Wissen selber.

Durch den beispiellosen technischen Aufschwung hat die Zahl der wählbaren Möglichkeiteneiner Bewältigung zugenommen.

Mit dem Konzept der Bewältigung hat sich die medizinische Sicht neben der Krankheit auchden vorhandenen gesunden Kräften öffnen müssen. Die Salutogenese als Stärkung dergesunden Kräfte spielt eine wesentliche Rolle; Verstehbarkeit, Handhabbarkeit undSinnhaftigkeit als Konzept zielt auf diese Stärkung ab (Antonovsky, 1991).

Umgelegt auf die Arbeit eines Kantonsarztes bedeuten die vorstehenden Überlegungen folgendes:

Im Kerngebiet der kantonsärztlichen Aufgabenerfüllung, nämlich in der Bekämpfunggemeinschaftsrelevanter, übertragbarer Krankheiten, steht das Verhältnis (bzw. dieVerhältnismässigkeit) des Gemeinschaftsschutzes zum Schutz eines Einzelnen sowie derordnenden Staatsgewalt zur Freiheit des Einzelnen im Vordergrund. Bei der Gefährdung vonMitmenschen durch die Inanspruchnahme einer Freiheit des Einzelnen, indem eine Abklärungbzw. Behandlung unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht verweigert wird, kann dasnicht akzeptiert werden (z.B. offene Tuberkulose). Auch Impfungen, welche nachweislichMitmenschen schützen und welche praktisch keine anhaltend beeinträchtigendenNebenwirkungen bewirken, können nicht unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrechtabgelehnt werden. Hier braucht es zwingend die Wahrnehmung einer Selbstverantwortungbzw. einer gemeinschaftlichen Verantwortung oder Verpflichtung.

Im Bewilligungswesen ergibt sich eine ähnliche Fragestellung. Der Staat soll aber nur mit demInstrument Verbot/Bewilligung aktiv dort eingreifen, wo die Eigenverantwortung nicht mehrwahrgenommen werden kann. Einfache Orientierungshilfen wie Titelschutz oder Qualitätslabelsind Instrumente für die Wahrnehmung der Eigenverantwortung.

Die Vermischung der Staatsrolle als Rahmensetzer und als Bildgestalter in Form einesDienstleisters ist problematisch. Der Staat soll die Fläche der Bildgestaltung durch dieSetzung eines klaren Rahmens festlegen, aber nicht noch selber malen.

Die Gesundheitsförderung, welche der Stärkung der Gesundheit dienen soll, steht in einemSpannungsverhältnis zur Prävention, welche spezifische Krankheiten verhindern will. DieDiskussion um Impfungen, aber auch um Bonus/Malus-Systeme, haben hier ihr Zuhause. Dietabellarische Darstellung soll dies verdeutlichen.

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VerhaltenAnsatz: individuell,personenorientiert

VerhältnisseAnsatz: strukturell,umweltbezogen

Prävention Information, Motivation,spezielleHandlungsangebote

Anreize, Lenkung,Gesetzgebung

Gesundheitsförderung Erhöhung derHandlungskompetenz

Verbesserung derLebensbedingungen

(Publikation „Ökonomischer Nutzen und Kosten populationsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung“ISPMZ 2004 imAuftrag der Gesundheitsdirektion, S.16)

Konkret können verschiedene Aktivitäten aufgezeigt werden, welche im Umfeld eines Empowermentsvon Bedeutung sind:

Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich (ISPMZ) ist im Auftrag derGesundheitsdirektion zuständig für die Koordination, Wissensvermittlung und Verstärkung derPrävention und Gesundheitsförderung. Die Arbeit beruht auf dem vom Regierungsratgenehmigten Suchtpräventionskonzept (1994) und dem Konzept für Prävention undGesundheitsförderung im Kanton Zürich (2004). Ausfluss dieser Konzeption sindbeispielsweise die laufende Kampagne ‚Ernährung Bewegung Entspannung’, dieSuchtpräventionsstellen, die Monitoringberichte über die Gesundheit der Zürcher Bevölkerung(2006) oder im Jahre 2007 ein Bericht über das Alter.

Das Patientinnen- und Patientengesetz greift viele Anliegen zur Ermöglichung desEmpowerments auf wie die Beachtung des Patientenwillens, die Aufklärungs- undDokumentationspflicht, die Einwilligung zu einer Behandlung sowie den geregelten Rechtswegbei freiheitseinschränkenden Massnahmen. Weiter soll das neue Gesundheitsgesetz, welchessich in der kantonsrätlichen Beratung befindet, im Bewilligungsbereich verstärkt die Freiheitund Eigenverantwortung gewichten.

Für ein Empowerement ist der Wechsel von Versorgung zur Beratung, die Schaffung bzw. der Erhaltdes Freiraumes wichtig; erst dieser Boden ermöglicht Selbstverantwortung und Selbstbestimmung.Dass Empowerment nicht Lobbying oder gar Pressing für Rechtsansprüche ohne Pflichtübernahmebzw. Konsumeinforderungen sein kann, muss auch klar sein. Der imperative Anspruch, dass allesnach dem eigenen Willen zu geschehen hat, ist nicht Sinnbild einer gereiften, eigenverantwortlichenPerson. Auch „Gut gejammert ist halb gewonnen“gehört nicht in ein solches Konzept, das Jammernrichtet sich an eine allumsorgende Autorität; hier hat (auch) die Medizin noch Aufgaben zu erfüllen.Die bissige Frage bleibt allerdings, wie denn in 20 und 30 Jahren die dannzumal junge Generation –Steuern zahlend, abstimmungsmässig nicht in der Mehrheit und nur z.T. unsere Nachkommen – miteinem Recht einfordernden Empowerment unserer Generation umgehen wird.

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Empowerment im Akutspital:Empower the Un-Empowerable?

von Daniel Grob1

Referat am Jubiläums-Symposium Albert Wettstein(Modifizierter Text)

Grundlagen –zum Empowerment-BegriffUnter "Empowerment" im Kontext der Gesundheitsförderung versteht man einen Prozess, durch denMenschen „eine grössere Kontrolle über die Entscheidungen und Handlungen gewinnen, die ihreGesundheit beeinflussen."

2.

Man unterscheidet individuelles und gemeinschaftsbezogenes Empowerment:

Ersteres steht im Akutspital im Zentrum, letzteres ist relevant z.B. in der gemeindenahen Sozialarbeit.Gemeinschaftsbezogenes Empowerment bezieht Individuen in gemeinschaftliches Handeln ein, damitsie mehr Einfluss und Kontrolle über die Determinanten der Gesundheit und die Lebensqualität in ihrerGemeinschaft gewinnen.

Individuelles Empowerment hingegen bezieht sich auf die Fähigkeit des Einzelnen, Entscheidungenzu treffen und die Kontrolle über das persönliche Leben zu haben. Im Zentrum der Empowerment-Strategie steht damit die Befähigung von Menschen zu selbstbestimmtem Handeln im Interesse ihrereigenen Gesundheit.

Empowerment anerkennt und fördert die Kompetenz und Mündigkeit eines Menschen. Empowerment-Prozesse werden nicht einfach von Professionellen durchgeführt und kontrolliert. Vielmehr geschehensie täglich mit unterschiedlichen Personen, Gruppen und Strukturen. Professionelle könnenEmpowerment-Prozesse jedoch anstossen, begleiten und unterstützen. Empowerment ist damit mehrals nur „Beratung“; es beginnt beim Verstehen des einzelnen Menschen in seiner derzeitigengesundheitlichen und allgemeinen Lebenssituation.

Empowerment-Prozesse und das moderne AkutspitalEmpowerment-Prozesse sind eingebettet in die individualisierten, patientenzentriertenBehandlungsprozesse. Sie sind interaktiv: Der oder die PatientIn sind einbezogen in dieEntscheidprozesse. Keinesfalls sind Empowerment-Strategien irgendwie geartete custodial-patriarchale Beratungsleistungen, in denen „von oben herab“dem Patienten etwas empfohlen wird.Sie sind vielmehr Ausdruck der gemeinsamen Suche nach einem (oft neuen) Weg in die Zukunft.

Folgende Voraussetzungen müssen prinzipiell im Akutspital erfüllt sein, dass dieser Prozessüberhaupt stattfinden kann:

1. Eine symmetrische, gleichwertige, respektvolle Beziehung zwischen Professionellen undPatientInnen.

2. Ein Zustand des Patienten, welcher prinzipiell eine Auseinandersetzung mit sich selberzulässt. Wie ist es mit dementen Menschen? Wie mit schwer kranken Menschen? Oft ist -gerade zu Beginn einer Hospitalisation - der/die PatientIn zu krank, um überhaupt an einerintensiven persönlichen Interaktion teilnehmen zu können.

3. Kenntnis des Patienten/der Patientin betr. Ressourcen (und Defizite) -> Nicht nur die Defizitedes Patienten (gesundheitliche, funktionelle) müssen bekannt sein, sondern ebenso seinegesunden Anteile (Ressourcen, auf denen man aufbauen kann).

4. Ein Spitalmilieu, welches Interaktionsprozesse zulässt: Offenheit der Mitarbeitenden, Zeit undRäume, eine bestimmte „Geisteshaltung“ des Behandlungsteams, welche von Toleranzgeprägt ist und offen für spezielle, individualisierte Lösungen.

1 Dr. med. Daniel Grob, Chefarzt Klinik für Akutgeriatrie, Stadtspital Waid,; Präsident SchweizerischeFachgesellschaft für Geriatrie2 WHO 1998 zitiert in: www.gesundheitsfoerderung.ch

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In der Klinik für Akutgeriatrie stellen sich die Probleme noch umfassender, da etwa die Hälfte derPatientinnen und Patienten bei Aufnahme mehr oder weniger kognitiv eingeschränkt ist; dies kannAusdruck einer bereits vorbestehenden dementiellen Erkrankung sein, Folge einer körperlichenErkrankung oder im Rahmen eines akuten Verwirrtheitszustandes.Zudem sind rund zwei Drittel unserer Patientinnen und Patienten alleinlebend und haben sehr variablebis manchmal fehlende Netze von Bezugspersonen. Dies sind manchmal Kinder, aber auchGeschwister resp. nahe stehende Bekannte und Freunde.Alle sind aber zu Beginn akut krank oder verunfallt und zunächst pflege- und hilfsbedürftig.

Das folgende Beispiel soll zeigen, dass - gerade im Akutspital - die Patientinnen und Patientenzunächst in einen Zustand zu bringen sind, welcher Empowerment-Prozesse überhaupt zulässt. Diessetzt gute Diagnostik und Therapie voraus und auch genügend Zeit, damit sich die hochbetagten,gebrechlichen Menschen erholen können.

BeispielDer 86-jährige, allein lebende Patient wurde im Juli 2006 nach Sturz und längerer Liegedauer zuHause notfallmässig in das Spital eingewiesen. Er wurde zunächst eine Woche auf einerinternistischen Klinik betreut.

Diese vorbehandelnde Klinik führte einen Test durch in Bezug auf kognitive Leistungsfähigkeit durch(Mini-Mental-Status, MMS), in dem der Patient 18 von max. möglichen 30 Punkten erreichte.

Aufgrund dieser Befunde wurde dann die Diagnose eines dementiellen Syndroms gestellt. Da zudemein hoher Pflegebedarf bestand (Barthel-Index 40 von maximal möglichen 100 Punkten), wurde eineEinweisung in ein Pflegeheim in Betracht gezogen. Da sich der Patient aber mehrfach dezidiert gegeneine Pflegeheimeinweisung aussprach, wurde ein Antrag auf Beistandschaft gestellt aufgrund „derfehlenden Krankheitseinsicht und der dementiellen Entwicklung“und der Patient dann in die Klinik fürAkutgeriatrie zur weiteren Behandlung überwiesen.

Bei Eintritt in unsere Klinik stand eine ausgeprägte Schwäche im Vordergrund und eine schwereUnterernährung (der Patient wog bei einer Körpergrösse von 160 cm noch 31.4 kg). An der Hautkonnten multiple, in Abheilung begriffene Schürfwunden festgestellt werden und es bestand eineausgeprägte Blutarmut.

In unserer Klinik erholte sich der Patient gut. Die im Verlauf durchgeführte Demenzabklärung inkl.bildgebendem Verfahren des Gehirns und neuropsychologischer Testung ergab die Diagnose eines"Mild Cognitive Impairment“, d.h. einer nur geringgradigen Beeinträchtigung der Kognition. DerMinimentalstatus betrug nun 27 von max. möglichen 30 Punkten. Retrospektiv ist davon auszugehen,dass die zu Beginn vermutete „Demenz“ lediglich Ausdruck eines passageren Delirs war. DerNeuropsychologin fiel auch auf, dass der Patient während mehr als eineinhalb Stunden motiviert undkooperativ mitarbeitete.

Nach insgesamt 7-wöchiger Hospitalisation betrug das Körpergewicht des Patienten 36.7 kg, er nahmalso in dieser Zeit über 5 kg Gewicht zu.Ein diffuser Hautpilz wurde mitbehandelt.Der Pflegebedarf war ebenfalls massiv rückläufig (der Barthel-Index stieg von 40 auf 90 Punkte).Weiterhin äusserte sich der Patient dezidiert gegen jegliche Pflegeheimeinweisung - die Option einerEntlassung erschien nun (im Gegensatz zum Zeitpunkt bei Aufnahme in unsere Klinik) aber durchausdenkbar im Hinblick auf den nur noch sehr marginal vorliegenden Pflegebedarf und die sich guterholte kognitive Leistungsfähigkeit.So wurde ein Hausbesuch („differential-diagnostischer Ausgang“) durchgeführt: Eine unsererÄrztinnen ging in Begleitung mit einem Studenten und natürlich dem Patienten zu ihm nach Hause.

Hier stellte man fest, dass seine 2-Zimmer-Wohnung sehr spartanisch eingerichtet und in desolatemZustand war: Überall türmten sich schmutzige Kleider, Gebrauchsgegenstände, Zeitungen,Plastiksäcke, Batterien; Elektrische Kabel hingen von den Wänden und waren z.T. mit Klebebandumwickelt. Ein Kühlschrank fehlte ebenso wie auch ein Vorratsschrank. Der Kochherd war mitPlastiksäcken verstellt. Ausser zwei Schüsseln fand sich kein Geschirr: Der Patient erzählte, er habeaus diesen zwei Schüsseln jeweils etwas Suppe gegessen, gekocht habe er sonst eigentlich nie.

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Nach diesem Hausbesuch konnten wir die Fragen der Vormundschaftsbehörde (es lief ja noch aus dererstbehandelnden Klinik ein Antrag auf Errichtung einer Beistandschaft) beantworten:Unseres Erachtens war der Patient geistig hinreichend klar und willens einer geeigneten Person oderStelle eine Vollmacht zu erteilen sowie die Handlungen des Bevollmächtigten hinreichendnachzuvollziehen und zu prüfen. Aus ärztlicher Sicht erschien uns die Errichtung einer Beistandschaftwohl vorteilhaft. Diese Frage wurde mit dem jetzt urteilsfähigen Patienten besprochen, er hat sichdamit aber nicht einverstanden erklärt. Zur Gewährleistung hinreichender Betreuung des Patientenerschien uns ein dauernder Heim- oder Klinkaufenthalt aber als nicht zwingend notwendig.

Kurz nach dem Hausbesuch konnte der Patient, seinem Willen entsprechend, nach Hause austreten.Es wurde - immer im Kontakt und Einverständnis des Patienten - eine ambulante Nachbetreuung(Pflegefachpersonen und Hausarzt) etabliert. Die für die weitere Gesundheit des Patienten wichtige,regelmässige Nahrungsaufnahme konnte verbessert werden, indem der Patient bereit war, sichjeweils zuhause abholen zu lassen und zum Mittagessen in ein nahe gelegenes Altersheim zu gehen.

FazitEmpowerment im Akutspital ist möglich.Viele auf den ersten Blick „nicht-befähigbare“Patientinnen und Patienten sind doch Empowerment-Prozessen zugänglich.Empowerment im Spital ist allerdings, wie das obige Beispiel zeigt, nur unter folgendenVoraussetzungen denkbar:

1. Die PatientInnen müssen sorgfältig abgeklärt und deren Defizite aber vor allem auchRessourcen und Stärken bekannt sein.

2. Im Behandlungsteam müssen entsprechende Kenntnisse und Methoden bekannt undvorhanden sein (z.B. Assessment-Strategien, kommunikative Fähigkeiten, Methoden desdifferential-diagnostischen Ausgangs), aber auch der Wille und die Fähigkeit, mit speziellen,hochbetagten Menschen Schritte in eine zu planende Zukunft zu unternehmen (Empathie,respektvolle Beziehung).

3. Es muss ein Minimum an Zeit vorhanden sein: Patientinnen und Patienten im Akutspital sindnaturgemäss körperlich krank. Diese körperliche Krankheit muss zunächst diagnostiziert undbehandelt werden, der Patient sollte zunächst in einen Zustand gebracht werden, in welchemer überhaupt Empowerment-Prozessen zugänglich ist.

4. Es muss eine entsprechende Bereitschaft des Gesundheits-Systems vorhanden sein. Wie dasBeispiel oben zeigte, sind hochbetagte, vielleicht leicht kognitiv eingeschränkte, manchmalauch eigensinnige PatientInnen oft nicht so einfach zu „managen“: Sie liegen mit ihrenVorstellungen und Wünschen quer im System und können gut geplante, standardisierteAbläufe im Spital völlig durcheinander bringen. Hier braucht es - gerade in einem sohochkomplexen System wie einem Spital - eine positive Haltung der Spital- und Klinikleitung,um die Mitarbeitenden zu ermutigen, kreativ auf die jeweiligen Bedürfnisse der PatientInnenreagieren zu können: Empowerment-Prozesse erfordern Zeit und Ressourcen und sind damitbetriebswirtschaftlich teuer. Sie lohnen sich aber sicher aus einer gesamtwirtschaftlichen Sichtund kommunizieren ein Bild, wie das öffentliche Spital (und damit „der Staat“) mit seinen alten,behinderten Bürgerinnen und Bürgern umgeht. Sie zeigen exemplarisch, dass das Spital fürdie PatientInnen da ist und nicht umgekehrt.

Empowerment lohnt sich - sowohl für den Patienten, wie für die Mitarbeitenden, welche durcheinen positiven Verlauf eines Patienten (emotional) belohnt werden, wie für die Gesellschaft.Insofern ist hier ein Dank an die Verantwortlichen der Gesundheitsversorgung der Stadt Zürichsehr angebracht, welche solche (zeitintensiven, damit nicht billigen) Prozeduren zu Gunstenunserer alten, gebrechlichen, verwahrlosten, vereinsamten aber auch manchmal schwierigen undeigensinnigen PatientInnen zulassen.Wohlverstandenes Empowerment heisst empathische Toleranz statt kalte Gleichgültigkeit.

Aber nicht alle PatientInnen im Akutspital sind Empowerment-Prozessen zugänglich, weil sie ausKrankheitsgründen körperlich zu schwach oder kognitiv zu stark eingeschränkt und damit nichtmehr in der Lage sind, weitreichendere Entscheidungen zu treffen und die Kontrolle über ihreigenes Leben zu erlangen.

Diese Personen bedürfen unserer gutgemeinten Fürsorge. Man darf nicht hilfsbedürftigePersonen, die sich nicht mehr selber helfen können, unter dem Deckmantel der

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„Selbstverantwortung“ oder einem falsch verstandenen Empowerment-Verständnis sich selberüberlassen. Es ist dies eine Frage der Ethik im Gesundheitssystem.

Die Kunst liegt damit im Akutspital darin, jene PatientInnen zu erkennen, die „empowerable“sindund gemeinsam mit ihnen den Weg zurück ins Alltagsleben zu gehen. Die anderen, die derFürsorge bedürfen und nicht mehr Selbstverantwortung übernehmen können, haben ebenfalls einAnrecht auf diese Betreuung und bekommen sie, auch wenn sie „un-empower-able“sind.

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Das Ende der "Endstation" oder die Pflegezentren als Wendestation

von Kurt Meier1

Referat am Jubiläums-Symposium Albert Wettstein(Modifizierter Text)

Die Ansage "Endstation" töne für Fahrgäste zu düster, befanden die Zürcher Verkehrsbetriebe undverordneten den TramführerInnen, "Endhaltestelle" auszurufen. Glücklich mit der neuen Regelung istaber niemand so recht.

Endstation, erklärt der Duden, bedeutet "letzte Haltestelle", aber auch, im übertragenen Sinn,Krankenhaus. Von Friedhof ist nicht die Rede, aber das Umfeld des Worts im Duden klingt ziemlichdüster: Endpunkt, Endstadium, Endzeit. Sogar der Begriff "Endspiel" ist doppeldeutig, als Finale undals letztes Spiel vor dem Ende.

Bei einem Eintritt in ein Pflegezentrum ist der Gedanke an eine „Endstation“mitunter auch vorhanden,in Gedanken und Aussagen der Eintretenden, der Angehörigen oder auch der Bevölkerung. DochPflegezentren sind keine Endstation, ein Eintritt bedeutet nicht zwangsläufig, dass man dasPflegezentrum nicht mehr verlässt.

Wie viele Menschen gehen aus unseren Häusern wieder nach Hause?Über ein Drittel unserer eingetretenen BewohnerInnen verlässt das Pflegezentrum wieder und kehrtnach Hause zurück oder zieht ins Altersheim. In Pflegeentren mit einer Temporärabteilung sind essogar über 50 Prozent. Wir könnten also, um beim Bild der Tramhaltestelle zu bleiben, auch von einerWendestation sprechenDie Grafik „Entlassungen und Verlegungen“ zeigt diese Entwicklung der Temporärabteilung imPflegezentrum Käferberg und In Zahlen ausgedrückt sieht dies so aus:

1993 2004Verlegungen vom PZ ins Heim/Spital 1 1Entlassungen 2 108Eintritte 67 217Aufenthaltsdauer (Tage) 1'364 599

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Grafik "Entlassungen undVerlegungen"

Grundsätze für das Empowerment im PflegezentrumDer Eintritt in ein Pflegezentrum darf auf keinen Fall zwangsläufig den Verlust der Selbstständigkeitund der bestehenden Wohnsituation bedeuten. Unser Credo, „Den Jahren Leben geben“, bedeutet,dass wir unseren BewohnerInnen ein Umfeld schaffen, das ihr Wohlbefinden und ihre optimale

1 Kurt Meier, Direktor Pflegezentren der Stadt Zürich

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Lebensqualität ins Zentrum stellt. Wir gehen davon aus, dass unsere BewohnerInnen nicht einfachkrank oder gesund sind, sondern dass sie sowohl kranke als auch gesunde Anteile in sich tragen.Unser oberstes Ziel ist es, die gesunden Anteile zu sehen, zu finden, zu stärken und dabei jedePerson darin zu unterstützen, das eigene Gesundheitspotenzial zu erkennen und zu nutzen.Dazu gehören die Prävention und die Behandlung von Krankheiten zur Verhinderung vonGesundheitsstörungen, welche die Lebensqualität beeinträchtigen können. Ebenso geht es darum,körperliche, geistige und seelische Behinderungen und das subjektive Leiden zu minimieren.

Fähigkeiten erhalten und fördernJeder Heimeintritt ist ein kritischer Moment im Leben unserer BewohnerInnen. Wir müssen uns derGefahr bewusst sein, dass sie Fähigkeiten aus der Hand geben. Wichtig ist, hier aufmerksam zu sein,damit die Unselbstständigkeit nicht fortschreitet und die betagten Menschen ihre Hoffnung undLebensfreude nicht aufgeben.Die gegebene Situation des Eintritts muss möglichst offen und veränderbar sein. Durch dievorhandene Option und damit verbunden die Hoffnung, wieder nach Hause gehen zu können,erhalten alte Menschen mit Hilfe der rehabilitativen Pflege oder Überbrückungspflege viel Energie undrichten sich auf neue Ziele aus.

Viele Mitarbeitende in der Pflege haben das Bedürfnis zu helfen. Wer es aber als Hauptaufgabeansieht, den BewohnerInnen im Pflegezentrum zu helfen, der führt sie in die Unselbstständigkeit. Dasbedeutet nun nicht gerade, dass „wir mit den Händen in den Hosentaschen“arbeiten, nach ErwinBöhm, dem Begründer des psychobiografischen Pflegemodells. Es geht vielmehr darum, dass wir dasGesundheitspotenzial der uns anvertrauten Menschen erkennen. Zudem vertreten und leben wir denGrundsatz, dass kein Bewohner, keine Bewohnerin für immer bei uns bleiben muss.

Verschiedene Angebote für unterschiedliche BedürfnisseWir unterteilen unsere Angebote in ambulante, temporäre, teilstationäre und Langzeit-Angebote:

Ambulantes Angebot Tagesbetreuung Nachtbetreuung Tageszentrum Memory Klinik

Temporäres und teilstationäres Angebot Temporärabteilung Ferienbett

Langzeit-Angebot: Abteilung für Pflege und Wohnen Weglaufgeschützte Demenz-Abteilung Mobilitätsabteilung Abteilung für geistig Aktive Pflegewohngruppe IV-Abteilung Teilzeit-Aufenthalt

Die folgenden Beispiele sind Geschichten aus unseren Häusern, die unsere Angebote beschreibenund aufzeigen, wie wir zum Empowerment unserer Bewohnerinnen und Bewohner beitragen.Sämtliche Namen der beschriebenen Personen sind geändert.

Das Leben, ein TraumDie Memory Klinik bietet Menschen mit einer Hirnfunktionsstörung Beratung und Unterstützung an.Dieses ambulante Angebot bewirkt in vielen Fällen, dass der Eintritt in ein Pflegezentrumhinausgezögert oder verhindert werden kann und die Angehörigen länger in der Lage sind, Betroffenezuhause zu betreuen.1950 heiratete das Ehepaar Scheller. Nach der Geburt von Sohn und Tochter fand die junge Familieeine Wohnung im Neumünster-Quartier. Als die beiden Kinder grösser waren, wagte Frau Schellereinen Wiedereinstieg ins Berufsleben und arbeitete mehrere Jahre.

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Mit der Pensionierung kam die Zeit der grenzenlosen Freiheit. Man traf sich mit Freunden, verreiste indie Ferien und verbrachte etwas mehr Zeit in der Ferienwohnung. Das Leben, ein Traum? Der Traumhielt ziemlich genau 50 Jahre. Dann fing es an, dieses andere, dieses unerwartete, diesesunerwünschte Leben.

So ganz andersFrau Scheller war gestürzt, wie ein gefällter Baum - ohne Vorwarnung, einfach so. Oder war da dochetwas gewesen? Ach wo, warum sollte er das Kochen nicht übernehmen, warum ihr nicht helfen beider Auswahl der Kleider? - Jeder Ehemann würde das tun. Frau Scheller wurde hospitalisiert. Nachvier Tagen die Entlassung, in der Tasche die Verschreibung für eine Ergotherapie. Nichts nützte sie indiesem Fall, diese Ergotherapie.Dann die Zuweisung in die Memory Klinik. Diagnose: mittelschwere Demenz vom Typ Alzheimer.Empfehlung: Medikamente, Tageszentrum, Angehörigengruppe… . - Alzheimer? Sie? Seine immernoch schöne, gepflegte Frau? Ja sagen, zu allem ja sagen, um nur nicht zuhören zu müssen.

Ein halbes Jahr später"Soll ich? Soll ich nicht?" Herr Scheller gibt sich einen Ruck, greift zum Telefon: "Meine Frau will michnicht mehr ins Bett lassen. Sie sieht eine andere Frau neben sich. Und wenn ich nach langenErklärungen meinen Platz schliesslich doch noch erobert habe, steht sie dauernd auf, muss aufs Klo,geistert herum. Was soll ich nur machen?"Die Memory Klinik bietet ein Standortgespräch an und rät, den Hausarzt zu konsultieren, ihn zufragen, ob er etwas Beruhigendes verschreiben könne. Herr Scheller ist mit beidem einverstanden. Erbraucht einfach Hilfe, jetzt, sofort.Es geht dann doch nicht so rasch, wie er sich das vorgestellt hat, aber langsam beruhigt sich dienächtliche Situation. Frau Scheller besucht das Tageszentrum, wo es ihr eigentlich ganz gut gefällt.Doch die Tage sind nach wie vor sehr anstrengend. Die Nerven des Ehemannes liegen manchmalblank.

Seit dem Gespräch in der Memory Klinik nimmt Herr Scheller jetzt einmal pro Monat an den Sitzungender Angehörigengruppe teil. Was er von den anderen in der Gruppe hört, macht ihn zutiefst betroffen.Wenn er so schlecht dran wäre wie dieser Herr vis-à-vis, dann würde er… Tja, was würde er danntun? Herr Scheller entschliesst sich, dem Hausarzt für einmal seine eigene Befindlichkeit zu schildern:"Die Situation mit meiner Frau strapaziert mich über alle Massen. Ich brauche etwas, damit ich nichtschlapp mache."

Danach engagiert Herr Scheller mutig eine Spazierbegleiterin. Einmal pro Woche muss er nicht mehrauf den Berg, darf er seine Füsse hochlegen. Im April stellt er amüsiert fest, dass dieAngehörigengruppe in der Memory Klinik seine Sehschärfe verbessert habe. Er sehe einigeswesentlich klarer als früher und achte vermehrt auf Details: Im Restaurant rücke er seiner Frau denStuhl so hin, dass sie kein WC-Schild erblicke, und mit ein bisschen Glück verlaufe das Essen ohneStörung. 'Eis nach em andere wie z'Paris' das sei nun die Losung beim Anziehen. Herr Scheller halteseiner Frau ein Kleidungsstück nach dem anderen hin, und Frau Scheller ziehe sich wieder alleine an.Im Juni berichtet Herr Scheller in der Angehörigengruppe nicht ohne Stolz: "Ich habe mir eine WocheFerien gegönnt und meine Frau während zwei Wochen im Pflegezentrum Seeblick untergebracht. ImÜbrigen hat mich meine Frau für diese Wanderferien bestens vorbereitet. Ohne ihr tägliches Traininghätte ich wohl kaum so problemlos mitgehalten… "

Zweites Jahr nach der Abklärung in der Memory KlinikSie werde nervös, wenn sie bemerke, dass sie Dinge von früher nicht mehr wisse, die sie eigentlichwissen müsste. "Bin ich so krank?" frage sie manchmal. Ansonsten rede sie oft unverständlich vorsich hin und tigere in der Wohnung herum. Spazieren sei immer noch das Beste für sie. GegenüberFremden habe sie jede Scheu verloren. Die modernen Jeans mit Löchern würden sie geradezumagisch anziehen. "Was würden Sie tun, wenn Ihre Frau mit dem Finger das Loch in fremden Jeansvergrössern will und ein unbekannter Mann steckt drin?"

Drittes Jahr nach der Abklärung in der Memory KlinikDie Unruhe nimmt zu. Frau Scheller folgt ihrem Mann auf Schritt und Tritt, fragt endlos nach denKindern. "Wer bist du?" will sie von ihrem Mann wissen. Im Tageszentrum muss sie immer aufs WC.Nur auf dem Spaziergang vergisst sie den lästigen Harndrang. Nachts steht sie zehn Mal auf, lässtihren Mann nicht schlafen. Herr Scheller spürt, wie sich die Erschöpfung breit macht, in seinenKnochen nistet. Aber er möchte seine Frau noch für ein Weilchen Zuhause betreuen. "Ich bin einfachnoch nicht bereit für eine Heimeinweisung", sagt er.

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Was tun? "Massgeschneiderte Aufenthalte im Pflegezentrum" heisst die Lösung. Und tatsächlich, seitFrau Scheller alle zwei Wochen von Mittwoch bis Samstag die Zeit in ihrer zweiten Heimat verbringt,(unser Teilzeit-Aufenthalt Angebot) kann sich der Ehemann wieder etwas erholen. Und wie durch einWunder sind die Nächte auf einmal ruhig.

Den Alltag wieder selber bewältigenDie Temporärabteilung bietet die Möglichkeit der Slow Stream Rehabilitation. Bewohnerinnen undBewohner mit einem Potenzial zur Rückkehr nach Hause erhalten die ihren Fähigkeiten und Kräftenangepasste Therapie und Unterstützung. Ziel ist es, die Alltagskompetenz so weit zu fördern, dass siezuhause wieder zurechtkommen und ihr soziales Leben pflegen können.

Ina Bucher ist 1926 in Biel geboren und lernte ihren Ehemann in Zürich kennen. Zwei Kinder sinddieser Ehe entsprungen. Sie arbeitete als Verkäuferin und Näherin und war in diesem Bereich auchkreativ tätig.Getrübt wurde dieses idyllische Leben durch eine schwere Krankheit. Nach einem Spitalaufenthalt undeiner längeren Rehabilitation, stellte sich die Frage: Wie geht es nun weiter? Eine Rückkehr nachHause kam zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage, und deshalb fiel die Wahl auf die Temporärabteilungim Pflegezentrum Riesbach. Das Pflegezentrum liegt ganz in der Nähe des Wohnortes von Ina Bucherund bringt dadurch bereits etwas Vertrautheit.

Das Ziel immer vor AugenDer Aufenthalt von Ina Bucher ist geprägt von intensiven Therapien, darum ist sie selten in ihremZimmer anzutreffen. Nebst regelmässiger Physio- und Ergotherapie wird sie in alltäglichenVerrichtungen auch vom Pflegepersonal gefördert und unterstützt. Die Bewohnerin auf diesem Wegzu begleiten, fällt den Beteiligten leicht, weil sie sehr motiviert ist und mit ihrem zufriedenen, fröhlichenWesen viel zum guten Gelingen beiträgt. Trotz Rückschritten, die durch einen erneutenSpitalaufenthalt bedingt waren, hat sie ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Mit Beharrlichkeit undAusdauer arbeitet sie, um möglichst bald wieder nach Hause gehen zu können.Mittlerweile konnte sie bereits einen Test in ihrer gewohnten Umgebung machen. Begleitet von einerTherapeutin vom Pflegezentrum ging sie nach Hause um zu klären, welche baulichen undtherapeutischen Massnahmen nötig sind, um ihrem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Ina Buchersieht die Verwirklichung ihres Zieles sehr realistisch. Sie weiss: für eine Rückkehr nach Hausebenötigt sie eine gute gesundheitliche Stabilität.

Die GeduldsprobeNun heisst es weiter geduldig zu sein und die kleineren und grösseren Hürden, die das tägliche Lebenstellt, zu überwinden. Mit Unterstützung ihrer Angehörigen und dem Riesbach-Team kommt InaBucher ihrem erklärten Ziel täglich einen Schritt näher. Die Freude an den kleinen Dingen des Lebens,eine Blume auf dem therapeutischen Spaziergang oder ein kurzes Gespräch, helfen ihr mit Sicherheit,das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.In der Zwischenzeit hat Ina Bucher ihr Ziel erreicht und konnte wieder nach Hause gehen.

Mobilität gezielt fördernMit dem Mobilitätstraining und mit Hilfe eines gezielten Programms und flankierenden baulichenMassnahmen, sollen die BewohnerInnen befähigt werden, mehr Autonomie zu erlangen, damit siesich besser selber helfen können (Self-Care-Empowerment). Zudem wird das Risiko von Stürzenreduziert. Seit Inbetriebnahme der Mobilitätsabteilung im Pflegezentrum Bachwiesen ereignete sichtrotz erhöhter Mobilität lediglich ein schwerer Sturz mit Oberarmfraktur. Im Hausvergleich trifft aufjede/-n 11. Bewohner/-in ein Sturz mit Folgen, auf der Mobilitätsabteilung auf jede/-n 32. Bewohner/-in. Wir möchten auch hier zur Selbstbefähigung chronisch kranker Betagter und zur Verbesserung derLebensqualität beitragen.

Frau Blumer lebt auf der Mobilitätsabteilung B1 im Pflegezentrum Bachwiesen. Sie hat eineHalbseitenlähmung links (armbetont), eine mässige Demenz, ist sturzgefährdet und leidet unterBluthochdruck. Die Bewohnerin neigte zu Beginn sehr zu Angina Pectoris-Anfällen, hatte wenig Kraftin den Beinen und ein vermindertes Raumgefühl, bekam leicht Sauerstoffmangel und benötigte vielUnterstützung.

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Heute ist Frau Blumer tagsüber überwiegend im Rollstuhl und betätigt diesen auch selber. Sie verlässtden Rollstuhl für die Mahlzeiten. Frau Blumer nimmt regelmässig, zweimal pro Woche, amMobilitätstraining teil. Sie ist sehr motiviert und wünscht sich, dass ihre Lähmung im linken Armzurückgeht, und sie wieder ohne Hilfe gehen kann.

Frau Blumer hat enorme Fortschritte gemacht seit der Teilnahme am Mobilitätsprogramm. DerAllgemeinzustand hat sich durch das Gruppentraining und die Einzeltherapie wesentlich verbessert.Die Muskulatur konnte gestärkt werden und die Orientierung im Raum, das heisst das Körpergefühl,ist besser geworden. Auch die Kreislaufsituation konnte positiv beeinflusst werden. Angina-Pectoris-Anfälle kommen so gut wie gar nicht vor.

Die Fortschritte wurden unterstützt durch die positive Grundeinstellung der Bewohnerin, welcheständig bemüht ist, eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes zu erlangen. DepressiveVerstimmungen kamen selten vor, da Frau Blumer das erklärte Ziel vor Augen hatte, ihrenGesundheitszustand zu verbessern.

Im November 2006 kann die Bewohnerin mit Hilfe einer Pflegefachkraft alleine etwa 50 Meter laufen.

Die Tagesbetreuung bietet Abwechslung und EntlastungDie Tagesbetreuung in den Pflegezentren ist ein flexibles und kostengünstiges Angebot für betagteMenschen, die zuhause gepflegt und betreut werden. An sieben Tagen pro Woche können sie sichstunden- oder tageweise im Pflegezentrum aufhalten, werden

Die Tagesbetreuung bietet Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfenbetreut und erhalten die notwendigen mitgebrachten Medikamente. Die Angehörigen sind dadurchentlastet, die betroffenen Menschen erleben ihren Aufenthalt oft als willkommene Abwechslung.

Frau Riedi entdeckte ein Inserat zur Tagesbetreuung in den städtischen Pflegezentren im "Tagblatt". ImStadtspital Waid, wo ihr Mann lag, drückte man ihr die Broschüre mit dem Angebot in die Hand. Dieseinformierte, dass pflegebedürftige Angehörige an sieben Tagen pro Woche stundenweise in denPflegezentren betreut werden können. Zu Hause konnte Frau Riedi ihren Mann nicht mehr alleine lassen, erwurde von ihr rund um die Uhr betreut. Das tägliche Einkaufen musste schnell gehen, während Herr Riedischlief. Auch zusammen weggehen, etwas unternehmen, war nicht mehr mögl ich. Frau Riedi war stets beiihrem Mann und hatte keine Zeit mehr, sich selbst zu sein.

... in Ruhe im Buch weiterlesenDie Stunden, die Herr Riedi im Pflegezentrum Bombach als Tagesaufenthalter verbringt, sind für Frau Riedieine grosse Erleichterung. Endlich kann sie wieder alleine und ohne Zeitdruck etwas unternehmen. Endlichkann sie wieder Kontakte zu Freundinnen pflegen, für die sie vorher kaum mehr Zeit hatte. Sie kann in Ruheim Buch weiterlesen, welches seit Monaten auf dem Nachttisch lag, oder einen langen Spaziergang machen.

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Dies alles ist nur möglich, weil sie weiss, dass es ihrem Mann gut geht. Er habe sich sofort wohl gefühlt imBombach und mit den dort lebenden Menschen, und er habe auch wieder die Wiese mit den weide ndenSchafen entdeckt, die er von früher her so gut kannte, erklärt sie. Für Frau Riedi ist die Tagesbetreuung dasWunderbarste, was es gibt. Zusammen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, den Pflegenden undBetreuungspersonen kann man lachen und es ist immer etwas los. Frau Riedi meint, ihrem Mann gehe esdort besser als daheim. Denn diese Abwechslung kann sie ihm zu Hause nicht bieten.

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Teilzeit-Aufenthalt im PflegezentrumDie optimale Ergänzung zur Betreuung und Pflege zu Hause

Die Pflegezentren der Stadt Zürich bieten die Möglichkeit eines Teilzeit-Aufenthalts an.Pflegebedürftige Menschen werden zwei bis fünf Tage pro Woche im Pflegezentrum betreut undgepflegt, die restlichen Tage sind sie zu Hause bei ihren Angehörigen.

Angebot und LeistungenDer Teilzeit-Aufenthalt dient der Entlastung. Er ermöglicht Betreuungspersonen, ihre betagtenAngehörigen länger zu Hause zu betreuen und zu pflegen und trotzdem weiterhin ihren beruflichenund privaten Tätigkeiten nachzugehen.

Für den Teilzeit-Aufenthalt stehen vier Einerzimmer mit Lavabo zur Verfügung, und zwar an siebenTagen pro Woche im:

Pflegezentrum Bachwiesen

Pflegezentrum Bombach

Pflegezentrum Entlisberg

Pflegezentrum WitikonDie Aufenthalterin / der Aufenthalter verbringt regelmässig mindestens zwei Nächte und maximal fünfNächte pro Woche im Pflegezentrum.Die Leistungen des Teilzeit-Aufenthalts umfassen die Pflege, Therapien sowie die medizinischeVersorgung während des Aufenthalts.Die Aufenthalterin / der Aufenthalter hat nicht alleinigen Anspruch auf das zugewiesene Zimmer.Während den Abwesenheitstagen kann das Zimmer durch andere Bewohner/-innen des Teilzeit-Aufenthalts belegt werden. Die persönlichen Kleider und Gegen-stände werden in einemabschliessbaren Schrank aufbewahrt.

VoraussetzungenVoraussetzung für die Aufnahme ist, dass die Aufenthalterin / der Aufenthalter gesundheitlichgenügend stabil ist, um sich an zwei verschiedenen Orten heimisch zu fühlen.Für die Aufnahme ist ein aktuelles Arztzeugnis erforderlich. Menschen mit sozial störendenVerhaltensauffälligkeiten (Suchterkrankung, psychische Auffälligkeiten, aggressives Verhalten etc.)können nicht aufgenommen werden.

TaxenDie Tagestaxen für den Teilzeit-Aufenthalt betragen:

Pflegezentrum Bachwiesen CHF 185.--

Pflegezentrum Bombach CHF 200.--

Pflegezentrum Entlisberg CHF 200.--

Pflegezentrum Witikon CHF 200.--

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In den Tagestaxen inbegriffen sind die Verpflegung, die Wäschebesorgung während denAufenthaltstagen sowie die im Hause gängigen Medikamente und das Pflegematerial. Für die Pflegezu Hause können keine Medikamente und Pflegematerialien abgegeben werden.Die Hin- und Rückfahrten vom Wohnort ins Pflegezentrum sind nicht inbegriffen. Wir helfen gerne beider Organisation des Transports.Die wöchentliche Aufenthaltssequenz beginnt mit dem Eintritt ab 15 Uhr und endet mit dem Austrittam Ende der Aufenthaltssequenz vor 11 Uhr. Falls die Aufenthalterin / der Aufenthalter vor 15 Uhreintreten oder nach 11 Uhr austreten möchte, wird zusätzlich eine halbe Tagestaxe verrechnet.Ein Nichteintritt ist 24 Stunden im Voraus zu melden, ansonsten wird eine Tagestaxe in Rechnunggestellt.Es wird eine einmalige Eintritts- und Austrittsgebühr von je CHF 150.-- verrechnet. Für den Teilzeit-Aufenthalt wird kein Depot verlangt.

AuskunftDie nachfolgenden Pflegezentren geben weitere Auskünfte und vereinbaren gerne einenBesichtigungstermin:

Pflegezentrum Bachwiesen, Flurstrasse 130, 8047 ZürichTelefon 044 406 23 00

Pflegezentrum Bombach, Limmattalstrasse 371, 8049 ZürichTelefon 044 344 15 15

Pflegezentrum Entlisberg, Paradiesstrasse 45, 8038 ZürichTelefon 043 495 10 00

Pflegezentrum Witikon, Kienastenwiesweg 2, 8053 ZürichTelefon 043 443 03 03

www.stadt-zuerich.ch/pflegezentren

AnmeldungBeratungsstelle Wohnen im AlterAsylstrasse 1308032 ZürichTelefon 044 388 21 21Telefax 044 388 21 00

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Empowerment in der Gesundheitsversorgung Chronisch Erkrankter

von Stefania Bonsack1

Befähigung und Ermutigung zum kompetenten Umgang mit chronischen Gesundheitsbe-schwerden ist ein bisher zu wenig genutztes Potential in der Gesundheitsversorgung, kann ambesten von Pflegenden übernommen werden und zeigt gute Resultate

Bekanntlich stösst eine Medizin, die auf schnelles Beheben vordringlichster Probleme ausgerichtet ist,bei der Langzeitversorgung chronisch Erkrankter an Grenzen. Viele Stimmen der Fachwelt plädierenfür neue Versorgungsmodelle. Bodenheim et al. nennen als Ziel: Gut informierte und aktivierte Patien-tInnen interagieren mit vorbereiteten proaktiven klinischen Fachteams (3). Dazu braucht es einerseitsdie Reform der Versorgungsstrukturen in Richtung Integrationsversorgung, andererseits eine Neudefi-nition des Versorgungsauftrages:Die Befähigung und Ermutigung der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen rückt ins Zentrum.(Auch patient centered supportive care genannt). Praktisch kann das so aussehen: Ein Assessmentwird nicht einfach gemacht, sondern als Selbstbeobachtungsübung und zum Transfer von Symptom-kenntnis genutzt. In einer Ist-Analyse, einer „Auslegeordnung“der meist komplexen Situation ergän-zen sich Fach- und Laiensicht, Vorstellungen (health beliefs) werden sichtbar gemacht und Motivati-onsstufen eruiert. Gemeinsames Planen von vorstellbaren Schritten erhöht die Chance zur Umset-zung. Simple Fragen wie „was wird in drei Monaten sein?“, helfen, Erwartungen zu klären. Mit ge-meinsamem Reflektieren von Gelingen oder nicht Gelingen, sei es von therapeutischen Massnahmenoder von Coping/Gesundheitshandeln, öffnen sich Möglichkeiten weiter zu gehen, auch wenn etwasnicht auf Anhieb klappt.Für solche Prozesse braucht es mehr Zeit, als den Hausärzten und Hausärtzinnen zur Verfügungsteht.

Frau A. erzählt der Autorin anlässlich eines präventiven Hausbesuches, dass sie ihre chronischenSchmerzen beim Hausarzt angesprochen und ein Medikament erhalten hat. Nach dessen Einnahmesei es ihr übel geworden und darum habe sie es zu hinterst in den Kasten gestellt. Auf die Frage, obsie es dem Hausarzt denn nicht gesagt habe, verneint sie „das bringt doch nichts“. Denkt sie, mit demDruck des vollen Wartezimmers könne der Sache sowieso nicht auf den Grund gegangen werden?Fehlt ihr das Wissen, dass es noch viele Möglichkeiten zur Schmerzbekämpfung gibt? Fehlt ihr derMut, Weiteres zu versuchen? Glaubt sie sowieso nicht an den Nutzen von Chemie?Hier könnte befähigende Beratung, so wie oben beschrieben, ansetzen.

Bestehende AngeboteIn vielen spezifisch auf chronisch erkrankte Menschen ausgerichteten Angeboten übernehmen Pflege-fachpersonen den Part der befähigenden Beratung, manchmal ergänzend zur ärztlichen Versorgung,manchmal diese auch über gewisse Zeitspannen ganz ersetzend. Am bekanntesten sind die Angebo-te der pflegegeführten Herzkliniken in Schweden mit dem Schwerpunkt der Schulung im Selbstmana-gement (1;5;9;10).

In den Niederlanden gibt es verschiedene Formen solcher Angebote: In einem Hausarztnetz ange-stellte Pflegende können für pro aktive und befähigende Versorgung von den HausärztInnen bei Be-darf bei gezogen werden (6). In der Diabetesversorgung gibt es das shared care model, mit Hausarzt,Endokrinologe und spezialisierter Pflegefachperson, welche koordiniert und alle Beteiligten befähigt,was dort als advancement of expertise beschrieben wird (13). In den „transmuralen Kliniken“ergänzenPflegende die Konsultationen beim Spezialarzt/ bei der Spezialärztin (11).

In Grossbritannien sind Liaisonangebote besonders erfolgreich: Hier begleiten spezialisierte Pflegen-de, welche an Spezialkliniken angesiedelt sind, die erkrankten Menschen nach Spitalaustritt und ste-hen auch den Fachpersonen der ambulanten Primärversorgung beratend zur Seite (4). Ähnlich aufge-baut sind die in den USA schon länger erfolgreich durchgeführten Programme der Austrittsplanungund Nachbegleitung, z.B. für multimorbide, ältere Menschen (7). Für Befähigung zum Umgang mit

1 Stefania Bonsack, Pflegefachfrau, MSN, leitet das präventive Hausbesuchsprogramm Zü!Pra des Stadtärztli-chen Dienstes Zürich.Korrespondenzadresse: [email protected]

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chronischen Gesundheitsbeschwerden eignen sich auch fachlich geführte Kleingruppen sehr gut2.

Interessant sind Angebote, in denen diese Gruppentreffen die Hausarztkonsultationen fast ganz er-setzen (8;12).

WirkungWenn (spezialisierte) Pflegende chronisch erkrankte Menschen neu übernehmen, kommt es zuerst zueinen Mehraufwand (8;6). Der Mehraufwand lohnt sich, denn es gibt Belege dafür, dass die von Pfle-genden begleiteten chronisch erkrankten Menschen:

von ihnen als hilfreich eingestufte Versorgung erhalten (11) über mehr Wissen zum Selbstmanagement verfügen (13) und ihren Umgang mit der Erkran-

kung verbessern (2; 4;10) eine Verbesserung von Krankheitsparameter, wie Langzeitblutzucker, zeigen und somit wahr-

scheinlich bessere Krankheitsverläufe haben (8; 13) weniger Gesundheitsversorgung brauchen: weniger oder spätere Spitalwiedereintritte (10; 7)

weniger Spitaltage (1), weniger Notfallversorgung (4; 8;) auch weniger Notfallkonsultationen inder Hausarztpraxis (6)

länger leben (10) und verbesserte Lebensqualität aufweisen (9; 5). Dies ist auch das nachhaltige Resultat ärzt-

lich geführter Gruppen- statt Einzelkonsultationen (12).

Kostenberechnungen sprechen immer dort zugunsten des Einsatzes von zusätzlichen Pflegefachper-sonen, wo es gelingt, Wiedereintritte ins Spital zu verhindern. (5;7;9).AusblickVor allem neu entstehende Angebote könnten sich radikal und von vornherein der Befähigung undErmutigung der Zielgruppen verpflichten und sich damit die Chancen auf Wirksamkeit erhöhen.Es zeichnet sich ab, dass es auch in der Schweiz Pflegende gibt, die Verantwortung für befähigendeVersorgung chronisch kranker Menschen übernehmen können. In der Höheren Fachausbildung inHerzinsuffizienz am Insel Spital Bern werden Beratungskompetenz und Spezialwissen vermittelt. AmInstitut für Pflegewissenschaft der Universität Basel werden Pflegende, welche oft langjährige Berufs-erfahrung mit sich bringen, zu klinisch versierten, spezialisierten Fachpersonen weitergebildet. Siekönnten solche neue Angebote auch leiten.

Referenzen(1) Blue, L., Lang, E., McMurray, J., Davie, A. P., McDonagh, T. A. et al. (2001). Randomised controlled trial of specialist nurseintervention in heart failure. BMJ, 323, 715–718.(2) Bodenheimer, T., MacGregor, K., & Stothart, N. (2005). Nurses as leaders in chronic care. BMJ,330, 612-613.(3) Bodenheimer, T., Wagner, E., & Grumbach, K. (2002). Improving primary care for patients with chronic illness JAMA, 288,1775-1779.(4) Griffith, C., Foster, G., Barnes, N., Eldridge, S., Tate, H., Begoum, S. et al. (2004). Specialist nurse intervention to reduceunscheduled asthma care in a deprived multiethnic area: the east London randomized controlled trial for high risk asthma(ELECTRA). BMJ. In doi:10.1136/bmj.37950.784444.EE(5) Gustafsson, F., & Arnold, M. O. (2004). Heart failure clinics and outpatient management: review of the evidence and call forquality assurance. European Heart Journal, 25(1596-04).(6) Laurant, M., Hermens, R., Braspenning, J., Sibbald, B., & Grol, R. (2004a). Impact of nurse practitioners on workload ofgeneral practitioners: randomised controlled trial. BMJ, 328: 927-932(7) Naylor, M., Brooten, D., Campbell, R., Jacobsen, B., Mesey, M., Pauly, M:, & Schwartz, S. (1999). Comprehensive dischargeplanning and home follow-up of hospitalized elders. A randomized trial. JAMA, 17, 613-620.(8) Sadur, C. N., Moline, N., Costa, M., Michalik, D., Mendlowitz D., et al. (1999). Diabetes management in a health maintenan-ce organization. Diabetes Care, 22, 2011-2017.(9) Stewart, S., Vandenbroeck, A. J., Pearson, S., & Horowitz, J. D. (1999). Prolonged beneficial effects of a home-based inter-vention on unplanned readmission and mortality among patients with congestive heart failure. Arch Intern Med, 159, 257-261.(10) Strömberg, A., Martensson, J., Fridlund, B., Levin, L. A., Larlsson, J. E., Dahlström, U. (2003). Nurse-led heart failure cli-nics improve survival and self-care behaviour in patients with heart failure. European Heart Journal, 24, 1014-23.(11) Temmink, D., Hutten, J. B., Francke, A. L., Abu-Saad, H. H., & van der Zee, J. (2000). Quality and continuity of care inDutch nurse clinics for people with rheumatic diseases. Int J Qual Health Care 12(2), 89-95.(12) Trento, M., Passera, P., Bajardi, m., Tomalino, M., Grassi, G., Borgo, E., Donolla, C., Cavallo, F., Bondonio, P., & Porta, M.(2002). Lifestile intervention by group care prevents detoriation of type 2 in diabetes: a 4 year randomized controlled clinical trial.Diabetologia. 45(9): 1231-39.

2 Für eine ausführliche Literaturübersicht zu befähigenden Gruppenangeboten siehe: Bonsack, S. (2006). Lernenmit der Erkrankung gesund zu leben. Zürcher Schriften zur Gerontologie Band Nr 4. Zu bestellen [email protected]

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(13) Vrijhoef, H., Diederiks, J. Spreeuwenberg, C., Wolfenbuttel, B., & van Wilderen, L. (2002). The nurse specialist as maincare-provider for patients with type 2 diabetes in a primary care setting: effects on patient outcomes. International Journal ofNursing Studies, 39, 441-451.

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Anti-Benzodiazepin-Kampagne 2006:

Es geht auch mit weniger Benzo`s!

von Albert Wettstein

Die Anti-Benzodiazepin-Kampagne des Stadtärztlichen Dienstes und des HausärztevereinsZürich propagierte, neu keine Benzodiazepine mehr zu verordnen – abgesehen von derSterbebegleitung.

Die Kontrolle des Benzo-Konsums in den letzten vier Jahren in den Pflegezentren und imWaidspital ergab eine 11-pro-zentige Reduktion jährlich in den Pflegezentren 2005 und 2006und eine Reduktion um 13% 2006 im Waidspital, ohne Mehrgebrauch der ebenfallsproblematischen Benzodiazepin-Re-zeptor-Agonisten.

Die Drogendelegation der Stadt Zürich hatte in ihrem Monitoringbericht 2005 einen problematischhohen Konsum von Beruhigungs- und Schlafmitteln aus der Klasse der valiumähnlichenBenzodiazepine beschrieben und angeregt, etwas gegen diesen legalen Medikamentenmissbrauch zuunternehmen. Deshalb führte der Stadtärztliche Dienst gemeinsam mit dem Hausärzteverein der StadtZürich in der ersten Hälfte 2006 eine Anti-Benzo-Kampagne durch mit dem Motto: NeuBenzodiazepine und ähnliche Medikamente, abgesehen von Spezialindikationen, nur noch für dieSterbegleitung zu verordnen.

Dabei wurden via Intercura und die Presse allgemein die Ärzteschaft auf das Problem aufmerksamgemacht und informiert. Der Bevölkerung mit Schlafstörungen wurden Grossveranstaltungen imVolkshaus und Seminare zum guten Schlaf ohne die problematischen Benzodiazepine angeboten. Diegut 100 Besucherinnen und Besucher erfuhren und dokumentierten anhand ihrer Schlaftagebücher,dass guter Schlaf auch ohne Schlafmittel meist möglich ist und dass nach einer schlechten Nachtauch ohne Schlafmittel meist ein natürlicher, erholsamer Schlaf möglich wird.

Dank dem überwiegend sehr positiven Feedback hat der Psychiatrisch Psychologische Dienst desStadtärztlichen Dienstes beschlossen, solche Seminare 2007 erneut anzubieten und zwar speziell fürdie städtischen Mitarbeitenden im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung und allgemeinauch für die Bevölkerung.

Eine objektive Erfolgskontrolle der Kampagne war in den städtischen Pflegezentren und im Waidspitalmöglich. Die Resultate sind in der folgenden Figur dargestellt.

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Benzodiazepin und Benzodiazepinrezeptoragonisten

Gebrauch 2003-2006

0

20

40

60

80

100

120

140

160

2003 2004 2005 2006

Tab

lett

en

/Bett

/Jah

r

Waidspital Benzodiazepine

Pflegezentren Benzodiazepine

Waidspital Bzd-Rezeptoragonisten

Pflegezentren Bzd-Rezeptoragonisten

Es zeigte sich, dass der Benzodiazepinkonsum in den Pflegezentren, wo der Chefarzt bereits 2005wiederholt auf die unerwünschte Nebenwirkung der Benzodiazepine aufmerksam gemacht hat, 2005und 2006 je um fast 11% pro Jahr abgenommen hat. Im Waidspital wurden diese Effekte im ähnlichenUmfang 2006 beobachtet. Es wurden keine Berichte über dadurch entstandene Schwierigkeitengemacht. Im Gegenteil: In einer früheren Untersuchung hatte Franziska Morger in einer prospektivenEvaluation im Pflegezentrum Riesbach im Rahmen einer Dissertation gezeigt, dass eine Reduktionvon Medikamenten in Pflegeheimen möglich ist und die Betreuungsqualität dadurch eher zu, sichernicht abnimmt.

Deshalb gilt weiterhin:

Ausser bei Sterbebegleitung undSpezialindikationen:

Benzodiazepine nicht mehr neuverordnen!Denn Benzodiazepine bringen viele Probleme mit sich,lösen nachhaltig aber keine.

Referenzen siehe Intercura 93, Sonderausgabe zum Thema Benzodiazepine vom Frühjahr 2006,resp. auf der Homepage des Stadtärztlichen Dienstes www.stadt-zuerich.ch/stadtarzt oder www.stadt-zuerich.ch/internet/sad/home/dienst/publika/archiv/-2006/fruehling_2005.html

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Buchbesprechung von A. Wettstein

Daten für Taten

«Gesundheitsberichterstattung und Surveillance.Messen, Entscheiden und Handeln»von Ralf Reintjes / Silvia Klein (Hrsg.)234 Seiten, 28 Abbildungen, 16 Tabellen, kartoniert, Sfr. 48.90© Verlag Hans Huber, Bern, 2007

Aus aktuellem Anlass habe ich das Buch mit grossem Interesse gelesen: Der Stadtrat hat einen Gesund-heitsbericht für die Stadt Zürich in Auftrag gegeben, als Mittel zur Begleitevaluation der städtischen Ge-sundheitsförderung, die einen Teil der Legislaturziele 4 und 5 darstellt. Wie beabsichtigt ist die Lektüresehr hilfreich für Personen, die Gesundheitsberichte planen und beurteilen müssen. Darüber hinaus istdas Büchlein hilfreich zur Beurteilung vorliegender Berichte und zur Einordnung ihrer Wichtigkeit.Als gutes Beispiel für den Nutzen des Büchleins für alle an der öffentlichen Gesundheit und deren Be-schreibung Interessierten - dies dürfte etwa der Zielgruppe der Intercura-Lesenden entsprechen - folgthier ein Abdruck des ersten Kapitels des Buches, die Beschreibung der Geschichte der Gesundheits-Berichterstattung. Dies wird erleichtern, den 2008 erscheinenden, ersten Zürcher Gesundheitsberichtrichtig zu bewerten.

Gesundheitsberichterstattung und Surveillance als Grundlagen für Entschei-dungsprozesse

Eine bewegte Geschichtevon Ralf Reintjes

Auch wenn die Begriffe Gesundheitsberichterstattung (GBE) und Surveillance im deutschen Sprach-gebrauch recht neu erscheinen, haben sich die Konzepte über lange Zeit entwickelt und sind seitJahrhunderten die Grundlage präventiven Handelns im Gesundheitsschutz. Unter anderem wird derFrage nachgegangen, wie es zu den heutigen Strukturen der GBE und Surveillance gekommen ist.Einige wichtige Eckpunkte der Geschichte sollen verdeutlichen, dass die systematische Weiterent-wicklung von Konzepten zur Bearbeitung aktueller bevölkerungsmedizinischer Probleme unersetzlichist.Die Ursprünge der GBE sind eng mit der Seuchenbekämpfung verbunden. Die Seuchenabwehr isteine der wesentlichen Wurzeln der öffentlichen Gesundheit zur Wahrung der öffentlichen und öko-nomischen Belange (Labisch 1992). Das Konzept, sowohl Mortalitäts- als auch Morbiditätsdaten alsGrundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen zu verwenden, entstand in Europa vor ca. 600Jahren mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Denkweise während der Renaissance. Bereitsim 14. Jahrhundert wird beschrieben, dass Präventionsmassnahmen auf der Basis entsprechenderBeobachtungen unternommen wurden. In der venezianischen Republik wurden beispielsweise um1348 im Zusammenhang mit der Pest "Wächter des öffentlichen Gesundheitsschutzes" ernannt. IhreAufgabe war es, ankommende Schiffe auf infizierte Personen zu untersuchen und gegebenenfallsdas gesamte Schiff unter Quarantäne zu stellen (Eylenbosch/Noah 1988). Das einfache Verfahrender regelmässigen Inspektion führte zu den ersten präventivmedizinischen Massnahmen einer euro-päischen Regierung (Moro/McCormic 1988).

Die Registrierung von Mortalitätsdaten erlangte ab dem 16. Jahrhundert eine weite Verbreitung. Invielen europäischen Städten wurden Berichte über Sterbeereignisse erhoben. So wurden um 1530 inLondon bereits die ersten Todesbescheinigungen erstellt, Für wissenschaftliche Zwecke wurdenentsprechende Daten jedoch erst ca. 100 Jahre später verwendet (Eylenbosch/Noah 1988).

Eines der ersten Beispiele dessen, was man heute unter Surveillance versteht, war die Beobachtungder Pest in London im 17. Jahrhundert. Die Küster der Kirchengemeinden Londons berichteten wö-chentlich über die Zahl der Beerdigungen und die zugrunde liegenden Todesursachen. Diese Datenwurden verwendet, um Informationen über das Ausmass der Pest in der gesamten Stadt zu gewin-nen. Als wöchentlicher Bill of Mortality erreichten die Daten diejenigen, die sie für die Durchführungvon Massnahmen verwenden konnten (z.B. Bürgermeister). Erstmals standen also nicht mehr, wieetwa bei Quarantänemassnahmen, einzelne Menschen unter Beobachtung, sondern die Verbreitungeiner Krankheit. Diese frühe Form eines Surveillance-Systems zeigt bereits die entscheidenden Prin-

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zipien der GBE und Surveillance, die noch heute Anwendung finden: Datensammlung und -analyse,Interpretation zur Informationsgewinnung und Verbreitung dieser Informationen für Handlungsempfeh-lungen (Declich 1994). Detaillierte Analysen der Wochenberichte wurden in England erstmals durchJohn Graunt erstellt. Er war Mitte des 17. Jahrhunderts der Erste, der die Bevölkerungszahl Londonssowie die Mortalitätszahlen und -raten einzelner Erkrankungen berechnete. John Graunt quantifiziertedas Vorkommen von Erkrankungen und verstand es, numerische Daten einer Bevölkerung zum Studi-um von Erkrankungen zu nutzen (Eylenbosch/Noah 1988). In Deutschland begründete Johann PeterSüssmilch, Probst in "Cölln an der Spree", die medizinische Statistik durch sein 1741 erschienenesWerk "Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" (Leven 1997).

Während des 18. Jahrhunderts wurden GBE und Surveillance als integraler Teil der Bevölkerungsme-dizin anerkannt. Gleichzeitig verlangten Mirabeau und andere Führer der Französischen Revolution,dass die Gesundheit des Volkes in der Verantwortung des Staates liegen müsse (Anonymus 1976). Inder zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts forderte Johann Peter Frank so genannte "medizinische To-pografien" als eine damals allumfassende Form der GBE, die ein Teil des "Systems einer vollständi-gen medicinischen Policey" in Deutschland sein sollte. (Thacker/Berkelman 1988). Franks umfassen-de und sehr detaillierte Beschreibungen hatten in seiner Zeit einen deutlichen Einfluss, sowohl inDeutschland und Österreich als auch in Ungarn, Italien, Dänemark und Russland. Seine Forderungenwurden zwar in ihrer Gesamtheit niemals in die Praxis umgesetzt, in ihren Grundzügen aber unter denZeitgenossen eifrig rezipiert (Leven 1997). Medizinische Topografien wurden frühzeitig als Aufgabedes öffentlichen Gesundheitsdienstes definiert. Bereits 1767 hatten Amtsärzte im baden-durlachischenDekret die Aufgabe, entsprechende Topografien zu erstellen (Wormer 2003).

Zur selben Zeit wurden die Grundlagen der GBE auch in einigen Kolonien in Nordamerika entwickelt.Im Jahre 1743 wurde in Rhode Island ein Gesetz verabschiedet, welches Pocken, Gelbfieber undCholera als meldepflichtig einstufte (Thacker/Berkelman 1988). In Preussen wurde 1808 im Ministeri-um des Innern eine Unterabteilung für das Medizinalwesen mit der Sanitätspolizei als Kontrollorganeingerichtet. Im Jahre 1835 wurde ein Regulativ erlassen, welches beinhaltete, dass jeder Bürgerbeim Auftreten von ansteckenden Krankheiten Anzeige erstatten musste (Fliescher 1977).

Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich unterschiedliche Bereiche der GBE weiter. SirEdwin Chadwick war der erste Gesundheitsadministrator in England, der den Zusammenhang zwi-schen Armut und Krankheit demonstrierte. In Deutschland zeigte Adolf Gottstein entsprechende Zu-sammenhänge auf. Als einer der ersten klinischen Epidemiologen lernte er, seine Erfahrungen undVermutungen durch systematische quantitative Analysen zu prüfen (Labisch 1997). In Grossbritannienführte der Bedarf nach akkuraten und vollständigen Mortalitätsdaten zur Errichtung des General Re-gister Office im Jahre 1836 (Galbraith 1982). William Farr wurde zum Leiter der Medizinstatistik. Wäh-rend seiner Tätigkeit beim General Register Office (1838-1879) entwickelte er ein modernes Surveil-lance-System und gilt als der Begründer des modernen Konzepts von Surveillance (Langmuir 1976).

Die Verbundenheit von Surveillance und der praktischen Nutzung von Daten als Grundlage für dieUrsachenforschung von Erkrankungshäufungen zeigte erstmals der Londoner Arzt John Snow. Erverwendete Surveillance-Daten, um die Ursache von Choleraepidemien zu erforschen. Seine Be-schreibungen zweier Epidemien, die in London in den Jahren 1848/49 und 1854/55 auftraten, sorgtenfür neues Wissen über das Auftreten und die Verbreitung der Erkrankung. Bei der Untersuchung derEpidemie in der Nähe des Golden Square im Jahre 1854 nutzte Snow die Sterbedaten von an Choleraverstorbenen Personen, besuchte die Häuser der registrierten Cholera-Toten und gewann Informatio-nen über die Wasserquellen der Haushalte. Er fertigte eine Karte des Stadtteils an, auf der sowohl dieAdressen der tödlichen Cholerafälle als auch die öffentlichen Wasserpumpen eingetragen waren.Snow war aufgrund der Ergebnisse seiner Untersuchungen davon überzeugt, dass eine zentral gele-gene Pumpe, die Broad-Street-Pumpe, für den Epidemieausbruch verantwortlich war und überzeugtedie örtlichen Behörden davon, den Pumpenschwengel zu entfernen. Kurze Zeit später endete derAusbruch (Snow 1855). Ohne dass der Erreger der Cholera, Vibrio cholerae, entdeckt war, gelang es,eine effektive Präventionsmassnahme zu finden. Dieses Ereignis gilt allgemein als die Gründung derEpidemiologie. Auch heute ist die Kombination beider Disziplinen (Surveillance und Epidemiologie)entscheidend für die Klärung von Ursachen bei Krankheitshäufungen.

Internationale Kooperationen und Vereinbarungen haben auf dem Gebiet der GBE eine lange Traditi-on. Bereits 1885 wurde in London das International Statistical Institute gegründet, das 1893 eine Listevon Todesursachen veröffentlichte. Mit den Zielen der Nationalstaaten in Europa, sich gegen die Cho-lera zu schützen und gleichzeitig den zwischenstaatlichen Handel zu erleichtern, fand in Paris im Jah-re 1851 die erste internationale Gesundheitskonferenz statt, an der Vertreter aus elf europäischen

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Ländern teilnahmen. Spätere Konferenzen führten zu der Gründung eines permanenten Internationa-len Komitees für Epidemien (1874) und der Verabschiedung der International Sanitary Convention(ICS). Die folgenden Konferenzen bereiteten den Weg für die gegenwärtigen Mechanismen der inter-nationalen Kontrolle infektiöser Krankheiten, wie z.B. die Gründung eines staatenübergreifenden Ü-berwachungssystems, welches sich mit übertragbaren Krankheiten befasst. 1903 kam man auf Basisder ISC zu der Übereinkunft, dass die Staaten andere Regierungen umgehend über das erste Auftre-ten von Fällen von Pest oder Cholera in ihrem Gebiet informieren müssen (Fiedler 1999). Dies führteletztlich zur Formulierung der International Health Regulations (IHR), die 1969 von der 22. Weltge-sundheitsversammlung verabschiedet wurden (liegen seit 2005 in aktualisierter Form vor).

In Deutschland fungierte das "Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3. Juli1934 als Grundlage für eine Verschiebung der inhaltlichen Gewichtung auf eine so genannte "Erb-und Rassenpflege", die in eine unmenschliche Sackgasse führte (Labisch/Trennstet 1985; Moser2006). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Sozialmedizin und die mit ihr assoziierten Bereiche inWestdeutschland weitgehend diskreditiert. Die GBE erlebte hier ein Schattendasein. Im zentralistischausgerichteten Staatswesen der ehemaligen DDR dagegen spielten amtliche Berichterstattungen einegrosse Rolle. Viele Berichterstattungen im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Gesundheits-wesen waren eine Mischung aus amtlicher Medizinalstatistik und GBE. Eine einseitige Betrachtungs-weise von Zahlen und die Überbewertung von Wachstumsraten liessen die Wissenschaftlichkeit derStatistik jedoch fraglich erscheinen und machten sie streckenweise zum Erfüllungsgehilfen der "Er-folgspolitik" der Parteiführung (Bardehle/Oertel 1992).

Während es im angelsächsischen Sprachraum schon seit den 70er- und 80er Jahren des 20. Jahr-hunderts moderne Formen der GBE gab, blieb in Westdeutschland die Verbindung zwischen GBE undPraxis bzw. Gesundheitspolitik für lange Zeit unterbrochen (Kuhn/Busch 2006). Im angelsächsischenSprachraum wurde GBE um Surveillance-Konzepte erweitert und viele verschiedene Surveillance-Systeme wurden entwickelt. Methoden der Datensammlung, -analyse und Informationsverbreitungwurden erweitert und methodische Fragen bekamen einen höheren Stellenwert. Diese Entwicklungwurde seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt durch Entwicklungen in den USA be-stimmt. Die Aktivitäten der Communicable Disease Centers in Atlanta, der heutigen Centers for Disea-se Control and Prevention (CDC), stärkten das Konzept der Surveillance als Methode für die Beo-bachtung der Inzidenz von Erkrankungen in Populationen. Die Durchführung von Kontrollmassnah-men wurde den lokalen Gesundheitsautoritäten zugeschrieben (MMWR 1992). Während dieser Zeitwurde Surveillance zu einem der entscheidenden Instrumente bei den Kontroll- und Eliminierungsbe-strebungen für Erkrankungen wie Poliomyelitis, Masern, Tollwut und für die spätere Eradikation derPocken (Van Loock 1994). 1965 wurde eine epidemiologische Surveillance-Einheit am Hauptsitz derWeltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf eingerichtet, die im darauf folgenden Jahr erstmals einenCommunicable Disease Surveillance Report veröffentlichte.

Die Zielsetzung der GBE und Surveillance veränderte sich im Laufe der Zeit ausgehend von der Indi-vidualkontrolle (wie in der klassischen Betrachtung von sexuell übertragbaren Erkrankungen: Falliden-tifikation, Suche nach Kontaktpersonen und Anwendung von Präventionsstrategien) hin zur Unterstüt-zung bei der Auswahl von Interventionsmassnahmen, Trendmessungen, Identifizierung von Hochrisi-kogruppen und von Veränderungen beim Übertragungsmodus sowie dem Entwickeln von Präventi-onsstrategien.

Es bestehen weiterhin grosse Herausforderungen für alle Beteiligten im Gesundheitswesen. DieseHerausforderungen können nur mit einer effizienten und zeitnahen Bearbeitung der Informationenbewältigt werden. Viele Akteure sehen eine Integration der nationalen in eine aktive europäische GBEund Surveillance als zukunftsweisend an. Erst dann kann langfristig das Ziel, Informationen für Tatenzu liefern, erreicht werden.

Jahresprogramm 2007für den Alzheimer Business Lunch

eine Koproduktion der Memory Klinik Entlisberg und derSchweiz. Alzheimervereinigung Zürich

Festsaal des Pflegezentrums Riesbach,Witellikerstrasse 19, 8008 Zürich

Wir laden Menschen mit Demenz, Angehörige, Freunde und Interessierte zu einem Vortrag und Dis-kussion von ca. 30 Minuten mit anschliessendem gemütlichen Mittagessen ein. An diesem Forumbegegnen Sie Fachleuten und alten und neuen Bekannten. Die Vorträge vermitteln Ihnen Neues. Siehaben Gelegenheit Fragen zu stellen und Erfahrungen auszutauschen.

Der Business Lunch findet jeweils am Donnerstag von11.30 Uhr bis ca. 14.00 Uhr statt.

Die Kosten für den Vortrag und das anschliessende Esseninkl. Getränken betragen Fr. 20.--.

Bitte melden Sie sich bis am Dienstag der jeweiligen Woche bei unserer Alzheimer Informationsstelle,Forchstrasse 362, 8008 Zürich an: Tel. 043 499 88 63 oder E-Mail: [email protected].

Haben Sie Fragen? Kennen Sie die Institution Business Lunch noch nicht? Rufen Sie an (täglich von9.30 Uhr bis 12.30 Uhr, mittwochs bis 15.30 Uhr) oder senden Sie uns ein E-Mail.

Sie finden unser Jahresprogramm auch auf unserer Homepage:www.alz-zuerich.ch.

Wir freuen uns, Sie im Festsaal des Pflegezentrums Riesbach am Business Lunch begrüssen zu kön-nen.

Alzheimer Vereinigung Zürich

15. März 2007SelbsterhaltungstherapieDr. Barbara Romero, Psychologin, Alzheimer TherapiezentrumBad Aibling DE

Frau Dr. Romero stellt das von ihr entwickelte Konzept und die Realisierung des mehrwöchigen The-rapieangebotes für demenzkranke Menschen zusammen mit ihren betreuenden Angehörigen vor.Dieses intensive Programm bietet medizinische und psychosoziale Hilfe für beide, mit dem Ziel, fami-liäre Ressourcen und Lebensqualität aller Betroffenen nachhaltig zu erhalten.

19. April 2007Was ist Palliative Care?Claudine Freudiger, Pflegefachfrau, Leiterin „Palliative Care“

Wie ist diese "Bewegung“entstanden? Schwerpunkte des palliativen Konzepts. Wo findet PalliativeCare statt? Wann setzt palliative Betreuung ein? Frau Freudiger wird diese Fragen beantworten unduns anhand von praktischen Beispielen die palliative Pflege näher bringen.

31. Mai 2007Case ManagementGeorg Raguth, Patientenberater bei der KK Helsana

Herr Raguth informiert uns über die Möglichkeit, die Krankenkasse als Berater beizuziehen, wenn esdarum geht, verschiedene Dienstleitungen wie z.B. Spitex, Therapien, Rehabilitationen usw. zu orga-nisieren, und die finanziellen Belange zu regeln.

28. Juni 2007„Auf Betroffene hören - soziale Unterschiede im Umgang mit dementen Angehörigen“Dr. Dieter Karrer, Soziologe, Hochschule für Soziale Arbeit

Es werden die Ergebnisse einer Nationalfondsstudie vorgestellt, in der 40 Partner und Partnerinnensowie 20 Töchter von Demenzkranken aus unterschiedlichen sozialen Milieus über ihre Erfahrungen,ihre Probleme und ihren Umgang mit der Krankheit ihrer Angehörigen befragt worden sind.

6. September 2007„Informationen zu Verfügungen und Beistandschaften“Margrit Bossart, lic.oec. Generalsekretärin Schweiz. Seniorenrat

Frau Bossart wird Ihnen Informationen zu Patientenverfügung, Beistandschaften, Vertretungen beiBankgeschäften und Unterschriftenberechtigung vermitteln.

25. Oktober 2007„Natur als Ressource erleben“Prof. Dr. Urs Kalbermatten, Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit und Pro Senectute Schweiz

Herr Prof. Kalbermatten hält uns ein Referat über die Möglichkeiten, wie wir der Natur auch noch be-gegnen können.1. Teil: Was gewinnen Menschen mit einer Demenz und wir, wenn wir uns in der Natur bewegen.

2.Teil: Hinweise auf einige Methoden des Naturerlebens.

15. November 2007„Kinästhetik, bewegen statt heben und tragen“Monika Schümperli (Kinästhetiktrainerin)

Wie kann ich mit weniger Kraft aufstehen, wenn ich gefallen bin. Ihr Partner hat Mühe zum sich Hin-setzen, welche Bewegungsunterstützung ist da hilfreich. Die Konzepte der Kinästhetik sind äusserstvielfältig anwendbar. Sie unterstützen unser Bewegungsverhalten im Alltag, vermitteln Neugierde,mehr über die eigenen Bewegungsabläufe zu erfahren.

13. Dezember 2007SurpriseLassen Sie sich überraschen!Die Wundertüte wird im Sommer geöffnet.

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Impressum

Erscheint 4x jährlichJahresabonnement Fr. 15.00Einzelnummer Fr. 5.00

Verlag:Stadtärztlicher Dienst ZürichPostfach, 8035 ZürichTel. 044 412 11 11Fax 044 362 12 13

Druck:Eduard Truninger AG8040 Zürich

Redaktion:Dr. A. WettsteinChefarzt SAD

Beratung:Dr. C. BruppacherStv. Chefarzt SAD

Sekretariat / ProduktionEdith Kappeler SAD044 412 43 [email protected]