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Analysis 1 Vorlesungsskript Wintersemester 2013/14 Bernd Schmidt * Version vom 29. Juli 2014 * Institut f¨ ur Mathematik, Universit¨ at Augsburg, Universit¨ atsstr. 14, 86135 Augs- burg, [email protected] 1

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Analysis 1

Vorlesungsskript

Wintersemester 2013/14

Bernd Schmidt∗

Version vom 29. Juli 2014

∗ Institut fur Mathematik, Universitat Augsburg, Universitatsstr. 14, 86135 Augs-burg, [email protected]

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 2

1 Einleitung 4

2 Allgemeine Grundlagen 62.1 Aussagen und Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62.2 Mengen und Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142.3 Vollstandige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3 Reelle und komplexe Zahlen 283.1 Die Korperaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283.2 Die Anordnungsaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343.3 Zum Aufbau des Zahlensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393.4 Das Vollstandigkeitsaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.5 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

4 Folgen und Reihen 544.1 Folgen und Grenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544.2 Reelle Folgen und Monotonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604.3 Konsequenzen der Vollstandigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644.4 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664.5 Zur Darstellung der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754.6 Potenzreihen und die Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . 77

5 Stetige Funktionen 835.1 Definition und grundlegende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . 835.2 Stetige Funktionen auf kompakten Intervallen . . . . . . . . . . . 885.3 Monotonie und Umkehrfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 915.4 Asympotisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955.5 Trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

6 Differentiation 1056.1 Definition, Beispiele und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 1066.2 Der Mittelwertsatz und seine Konsequenzen . . . . . . . . . . . . 113

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6.3 Monotonie, Extrema und Konvexitat . . . . . . . . . . . . . . . . 118

7 Das Integral 1267.1 Definition des Integrals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Literaturverzeichnis 138

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Kapitel 1

Einleitung

Es ist nicht moglich, in einer allgemeingultigen Definition zusammenfassen, was‘die Mathematik’ fur eine Wissenschaft sei. Ausgehend von Untersuchungen derEigenschaften von Zahlen und geometrischen Figuren, zu denen schon in derAntike bedeutende Beitrage geleistet wurden, hat sie sich mittlerweile zu einemriesigen theoretischen Gebaude aufgebaut, in viele einzelne Gebiete aufgegliedert,und doch wieder Verbindungen zwischen entfernt scheinenden Bereichen aufge-zeigt, so dass man nur sehr schwer einen Uberblick gewinnen kann. Immer abergeht es darum, Probleme zu losen, theoretische Fragen durch logisches Schließenabsolut zweifelsfrei beantworten zu konnen. Die Herausforderung und Neugier anungelosten Fragestellungen waren seit jeher eine der wesentlichen Antriebsfedernzur Beschaftigung und dadurch auch zur Weiterentwicklung der Mathematik.Man denke nur an die Quadratur des Kreises – ein antikes Problem, das docherst nach Jahrtausenden gelost werden konnte. Um derartige Fragen beantwor-ten zu konnen, wurden eigene mathematische Theorien geschaffen, indem eineVielzahl neuer mathematischer Konstrukte definiert und deren Beziehungen un-tereinander untersucht wurden. Wie in anderen Wissenschaften, wirft jedoch einegeloste Frage oft gleich eine Vielzahl weiterer interessanter Fragestellungen auf.In den allermeisten Fallen muss man dabei schon ein Experte sein, um uberhauptvestehen zu konnen, was diese Fragen denn eigentlich sind. Doch obwohl sich dieMathematik damit innermathematisch immer weiter fortentwickelt und sich inimmer abstrakteren Gedankengebilden zu verlieren scheint, kann sie erstaunli-che Erfolge in den Anwendungen auf die verschiedensten außermathematischenWissenschaften vorweisen: von den Naturwissenschaften und der Physik im Be-sonderen bis zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

Die angedeutete Schaffung einer mathematischen Theorie spiegelt sich auchim Aufbau dieser Vorlesung – wie in den meisten Lehrbuchern zur Mathematik– wieder. Uberspitzt ausgedruckt folgt der Aufbau dem Schema

Definition – Satz – Beweis.

In den Definitionen werden die Begriffe, also die mathematischen Konstrukte

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einer Theorie festgelegt. Ein Satz (auch Lehrsatz oder Theorem) macht dann ei-ne Aussage uber die Eigenschaften dieser Konstrukte und die Beziehungen derBegriffe untereinander. Schließlich muss die Gultigkeit dieses Satzes durch einenabsolut zwingenden logischen Schluss begrundet werde. Naturlich werden wir die-sem etwas blutleeren Aufbau durch motivierende Worte etwas Farbe geben, dieerklaren sollen, warum es interessant ist, gerade diesen oder jenen Begriff naher zuuntersuchen. Man darf sich durch diesen in Lehrbuchern ublichen Aufbau nichtbei der eigenen mathematischen Arbeit am Problemlosen verunsichern lassen.Das, was hier in der Vorlesung Analysis 1 vorgestellt wird, ist uber viele Jahr-hunderte auch in der Effizienz der Darstellung gereift. Beim eigenen Arbeiten anden Hausaufgaben werden Sie merken, dass die ersten Wege zur Losung meistensnicht geradlinig verlaufen.

In der Vorlesung Analysis 1 nun geht es im Wesentlichen um die Differential-und Integralrechnung einer reellen Veranderlichen. Wir untersuchen also Eigen-schaften von Funktionen, die einer reellen Zahl wieder eine reelle Zahl zuordnen.

Vorkenntnisse: sind (fast) keine notig. Abitur ist mehr als genug.

Literatur: Es gibt viele gute Lehrbucher zur Analysis 1. Sehr empfehlenswertsind die Analysisbucher [Fo] von Forster und [Ko] von Konigsberger, deren Aufbauauch dieser Vorlesung zugrunde liegt. Des Weiteren sei hier insbesondere auf dieBucher [Br] von Brocker, [He] von Heuser (sehr ausfuhrlich), [Hi] von Hildebrandtund [La] von Lang (auf Englisch) verwiesen.

Fehler: Bitte teilen Sie mir evtl. Tipp- oder auch andere Fehler in diesem Skriptper E-Mail mit.

Vielen Dank an alle, die mich auf Fehler in fruheren Versionen dieses Skriptsaufmerksam gemacht haben, insbesondere an Herrn Gassner, Frau Maucher undHerrn von Seelstrang.

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Kapitel 2

Allgemeine Grundlagen

Wir beginnen damit, einige wichtige Grundlagen zusammenzustellen, die die Ba-sis nicht nur der Analysis sind. Die eigentliche Analysis beginnt dann im Kapitel3, wenn wir die reellen Zahlen axiomatisch einfuhren. Schon jetzt werden wirallerdings in etlichen Beispielen Zahlen verwenden (naturliche, ganze, rationalewie auch reelle), die Sie ja aus der Schule kennen.

2.1 Aussagen und Beweise

Ein mathematischer Sachverhalt wird durch eine mathematische Aussage formu-liert. Dies ist ein Satz, der entweder zutrifft oder nicht und dem man entsprechendden Wahrheitswert ‘wahr’ (w) oder ‘falsch’ (f) zuordnet. Eine Aussage kann je-doch nicht sowohl wahr als auch falsch sein.

Beispiele: Diese Satze sind Aussagen:

• Der Lech fließt in die Donau. (w)

• Die Donau mundet in die Nordsee. (f)

• Eine gerade Quadratzahl ist durch 4 teilbar. (w)

•√

2 ist rational. (f)

Die folgenden Satze sind keine Aussagen:

• Hol mir mal ’ne Flasche Bier!

• Wie geht es dir?

• Dieser Satz ist falsch.

In der Mathematik geht es nun darum, (moglichst interessante) mathemati-sche Aussagen zu treffen und mathematisch zu beweisen, dass diese wahr sind. Be-weisen bedeutet hierbei, dass die fragliche Aussage durch mathematisch zulassige

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Schlusse aus anderen wahren Aussagen hergeleitet wird. Die wesentliche Arbeitder Mathematiker besteht also darin, Folgerungen zu ziehen. Da man damit of-fensichtlich irgendwo beginnen muss, ist es notig, einige (moglichst wenige undmoglichst grundlegende) Aussagen als wahr zu postulieren. Dies sind die soge-nannten Axiome einer mathematischen Theorie. Sind die einmal festgelegt, be-ginnt die eigentliche Arbeit des Aufdeckens von Zusammenhangen, Formulierensvon Vermutungen und Aufsuchens eines mathematischen Beweises.

Auch die Suche nach geeigneten Axiomensystemen, also der Auswahl dergrundlegenden als wahr postulierten Aussagen, kann ein interessantes mathe-matisches Problem darstellen. Ein solches System sollte in sich widerspruchsfreisein, andererseits aber zu einer reichhaltigen Theorie, also vielen beweisbarenAussagen fuhren. Dabei hat – zumindest im Prinzip – jede Mathematikerin dieFreiheit, ihr eigenes Axiomensystem festzulegen. Tatsachlich haben sich in derMathematik jedoch gewisse allgemeinverbindliche Axiome durchgesetzt, die vonden meisten Mathematikern akzeptiert sind. Es gibt jedoch auch Axiome, wiez.B. das Auswahlaxiom der Mengenlehre, die von einigen Mathematikern gemie-den werden. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Ein Leitgedanke bei derAufsuchung eines geeigneten Axiomensystems sollte es jedoch sein, zentrale Ob-jekte der Mathematik, durch die sich auch Modelle in den Anwendungen etwa inden Natur- oder Wirtschaftswissenschaften untersuchen lassen, einer mathemati-schen Analyse zuganglich zu machen. Hierbei kann es durchaus vorkommen, dasses sinvoll ist, konkurrierende und miteinander nicht vereinbare Axiomensystemezu studieren. So gibt es in der ebenen Geometrie z.B. das Parallelenaxiom, dasvon den ubrigen Axiomen Euklids1 unabhangig ist. Es besagt, dass es ‘zu jederGeraden und jedem Punkt, der nicht auf dieser Geraden liegt, genau eine zu dergegebenen Geraden parallele Gerade durch diesen Punkt gibt’. Alternativ lasstsich das Gegenteil dieser Aussage als wahr postulieren, was zur NichteuklidischenGeometrie fuhrt. Alle Satze, die wir in der Mathematik als wahr erkennen, sindalso eigentlich nur wahr relativ zu einem ausgewahlten Axiomensystem.

Kehren wir zuruck zu unser Hauptaufgabe, mathematische Satze zu formu-lieren und zu beweisen. Ein mathematischer Satz enthalt Voraussetzungen undBehauptungen. Er ist wahr, wenn im Falle, dass die Voraussetzungen wahr sind,auch die Behauptungen wahr sind.

Beispiel: Ist n eine gerade Quadratzahl︸ ︷︷ ︸=Voraussetzung

, so ist n durch 4 teilbar︸ ︷︷ ︸= Behauptung

.

Durch logisches Schließen konnen wir diesen Satz beweisen:

Beweis. 1. Ist n eine Quadratzahl, so gibt es eine naturliche Zahl m mit n = m2.2. Da n gerade ist, muss auch m gerade sein. Denn fur m ungerade, ist auch

m2 = m · m ungerade. Wir konnen also m = 2k fur eine naturliche Zahl kschreiben.

1aus Euklids Elementen

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3. Dann aber ist n = m2 = (2k)2 = 4k2, was zeigt, dass n tatsachlich durch 4teilbar ist. �

(Die Box � bezeichnet immer das Ende eines Beweises.)

Verknupfungen von Aussagen

Mathematische Aussagen konnen – wie wir eben schon am Beispiel dieses Satzesgesehen haben – verknupft werden, wodurch eine neue Aussage entsteht. Diewichtigsten Verknupfungen sind die Folgenden. Hierbei stehen A und B jeweilsfur eine Aussage und die Wahrheitstafel gibt an, unter welchen Wahrheitswertenfur A bzw. B die Verknupfung wahr oder falsch ist:

1. Die Negation ¬: ¬A, gesprochen ‘Nicht-A’ oder ‘Non-A’.

A ¬Aw ff w

Das heißt: Ist A wahr, so ist ¬A falsch.Ist A falsch, so ist ¬A wahr.

2. Die Konjunktion ∧: A ∧ B, gesprochen ‘A und B’ oder ‘sowohl A als auchB’.

A B A ∧Bw w ww f ff w ff f f

Das heißt: A∧B ist wahr, wenn sowohlA als auch B wahr sind. In allen ande-ren Fallen ist A ∧B falsch.

3. Die (nicht ausschließende) Disjunktion oder Adjunktion ∨: A ∨ B, gespro-chen ‘A oder B’.

A B A ∨Bw w ww f wf w wf f f

Das heißt: A∨B ist wahr, wenn (minde-stens) eine der Aussagen A oder B (ggf.sogar beide) wahr sind. Nur wenn Aund B beide falsch sind, ist auch A∨Bfalsch.

4. Die Implikation ⇒: A⇒ B, gesprochen ‘A impliziert B’ oder ‘Aus A folgtB’ oder ‘Wenn A dann B’ oder ‘B ist eine Konsequenz von A’.

A B A⇒ Bw w ww f ff w wf f w

Aus einer wahren Aussage kann wahrheits-gemaß nur eine wahre Aussage folgen. Ist je-doch A falsch, so ist die Implikation A⇒ Bwahr unabhangig vom Wahrheitswert von B.(‘Ex falso quodlibet.’)

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Gilt A ⇒ B, d.h. ist A ⇒ B eine wahre Aussage, so nennt man A einehinreichende Bedingung fur B und B eine notwendige Bedingung fur A.Denn die Wahrheit von A ist ein hinreichender Grund fur die Wahrheit vonB und umgekehrt muss B wahr sein, damit auch A wahr sein kann.

5. Die Aquivalenz⇔: A⇔ B, gesprochen ‘A ist aquivalent zu B’ oder ‘Genaudann B wenn A’.

A B A⇔ Bw w ww f ff w ff f w

Die Aquivalenz A ⇔ B ist also wahr,wenn A und B die gleichen Wahrheits-werte besitzen, und anderenfalls falsch.

Tautologien und Beweisprinzipien

Es gelten die folgenden wichtigen logischen Tautologien, also Aussagen, die un-abhangig vom Wahrheitswert der beteiligten Aussagen A,B,C immer wahr sind:

Doppelte Verneinung: ¬(¬A)⇔ A.

Beweis. Mit Wahrheitstafel:A ¬A ¬(¬A) ¬(¬A)⇔ Aw f w wf w f w

De Morgansche Regeln: Diese beiden Tautologien sind

¬(A ∧B) ⇔ (¬A ∨ ¬B) und ¬(A ∨B) ⇔ ¬A ∧ ¬B.

Beweis. Wir beweisen nur die erste Regel – wieder mit einer Wahrheitstafel. DerBeweis der zweiten Regel verlauft analog. (Uberlegen Sie sich das!)

A B A ∧B ¬(A ∧B) ¬A ¬B ¬A ∨ ¬B ¬(A∧B)⇔ (¬A∨¬B)w w w f f f f ww f f w f w w wf w f w w f w wf f f w w w w w

Die Wahrheitswerte von ¬(A ∧ B) ⇔ (¬A ∨ ¬B) sind also tatsachlich immerwahr. �

Beispiel: Ist A die Aussage ‘n ist eine Quadratzahl’, B die Aussage ‘n ist einegerade Zahl’. Dann ist A∧B ‘n ist eine Quadratzahl und n ist eine gerade Zahl’.D.h.: ‘n ist eine gerade Quadratzahl’. Die Negation ¬(A∧B) ist dann ¬A∨¬B ‘nist nicht gerade oder n ist keine Quadratzahl’. Das bedeutet nicht, dass ‘n wedergerade noch eine Quadratzahl ist’. (Uberlegen Sie sich das fur den Fall n = 6.)

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Zur Aquivalenz: (A⇔ B) ⇔((A⇒ B) ∧ (B ⇒ A)

).

Beweis. Mit Wahrheitstafel:A B A⇔ B A⇒ B B ⇒ A (A⇒ B) ∧ (B ⇒ A)w w w w w ww f f f w ff w f w f ff f w w w w

Die Wahrheitswerte der dritten und der sechsten Spalte sind identisch. Daher gilt(A⇔ B)⇔

((A⇒ B) ∧ (B ⇒ A)

). �

Die Aquivalenz bedeutet also, dass sowohl A B impliziert als auch B A. Wirdin einem mathematischen Satz die Aquivalenz von zwei Aussagen A und B be-hauptet, so kann man dies nachweisen, indem man A⇒ B und B ⇒ A beweist.

Transitivitat der Implikation:((A⇒ B) ∧ (B ⇒ C)

)⇒ (A⇒ C).

Beweis. Mit Wahrheitstafel, wobei wir die zu beweisende Tautologie mit (∗)abkurzen.

A B C A⇒ B B ⇒ C (A⇒ B) ∧ (B ⇒ C) A⇒ C (∗)w w w w w w w ww w f w f f f ww f w f w f w ww f f f w f f wf w w w w w w wf w f w f f w wf f w w w w w wf f f w w w w w

Wenn aus A B und aus B C folgt, so impliziert A C. Insbesondere durfen wirin Beweisen schrittweise schließen: Um C aus A zu folgern, konnen wir zunachstvon A auf eine andere (Hilfs-)Aussage B und von dieser dann auf C schließen.Dieses Vorgehen kann man naturlich wiederholt anwenden und eine ganze Kettevon (Hilfs-)Aussagen B1, . . . , Bn einfuhren, fur die sich

A⇒ B1, B1 ⇒ B2, . . . , Bn−1 ⇒ Bn sowie Bn ⇒ C

zeigen lasst und damit A ⇒ C. Einen Beweis nach diesem Schema nennt manauch einen direkten Beweis.

Kontraposition: (A⇒ B) ⇔ (¬B ⇒ ¬A).Beweis. Mit Wahrheitstafel:

A B A⇒ B ¬A ¬B ¬B ⇒ ¬Aw w w f f ww f f f w ff w w w f wf f w w w w

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Die Wahrheitswerte der dritten und der sechsten Spalte sind identisch. �

Diese Tautologie liegt dem Beweisprinzip der Kontraposition zugrunde. Umzu zeigen, dass aus A B folgt, kann man nachweisen, dass aus Nicht-B Nicht-Afolgt. M.a.W.: Man nehme an, dass B falsch ist und zeige dann, dass auch Afalsch ist.

Beispiel: Dieses Prinzip haben wir oben schon angewandt: Aus n gerade undn = m2 fur eine naturliche Zahl m folgt, dass auch m gerade ist.

Beweis. Durch Kontraposition: Ist m ist nicht gerade, also von der Form m =2k−1 fur eine naturlich Zahl k. Dann ist auch n = m2 = (2k−1)2 = 4k2−4k+1 =2(2k2 − 2k) + 1 nicht gerade. �

Prinzip des Widerspruchsbeweises: (A⇒ B) ⇔ ¬(A ∧ ¬B).Beweis. Mit Wahrheitstafel:

A B A⇒ B ¬B A ∧ ¬B ¬(A ∧ ¬B)w w w f f ww f f w w ff w w f f wf f w w f w

Die Wahrheitswerte der dritten und der sechsten Spalte sind identisch. �

Diese Aquivalenz liegt dem Prinzip des Widerspruchsbeweises zugrunde: UmB aus A zu folgern, kann man wie folgt vorgehen. Man findet eine Aussage C,so dass sich C sowie deren Gegenteil ¬C aus der Annahme, dass A wahr und Bfalsch ist, ableiten lassen, d.h. man weist nach, dass sowohl

(A ∧ ¬B)⇒ C als auch (A ∧ ¬B)⇒ ¬C

gelten: Man konstruiert einen Widerspruch. Damit ist dann A⇒ B gezeigt.Es gilt namlich, wobei man streng genommen auch die ersten beiden der

folgenden Schritte wieder mit Wahrheitstafeln begrunden musste,((A ∧ ¬B)⇒ C

)∧((A ∧ ¬B)⇒ ¬C

)⇔((A ∧ ¬B)⇒ (C ∧ ¬C)

)⇔ ¬(A ∧ ¬B)

⇔ (A⇒ B) (s.o.).

Die zweite Aquivalenz ergibt sich hier daraus, dass Implikation mit der immerfalschen Folgerung C∧¬C genau dann wahr ist, wenn die Pramisse A∧¬B falschist.

Beispiel:√

2 ist irrational. (Wie oben schon erwahnt ist auch dieser Satz ei-gentlich als eine Folgerung aus gewissen Grundannahmen in der Mathematik zuverstehen.)

Beweis. Widerspruchsannahme:√

2 ist rational, etwa√

2 = pq

mit p ∈ Z und

q ∈ N. Wegen√

2 > 0 ist dann sogar p ∈ N. Indem wir diesen Bruch vollstandigkurzen, erhalten wir

√2 = r

smit naturlichen Zahlen r und s. Dabei gilt:

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r ist ungerade oder s ist ungerade.

Multiplikation mit s und anschließendes Quadrieren der Gleichung√

2 = rs

liefert

2s2 = r2. Aus fruheren Uberlegungen (s.o.) wissen wir, dass dann r gerade undr2 sogar durch 4 teilbar ist, etwa r2 = 4t. Dann aber folgt s2 = 2t, weshalb auchs2 und damit auch s selbst gerade ist. D.h.:

r ist gerade und s ist gerade.

Widerspruch! �

Quantoren und quantifizierte Aussagen

In der Mathematik werden oft Satze, die von gewissen Variablen x, y, z, . . . ausgewissen Mengen abhangen, untersucht. Ein solcher Satz A(x, y, x, . . .) ist selbstkeine Aussage. Er wird erst dann zu einer Aussage, wenn man die Variablenquantifiziert. Die wichtigsten Quantoren, die dies leisten, sind der Allquantor ∀‘fur alle’ und der Existenzquantor ∃ ‘es existiert/gibt ein’. Fur einen Satz A(x)kann man dann etwa die Aussagen

• ∀x : A(x), d.h. ‘Fur alle x gilt A(x)’, und

• ∃x : A(x), d.h. ‘Es existiert ein x, so dass A(x) gilt’,

bilden. ‘Es existiert ein x’ ist hier im Sinne von ‘Es existiert mindestens ein x’zu verstehen. Mochte man ausdrucken, dass es genau ein x gibt (also nicht zweioder mehr), so schreibt man ∃!.Beispiele:

1. Ist A(x) der Satz x > 7, wobei x eine Variable aus der Menge der reellenZahlen ist, so ergeben sich die folgenden Aussagen. ∀x : x > 7: ‘Fur allex gilt x > 7’. (Offensichtlich falsch.) Sowie ∃x > 7: ‘Es existiert ein x mitx > 7’. (Offensichtlich wahr.)

2. Ist A(x) der Satz x2 = 2, wobei x eine Variable aus der Menge der reellen(oder rationalen) Zahlen ist, so ist ∃x : A(x) eine wahre (bzw. falsche)Aussage.

3. Es sei A(x, y) der Satz x < y mit reellen Zahlen x, y. Durch Quantifizierungerhalt man z.B. ∀x∃ y : x < y. In Worten: Fur alle x gibt es ein y, so dassx < y gilt. Dies ist ein wahrer Satz, denn man kann y = x + 1 wahlen.Man kann aber etwa auch den Satz ∃ y ∀x : x < y bilden. In Worten: Esexistiert ein y, so dass fur alle x gilt x < y. Dieser Satz ist falsch, wie dasGegenbeispiel y = x zeigt.

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Das letzte Beispiel zeigt, dass es wichtig ist, die Reihenfolge der Quantorenzu beachten. Insbesondere darf die Reihenfolge verschiedener Quantoren nichtvertauscht werden. Ist A(x, y) der Satz: Am Tag x esse ich zu Mittag gerne y,wobei x einen Tag im Oktober und y etwas zu essen bezeichnet, so ist

• ∀x ∃ y : A(x, y): ‘An jedem Tag des Oktobers esse ich zu Mittag gerneetwas’ eine wahre Aussage,

• ∃ y ∀x : A(x, y): ‘Es gibt etwas, das ich an jedem Tag im Oktober gern zuMittag esse’ falsch.

(Teilen Sie diese Erkenntnis doch mit dem Studentenwerk.)Zulassig ist es jedoch, die Reihenfolge zweier aufeinanderfolgender Allquan-

toren sowie die Reihenfolge zweier aufeinanderfolgender Existenzquantoren zuvertauschen, d.h. es gelten

∀x∀ y : A(x, y) ⇔ ∀ y ∀x : A(x, y)

und∃x∃ y : A(x, y) ⇔ ∃ y ∃x : A(x, y).

Die Negation einer Aussage mit Quantoren ist ganz einfach: Es ist

¬∀x : A(x) ⇔ ∃x : ¬A(x) und ¬∃x : A(x) ⇔ ∀x : ¬A(x).

Das Gegenteil von ‘Fur alle x gilt A(x)’ ist ‘Es gibt ein x, fur das A(x) nichtgilt’. Das Gegenteil von ‘Es gibt ein x, fur das A(x) gilt’ ist ‘Fur alle x gilt A(x)nicht’. Man kann also die Negation ¬ an einem Quantor ‘vorbeiziehen’, wobei ∀zu ∃ bzw. ∃ zu ∀ wird. Damit lassen sich auch Aussagen mit mehreren Quantorenleicht negieren, indem man (sukzessive) ¬ von links nach rechts schiebt und dieQuantoren auswechselt.

Beispiele:

1. Die Negation von ‘An jedem Tag des Oktobers esse ich zu Mittag gerneetwas’ lautet ‘Es gibt einen Tag im Oktober, an dem ich nicht gerne zuMittag esse’.

2. Bezeichnet x, y reelle Zahlen, so ist

¬∃ y ∀x : x < y ⇔ ∀ y ∃x : ¬x < y ⇔ ∀ y ∃x : x ≥ y.

3. Es ist¬∀x ∃ y ∀ z : A(x, y, z) ⇔ ∃x ∀ y ∃ z : ¬A(x, y, z).

4. Das Gegenteil von

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‘Fur jede positive rationale Zahl x und jede naturlich Zahl n gibtes eine rationale Zahl y mit x = yn’

(was falsch ist) lautet

‘Es gibt eine rationale Zahl x und eine naturliche Zahl n, so dassfur alle rationalen Zahlen y gilt x 6= yn’

(richtig, setze z.B. x = 2, n = 2).

Ubung: Betrachten Sie den Satz A(x, y, z): ‘Am Tag x versteht der Student yin der Analysisvorlesung z’, wobei z die Worte des Dozenten bezeichnet. Formu-lieren Sie alle moglichen Quantifizierungen durch ∀ und ∃ und deren Negationumgangssprachlich.

2.2 Mengen und Abbildungen

Die Mengenlehre ist die Grundlage der modernen Mathematik. So lassen sich dieBegriffe, die wir insbesondere in der Analysis untersuchen, letztlich auf Begriffeder Mengenlehre zuruckfuhren. Das heute allgemein anerkannte Axiomensystemder Mengenlehre geht auf Zermolo und Fraenkel zuruck. Eine sorgfaltige Un-tersuchung dieses Systems und seiner Konsequenzen muss jedoch einer eigenenVorlesung vorbehalten bleiben. Fur die Zwecke der Analysis genugt es, eine Vor-stellung vom Begriff der Menge zu haben und einige Operationen, die man mitMengen durchfuhren kann, zu erlautern.

Nach Cantor ist eine Menge eine

“Zusammenfassung von bestimmten, wohlunterschiedenen Objektenunserer Anschauung oder unseres Denkens (welche ‘Elemente der Men-ge’ genannt werden) zu einem Ganzen.”

Dieser Begriff ist nicht unproblematisch, wie wir gleich noch sehen werden, genugtals Leitfaden fur alle Zwecke der Analysis 1-3 jedoch vollauf. Fur eine Menge Mschreiben wir

• x ∈M , wenn x ein Element von M ist (man sagt auch x liege in M) und

• x /∈M , wenn x kein Element von M ist (wenn x nicht in M liegt).

Gilt fur zwei Mengen M,N die Implikation x ∈ N ⇒ x ∈ M , so heißt N eineTeilmenge von M , geschrieben N ⊂ M . (Manchmal schreibt man hierfur auchN ⊆M .) Gilt N ⊂M und gibt es mindestens ein Element, das in M aber nichtin N liegt, so nennen wir N eine echte Teilmenge von M und schreiben dafur auchN (M . Zwei Mengen, die kein Element gemein haben, nennt man disjunkt.

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Zwei Mengen sind gleich, wenn sie dieselben Elemente besitzen: M = N heißtM ⊂ N und N ⊂M , m.a.W.: x ∈M ⇔ x ∈ N . So ist z.B.

{3, 19, 8, 2013, 3} = {8, 19, 8, 8, 2013, 3} = {3, 8, 19, 2013}.

Ublicherweise schreibt man jedoch jedes Element nur einmal. Es gibt auch eineMenge, die gar keine Elemente enthalt: Die leere Menge ∅. Sie ist Teilmenge jederMenge.

Besitzt eine Menge M nur endlich viele Elemente, etwa x1, x2, . . . , xn, so lasstsich M durch Aufzahlen als

M = {x1, x2, . . . , xn}

schreiben. Auch fur gewisse unendliche Mengen ist das moglich, wie etwa

{2, 4, 6, 8, . . .},

wenn durch die Punktchen ‘. . . ’ klar ist, wie es weitergeht. Meistens beschreibtman Mengen durch eine die Elemente charakterisierende Eigenschaft als Teilmen-ge einer anderen Menge in der Form

N = {x ∈M : A(x)},

was heißt x ∈ N ⇔ (x ∈M ∧A(x)). Hier ist A(x) eine Aussage, die in Abhangig-keit von x ∈M wahr oder falsch sein kann. Wir schreiben Mengen bisweilen aucheinfach als {x : A(x)} mit einer definierenden Eigenschaft A(x), wenn es sichversteht, welche x hier zu betrachten sind.

Aus der Schule sollten Ihnen auch die folgenden unendlich großen Mengen vonZahlen in Erinnerung sein:

• N = {1, 2, 3, . . .} (die naturliche Zahlen) sowie N0 = {0, 1, 2, 3, . . .} (dienaturliche Zahlen mit 0),

• Z = {. . . ,−2,−1, 0, 1, 2, . . .} (die ganzen Zahlen),

• Q = {pq

: p ∈ Z, q ∈ N} (die rationalen Zahlen) und

• die reellen Zahlen R.

Mengenoperationen

Durch Mengenoperationen lassen sich aus Mengen neue Mengen konstruieren. ImFolgenden seien M,N Mengen.

• Der Schnitt (oder auch Durchschnitt) von M und N ist

M ∩N = {x : x ∈M ∧ x ∈ N},

also x ∈M ∩N ⇔ (x ∈M ∧ x ∈ N).

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Beispiele:

1. {n ∈ N : n ist Primzahl} ∩ {n ∈ N : n ≤ 10} = {2, 3, 5, 7}.2. Zwei Mengen M und N sind genau dann disjunkt, wenn M ∩ N = ∅

ist.

• Die Vereinigung von M und N ist

M ∪N = {x : x ∈M ∨ x ∈ N}.

Beispiel: {1, 3, 5, . . .} ∪ {2, 4, 6, . . .} = N.

• Die Differenz von M und N ist

M \N = {x : x ∈M ∧ x /∈ N}.

Beispiel: R \ {x ∈ R : x > 0} = {x ∈ R : x ≤ 0}.

• Das kartesische Produkt von M und N ist

M ×N = {(x, y) : x ∈M ∧ y ∈ N}.

Hierbei ist (x, y) ein geordnetes Paar: Es gilt

(x, y) = (x′, y′)⇔ (x = x′ ∧ y = y′).

• Die Potenzmenge von M ist die Menge aller Teilmengen von M :

P(M) = {U : U ⊂M}.

Beispiel: P({1, 2, 3}) ={∅, {1}, {2}, {3}, {1, 2}, {1, 3}, {2, 3}, {1, 2, 3}

}.

Das letzte Beispiel zeigt, dass die Elemente von Mengen selbst Mengen seindurfen. An dieser Stelle ist ein Wort der Vorsicht angebracht. A priori ist esnicht ausgeschlossen, dass eine Menge sogar sich selbst als Element enthalt. Wirwerden so etwas nicht zulassen. Die uneingeschrankte Bildung von Mengen nachder Cantorschen Definition wurde dazu fuhren, dass man etwa auch ‘die Mengealler Mengen’ M betrachten konnte, also M = {M : M ist Menge}. Dann aberkonnten wir auch die folgende Teilmenge konstruieren:

N = {M ∈M : M /∈M}.

Gilt nun N ∈ N? Falls ja, so ist N /∈ N . Ist andererseits N /∈ N , so musste dochN ∈ N sein. Widerspruch! Dies ist die Russelsche Antinomie in der Mengenlehre,

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die die Mathematik zu Beginn des letzten Jahrhunderts in eine Grundlagenkri-se gesturzt hat. In dieser Vorlesung werden wir solche problematischen Mengenallerdings gar nicht betrachten.

Oft ist es notig, den Schnitt bzw. die Vereinigung mehrerer, eventuell sogarunendlich vieler Mengen zu bilden. Ist I eine beliebige Menge und ist fur jedes i ∈I eine Menge Mi gegeben, so defniert man den Durchschnitt und die Vereinigungder Mi durch⋂

i∈I

Mi = {x : ∀ i ∈ I : x ∈Mi},⋃i∈I

Mi = {x : ∃ i ∈ I : x ∈Mi}.

In diesem Zusammenhang, wenn mehrere mathematische Objekte (hier Mengen)durch eine Menge I indiziert werden, nennt man I auch eine Indexmenge.

Fur den Umgang mit ∩ und ∪ gelten die folgenden Rechenregeln. Im Folgen-den seien L,M,N Mengen.

• Kommutativgesetze:

M ∩N = N ∩M und M ∪N = N ∪M.

• Assoziativgesetze:

(L ∩M) ∩N = L ∩ (M ∩N) und (L ∪M) ∪N = L ∪ (M ∪N),

weshalb man die Klammern auch gleich ganz weglassen darf.

• Distributivgesetze:

L ∩ (M ∪N) = (L ∩M) ∪ (L ∩N) und

L ∪ (M ∩N) = (L ∪M) ∩ (L ∪N).

• De Morgansche Gesetze:

(L \M) ∩ (L \N) = L \ (M ∪N) und

(L \M) ∪ (L \N) = L \ (M ∩N).

Beweis. Wir beweisen exemplarisch das zweite Distributivgesetz:

x ∈ L ∪ (M ∩N)⇔ x ∈ L ∨ x ∈M ∩N⇔ x ∈ L ∨ (x ∈M ∧ x ∈ N)

⇔ (x ∈ L ∨ x ∈M) ∧ (x ∈ L ∨ x ∈ N) (s.u.)

⇔ (x ∈ L ∪M) ∧ (x ∈ L ∪N)

⇔ x ∈ (L ∪M) ∩ (L ∪N).

Hier haben wir im dritten Schritt das Distributivgesetz A∨ (B ∧C)⇔ (A∨B)∧(A ∨ C) ausgenutzt, das man mit einer Wahrheitstafel zeigen kann. (Ubung!) �

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Funktionen

Eine Funktion oder Abbildung f von einer Menge M in eine Menge N ordnetjedem Element von M genau ein Element von N zu. Man schreibt f : M → Nund bezeichnet das x ∈ M zugeordnete Element aus N mit f(x), was man auchals x 7→ f(x) notiert. Man nennt M den Definitionsbereich von f und N denBildbereich oder Wertebereich von f .

Ist M = {x1, . . . , xn} endlich, so lasst sich eine Funktion durch eine vollstandi-ge Liste der Funktionswerte f(x1), . . . , f(xn) angeben. Im Allgemeinen wird eineFunktion jedoch durch eine Funktionsvorschrift gegeben sein, die f(x) durch einenAusdruck in x definiert.

Eine Funktion f : M → N heißt

• injektiv, wenn es zu jedem y ∈ N hochstens ein x ∈ M mit f(x) = y gibt,d.h.:

∀x ∈M ∀x′ ∈M : f(x) = f(x′)⇒ x = x′,

• surjektiv, wenn es zu jedem y ∈ N mindestens ein x ∈ M mit f(x) = ygibt, d.h.:

∀ y ∈ N ∃x ∈M : y = f(x),

und

• bijektiv, wenn es zu jedem y ∈ N genau ein x ∈ M mit f(x) = y gibt, d.h.wenn f sowohl injektiv als auch surjektiv ist.

Beispiele:

1. f : N→ N, f(x) = x+ 1 ist injektiv aber nicht surjektiv.

2. f : Z→ Z, f(x) = x+ 1 ist bijektiv.

3. f : R→ R, f(x) = x3 − x ist surjektiv aber nicht injektiv.

4. f : R→ R, x 7→ sinx ist weder injektiv noch surjektiv.

5. f : Q→ Q, x 7→ x3 ist injektiv aber nicht surjektiv.

6. f : R→ R, x 7→ x3 ist bijektiv.

Der Begriff der Bijektivitat, also der ‘eineindeutigen Zuordnung’ gestattet esinsbeondere, die Große von Mengen zu vergleichen. Wir sagen, dass die MengenM und N gleichmachtig sind, wenn es eine Bijektion (d.h. eine bijektive Abbil-dung) von M nach N gibt. Endliche Mengen sind diejenigen, die gleichmachtigzu einer Menge {1, 2, . . . , n} fur ein n ∈ N sind (und dann gerade n Elementehaben). Ist eine Menge M gleichmachtig zur Menge der naturlichen Zahlen N, sonennt man M abzahlbar. Eine Menge, die weder endlich noch abzahlbar ist, heißtuberabzahlbar.

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Beispiele:

1. {1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8} und {2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19} sind gleichmachtig, wie dieAbbildung

1 7→ 2, 2 7→ 3, . . . , 8 7→ 19

zeigt.

2. N0 ist abzahlbar, denn f : N→ N0, f(n) = n− 1 ist eine Bijektion.

3. Auch N und Z sind gleichmachtig, denn die Wertetabelle

x 1 2 3 4 5 6 7 · · ·f(x) 0 1 −1 2 −2 3 −3 · · ·

definiert eine Bijektion f : N→ Z.

4. Die Vereinigung⋃n∈NMn abzahlbar vieler abzahlbarer Mengen M1,M2, . . .

ist wieder abzahlbar. Dies lasst sich mit dem ‘ersten Cantorschen Diago-nalverfahren’ zeigen. Wir bezeichnen die Elemente der i-ten Menge Mi mitxi1, xi2, xi3, . . .. Dann lassen sich alle Elemnte aus

⋃n∈NMn abzahlen, indem

man sie auf die folgende Weise anordnet und der Reihe nach abzahlt, wobeiman diejenigen xij uberspringt, die nicht zum ersten Mal in dieser Reiheauftreten. (Gewisse Elemente konnen ja in mehreren Mi liegen.)

x11 x12 → x13 x14 → x15 · · ·↓ ↗ ↙ ↗ ↙x21 x22 x23 x24 · · ·↙ ↗ ↙

x31 x32 x33 x34 · · ·↓ ↗ ↙x41 x42 x43 x44 · · ·...

......

.... . .

5. Q ist abzahlbar, wie man mit Hilfe des vorigen Beispiels aus der Darstellung

Q =⋃q∈N

{pq

: p ∈ Z}

erkennt.

6. Fur keine Menge M gibt es eine surjektive Abbildung f : M → P(M).

Wir zeigen dies durch einen Widerspruchsbeweis und nehmen an, dass Meine Menge und f : M → P(M) surjektiv ist. Es sei

N = {x ∈M : x /∈ f(x)} ∈ P(M).

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Da f surjektiv ist, gibt es ein x0 ∈ M mit f(x0) = N . Ist nun x0 ∈ N , sogilt x0 /∈ f(x0) = N . Ist andererseits x0 /∈ N = f(x0), so folgt x0 ∈ N . Dasergibt den Widerspruch x0 /∈ N ∧ x0 ∈ N .

Insbesondere ist P(M) fur jede unendliche Menge sogar uberabzahlbar.

Ist f : M → N eine Funktion von M nach N , so nennen wir fur U ⊂M

f(U) = {f(x) : x ∈ U}(

= {y ∈ N : ∃x ∈ U mit y = f(x)})

das Bild von U unter f . Fur V ⊂ N heißt

f−1(V ) = {x ∈M : f(x) ∈ V }

das Urbild von V unter f .Fur U,U ′ ⊂M und V, V ′ ⊂ N gelten die folgenden Regeln:

f(U ∪ U ′) = f(U) ∪ f(U ′),

f−1(V ∩ V ′) = f−1(V ) ∩ f−1(V ′),f−1(V ∪ V ′) = f−1(V ) ∪ f−1(V ′).

Im Allgemeinen ist jedoch f(U ∩ U ′) = f(U) ∩ f(U ′) falsch.

Ubung: Beweisen Sie diese Aussagen!

Eine wichtige Operation ist die Verkettung von Funktionen. Sind L,M,NMengen und f : L → M , g : M → N Funktionen, so ist die Verkettung (oderKomposition) von f und g die Funktion

g ◦ f : L→ N, g ◦ f(x) = g(f(x)).

Sie entsteht, indem man zunachst f und auf das Ergebnis dann g anwendet.

Beispiel: Sind f, g : R → R gegeben durch f(x) = x2 und g(x) = sinx, so sindg ◦ f : R→ R und f ◦ g : R→ R gegeben durch

g ◦ f(x) = sin(x2) und f ◦ g(x) = (sin x)2.

Die Verkettung erfullt das Assoziativgesetz: Sind f : K → L, g : L→M undh : M → N Funktionen, so gilt

(h ◦ g) ◦ f = h ◦ (g ◦ f).

Denn fur alle x ∈ K gilt((h ◦ g) ◦ f

)(x) = (h ◦ g)(f(x)) = h(g(f(x))) = h((g ◦ f)(x)) =

(h ◦ (g ◦ f)

)(x).

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2.3 Vollstandige Induktion

Die vollstandige Induktion ist ein besonders wichtiges Beweisprinzip, um Aus-sagen uber naturliche Zahlen zu beweisen. Tatsachlich lasst sich dieses Prinzipdirekt aus einem geeigneten Axiomensystem fur die naturlichen Zahlen gewinnen,was wir hier aber nicht weiterverfolgen wollen.

Ist A(n) ein Satz, der fur jede Wahl einer Zahl n ∈ N0 zu einer (wahren oderfalschen) Aussage wird, so betrachtet man oft die Aussage

‘Fur alle n ∈ N0 gilt A(n)’, in Formeln: ∀n ∈ N0 : A(n).

Manchmal interessiert man sich auch nur dafur, ob A(n) ab einem bestimmtenn0 ∈ N0 gilt, also

‘Fur alle n ≥ n0 gilt A(n)’, d.h. ∀n ≥ n0 : A(n),

wobei die letzte Formel abkurzend fur ∀n ∈ {m ∈ N0 : m ≥ n0} : A(n) steht.Das Beweisprinzip der vollstandigen Induktion besagt nun, dass es, um ∀n ≥

n0 : A(n) zu beweisen, genugt nachzuweisen, dass

(i) A(n0) wahr ist (Induktionsanfang) sowie

(ii) fur jedes n ≥ n0 die Gultigkeit von A(n) die Gultigkeit von A(n + 1)impliziert. (M.a.W.: ∀n ≥ n0 : A(n)⇒ A(n+ 1).) (Induktionsschritt).

Anstelle A(n) gleich fur beliebiges n zu beweisen, schrankt man sich also zunachsteinmal auf den ersten Fall n = n0 ein. Zweitens darf man, um A(n+ 1) fur belie-biges n ≥ n0 nachzuweisen, annehmen, dass A(n) (die Induktionsvoraussetzung)schon als wahr erkannt ist.

Dass die fragliche Behauptung hiermit gezeigt ist, erklart sich so: Zunachstgilt A(n0) nach (i). Wendet man dann (ii) auf den Fall n = n0 an, so erhalt man,dass auch A(n0 + 1) wahr ist. Nun kann man (ii) auf n = n0 + 1 anwenden underkennt die Gultigkeit von A(n + 2). Indem man diesen Prozess wiederholt und(ii) immer wieder auf das nachstgroßere n anwendet, folgt schließlich A(n) furalle n ≥ n0.

Man kann sich das wie beim Umwerfen einer Reihe von Dominosteinen (num-meriert durch 0, 1, 2, . . .) vorstellen. Wenn Sie feststellen wollen, ob alle Steine abdem n0-ten fallen, so genugt es, zwei Dinge zu wissen:

(i) Der n0-te Stein fallt.

(ii) Wenn der n-te Stein fallt, so fallt auch sein Nachfolger mit der Nummern+ 1.

Ahnlich wie eben sieht man ein, dass sich die Bedingung (ii) abschwachenlasst zu

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(ii’) ∀n ≥ n0 : (A(n0) ∧ . . . ∧ A(n))⇒ A(n+ 1).

Man darf also, um A(n + 1) zu zeigen, annehmen, dass all die BehauptungenA(n0), . . . , A(n) erfullt sind.

Wir werden nun einige Satze mit diesem Prinzip beweisen. Zunachst fuhrendazu noch die folgenden abkurzenden Notationen ein: Sind m ≤ n ganze Zahlenund ist fur jedes ganze k mit m ≤ k ≤ n eine reelle Zahl ak gegeben, so setzenwir

n∑k=m

ak = am + am+1 + . . .+ an, sowien∏

k=m

ak = am · am+1 · . . . · an.

(Sprich: Die Summe/das Produkt der ak von m bis n.) Ist m = n + 1, so ist esbisweilen nutzlich, fur die leere Summe und das leere Produkt

n∑k=m

ak = 0, bzw.n∏

k=m

ak = 1

zu setzen. Das Produkt der ersten n naturlichen Zahlen nennt man n! (sprich:n-Fakultat):

n! = 1 · 2 · . . . · n =n∏k=1

k.

Satz 2.1 Fur alle n ∈ N gilt

n∑k=1

k =n(n+ 1)

2.

Beweis. Mit vollstandiger Induktion. Induktionsanfang: Die Behauptung ist rich-tig fur n = 1, denn es ist

1∑k=1

k = 1 =1(1 + 1)

2.

Induktionsschritt: Wir nehmen an, dass die Behauptung fur ein n richtig ist,also

n∑k=1

k =n(n+ 1)

2

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fur dieses n gilt. Daraus folgt dann

n+1∑k=1

k =n∑k=1

k + (n+ 1)

=n(n+ 1)

2+ (n+ 1) (nach Induktionsvoraussetzung)

=n(n+ 1) + 2(n+ 1)

2

=(n+ 1)(n+ 2)

2,

also die Behauptung fur n+ 1. �

Satz 2.2 (Die geometrische Summenformel) Es sei q ∈ R \ {1}. Fur allen ∈ N0 gilt

n∑k=0

qk =1− qn+1

1− q.

Beweis. Mit vollstandiger Induktion. Induktionsanfang: Die Behauptung ist rich-tig fur n = 0, denn

0∑k=0

q0 = 1 =1− q1− q

.

(q0 ist immer 1, nach Konvention sogar fur q = 0.)Induktionsschritt: Die Behauptung sei wahr fur n. Dann folgt

n+1∑k=0

qk =n∑k=0

qk + qn+1

=1− qn+1

1− q+ qn+1 (nach Induktionsvoraussetzung)

=1− qn+1 + qn+1 − qn+2

1− q

=1− qn+2

1− q,

was gerade die Behauptung fur n+ 1 ist. �

Satz 2.3 Es gibt unendlich viele Primzahlen.

Dem Beweis schicken wir ein Lemma, also einen Hilfssatz voraus:

Lemma 2.4 Jede naturliche Zahl n ≥ 2 ist durch eine Primzahl teilbar.

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Beweis. Mit vollstandiger Induktion. Induktionsanfang: 2 ist eine Primzahl undnaturlich durch sich selbst teilbar.

Induktionsschritt (gemaß (ii’)): Die Behauptung sei fur alle 2 ≤ k ≤ n bereitsetabliert. Entweder ist dann n+ 1 selbst eine Primzahl, woraus die Behauptungfur n + 1 sofort folgt. Oder es ist n + 1 = km mit 2 ≤ k,m ≤ n. Nach Indukti-onsvoraussetzung gibt es eine Primzahl, die m teilt und damit auch n+ 1 = km.

Beweis von Satz 2.3. Widerspruchsannahme: Es gibt nur endlich viele Primzahlen,etwa p1, . . . , pn. Dann aber ist die naturliche Zahl

N = 1 +n∏k=1

pk

durch keine der Primzahlen p1, . . . , pn teilbar. (Immer bleibt der Rest 1.) Dieswiderspricht dem vorigen Lemma. �

Satz 2.5 Die Anzahl der moglichen Anordnungen einer Menge mit n ∈ N Ele-menten ist n!.

Erster Beweis. Es gibt n Moglichkeiten, dass erste Element auszuwahlen, n −1 Moglichkeiten, dass zweite Element auszuwahlen, n − 2 fur das dritte u.s.w.Schließlich hat man noch zwei Auswahlmoglichkeiten fur das vorletzte und nureine einzige fur das letzte Element. Dies fuhrt zu

n · (n− 1) · (n− 2) · . . . 2 · 1 = n!

moglichen Anordnungen. �

Wir haben hier – wie auch schon zuvor mit Punktchen ‘. . . ’– durch ‘und soweiter’ angedeutet, dass es klar ist (oder sein sollte), wie das Verfahren Schrittfur Schritt weitergeht. Ganz formal lasst sich dieses Vorgehen mit Hilfe einesBeweises durch vollstandige Induktion begrunden.

Zweiter Beweis. Mit vollstandiger Induktion. Induktionsanfang: Fur n = 1 istdies klar, da man eine einelementige Menge nur auf eine Weise anordnen kannund 1! = 1 ist.

Induktionsschritt: Die Behauptung sei fur n-elementige Mengen bewiesen. Istnun M = {x1, . . . , xn+1} eine (n+ 1)-elementige Menge, so kann man die mogli-chen Anordnungen von M in n + 1 Klassen K1, . . . , Kn+1 aufteilen, wobei dieAnordnungen der Klasse Kk dadurch charaketrisiert seien, dass sie an der erstenStelle das Element xk haben. In jeder Klasse Kk liegen dann so viele Anordnun-gen, wie es Moglichkeiten gibt, wie verbleibenden n Elemente anzuordnen, alsonach Voraussetzung gerade n!. Insgesamt gibt es also

(n+ 1)n! = (n+ 1)!

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Anordnungen von M . �

Eine bijektive Abbildung f : M → M einer Menge in sich nennt man aucheine Permutation von M . Da jede Anordnung (xi1 , xi2 , . . . , xin) der Elemente vonM = {x1, . . . , xn} durch

f(x1) = xi1 , . . . , f(xn) = xin

eine Permutation f : M → M definiert und umgekehrt jeder Permutation f :M →M eine Anordnung (f(x1), . . . , f(xn)) entspricht, erhalten wir:

Korollar 2.6 Die Anzahl der Permutationen auf einer n-elementigen Menge istn!.

(Ein Korollar ist ein Satz, der – mehr oder weniger – unmittelbar aus einemanderen Ergebnis folgt.)

Beweis. Klar nach Satz 2.5 �

Definition 2.7 Fur n, k ∈ N0 definieren wir den Binomialkoeffizienten

(n

k

):=

n · (n− 1) · . . . · (n− k + 1)

1 · 2 · . . . · k

(=

k∏i=1

n− i+ 1

i

).

Es ist dann (n

k

)=

{0 fur k > n,

n!k!(n−k)! =

(n

n−k

)fur k ≤ n.

(Mit dem Zeichen := wird ausgedruckt, dass die linke Seite der Gleichung durchdie rechte Seite definiert wird.)

Der Name Binomialkoeffizient ruhrt daher, dass diese Zahlen als Koeffizientenim Binomischen Lehrsatz, einer Verallgemeinerung der binomischen Formel aufhohere Exponenten, auftreten, s. Satz 2.9. Diese Zahlen haben auch in der Kombi-natorik eine wichtige Bedeutung:

(nk

)ist die Anzahl der k-elementigen Teilmengen

einer n-elementigen Menge.2 Denn zunachst gibt es n · (n − 1) · . . . · (n − k + 1)Moglichkeiten, k Elemente unter Berucksichtigung der Reihenfolge aus n Elemen-ten auszuwahlen3: n Moglichkeiten fur die erste Wahl, dann n− 1 fur die zweiteu.s.w. Fur das zuletzt gewahlte Element bleiben noch (n−k+1) Auswahlmoglich-keiten. Nach Satz 2.5 entspricht nun jede k-Elementige Teilmenge genau k! dieserAuswahlen, so das sich fur die Anzahl der k-elementigen Teilmengen tatsachlichn·(n−1)·...·(n−k+1)

k!=(nk

)ergibt. Insbesondere ist

(nk

)immer eine ganze Zahl.

2Dies kennen Sie vielleicht noch aus der Schule unter dem Namen ‘Kombination ohne Zuruck-legen’. In einer Menge kommt es ja nicht auf die Reihenfolge der Elemente an.

3Dies kennen Sie vielleicht unter dem Namen ‘Variation ohne Zurucklegen’.

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Lemma 2.8 Fur k, n ∈ N0 gilt(n+ 1

k + 1

)=

(n

k

)+

(n

k + 1

).

Beweis. Fur k = n ist die Behauptung 1 = 1 + 0, fur k > n lautet sie 0 + 0 = 0,was beides offensichtlich richtig ist. Fur die ubrigen Falle k < n kann man wiefolgt schließen:(

n

k

)+

(n

k + 1

)=

n!

k!(n− k)!+

n!

(k + 1)!(n− k − 1)!

=n!(k + 1)

(k + 1)!(n− k)!+

n!(n− k)

(k + 1)!(n− k)!

=n!(k + 1 + n− k)

(k + 1)!(n− k)!

=(n+ 1)!

(k + 1)!(n− k)!=

(n+ 1

k + 1

).

Die Werte der Binomialkoeffizienten lassen sich im Pascalschen Dreieck an-ordnen:

11 1

1 2 11 3 3 1

1 4 6 4 11 5 10 10 5 1

. .. . . .

Dabei findet man(nk

)in der n-ten Zeile an der k-ten Position (wobei die Zahlung

bei 0 beginnt). Ganz außen steht wegen(n0

)=(nn

)immer 1. Nach Lemma 2.8

ergeben sich die anderen Eintrage als Summe der beiden (schrag) daruber be-findlichen Werte.

Satz 2.9 (Binomischer Lehrsatz) Fur n ∈ N0 und reelle Zahlen x, y gilt

(x+ y)n =n∑k=0

(n

k

)xkyn−k.

Beweis. Mit vollstandiger Induktion. Der Fall n = 0 ist klar, denn

(x+ y)0 = 1 =

(0

0

)x0y0 =

0∑k=0

(n

k

)xkyn−k.

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Ist der Satz fur ein n ∈ N0 bereits gezeigt, so ergibt sich

(x+ y)n+1 = (x+ y)(x+ y)n

= (x+ y)n∑k=0

(n

k

)xkyn−k

= xn∑k=0

(n

k

)xkyn−k + y

n∑k=0

(n

k

)xkyn−k

=n∑k=0

(n

k

)xk+1yn−k +

n∑k=0

(n

k

)xkyn−k+1

=n+1∑k=1

(n

k − 1

)xkyn−k+1 +

n∑k=0

(n

k

)xkyn−k+1

=n∑k=1

((n

k − 1

)+

(n

k

))xkyn−k+1 +

(n

n

)xn+1y0 +

(n

0

)x0yn+1

=n∑k=1

(n+ 1

k

)xkyn+1−k +

(n+ 1

n+ 1

)xn+1y0 +

(n+ 1

0

)x0yn+1

=n+1∑k=0

(n+ 1

k

)xkyn+1−k,

wobei wir im siebten Schritt Lemma 2.8 und die Identitaten(nn

)= 1 =

(n+1n+1

)sowie

(n0

)= 1 =

(n+10

)benutzt haben. �

Bemerkung. Speziell fur x = y = 1 fuhrt dieser Satz auf die Formel

n∑k=0

(n

k

)xkyn−k = 2n.

Insbesondere besitzt eine n-elementige Menge genau 2n Teilmengen. (Was Siesich auch direkt uberlegen konnen.)

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Kapitel 3

Reelle und komplexe Zahlen

Wir beginnen die eigentliche Analysis nun damit, die grundlegenden Objektedurch eine ganze Reihe von Axiomen einzufuhren: die reellen Zahlen. Dabei wer-den wir die naturlichen, die ganzen sowie die rationalen Zahlen als Teilmengender reellen Zahlen wiedergewinnen. Schließlich werden wir den Zahlbereich aufdie sogennnten komplexen Zahlen ausdehnen.

Das grundlegende Axiom der reellen Zahlen lautet:

Axiom. Es gibt eine Menge, fortan mit R bezeichnet, die den Korperaxiomen,den Anordnungsaxiomen und dem Vollstandigkeitsaxiom genugt.

Diese Begriffe werden nun gleich in den folgenden Kapiteln erklart. Kurz sagtman auch: R ist ein vollstandiger angeordneter Korper. Die Elemente von Rheißen reelle Zahlen.

3.1 Die Korperaxiome

Die Menge der reellen Zahlen R ist eine Menge auf der zwei innere Verknupfungengegeben sind: Die Addition

R× R→ R, (x, y) 7→ x+ y

und die Multiplikation

R× R→ R, (x, y) 7→ x · y (kurz: x · y = xy).

Diese genugen den folgenden Regeln:

• Axiome der Addition:

(A1) Assoziativgesetz: ∀x, y, z ∈ R:

x+ (y + z) = (x+ y) + z.

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(A2) Kommutativgesetz: ∀x, y ∈ R:

x+ y = y + x.

(A3) Existenz eines additiv neutralen Elements: Es gibt eine Zahl 0 ∈ R(die Null), so dass fur alle x ∈ R gilt

x+ 0 = x.

(A4) Existenz eines additiv inversen Elements: Zu jedem x ∈ R gibt es ein−x ∈ R (das Negative von x) mit

x+ (−x) = 0.

• Axiome der Multiplikation:

(M1) Assoziativgesetz: ∀x, y, z ∈ R:

x(yz) = (xy)z.

(M2) Kommutativgesetz: ∀x, y ∈ R:

xy = yx.

(M3) Existenz eines multiplikativ neutralen Elements: Es gibt eine Zahl 1 ∈R (die Eins), so dass fur alle x ∈ R gilt

x · 1 = x.

(M4) Existenz eines multiplikativ inversen Elements: Zu jedem x ∈ R \ {0}gibt es ein x−1 ∈ R (schlicht das Inverse von x) mit

xx−1 = 1.

• Uber den Zusammenhang von + und ·:

(N) Fur die neutralen Elemente gilt 0 6= 1.

(D) Distributivgesetz: ∀x, y, z ∈ R:

x(y + z) = (xy) + (xz).

Beachten Sie, dass −x und x−1 lediglich Bezeichnungen fur das additiv bzw.multiplikativ Inverse einer Zahl x sind. Weder haben wir bislang die Subtraktionnoch Potenzen eingefuhrt. Die Klammern geben an, in welcher Reihenfolge dieinneren Verknupfungen auszufuhren sind. Wie ublich vereinbaren wir dabei die

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‘Punkt-vor-Strich-Regel’, so dass wir etwa (xy) + (xz) auch einfach als xy + xzschreiben konnen. Des Weiteren setzen wir abkurzend

x− y := x+ (−y) undx

y:= x/y := xy−1.

fur x, y ∈ R. (Hierdurch werden nun tatsachlich innere Verknupfungen auf Rbzw. R \ {0} definiert, denn wie wir gleich sehen werden sind −y und y−1 durchy eindeutig gegeben.)

Bemerkung. Man nennt diese Regeln die Korperaxiome. Jede Menge, auf derzwei innere Verknupfungen + und · definiert sind, die diesen Axiomen genugen,nennt man einen Korper. So ist etwa auch Q ein Korper.

Eine wichtige Konsequenz aus diesen Axiomen ist, dass wir elementare Glei-chungen losen konnen:

Satz 3.1 Es seien a, b ∈ R.

(i) Die Gleichung a+ x = b hat eine eindeutige Losung. (Namlich x = b− a.)

(ii) Ist a 6= 0, so hat auch die Gleichung ax = b hat eine eindeutige Losung.(Namlich x = a−1b.)

Beweis. (i) Tatsachlich ist x = b− a eine Losung, denn

a+ (b− a) = a+ (b+ (−a))(A2)= a+ ((−a) + b)

(A1)= (a+ (−a)) + b

(A4)= 0 + b

(A2)= b+ 0

(A3)= b.

Es bleibt, die Eindeutigkeit zu begrunden. Dazu zeigen wir, dass beliebigeLosungen x1, x2 gleich sein mussen:

a+ x1 = b = a+ x2

⇒ a+ x1 = a+ x2

⇒ (−a) + (a+ x1) = (−a) + (a+ x2)

(A1)⇒ ((−a) + a) + x1 = ((−a) + a) + x2(A2)⇒ (a+ (−a)) + x1 = (a+ (−a)) + x2(A4)⇒ 0 + x1 = 0 + x2(A2)⇒ x1 + 0 = x2 + 0

(A3)⇒ x1 = x2.

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(ii) Der Beweis verlauft vollig analog zu (i). Man muss nur ‘+’ durch ‘·’, ‘−a’durcg ‘a−1’ und ‘0’ durch ‘1’ ersetzen und entsprechend die Axiome (M1)–(M4)verwenden. �

Korollar 3.2 (i) Eindeutigkeit der neutralen Elemente: Die Zahlen 0 und 1sind durch ihre Eigenschaften eindeutig festgelegt.

(ii) Eindeutigkeit der additiven und multiplikativen Inversen: Fur jedes a ∈ Rist −a und fur jedes a ∈ R \ {0} ist a−1 eindeutig festgelegt.

Beweis. (i) Ist c eine beliebige Zahl (6= 0), so gilt nach Satz 3.1(i)

c+ x = c ⇒ x = 0 bzw. c · x = c ⇒ x = 1.

(ii) Nach Satz 3.1(ii) haben die Gleichungen

a+ x = 0 bzw. a · x = 1

fur a ∈ R bzw. a ∈ R \ {0} eine eindeutige Losung. �

Aus den Korperaxiomen folgen alle Rechenregeln der vier Grundrechenarten.Wir nennen hier exemplarisch die Folgenden.

Satz 3.3 Fur reelle Zahlen x, y gilt:

(i) −(−x) = x,

(ii) −(x+ y) = −x− y,

(iii) x · 0 = 0,

(iv) (−x)y = −(xy) = x(−y),

(v) (x−1)−1 = x (wenn x 6= 0),

(vi) (xy)−1 = x−1y−1 (wenn x, y 6= 0),

(vii) xy = 0⇔ x = 0 ∨ y = 0.

Beweis. (i) Nach (A4) und (A2) gilt

−x+ (−(−x)) = 0 und − x+ x = 0.

Aus der Eindeutigkeit des Negativen von −x folgt daher −(−x) = x.

(ii) Aus (A1)–(A4) folgt

x+ y + (−x− y) = x+ y + ((−y) + (−x))

= x+ (y + (−y)) + (−x) = x+ 0 + (−x) = x+ (−x) = 0

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und damit −x− y = −(x+ y) aus der Eindeutigkeit des Negativen von x+ y.

(iii) Nach (A3) und (D) ist x · 0 = x(0 + 0) = x · 0 + x · 0. Mit Satz 3.1(i)ergibt sich daraus x · 0 = x · 0− x · 0 = 0.

(iv) Nach (D), (A4), und (iii) ist

xy + x(−y) = x(y − y) = x · 0 = 0,

also x(−y) = −xy.Angewandt auf x und y mit vertauschten Rollen folgt dann auch (−x)y =

y(−x) = −(yx) = −(xy), wobei wir (M2) benutzt haben.

(v) Das folgt analog zu (i).

(vi) Das folgt analog zu (ii).

(vii) ‘⇐’: Nach (iii) (und (M2)) ist x · 0 = 0 · y = 0.‘⇒’: Ist x = 0, so ist nichts zu beweisen. Ist dagegen x 6= 0, so folgt aus xy = 0

mit (M2), (M3), (M4), (M1) und (iii)

y = 1 · y = (x−1x)y = x−1(xy) = x−1 · 0 = 0.

Bemerkung. All diese Regeln gelten in einem beliebigen Korper. Ein exotische-res Beispiel fur einen Korper – und der kleinstmogliche mit nur zwei Elementen– ist die Menge {0, 1}, wenn die Addition und die Multiplikation gegeben sinddurch

0 + 0 = 0, 0 + 1 = 1, 1 + 0 = 1, 1 + 1 = 0,

0 · 0 = 0, 0 · 1 = 0, 1 · 0 = 0, 1 · 1 = 1.

Wiederholte Anwendung des Assoziativgesetzes (Induktion!) zeigt, dass jedemogliche Klammerung in endlichen Summen oder Produkten zum gleichen Er-gebnis fuhrt, so dass man die Klammern auch ganz weglassen kann. Das habenwir schon oben ausgenutzt, indem wir

n∑k=m

ak = am + am+1 + . . .+ an undn∏

k=m

ak = am · am+1 · . . . · an

fur am, . . . , an ∈ R geschrieben haben. Wiederholte Anwendung des Kommuta-tivgesetzes zeigt, dass fur jede Umordnung (Permutation) (k0, k1, . . . , kn−m) von(m,m+ 1, . . . , n) gilt

n∑k=m

ak =n−m∑i=0

aki sowien∏

k=m

ak =n−m∏i=0

aki .

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Fur Doppelsummen und -produkte mit Zahlen aij, m ≤ i ≤ n,m′ ≤ j ≤ n′ istdaher

n∑i=m

n′∑j=m′

aij =n′∑

j=m′

n∑i=m

aij sowien∏

i=m

n′∏j=m′

aij =n′∏

j=m′

n∏i=m

aij.

Hier wird die Summe bzw. das Prdukt aller aij gebildet. Da es auf die Reihenfolgenicht ankommt schreibt man dies auch als∑

m≤i≤nm′≤j≤n′

aij bzw.∏

m≤i≤nm′≤j≤n′

aij.

Durch wiederholte Anwendung des Distributivgesetzes schließlich ergibt sichfur Zahlen am, . . . , an und bm′ , . . . , bn′

( n∑i=m

ai

)( n′∑j=m′

bj

)=

∑m≤i≤nm′≤j≤n′

aibj.

Wir definieren hier noch die ganzzahligen Potenzen:

Definition 3.4 Fur x ∈ R und n ∈ N setzt man

x0 := 1,

xn := x · . . . · x︸ ︷︷ ︸n-mal

(eigtl. per Induktion: xn+1 := xnx),

x−n := (x−1)n, falls x 6= 0.

Es gelten dann die folgenden Rechenregeln:

Satz 3.5 Fur n,m ∈ Z und x, y ∈ R (ungleich 0, wenn der entsprechende Expo-nent negativ ist) ist

(i) xnxm = xn+m,

(ii) (xn)m = xnm,

(iii) xnyn = (xy)n.

Beweis. Ubung! �

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3.2 Die Anordnungsaxiome

Mit reellen Zahlen lasst sich nicht nur rechnen, man kann sie auch der Großenach vergleichen. Dies wird in den Anordnungsaxiomen formalisiert: In R gibt eseine Menge R+ ⊂ R, deren Elemente positive Zahlen heißen, mit den folgendenEigenschaften:

(O1) Trichotomie: Fur jedes x ∈ R gilt genau eine der folgenden Aussagen:

x ∈ R+, x = 0, −x ∈ R+.

(O2) Vertraglichkeit mit der Addition: Fur x, y ∈ R+ ist auch x+ y ∈ R+.

(O3) Vertraglichkeit mit der Multiplikation: Fur x, y ∈ R+ ist auch xy ∈ R+.

Statt x ∈ R+ schreiben wir auch x > 0 (sprich: ‘x ist großer als 0’). Gilt −x ∈ R+,so sagen wir, x sei negativ. Allgemeiner setzen wir dann fur x, y ∈ R:

x > y :⇔ x− y > 0, (sprich: x großer y)

x ≥ y :⇔ x > y ∨ x = y, (sprich: x großer/gleich y)

x < y :⇔ y > x, (sprich: x kleiner y)

x ≤ y :⇔ y ≥ x (sprich: x kleiner/gleich y).

Bemerkung. Ein Korper, der den Anordnungsaxiomen (O1), (O2) und (O3)genugt, heißt angeordneter Korper. Auch Q ist ein solcher.

Beachte: Nach (O1) ist fur x 6= y immer entweder x > y oder x < y, dennentweder ist x− y > 0 oder −(x− y) = y − x > 0.

Es gelten die folgenden Regeln fur die Manipulation von Ungleichungen.

Satz 3.6 (i) Fur reelle Zahlen x, y, x′, y′ gilt

x > y ∧ x′ ≥ y′ ⇒ x+ x′ > y + y′,

x ≥ y ∧ x′ ≥ y′ ⇒ x+ x′ ≥ y + y′,

x < y ∧ x′ ≤ y′ ⇒ x+ x′ < y + y′,

x ≤ y ∧ x′ ≤ y′ ⇒ x+ x′ ≤ y + y′.

(ii) Fur x, y, z ∈ R gilt

x > y ∧ z > 0 ⇒ xz > yz,

x ≥ y ∧ z > 0 ⇒ xz ≥ yz,

x > y ∧ z < 0 ⇒ xz < yz,

x ≥ y ∧ z < 0 ⇒ xz ≤ yz.

Entsprechende Aussagen gelten fur x < y bzw. x ≤ y.

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(iii) Fur x, y ∈ R gilt

x ≥ 0 ∨ y ≥ 0 ⇒ xy ≥ 0,

xy > 0 ⇔ (x > 0 ∧ y > 0) ∨ (x < 0 ∧ y < 0).

(iv) Fur alle x ∈ R ist x2 ≥ 0. Insbesondere ist 1 > 0.

(v) Fur x ∈ R \ {0} ist

x > 0 ⇔ x−1 > 0.

(vi) Fur reelle x, y gilt

x > y > 0 ⇒ x−1 < y−1.

Beweis. (i) Wir zeigen nur die beiden ersten Implikationen:

x > y ∧ x′ ≥ y′ ⇒ x− y > 0 ∧(x′ − y′ > 0 ∨ x′ = y′

)⇒

(x− y > 0 ∧ x′ − y′ > 0

)∨(x− y > 0 ∨ x′ = y′

)(O2)⇒ x− y︸ ︷︷ ︸

∈R+

+ x′ − y′︸ ︷︷ ︸∈R+∪{0}

> 0

⇒ x+ x′ > y + y′

und

x ≥ y ∧ x′ ≥ y′ ⇒(x− y > 0 ∨ x = y

)∧(x′ − y′ > 0 ∨ x′ = y′

)(O2)⇒

(x− y + x′ − y′ > 0

)∨(x = y ∧ x′ = y

)⇒ x+ x′ ≥ y + y′.

Die anderen beiden Implikationen folgen daraus und der Definition von < und ≤unmittelbar.

(ii) Es genugt, die erste und die dritte Implikation zu beweisen. Die anderenergeben sich daraus direkt, da dann nur noch der Fall x = y zu betrachten bleibt.Sie folgen aus

x > y ∧ z > 0 ⇒ x− y > 0 ∧ z > 0

(O3)⇒ xz − yz = (x− y)z > 0

⇒ xz > yz

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bzw.

x > y ∧ z < 0 ⇒ x− y > 0 ∧ −z > 0

(O3)⇒ yz − xz = (x− y)(−z) > 0

⇒ yz > xz.

(iii) Fur x, y > 0 ist nach (O3) auch xy > 0. Fur x > 0 und y < 0 ist wegen(O3) −xy = x(−y) > 0 und damit xy < 0. Genauso folgt aus x < 0 und y > 0auch xy < 0. Sind x, y beide negativ, so folgt wieder mit (O3) xy = (−x)(−y) > 0.Nach Satz 3.3(vii) ist außerdem xy = 0 ⇔ x = 0 ∨ y = 0. Aus all dem folgen dieBehauptungen.

(iv) Dies folgt aus (iii) mit x = y und 1 = 12, da nach Axiom (N) 1 6= 0 ist.(v) Nach (iv) ist xx−1 = 1 > 0. Nach (iii) sind daher x und x−1 beide positiv

oder beide negativ.(vi) Nach (v) und (O3) ist x−1y−1 > 0. Mit Hilfe von (ii) fur z = x−1y−1 folgt

danny−1 = xx−1y−1 > yx−1y−1 = x−1.

Die Beziehungen ≥ und ≤ definieren eine Ordnungsrelation auf R. Wir for-mulieren dies im folgenden Satz nur fur ≥. Entsprechende Regeln gelten dannaber (offensichtlich!) auch fur ≤.

Satz 3.7 Fur alle x, y, z ∈ R gelten:

(i) Reflexivitat: x ≥ x,

(ii) Antisymmetrie: x ≥ y ∧ y ≥ x⇒ x = y,

(iii) Transitivitat: x ≥ y ∧ y ≥ z ⇒ x ≥ z.

Beweis. (i) Klar.(ii) Durch Kontraposition: Wie oben bemerkt gilt x 6= y ⇒ x < y ∨ x > y.(iii) Aus Satz 3.6 folgt

x ≥ y ∧ y ≥ z ⇒ x+ y ≥ y + z ⇒ x = x+ y − y ≥ y + z − y = z.

Da fur zwei Zahlen x, y immer x ≥ y oder y ≥ x (genauso fur ≤) gilt, nenntman dies auch eine totale Ordnung.

Wir halten fest: Fur den Umgang mit den Relationen >, <, ≥ und ≤ geltendie Ihnen aus der Schule bekannten Regeln. Wir haben sie nun auf eine festeaxiomatische Grundlage gelegt.

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Definition 3.8 Der Absolutbetrag (oder Betrag) einer Zahl x ist

|x| =

{x, x ≥ 0,

−x, x < 0.

Satz 3.9 (i) Fur alle x ∈ R gilt

|x| ≥ 0 sowie |x| = 0 ⇔ x = 0.

(ii) Fur alle x ∈ R gilt

| − x| = |x| sowie |x−1| = |x|−1 (falls x 6= 0).

(iii) Fur alle x, y ∈ R ist|xy| = |x| |y|.

(iv) Dreiecksungleichung1: Fur alle x, y ∈ R ist

|x+ y| ≤ |x|+ |y|.

(v) Umgekehrte Dreiecksungleichung: Fur alle x, y ∈ R ist

|x− y| ≥∣∣|x| − |y|∣∣.

Beweis. (i) Klar.(ii) Fur x > 0 ist −x < 0 also | − x| = −(−x) = x > 0. Fur x ≤ 0 ist −x ≥ 0

also auch | − x| = −x ≥ 0.Fur x > 0 ist nach Satz 3.6(v) auch x−1 > 0 also |x−1| = x−1 > 0. Fur x < 0

ist nach Satz 3.6(v) auch x−1 < 0 also |x−1| = −x−1 > 0.(iii) Die Behauptung ist nach (i) klar fur x = 0∨ y = 0. Fur x 6= 0, y 6= 0 gilt

nach Satz 3.6(iii)

|x| |y| =

xy = |xy|, falls x > 0, y > 0,

(−x)y = −xy = |xy|, falls x < 0, y > 0,

x(−y) = −xy = |xy|, falls x > 0, y < 0,

(−x)(−y) = xy = |xy|, falls x < 0, y < 0.

(iv) Wegen x ≤ |x|, y ≤ |y|, −x ≤ |x| und −y ≤ |y| ist

x+ y ≤ |x|+ |y| sowie − (x+ y) = −x− y ≤ |x|+ |y|.

Dann aber muss auch|x+ y| ≤ |x|+ |y|

1Woher der Name kommt, wird im Abschnitt 3.5 klar werden.

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gelten.(v) Wendet man die Dreiecksungleichung auf x− y und y an, so folgt

|x− y| = |x− y|+ |y| − |y| ≥ |x− y + y| − |y| = |x| − |y|,

Indem man die Rollen von x und y vertauscht, ergibt sich auch

|x− y| = |y − x| ≥ |y| − |x| = −(|x| − |y|).

Mit diesen beiden Abschatzungen ist dann aber |x− y| ≥∣∣|x| − |y|∣∣. �

Fur x, y ∈ R ist

|x− y| =

{x− y, falls x ≥ y,

y − x, falls y ≥ x,.

Man nennt |x− y| daher auch den Abstand von x zu y.In der Analysis sind Abschatzungen, also Ungleichungen besonders wichtig.

Wir werden im Laufe des Vorlesungszyklus einige nutzliche Ungleichungen be-weisen. Erste Beispiele geben die beiden folgenden Satze.

Satz 3.10 (Die Bernoullische Ungleichung) Fur alle n ∈ N0 und x ∈ R mitx ≥ −1 gilt

(1 + x)n ≥ 1 + nx.

Beweis. Mit Induktion: Der Fall n = 0 ist klar. Ist die Behauptung fur n gezeigt,so ergibt sich wegen 1 + x ≥ 0

(1 + x)n+1 = (1 + x)n(1 + x) ≥ (1 + nx)(1 + x)

= 1 + nx+ x+ nx2 ≥ 1 + (n+ 1)x.

Satz 3.11 Fur das arithmetische Mittel x+y2

zweier reeller Zahlen x, y gilt

x < y ⇒ x <x+ y

2< y.

Beweis. Dies folgt aus

x =x

2+x

2<x

2+y

2<y

2+y

2= y.

Zum Schluss dieses Abschnitts fuhren wir noch eine spezielle Klasse von Teil-mengen in R ein: Die Intervalle.

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Definition 3.12 Fur a, b ∈ R mit a < b (bzw. a ≤ b im vierten Fall) setzt man:

(a, b) := {x ∈ R : a < x < b},[a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b},(a, b] := {x ∈ R : a < x ≤ b},[a, b] := {x ∈ R : a ≤ x ≤ b},

(−∞, b) := {x ∈ R : x < b},(−∞, b] := {x ∈ R : x ≤ b},

(a,∞) := {x ∈ R : a < x},[a,∞) := {x ∈ R : a ≤ x},

(−∞,∞) := R.

Man nennt diese Mengen Intervalle. In den ersten vier Fallen sagt man, dieIntervalle seien endlich; die ubrigen sind unendlich.

Die Intervalle (a, b), (−∞, b), (a,∞) nennt man offen, [a, b), (a, b] sind halboffen,[a, b], (−∞, b], [a,∞) heißen abgeschlossen, (−∞,∞) ist sowohl offen als auch ab-geschlossen.2

Die Lange der endlichen Intervalle ist definiert als

|(a, b)| = |[a, b)| = |(a, b]| = |[a, b]| = b− a.

Beispiel. Fur x ∈ R und r ∈ R+ ist

{y ∈ R : |y − x| < r} = (x− r, x+ r).

Uberlegen Sie sich das!

3.3 Zum Aufbau des Zahlensystems

Bisher haben wir mit den Mengen N, Z, Q und – zumindest vor Kapitel 3 –auch mit R ‘naiv’, also wie aus der Schule bekannt gerechnet. Wir wollen dieseZahlbereiche nun auf eine gefestigte axiomatische Grundlage stellen, wobei nurdie bisher eingefuhrten Axiome von R verwendet werden. Sie mussen also furdiesen Abschnitt zunachst vergessen, was die naturlichen, ganzen und rationalenZahlen sind und was wir uber diese Zahlen schon bewiesen haben. Wir definierendiese Zahlbereiche dann hier als gewisse Teilmengen von R. Die Regeln fur dasRechnen und Anordnen ubertragen sich direkt auf diese Mengen. Insbesonderewerden wir aus den Axiomen fur R das Induktionsprinzip fur N ableiten. Mitdiesem Wissen konnen sie dann noch einmal zuruckblattern, sich wieder an alleserinnern und feststellen, dass sich auch die schon fruher gezeigten Aussagen ausden Axiomen fur R beweisen lassen.

2Die Begriffe offen und abgeschlossen werden spater noch fur viel allgemeinere Mengen de-finiert werden.

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Definition 3.13 Eine Menge M ⊂ R heißt induktiv, wenn gilt:

(i) 1 ∈M und

(ii) a ∈M ⇒ a+ 1 ∈M .

Beispiel. R, R+, {x ∈ R : x ≥ 1} sind induktiv.

Lemma 3.14 Ist (Mi)i∈I eine Familie von induktiven Mengen, so ist auch derSchnitt

⋂i∈IMi induktiv.

Beweis. Wegen 1 ∈ Mi fur alle i ∈ I gilt auch 1 ∈⋂i∈IMi. Ist a ∈

⋂i∈IMi, so

gilt a ∈ Mi fur jedes i und somit auch a + 1 ∈ Mi fur jedes i, also in der Tata+ 1 ∈

⋂i∈IMi. �

Definition 3.15 Die Menge N der naturlichen Zahlen ist

N :=⋂

M induktiv

M.

D.h.: N ist der Durchschnitt aller induktiven Mengen in R und also Teilmengeeiner jeden induktiven Menge. Nach dem vorigen Lemma ist N selbst induktiv.Das Induktionsprinzip lasst sich nun so formulieren:

Satz 3.16 (Induktionsprinzip) Ist M ⊂ N induktiv, so gilt M = N.

Direkt aus den obigen Beispielen sieht man, dass N ⊂ R+ ist, so dass naturli-che Zahlen positiv sind, und dass sogar N ⊂ {x ∈ R : x ≥ 1} gilt. 1 ist also diekleinste naturliche Zahl.

Um eine Aussage A(n) fur naturlich Zahlen zu beweisen, setzt man danneinfach M = {n ∈ N : A(n) stimmt}. (Um eine Aussage der Form ∀n ≥ n0 : A(n)zu beweisen, betrachtet man M = {n ∈ N : n < n0 ∨ (n ≥ n0 ∧ A(n))}.)Beweis von Satz 3.16. Nach Voraussetzung ist M ⊂ N. Da M induktiv ist, giltaber auch N ⊂M . Es folgt M = N. �

Die Summen- und Produktbildung fuhrt nicht aus N hinaus:

Satz 3.17 Die Summe m + n und das Produkt mn zweier naturlicher Zahlenm,n ist wieder eine naturliche Zahl.

Man sagt auch, N sei bezuglich + und · abgeschlossen.

Beweis. 1. Summen: Ist n ∈ N gegeben, so betrachten wir M = {m ∈ N : n+m ∈N}. Da N induktiv ist und somit n+1 ∈ N ist, gilt 1 ∈M . Aus demselben Grundfolgt

m ∈M ⇒ n+m ∈ N ⇒ n+m+ 1 ∈ N ⇒ m+ 1 ∈M.

M ⊂ N ist also induktiv, d.h. M = N.

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2. Produkte: Es sei fur festes n ∈ N nun M = {m ∈ N : nm ∈ N}. Offenbarist 1 ∈M . Da – wie schon gezeigt – Summen nicht aus N hinausfuhren, ist zudem

m ∈M ⇒ nm ∈ N ⇒ n(m+ 1) = nm+ n ∈ N ⇒ m+ 1 ∈M.

Dies zeigt M = N. �

Dass N tatsachlich so beschaffen ist, wie wir das gewohnt sind, und sich derGroße nach anordnen lasst durch

1 < 2 := 1 + 1 < 3 := 1 + 1 + 1 + . . . ,

wird im folgenden Satz prazisiert.

Satz 3.18 Fur alle n ∈ N gilt: Es gibt kein m ∈ N mit n < m < n+ 1.

Beweis. Wir zeigen dies, indem wir nachweisen, dass

M = {n ∈ N : Es gibt kein m ∈ N mit n < m < n+ 1}

induktiv ist.1. Die Menge M1 = {1} ∪ {x ∈ R : x ≥ 2 = 1 + 1} ist induktiv: Offenbar gilt

1 ∈M1. Ist x ∈M1, so ist entweder x = 1 und damit 1 + 1 = 2 ∈M1 oder x ≥ 2und daher auch x + 1 ≥ 2. Das zeigt N ⊂ M1, so dass zwischen 1 und 2 keinenaturliche Zahl liegt: Es gilt 1 ∈M .

2. Wir uberlegen uns zunachst, dass fur jedes n ∈ N die folgende Aussagerichtig ist: n = 1 oder n − 1 ∈ N. Dies folgt wieder daraus, dass die fraglicheMenge

M2 = {n ∈ N : n = 1 ∨ n− 1 ∈ N}

induktiv ist: Es ist 1 ∈ M2 und n ∈ M2 impliziert (trivialerweise) n ∈ N. Dannaber ist n+ 1 ∈ N und (n+ 1)− 1 = n ∈ N, also auch n+ 1 ∈M2.

3. Es sei nun n ∈ M . Ware n + 1 /∈ M , so gabe es ein m ∈ N mit n + 1 <m < n+ 2. Wegen m > n+ 1 ∈ N muss m 6= 1 sein. Nach 2. ist dann aber auchm− 1 ∈ N, wobei n < m− 1 < n+ 1 ist. Dies widerspricht n ∈M . �

Aus diesem Satz nun lasst sich das Wohlordnungsprinzip der naturlichen Zah-len gewinnen.

Satz 3.19 (Wohlordnungsprinzip) Jede nicht leere Menge naturlicher Zahlenbesitzt ein kleinstes Element

Beweis. Um einen Widerspruchsbeweis zu fuhren, nehmen wir an, dass es eineMenge M ⊂ N, M 6= ∅, gibt, die kein kleinstes Element besitzt. D.h.: Es gibtkein m ∈M mit m ≤ x fur alle x ∈M . Definiere

L = {n ∈ N : n ≤ x fur alle x ∈M}.

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L ist induktiv: 1 ∈ L ist klar. Es sei nun n ∈ L und insbesondere n ≤ x fur allex ∈ M . Es gilt n /∈ M , denn sonst ware n ein kleinstes Element von M . Da esnach Satz 3.18 kein Element von M zwischen n und n+1 geben kann, muss dannauch n + 1 ∈ L gelten. Damit ist L als induktiv nachgewiesen, d.h. L = N. DaM nicht leer ist, gibt es ein x0 ∈ M . Wegen x0 + 1 ∈ N folgt der Widerspruchx0 + 1 ≤ x0. �

Die ubrigen Zahlbereiche ergeben sich aus N nun wie folgt:

Definition 3.20 Es seien

(i) N0 := N ∪ {0} die naturlichen Zahlen mit 0,

(ii) Z := N ∪ {0} ∪ {−n : n ∈ N} die Menge der ganzen Zahlen und

(iii) Q := {pq

: p ∈ Z, q ∈ Z \ {0}} die Menge der rationalen Zahlen.

Es ist nicht schwer zu sehen, dass die Summen- und Produktbildung in N0,Z bzw. Q nicht aus den jeweiligen Mengen hinausfuhrt. Z enthalt mit jeder Zahlauch ihr Negatives, Q enthalt mit jeder Zahl bzw. jeder von 0 verschiedenen Zahlauch deren Negatives bzw. Inverses.

Bemerkung. Diese Mengen lassen sich in jedem angeordneten Korper definieren.

3.4 Das Vollstandigkeitsaxiom

Wir benotigen noch ein letztes Axiom, das – anschaulich gesagt – garantiert, dassR ‘keine Locher hat’. Wir formulieren es erst und erklaren die dabei auftretendenBegriffe gleich im Anschluss. Das Vollstandigkeitsaxiom besagt:

(V) In R besitzt jede nach oben beschrankte nicht leere Teilmenge ein Supre-mum.

Definition 3.21 Es sei M ⊂ R.

(i) a ∈ R heißt

– obere Schranke fur M , wenn fur alle x ∈M gilt x ≤ a,

– untere Schranke fur M , wenn fur alle x ∈M gilt x ≥ a.

(ii) Besitzt M eine obere (oder untere) Schranke, so nennt man M nach oben(bzw. nach unten) beschrankt. Ist M nach oben und nach unten beschrankt,so heißt M schlicht beschrankt.

(iii) a ∈ R heißt

– Supremum von M , wenn a obere Schranke von M ist und fur jedeobere Schranke a′ von M gilt a ≤ a′,

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– Infimum von M , wenn a untere Schranke von M ist und fur jede untereSchranke a′ von M gilt a ≥ a′.

Wir schreiben dann a = supM bzw. a = inf M .

Ein Supremum nennt man daher auch kleinste obere Schranke, ein Infimumauch großte untere Schranke von M . Beachten Sie: Ein Supremum bzw. Infimum,so es denn existiert, muss nicht in der Menge M selbst liegen. Aquivalent zu (V)hatte man auch die Existenz eines Infimums fur nach unten beschrankte Mengenfordern konnen, wie sich gleich aus Satz 3.24 ergeben wird.

Nicht jede Teilmenge von R hat eine obere bzw. untere Schranke. (Z.B. gibtes fur R selbst kein a ∈ R mit x ≤ a fur alle x ∈ R.) Es gilt aber:

Lemma 3.22 Ist M ⊂ R nach oben (nach unten) beschrankt, so ist das Supre-mum (bzw. Infimum) von M eindeutig.

Beweis. Sind a1 und a2 Suprema von M , also insbesondere obere Schranken, sogilt a1 ≤ a2 und a2 ≤ a1. Dies zeigt a1 = a2. Analog argumentiert man fur Infima.

Dieses Lemma rechtfertigt auch die Schreibweisen supM und inf M . Wir ver-einbaren noch, supM = +∞ fur nicht nach oben, inf M = −∞ fur nicht nachunten beschrankte M zu schreiben und fur die leere Menge sup ∅ = −∞ sowieinf ∅ = +∞ zu setzen. +∞ und −∞ zwar sind keine reellen Zahlen. Fugt mandiese Großen den reellen Zahlen hinzu, so erhalt man den erweiterten ZahlbereichR = R ∪ {−∞,+∞}. Auch auf R lasst sich – mit Vorsicht!! – rechnen, was wirhier aber nicht vertiefen wollen. Die Ordnungsrelationen jedoch lassen sich leichtauf R erweitern, indem man +∞ > x und −∞ < x fur alle x ∈ R definiert.

Definition 3.23 Es sei M ⊂ R eine nach oben (unten) beschrankte Menge. GiltsupM ∈ M (bzw. inf M ∈ M) so schreiben wir auch supM = maxM (bzw.inf M = minM) und nennen diesen Wert das Maximum (Minimum) von M .

Beispiele.

1. Endliche Intervalle sind beschrankt. Fur reelle a < b ist

inf(a, b) = inf[a, b) = inf(a, b] = inf[a, b] = a,

sup(a, b) = sup[a, b) = sup(a, b] = sup[a, b] = b.

(Dies gilt fur die in diesem Fall definierten Intervalle auch noch fur a, b ∈ R.)

Fur reelle a < b ist

min[a, b) = min[a, b] = a und max(a, b] = max[a, b] = b.

Die ubrigen Suprema/Infima sind keine Maxima/Minima.

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2. Jede endliche Menge reeller Zahlen ist beschrankt und besitzt ein Minimumsowie ein Maximum.

3. N ist nicht nach oben beschrankt. Ansonsten gabe es nach (V) eine kleinsteobere Schranke x0 ∈ R fur N. Da mit n auch n + 1 naturlich ist, gilt dannfur alle n ∈ N auch n+ 1 ≤ x0, also n ≤ x0− 1. Auch x0− 1 ist damit eineobere Schranke von N im Widerspruch zur Minimalitat von x0.

4. Die Menge M = {x ∈ Q : x2 ≤ 2} ist nach oben beschrankt, etwa durch 2.(x > 2⇒ x2 > 4 > 2.) Wegen 1 ∈M gilt 1 ≤ supM ≤ 2.

Bemerkung. Im letzten Beispiel wird sich zeigen, dass (supM)2 = 2 (alsosupM =

√2) ist. Im Korper Q selbst hat diese Menge kein Supremum. Dies

zeigt, dass Q nicht vollstandig ist.

Fur M ⊂ R sei −M = {x ∈ R : −x ∈M}.

Satz 3.24 (i) a ist obere Schranke fur M ⊂ R genau dann, wenn −a eineuntere Schranke fur −M ist.

(ii) a ist Supremum von M genau dann, wenn −a Infimum von −M ist.

Beweis. (i) Dies folgt aus

∀x ∈M : x ≤ a ⇔ ∀x ∈M : −x ≥ −a ⇔ ∀ y ∈ −M : y ≥ −a.

(ii) Ist a = supM , so ist −a nach (i) eine untere Schranke fur −M . Ist auch reine solche, so ist wiederum nach (i) −r eine obere Schranke von M = −(−M).Dann aber ist −r ≥ a und somit r ≤ −a. Damit ist −a = inf M nachgewiesen.Die Umkehrung folgt analog. �

Satz 3.25 Fur alle x, y ∈ R mit x, y > 0 gibt es ein n ∈ N mit nx > y.

Beweis. Anderenfalls ware yx

eine obere Schranke von N. �

Bemerkung Man bezeichnet die Aussage dieses Satzes auch als das archimedi-sche Axiom. In unserem Axiomensystem ist es eine Folgerung aus den Korper-,Anordnungs- und Vollstandigkeitsaxiomen. Ohne (V) muss Satz 3.25 nicht gelten.Einen angeordneten Korper, in dem dieser Satz gilt, nennt man auch archimedischangeordnet.

Korollar 3.26 (i) Fur jedes ε > 0 gibt es ein n ∈ N, so dass 0 < 1n< ε gilt.3

(ii) Ist q > 1, so gibt es fur jedes K > 0 ein n ∈ N mit qn > K.

3Genauer naturlich: Fur jedes ε ∈ R mit ε > 0 . . . . – Im Folgenden lassen wir das ‘∈ R’bisweilen weg und verabreden, dass in Ausdrucke wie ‘Sei x > 0’ oder ‘Fur alle x > 0’ o.a. xals reell vorausgesetzt wird, wenn es nicht ausdrucklich anders spezifiziert ist.

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(iii) Ist 0 < q < 1, so gibt es fur jedes ε > 0 ein n ∈ N mit 0 < qn < ε.

Beweis. (i) Wahle n > 1ε. �

(ii) Schreibt man q = 1 + x, so folgt aus der Bernoullischen Ungleichungqn = (1 + x)n ≥ 1 + nx > nx. Die Behauptung stimmt also fur n ≥ K

x.

(iii) Nach (ii) gibt es ein n ∈ N mit 1qn

= (1q)n > 1

ε, also (0 <) qn < ε. �

Der folgende Satz besagt, dass Q in R ‘dicht liegt’, obwohl es – wie wir inSatz 3.30 sehen werden – ‘viel mehr’ reelle als rationale Zahlen gibt.

Satz 3.27 Ist x ∈ R, so gibt es zu jedem ε > 0 ein r ∈ Q mit |x− r| < ε.

Beweis. Wir zeigen, dass es zu jedem x ∈ R und q ∈ N ein p ∈ Z gibt mit|x− p

q| ≤ 1

q. Nach Korollar 3.26 folgt hieraus die Behauptung.

Fur x = 0 ist das klar. Fur x > 0 sei p das minimale Element in {p ∈ N : x ≤pq}, welches nach Satz 3.19 ja existiert. Falls p > 1 ist, muss dann p−1

q< x ≤ p

q

gelten. Ist p = 1, so ist 0 < x ≤ 1q. In jedem Fall folgt |x− p

q| < 1

q.

Fur x < 0 wahle p ∈ N mit | − x− pq| < 1

q, so dass dann |x− −p

q| < 1

qist. �

Korollar 3.28 Zu x1, x2 ∈ R mit x1 < x2 gibt es ein r ∈ Q mit x1 < r < x2.

Beweis. Wahle r ∈ Q mit |x1+x22− r| < x2−x1

2. Dann ist tatsachlich

r − x1 = r − x1 + x22

+x2 − x1

2> −x2 − x1

2+x2 − x1

2= 0,

x2 − r =x2 − x1

2+x1 + x2

2− r > x2 − x1

2− x2 − x1

2= 0.

Eine weitere wichtige Konsequenz aus (V) ist der folgende Existenzsatz uberElemente in ineinandergeschachtelten Intervallen.

Satz 3.29 (Intervallschachtelungsprinzip) Es seien I1, I2, I3, . . . endliche ab-geschlossene Intervalle mit I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ . . ..

(i) Dann ist⋂n∈N In 6= ∅.

(ii) Gibt es fur jedes ε ∈ R mit ε > 0 ein n ∈ N, so dass |In| < ε gilt, so gibtes genau eine reelle Zahl in

⋂n∈N In.

Beweis. (i) Ist In = [an, bn], so gilt

a1 ≤ a2 ≤ a3 ≤ . . . ≤ b3 ≤ b2 ≤ b1.

Da alsoA = {a1, a2, . . .} (etwa durch b1) nach oben beschrankt undB = {b1, b2, . . .}(etwa durch a1) nach unten beschrankt ist, existieren supA und inf B. Da jedes

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bn obere Schranke von A ist, gilt auch supA ≤ bn fur alle n ∈ N. Das aber zeigt,dass fur alle n gilt supA ∈ [an, bn], also supA ∈

⋂n∈N In.

(ii) Gabe es zwei verschiedene Punkte x, x′ ∈⋂n∈N In, so wahlen wir ε =

|x − x′|. Nach Voraussetzung gibt es ein n mit |In| < ε. Anderereits folgt ausx, x′ ∈ In auch |In| ≥ |x− x′| = ε. Widerspruch. �

Bemerkung. Die Aussage von Satz 3.29 ist – auf der Basis der ubrigen Axio-me – sogar aquivalent zum Vollstandigkeitsaxiom (V). Man hatte also ebensogutdie Aussage dieses Satzes zu einem Axiom erklaren konnen und dann die Su-premumseigenschaft nach oben beschrankter Mengen als Satz beweisen konnen.

Als Anwendung dieses Satzes zeigen wir, dass R (im Gegensatz zu Q) ‘vielgroßer’ als N ist:

Satz 3.30 R ist uberabzahlbar.

Beweis. Es genugt zu zeigen, dass keine Abbildung von N nach R surjektiv ist.Zu f : N→ R definieren dazu induktiv:

• I1 ⊂ [0, 1] sei ein abgeschlossenes Intervall der Lange 13

mit f(1) /∈ I1.

• Ist In schon gewahlt, so nehmen wir In+1 ⊂ In als abgeschlossenes Intervallder Lange 1

3nmit f(n+ 1) /∈ In+1.

I1 kann man hierbei als eines der Intervalle [0, 13] oder [2

3, 1] wahlen, die ja nicht

beide f(1) enthalten konnen. Ist In = [an, an + 13n

] schon konstruiert, so wahlenwir als In+1 etwa dasjenige der Intervalle [an, an + 1

3n+1 ], [an + 23n+1 , an + 1

3n], das

f(n+ 1) nicht enthalt.Fur jedes n ist dann f(n) /∈

⋂k∈N Ik, obwohl diese Menge nicht leer ist. f ist

also nicht surjektiv. �

Wir konnen nun auch endlich garantieren, dass die Gleichung x2 = 2 in Rlosbar ist. Allgemein gilt:

Satz 3.31 Zu jeder reellen Zahl y ≥ 0 und jedem k ∈ N gibt es genau ein reellesx ≥ 0 mit xk = y.

Bemerkung. Wir werden dies gleich mit Hilfe einer Intervallschachtelung unddamit mehr oder weniger direkt aus den Axiomen von R ableiten. Spater, wennwir schon wesentlich mehr Theorie entwickelt haben werden, wird sich dieser Satzin wenigen Zeilen beweisen lassen.

Wir schicken dem Beweis die folgende Ubungsaufgabe voraus:

Ubung. Fur a, b ∈ R, n ∈ N gilt

bn − an =(b− a

)(bn−1 + bn−2a+ . . .+ ban−2 + an−1

) (= (b− a)

n−1∑k=0

bn−1−kak).

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Beweis von Satz 3.31. Es sei zunachst y > 1. Wir konstruieren eine Intervall-schachtelung I1 = [a1, b1] ⊃ I2 = [a2, b2] ⊃ . . ., so dass fur alle n ∈ N gilt

akn ≤ y ≤ bkn sowie |In+1| = 12|In|.

Dazu definieren wir die In induktiv mit dem Intervallhalbierungsverfahren:Fur n = 1 setzen wir [a1, b1] = [1, y], so dass ak1 = 1k ≤ y ≤ yk = bk1 gilt.Ist In mit den geforderten Eigenschaften schon definiert, so setzen wir

In+1 =

{[an,

an+bn2

], falls (an+bn2

)k ≥ y,

[an+bn2

, bn], falls (an+bn2

)k < y.

Dann genugt auch In+1 den geforderten Bedingungen.Induktiv ergibt sich, dass |In| = 1

2n−1 |I1| ist, womit nach Korollar 3.26(ii)zu jedem ε > 0 ein n ∈ N mit |In| < ε existiert. Gemaß Satz 3.29 gibt es einx ∈

⋂n∈N In.

Wir betrachten nun die Intervalle Jn = [akn, bkn]. Offensichtlich ist Jn+1 ⊂ Jn

fur alle n. Indem man n ∈ N zu gegebenem ε > 0 mit (12)n−1 < ε

kbk1wahlt, was

nach Korollar 3.26(ii) moglich ist, lasst sich die Lange von Jn abschatzen durch

|Jn| = bkn − akn= (bn − an)(bk−1n + bk−2n an + . . .+ bna

k−2n + ak−1n )

≤ 1

2n−1kbkn ≤

1

2n−1kbk1 <

ε

kbk1kbk1 = ε.

Nun ist wegen x ∈ In fur alle n auch xk ∈ Jn fur alle n. Nach Konstruktiongilt aber auch y ∈ Jn fur alle n. Gemaß Satz 3.29(ii) muss dann aber xk = ygelten.

Die behauptete Eindeutigkeit ist einfacher zu sehen: Fur alle x′ > 0 mit x′ 6= xgilt entweder x′ < x und somit auch (x′)k < xk = y oder aber x′ > x und somitauch (x′)k > xk = y.

Im Fall 0 < y < 1 folgt die Behauptung nun aus dem schon Gezeigten undder Beobachtung xk = y ⇔ (x−1)k = y−1. Die Falle y = 0 und y = 1 schließlichsind trivial. �

Definition 3.32 Ist y ∈ R nicht negativ, k ∈ N, so nennt man die eindeutigereelle Zahl x ≥ 0 mit xk = y die k-te Wurzel von y und schreibt x = k

√y oder

auch x = y1k . Fur k = 2 schreibt man auch nur x =

√y.

Wir bemerken noch, dass die k-ten Wurzeln die folgende Monotonieeigenschaftbesitzen:

0 ≤ y1 < y2 ⇒ k√y1 < k

√y2.

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Dies ergibt sich einfach durch Kontraposition, denn k√y1 ≥ k

√y2 impliziert y1 =

( k√y1)

k ≥ ( k√y2)

k = y2 (Induktion nach k).

Ubung. Zeigen Sie, dass fur die Menge M aus Beispiel 4 von Seite 44 tatsachlichsupM =

√2 ist.

Bemerkung. Zum Ende dieses Abschnitts bemerken wir noch, dass R ‘bis aufIsomorphie’ als vollstandiger angeordneter Korper eindeutig ist. D.h.: Ist etwa Rein weiterer vollstandiger angeordneter Korper, so gibt es eine (eindeutige) Bi-jektion R → R, die samtliche Strukturen erhalt. (Das Bild einer Summe ist dieSumme der Bilder, genauso fur Produkte, die neutralen und inversen Elemente inR werden auf die entsprechenden in R abgebildet, die Anordnungsrelation bleibterhalten u.s.w.) Von unserem Standpunkt lassen sich R und R schlicht nicht un-terscheiden. Obwohl der Beweis nicht allzu schwierig ist, verzichten wir darauf,ihn hier anzugeben, da er fur das Folgende nicht von Belang ist. Eine Selbst-verstandlichkeit ist dies jedoch nicht. Schließlich mussten wir bis zum letztenAxiom (V) warten, um endlich R und Q unterscheiden zu konnen.

3.5 Die komplexen Zahlen

In den naturlichen Zahlen allein kann man nicht uneingeschrankt subtrahieren:Die elementare Gleichung

a+ x = b

besitzt selbst fur a, b ∈ N nicht immer eine Losung x ∈ N. In Z dagegen ist sielosbar – sogar fur alle a, b ∈ Z. Die Gleichung

ax = b (a 6= 0)

ist jedoch auch in Z im Allgemeinen nicht losbar. Wohl aber in Q – sogar furalle a, b ∈ Q (a 6= 0). Auch Q jedoch genugt unseren Anspruchen noch nicht,da es nicht vollstandig ist und insbesondere im Allgemeinen keine Losungen derGleichung

x2 = b (b ≥ 0)

zulasst. Selbst in R gibt es nun immer noch elementare Gleichungen, die keineLosungen besitzen:

x2 = −1

kann fur keine reelle Zahl x gelten, da ja immer x2 ≥ 0 und −1 < 0 ist.Dennoch mochten wir in der Mathematik diese Gleichung losen konnen – aus

vielerlei Grunden, die sich Ihnen so richtig wohl erst dann erschließen, wenn Sieim Laufe Ihres Studiums sehen, was man damit machen kann. Dies fuhrt unszum Zahlbereich der komplexen Zahlen. Mathematiker haben schon recht langemit diesen Zahlen gerechnet. Bevor sie von Gauß und Hamilton im vorletzten

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Jahrhundert auf eine theoretisch fundierte Grundlage gestellt wurden, wurdendamit schon Gleichungen gelost, die im Reellen keine Losung besitzen.

Fur quadratische Gleichungen

x2 + px+ q = 0

etwa lassen sich mit der ‘Mitternachts-’ oder ‘p-q-Formel’ die Losungen als

x1,2 =−p±

√p2 − 4q

2

angeben. Ist p2 − 4q ≥ 0, so sind diese Losunen reell. Im Fall p2 − 4q < 0 lasstsich dies mit einer ‘imaginaren Einheit’ i, fur die i2 = −1 ist, unformen zu

x1,2 = −p2±√|p2 − 4q|

2i,

eine Zahl mit einem ‘Realteil’ −p2

und einem ‘Imaginarteil’ ±√|p2−4q|2

.Wir werden solche Zahlen nun – ohne das Imaginationsvermogen uberzustra-

pazieren – ganz formal als Paare reeller Zahlen einfuhren.

Definition 3.33 Der Korper der komplexen Zahlen C ist die Menge R× R mitden inneren Verknupfungen

(i) Addition:(x1, y1) + (x2, y2) := (x1 + x2, y1 + y2),

(ii) Multiplikation:

(x1, y1) · (x2, y2) := (x1x2 − y1y2, x1y2 + x2y1).

Die Addition ist hier nichts Anderes als die Vektoraddition in der Ebene, die Sieevtl. aus der Schule kennen. Wir werden gleich sehen, was es mit der Multiplika-tion auf sich hat.

Satz 3.34 C ist ein Korper.

Beweis. Die Koperaxiome (A1), (A2), (A3), (M1), (M2), (M3), (N) und (D)bestatigt man durch einfaches Nachrechnen, wobei die Null durch (0, 0) und dieEins durch (1, 0) gegeben ist. Ebenso rechnet man leicht nach, dass das Negativevon z = (x, y) durch −z = (−x,−y) sowie das Inverse von z = (x, y) 6= (0, 0)durch

1

z=( x

x2 + y2,−y

x2 + y2

).

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gegeben ist. �

Speziell fur komplexe Zahlen der Form (x1, 0), (x2, 0) gilt

(x1, 0) + (x2, 0) = (x1 + x2, 0) und

(x1, 0) · (x2, 0) = (x1x2, 0).

Dies erlaubt es, die reellen Zahlen mit der Teilmenge {(x, 0) : x ∈ R} von C zuidentifizieren. (Ganz formal: Die Abbildung x 7→ (x, 0) vermittelt einen Isomor-phismus zwischen den Korpern R und {(x, 0) : x ∈ R}, d.h. sie ist bijektiv und mitder Korperstruktur (den inneren Verknupfungen) vertraglich.) Wir durfen daherdie Elemente der Form (x, 0) selbst als reelle Zahlen betrachten und einfach mitx bezeichnen.

Definition 3.35 Es sei z = (x, y) ∈ C.

(i) Man nennt Re z = x den Realteil von z.

(ii) Man nennt Im z = y den Imaginarteil von z.

(iii) Ist Im z = 0, so heißt z reell, ist Re z = 0, so heißt z rein imaginar.

(iv) Die rein imaginare Zahl i = (0, 1) heißt die imaginare Einheit.

Wegen i2 = (−1, 0) = −1 sind z = ±i Losungen der Gleichung z2 + 1 = 0.Damit haben wir nun einerseits unser Ausgangsproblem gelost. Auf der anderenSeite impliziert dieser Zusammenhang, dass C nicht angeordnet werden kann, daja in jedem angeordneten Korper von 0 verschiedene Quadrate positiv sind. In Csind jedoch sowohl 1 = 12 als auch −1 = i2 Quadrate.

Fur gewohnlich schreibt man die komplexen Zahlen nicht explizit als Paarereeller Zahlen, sondern nutzt die Darstellung

(x, y) = (x, 0) + (0, 1) · (y, 0) = x+ iy

als Summe des Realteils und des Produkts des Imaginarteils mit der imaginarenEinheit. – Dann muss man sich die Regeln zur Summen- und Produktregel nichtauswendig merken; sie ergeben sich automatisch aus i2 = −1: Fur x1, y1, x2, y2 ∈R ist

(x1 + iy1) + (x2 + iy2) = (x1 + x2) + i(y1 + y2),

(x1 + iy1) · (x2 + iy2) = x1x2 + ix1y2 + iy1x2 + i2y1y2

= (x1x2 − y1y2) + i(x1y2 + x2y1).

(Und aus diesem Grund haben wir diese Operationen naturlich genau so defi-niert.)

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Definition 3.36 Es sei z = x+ iy ∈ C (x, y ∈ R).

(i) Die zu z konjugiert komplexe Zahl ist z := x− iy.

(ii) Der Betrag von z ist |z| :=√zz =

√x2 + y2.

(In (ii) haben wir (x+iy)(x−iy) = x2−(iy)2 = x2+y2 ausgenutzt. Beachte, dass(ii) mit unserer fruheren Definition des Betrags einer reellen Zahl ubereinstimmt,wenn z reell ist.)

Die Konjugation erfullt die folgenden Eigenschaften:

Satz 3.37 Es seien z, z1, z2 ∈ C.

(i) z = z,

(ii) z1 + z2 = z1 + z2,

(iii) z1z2 = z1 z2,

(iv) Re z = 12(z + z),

(v) Im z = 12i

(z − z).

Beweis. (i) und (ii) sind klar.

(iii) Ist z1 = x1 + iy1, z2 = x2 + iy2 (x1, y1, x2, y2 ∈ R), so gilt

z1z2 = x1x2 − y1y2 + i(x1y2 + x2y1) = x1x2 − y1y2 − i(x1y2 + x2y1)

= x1x2 − (−y1)(−y2) + i(x1(−y2) + x2(−y1)

)= z1 z2.

(iv, v) Mit z = x+ iy ist

1

2(z + z) =

1

2(x+ iy + x− iy) = x = Re z und

1

2i(z − z) =

1

2i

(x+ iy − (x− iy)

)= y = Im z.

Fur den Betrag ergeben sich die folgenden Regeln:

Satz 3.38 Es seien z, z1, z2 ∈ C.

(i) |z| ≥ 0 und |z| = 0⇔ z = 0.

(ii) |z| = |z|,

(iii) |Re z| ≤ |z| und | Im z| ≤ |z|,

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(iv) |z1z2| = |z1||z2|,

(v) Dreiecksungleichung: |z1 + z2| ≤ |z1|+ |z2|.

(vi) Umgekehrte Dreiecksungleichung: |z1 − z2| ≥∣∣|z1| − |z2|∣∣.

Beweis. Es sei z = x+ iy (x, y ∈ R).

(i) Klar, da |z| =√x2 + y2 ≥ 0 und |z| = 0⇔ x = y = 0⇔ z = 0.

(ii) Dies folgt aus |z| =√x2 + y2 =

√x2 + (−y)2 = |z|.

(iii) Aus der Monotonieeigenschaft der Wurzel folgt

|Re z| = |x| =√x2 ≤

√x2 + y2 = |z| sowie

| Im z| = |y| =√y2 ≤

√x2 + y2 = |z|.

(iv) Dies folgt nach Wurzelziehen aus

|z1z2|2 = z1z2z1z2 = z1z1z2z2 = |z1|2|z2|2.

(v) Nach (iii), (iv) und (ii) ist

|z1 + z2|2 = (z1 + z2)(z1 + z2) = z1z1 + z1z2 + z2z1 + z2z2

= |z1|2 + z1z2 + z1z2︸ ︷︷ ︸=2Re(z1z2)

+|z2|2 ≤ |z1|2 + 2|z1z2|+ |z2|2

= |z1|2 + 2|z1||z2|+ |z2|2 = (|z1|+ |z2|)2.

Die Behauptung folgt nun durch Wurzelziehen.

(vi) Dies folgt genauso wie im reellen Fall direkt aus der Dreiecksungleichung(vgl. Satz 3.9(v)). �

Da man C nicht anordnen kann, ist es nicht sinnvoll, obere oder untere Schran-ken fur Teilmengen von C definieren zu wollen. Man kann jedoch von beschrank-ten Mengen sprechen:

Definition 3.39 Eine Menge M ⊂ C komplexer Zahlen heißt beschrankt, wenndie Menge {|z| : z ∈ M} in R beschrankt ist. (D.h.: Wenn ein c ∈ R mit |z| ≤ cfur alle z ∈M existiert.)

Man kann sich die komplexen Zahlen in der Gaußschen Zahlenebene R × Rveranschaulichen. z = x + iy ∈ C ist dann der Punkt (x, y), so dass dem x-Achsenabschnitt der Realteil und dem y-Achsenabschnitt der Imaginarteil vonz entspricht. (Man spricht daher hier auch von der ‘reellen’ bzw. ‘imaginarenAchse’.) In dieser Interpretation ist z gerade der an der reellen Achse gespie-gelte Punkt z. Die Addition ist dann – wie schon bemerkt – die Addition vonebenen Vektoren. Alternativ kann man den z darstellenden Vektor auch durchseine Lange r = |z| und den mit der reellen Achse eingeschlossenen Winkel φ

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beschreiben. Dies ist die sogenannte Polardarstellung, die wir spater noch ganzsauber definieren werden. Es gilt dann

x = r cosφ und y = r sinφ.

Im Vorgriff hierauf – und ohne dies im Folgenden auszunutzen, bevor wir diefolgenden Rechnungen gerechtfertigt haben, – gehen wir auf diese vor allem auchfur die Anschauung nutzliche Darstellung kurz ein.

Sind z1 = x1 + iy1, z2 = x2 + iy2 komplexe Zahlen mit entsprechenden Be-tragen r1 bzw. r2 und Winkeln φ1 bzw. φ2, so ist nach den trigonometrischenAdditionstheoremen

z1z2 = (r1 cosφ1 + ir1 sinφ1)(r2 cosφ2 + ir2 sinφ2)

= r1r2(

cosφ1 cosφ2 − sinφ1 sinφ2 + i(cosφ1 sinφ2 + cosφ2 sinφ1))

= r1r2(cos(φ1 + φ2) + i sin(φ1 + φ2)).

Das heißt: Bildet man das Produkt zweier komplexer Zahlen, so werden die Be-trage multipliziert und die Winkel zur reellen Achse addiert. Halt man w ∈ Cmit Betrag r und Winkel φ fest, so ist die Abbildung C→ C, z 7→ wz eine Dreh-streckung: z = (x, y) wird um den Faktor r gestreckt und dann um den Winkelφ gedreht. Speziell fur w = i (mit r = 1 und φ = 90◦) ergibt sich eine Drehungum 90◦.

Nun wird auch endlich klar, woher der Name Dreiecksungleichung fur dieBeziehung |z1 + z2| ≤ |z1| + |z2| fur komplexe Zahlen z1, z2 stammt. In einemDreieck mit den Eckpunkten 0, z1 und z1 + z2 ist die Seite zwischen 0 und z1 + z2der Lange |z1 + z2| hochstens so groß wie die Summe der beiden anderen Seitenzwischen 0 und z1 der Lange |z1| und zwischen z1 und z1 + z2 der Lange |z2|.

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Kapitel 4

Folgen und Reihen

Ein zentrales Konzept in der Analysis ist der Begriff des Grenzwerts. Hierdurchwird in mathematisch rigoroser Weise formalisiert, was eine ‘beliebig genaue Ap-proximation’ ist. Dabei werden wir in diesem Kapitel untersuchen, was es heißteine Zahl durch eine (abzahlbar unendliche) Folge von Zahlen beliebig gut zuapproximieren.

4.1 Folgen und Grenzwerte

Definition 4.1 Es sei M eine Menge. Eine Abbildung von N nach M (oder auchvon N0 nach M) heißt eine Folge in M .

Ist M = R bzw. M = C, so spricht man auch von einer reellen bzw. komplexenFolge.

Folgen schreibt man meist nicht in der Form f : N → M , n 7→ f(n). Statt-dessen notiert man eine Folge N → M mit n 7→ an als (an)n∈N oder auch(a1, a2, . . .), manchmal auch einfach als (an). Die an nennt man die Folgenglie-der der Folge (an). Bisweilen bezeichntet man allgemeiner auch Abbildungen{m,m + 1,m + 2, . . .} → M , n 7→ an als Folgen, wenn m irgendeine ganze Zahlist. Dies notiert man dann mit (an)n≥m. Da wir uns im Folgenden nur fur dasasymptotische Verhalten von Folgen interessieren, auf das endliche Abschnitte zuBeginn der Folge keinen Einfluss haben, ergeben sich hierfur im Folgenden keinewesentlichen Unterschiede.

Beispiele.

1. Fur M = N ist die Folge der ungeraden Zahlen

(1, 3, 5, . . .) = (2n− 1)n∈N.

2. Die harmonische Folge ist die reelle Folge( 1

n

)n∈N

=(

1,1

2,1

3, . . .

).

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3. Fur an = 2−n ist

(an)n∈N0 =(

1,1

2,1

4,1

8, . . .

).

4. Eine komplexe Folge ist z.B.

(in)n∈N0 = (1, i,−1,−i, 1, i,−1,−i, 1, . . .).

5. Fur beliebiges z ∈ C ist

(zn)n∈N0 = (1, z, z2, z3, . . .)

eine sogenannte geometrische Folge.

6. Fur xn =∑n

k=1 9 · 10−k ist1

(xn)n∈N = (0.9, 0.99, 0.999, . . .).

Wir betrachten nun Folgen mit Werten in R oder C. Sie durfen – und sollen,wenn sie mit den komplexen Zahlen noch nicht vollig vertraut sind, – sich imFolgenden beim ersten Lesen immer auf den reellen Fall konzentrieren. (In diesemFall mussen sie sich beim zweiten Lesen dann jedoch noch den komplexen Fallklar machen.)

Definition 4.2 Es sei (an)n∈N eine reelle (oder komplexe) Folge. (an) konvergiertgegen a ∈ R (oder C), wenn gilt:

∀ ε > 0∃N ∈ N ∀n ≥ N : |an − a| < ε.

(D.h.: Fur jedes ε > 0 gibt es einen (von ε abhangigen) Index N ∈ N, so dass furalle n ≥ N die Bedingung |an−a| < ε erfullt ist.) Man schreibt dann limn→∞ an =a oder auch an → a (fur n → ∞). Ist a = 0, so nennt man (an)n∈N auch eineNullfolge.

Konvergiert (an) gegen eine Zahl, so heißt (an) konvergent. Konvergiert (an)nicht, so sagt man (an) divergiert oder sei divergent.

Nochmal: an → a heißt: Zu beliebig vorgelegtem ε > 0 durfen die an fur hinrei-chend große n ∈ N nicht weiter als ε von a entfernt liegen.

Aquivalente Formulierung: Fur jedes ε > 0 gilt |an − a| < ε fur fast allen ∈ N. (D.h. fur alle n ∈ N mit endlich vielen Ausnahmen.)

Beispiele.

1. Ist (an)n∈N eine konstante Folge mit an = a fur alle n ∈ N, so gilt limn→∞ an =a.

Klar, denn fur jedes ε > 0 und alle n ∈ N ist |an − a| = 0 < ε.

1Die Dezimaldarstellung werden wir spater noch exakt einfuhren.

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2. limn→∞1n

= 0.

Denn zu ε > 0 gibt es nach dem archimedischen Axiom ein N ∈ N mit1N< ε (vgl. Korollar 3.26(i)). Dann aber ist fur n ≥ N∣∣∣ 1

n

∣∣∣ ≤ ∣∣∣ 1

N

∣∣∣ < ε.

3. Die Folge (in)n∈N0 divergiert.

Denn ware limn→∞ in = z, so musste fur ε = 1 ein N ∈ N mit |in − z| < 1

fur alle n ≥ N existieren. Dann aber ware nach der Dreiecksungleichung

2 > |iN+2 − z|+ |iN − z| ≥ |iN+2 − iN | = |iN ||i2 − 1| = | − 1− 1| = 2.

4. Die Folge ((−1)n)n∈N0 divergiert.

Das sieht man ahnlich wie im vorigen Beispiel. (Ubung!)

5. Allgemein gilt: Die Folge (zn)n∈N0 konvergiert fur |z| < 1 gegen 0 und furz = 1 gegen 1. Anderenfalls divergiert sie.

Fur |z| < 1 gibt es zu jedem ε > 0 nach Korollar 3.26(iii) namlich einN ∈ N mit |z|N < ε. Dann aber ist auch

|zn| = |z|n ≤ |z|N < ε ∀n ≥ N.

Der Fall z = 1 folgt direkt aus 1.

Ist nun |z| ≥ 1 und z 6= 1, so kann (zn) nicht gegen ein w ∈ C konvergieren.

Anderenfalls gabe es zu ε = |z−1|2

(> 0) ein N ∈ N mit |zn−w| < ε fur allen ≥ N . Dann aber ware (Dreiecksungleichung)

|z − 1| = 2ε > |zN+1 − w|+ |w − zN | ≥ |zN+1 − w + w − zN |= |zN+1 − zN | = |zN ||z − 1| = |z|N |z − 1| ≥ |z − 1|.

Der folgende Satz rechtfertigt es, im Falle der Existenz von dem Grenzwerteiner Folge zu sprechen.

Satz 4.3 Der Grenzwert einer konvergenten reellen (oder komplexen) Folge isteindeutig.

Beweis. Ware dies nicht der Fall, so gabe es eine (reelle oder komplexe) Folge(an)n∈N mit an → a und an → a′ fur n→∞ fur zwei verschiedene a und a′. Dann

aber ist ε = |a−a′|2

> 0, so dass N ∈ N und N ′ ∈ N mit

|an − a| < ε ∀n ≥ N und |an − a′| < ε ∀n ≥ N ′

existieren. Fur n ≥ max{N,N ′} ergibt sich hieraus der Widerspruch

|a− a′| = |a− an + an − a′| ≤ |an − a|+ |an − a′| < ε+ ε = |a− a′|.

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Satz 4.4 Eine konvergente reelle (oder komplexe) Folge ist beschrankt.

Beweis. Gilt limn→∞ an = a, so wahlen wir N ∈ N, so dass fur alle n ≥ N gilt|an− a| < 1. Fur diese n ist dann 1 > |an− a| ≥ |an| − |a| nach der umgekehrtenDreiecksungleichung und damit |an| ≤ |a|+ 1. Setzt man nun

c = max{|a1|, . . . , |aN−1|, |a|+ 1},

so gilt tatsachlich |an| ≤ c fur alle n ∈ N. �

Bemerkung. Die Umkehrung dieser Behauptung ist falsch! Z.B. ist ((−1)n)n∈Nbeschrankt aber divergent.

Der folgende Satz fasst wichtige Grenzwertsatze zusammen.

Satz 4.5 (Grenzwertsatze fur Folgen) Es seien (an)n∈N und (bn)n∈N konver-gente reelle (oder komplexe) Folgen. Dann gilt:

(i) Auch (an ± bn)n∈N ist konvergent und es ist

limn→∞

an ± bn = limn→∞

an ± limn→∞

bn.

(ii) Auch (anbn)n∈N ist konvergent und es ist

limn→∞

anbn = limn→∞

an limn→∞

bn.

(iii) Gilt bn 6= 0 fur alle n und limn→∞ bn 6= 0, so ist auch (anbn

)n∈N konvergentmit

limn→∞

anbn

=limn→∞

an

limn→∞

bn.

Bemerkung. Gilt limn→∞ bn = b 6= 0, so gibt es zu ε = |b| ein N mit |bn| ≥|b| − |bn − b| > |b| − ε = 0 fur n ≥ N . Es konnen also hochstens endlich viele derbn gleich 0 sein. Da dies fur das Grenzwertverhalten nicht von Belang ist, konnenwir in (iii) auf die Bedingung bn 6= 0 fur alle n auch verzichten. (Zumindest wennwir uns nicht daran storen, dass die Folgenglieder an

bnggf. nur fur hinreichend

große n erklart sind.)

Beweis. Es seien limn→∞ an = a und limn→∞ an = b.

(i) Zu ε > 0 gibt es N ∈ N und N ′ ∈ N mit

|an − a| <ε

2∀n ≥ N und |bn − b| <

ε

2∀n ≥ N ′.

Fur n ≥ max{N,N ′} ergibt sich hieraus

|an + bn − (a+ b)| ≤ |an − a|+ |bn − b| <ε

2+ε

2= ε,

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wie gewunscht.

(ii) Nach Satz 4.4 gibt es ein C > 0 mit |bn| ≤ C fur alle b ∈ N. Wir wahlennun N ∈ N und N ′ ∈ N mit

|an − a| <ε

2C∀n ≥ N und |bn − b| <

ε

1 + 2|a|∀n ≥ N ′.

Fur n ≥ max{N,N ′} ist dann

|anbn − ab| = |anbn − abn + abn − ab| ≤ |anbn − abn|+ |abn − ab|

= |bn||an − a|+ |a||bn − b| < Cε

2C+ |a| ε

1 + 2|a|≤ ε

2+ε

2= ε.

(iii) Nach (ii) genugt es 1bn→ 1

bzu zeigen.

Gilt b 6= 0, so gibt es zu |b|2

ein N ∈ N mit

|bn| = |b− (b− bn)| ≥ |b| − |bn − b| > |b| −|b|2

=|b|2

fur n ≥ N . Zu gegebenem ε > 0 gibt es außerdem ein N ′ ∈ N mit |bn − b| < |b|2ε2

fur n ≥ N ′. Ist nun n ≥ max{N,N ′}, so folgt∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣ =|b− bn||bnb|

<|b|2ε/2|b|2/2

= ε.

Beispiele.

1. Wendet man Satz 4.5 speziell mit einer konstanten Folge bn = c fur alle nan, so ergibt sich fur eine konvergente Folge (an)

limn→∞

c an = c limn→∞

an.

2. Nach den Grenzwertsatzen ist

limn→∞

n7 + 6n4 − 3n2

3n7 + n6 − 2= lim

n→∞

1 + 6n−3 − 3n−5

3 + n−1 − 2n−7

=limn→∞

1 + 6(

limn→∞

1n

)3 − 3(

limn→∞

1n

)5limn→∞

3 + limn→∞

1n− 2(

limn→∞

1n

)7=

1 + 6 · 03 − 3 · 05

3 + 0− 2 · 07=

1

3.

Beachte hierbei, dass die Anwendung der Grenzwertsatze gerechtfertigt ist,da alle auftretenden Limites existieren und der Nenner nicht verschwindet.

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Bei der Untersuchung von Folgen ist es – wie wir sehen werden – oft nutz-lich, aus einer Folge eine neue Folge zu generieren, indem man einfach einigeFolgenglieder weglasst. Genauer:

Definition 4.6 Es sei (an)n∈N eine Folge und (nk)k∈N eine Folge naturlicherZahlen mit n1 < n2 < . . .. Dann ist die Folge (ank)k∈N (also k 7→ ank) eineTeilfolge von (an)n∈N.

Beispiele.

1. Die Folge (2,4,6,. . . ) der geraden Zahlen ist eine Teilfolge der Folge (1, 2, 3, . . .)aller naturlichen Zahlen.

2. Fur nk = 2k erhalt man aus ( 1n)n∈N die Teilfolge ( 1

2k)k∈N.

Satz 4.7 Konvergiert (an) gegen a, so gilt auch limk→∞ ank = a fur jede Teilfolge(ank).

Beweis. Das ist (fast) klar: Fur jedes ε > 0 gilt |an − a| < ε fur fast alle n, erstrecht also |ank − a| < ε fur fast alle k. �

Definition 4.8 Es sei (an) eine reelle (oder komplexe) Folge. a ∈ R (oder C)heißt Haufungspunkt von (an), wenn es eine Teilfolge (ank) von (an) gibt, diegegen a konvergiert.

Eine aquivalente Formulierung gibt der folgende Satz an:

Satz 4.9 a ist Haufungspunkt der reellen (oder komplexen) Folge (an) genaudann, wenn es fur jedes ε > 0 unendlich viele Indizes n mit |an − a| < ε gibt.

Beweis.⇒: Klar: Gilt etwa ank → a, so gibt es zu ε > 0 einK ∈ N mit |ank−a| < εfur alle (unendlich vielen) k ≥ K.

⇐: Wir definieren naturliche Zahlen n1 < n2 < . . . wie folgt induktiv. Zunachstwahlen wir n1 mit |an1−a| < 1. Ist nun nk schon definiert, so wahlen wir nk+1 > nkmit |ank+1

− a| < 1k+1

. Da unendlich viele Folgenglieder dieser Abschatzunggenugen, ist dies moglich.

Zu gegebenem ε > 0 gibt es nun ein K ∈ N mit 1K< ε. Fur k ≥ K ist

dann |ank − a| < 1k≤ 1

K< ε. Dies zeigt, dass limk→∞ ank = a gilt, a also ein

Haufungspunkt von (an) ist. �

Beispiele.

1. Die Haufungspunkte der Folge (an)n∈N mit

an =

{3 + 1

n, n ungerade,

0, n gerade,

sind 0 und 3.

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2. Die Haufungspunkte der komplexen Folge (in)n∈N sind 1, i, −1 und −i.

3. Es sei q1, q2, . . . eine Nummerierung der rationalen Zahlen, also Q = {q1, q2, . . .}.Dann ist die Menge der Haufungspunkte der Folge (qn)n∈N ganz R. (Uber-legen Sie sich das!)

4.2 Reelle Folgen und Monotonie

Wir untersuchen nun speziell reelle Folgen und die Konsequenzen, die sich durchGroßenvergleiche auf den Grenzwertprozess ergeben.

Satz 4.10 Es seien (an) und (bn) konvergente reelle Folgen mit an ≤ bn fur allen ∈ N. Dann gilt auch limn→∞ an ≤ limn→∞ bn.

Beweis. Setze a = limn→∞ an, b = limn→∞ bn. Ware a > b, so gabe es zu ε = a−b2

naturliche Zahlen N und N ′ mit

|an − a| < ε fur alle n ≥ N und |bn − b| < ε fur alle n ≥ N ′.

Fur n = max{N,N ′} fuhrt dies zum Widerspruch

a− b = a− an + an − bn︸ ︷︷ ︸≤0

+bn − b ≤ |a− an|+ |b− bn| < 2ε = a− b.

Beachten Sie: Aus an < bn folgt im Allgemeinen nicht limn→∞ an < limn→∞ bn.Gegenbeispiel: an = 0 und bn = 1

nfur n ∈ N.

Korollar 4.11 Es seien (an) eine konvergente reelle Folge und a′, a′′ ∈ R mita′ ≤ an ≤ a′′ fur alle n ∈ N. Dann gilt auch a′ ≤ limn→∞ an ≤ a′′.

Beweis. Dies folgt sofort aus Satz 4.10, angewandt auf (an) und die konstantenFolgen (a′) und (a′′). �

Durch Großenvergleich lassen sich auch neue Konvergenzkriterien gewinnen:

Satz 4.12 (Einschnurungssatz) Es seien (an), (bn) und (xn) reelle Folgen mitlimn→∞ an = limn→∞ bn = x und an ≤ xn ≤ bn fur alle n ∈ N. Dann gilt auchlimn→∞ xn = x.

Beweis. Ubungsaufgabe! �

Eine wichtige Klasse von Folgen besteht aus solchen, deren Folgenglieder derGroße nach angeordnet sind. Fur diese Folgen lasst sich – wie wir gleich sehenwerden – erstens ein besonders einfaches Kriterium fur die Konvergenz ange-ben. Zweitens gewinnt man hieraus ein fur viele theoretische Untersuchungengrundlegendes Existenzresultat auch fur allgemeinere Folgen. Drittens schließlichumfasst diese Klasse viele interessante Anwendungen, was wir schon im folgendenAbschnitt 4.4 bei der absoluten Konvergenz von Reihen ausnutzen werden

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Definition 4.13 Eine reelle Folge (an)n∈N heißt

(i) monoton wachsend, wenn an ≤ an+1 fur alle n ∈ N gilt,

(ii) streng monoton wachsend, wenn an < an+1 fur alle n ∈ N gilt,

(iii) monoton fallend, wenn an ≥ an+1 fur alle n ∈ N gilt, und

(iv) streng monoton fallend, wenn an > an+1 fur alle n ∈ N ist.

Eine Folge (an) ist also genau dann (streng) monoton fallend, wenn (−an)(streng) mononoton wachst.

Satz 4.14 Jede beschrankte monoton wachsende (bzw. fallende) Folge (an) kon-vergiert. Es gilt

limn→∞

an = sup{an : n ∈ N} (bzw. limn→∞

an = inf{an : n ∈ N}).

Da eine monoton wachsende (fallende) Folge (an) durch a1 immer nach unten(oben) beschrankt ist, hatte es auch genugt zu fordern, dass (an) nach oben(unten) beschrankt ist.

Beweis. 1. Es seien (an) beschrankt und monoton wachsend, a = sup{an : n ∈ N}.Ist ε > 0, so ist a− ε keine obere Schranke von {an : n ∈ N}, so dass ein N ∈ Nmit aN > a− ε existiert. Da (an) monoton wachst, gilt dann aber auch

an ≥ a− ε ∀n ≥ N.

Andererseits ist an ≤ a < a+ ε sogar fur alle n. Damit ist

a− ε < an < a+ ε ∀n ≥ N,

so dass an → a folgt.2. Ist (an) beschrankt und monoton fallend, so folgt nach 1.

limn→∞

(−an) = sup{−an : n ∈ N} = − inf{an : n ∈ N},

also in der Tat limn→∞ an = inf{an : n ∈ N}. �

Satz 4.15 Jede reelle Folge besitzt eine monotone Teilfolge.

Beweis. Fur eine reelle Folge (an) setze

M = {n ∈ N : fur alle k ≥ n gilt ak ≥ an}.

Fall 1: M ist unbeschrankt. Dann gibt es unendlich viele n1, n2, . . . ∈ M mitn1 < n2 < . . .. Nach Konstruktion ist ank+1

≥ ank , so dass die Teilfolge (ank)monoton wachst.

Fall 2: M ist beschrankt. Wahle dann n1 > supM und induktiv nk+1 > nk mitank+1

< ank . (Dies ist moglich, da nk > supM , also nk /∈ M ist.) Die Teilfolge(ank) fallt dann (sogar streng) monoton. �

Das folgende Korollar, ist eine wichtige(!) Existenzaussage in der Analysis.

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Korollar 4.16 (Satz von Bolzano-Weierstraß (fur reelle Folgen)) Jede be-schrankte reelle Folge besitzt eine konvergente Teilfolge.

Beweis. Klar nach den Satzen 4.15 und 4.14. �

Konvergiert eine reelle Folge deshalb nicht, weil ihre Folgenglieder ‘gegen +∞oder gegen −∞ streben’, spricht man von uneigentlicher Konvergenz oder be-stimmter Divergenz. Genauer:

Definition 4.17 Eine Folge (an) mit Werten in R∪{−∞,+∞} heißt uneigentlichkonvergent gegen +∞ (oder −∞), wenn es zu jedem K > 0 ein N ∈ N gibt mit

an ≥ K (bzw. an ≤ −K) ∀n ≥ N.

Man schreibt dann auch limn→∞ an = +∞ bzw. limn→∞ an = −∞.Statt von uneigentlicher Konvergenz spricht man auch von bestimmter Divergenz

gegen +∞ bzw. −∞.

Beispiele.

1. limn→∞−2n+ 1 = −∞.

2. Es sei (an)n∈N eine Folge mit an > 0 (bzw. an < 0) fur alle n. Genau dannist (an)n∈N eine Nullfolge, wenn ( 1

an)n∈N bestimmt gegen +∞ (bzw. −∞)

divergiert.

Ubung: Zeigen Sie dies!

3. Es sei x ∈ R. Die Folge (xn)n∈N

– konvergiert fur −1 < x ≤ 1 (vgl. Beispiel 5 auf Seite 56),

– konvergiert uneigentlich gegen +∞ fur x > 1 und

– divergiert (nicht bestimmt) fur x ≤ −1.

Ubung: Zeigen Sie dies!

Satz 4.18 Jede monotone Folge ist entweder konvergent oder uneigentlich kon-vergent.

Beweis. Es sei (an) monoton wachsend. Ist (an) nach oben beschrankt, so folgtdie Behauptung aus Satz 4.14. Ist (an) nach oben unbeschrankt, so gibt es zujedem K > 0 ein N ∈ N mit aN > K. Aus der Monotonie folgt dann aber auch

an > K ∀n ≥ N.

Ist (an) monoton fallend, so ist (−an) nach dem eben Gezeigten konvergent oderuneigentlich konvergent, also auch (an) selbst. Schließlich bemerken wir, dasseine Folge offensichtlich nicht zugleich konvergieren und uneigentlich konvergierenkann. �

Wir fuhren nun noch ein Konzept ein, dass es uns erlaubt, das asymptotischeVerhalten einer moglicherweise divergenten reellen Folge genauer zu untersuchen.

62

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Definition 4.19 Es sei (an) eine reelle Folge.

(i) Der Limes superior von (an) ist

lim supn→∞

an := limn→∞

sup{ak : k ≥ n}.

(ii) Der Limes inferior von (an) ist

lim infn→∞

an := limn→∞

inf{ak : k ≥ n}.

Statt lim supn→∞

schreibt man auch limn→∞

, statt lim infn→∞

auch limn→∞

.

Beachte, dass die Folge (sup{ak : k ≥ n})n∈N monoton fallt. (Mit wachsen-dem n wird das Supremum uber immer kleinere Mengen gebildet.) Der Limesdieser Folge existiert also im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne. Genausokonvergiert (inf{ak : k ≥ n})n∈N als monoton wachsende Folge eigentlich oderuneigentlich. Im Gegensatz zum Limes existieren der Limes inferior und der Li-mes superior einer jeden Folge!

Beispiele.

1. Es giltlim infn→∞

(−1)n = −1 und lim supn→∞

(−1)n = 1.

2. Ist (an)n∈N gegeben durch

an =

{3 + 1

n, n ungerade,

− 1n2 , n gerade,

so ist lim supn→∞ an = 3 und lim infn→∞ an = 0.

Satz 4.20 Es sei (an) eine reelle Folge.

(i) Genau dann gilt limn→∞ an = a, wenn

lim supn→∞

an = lim infn→∞

an = a

ist.

(ii) Ist (an)n∈N beschrankt und bezeichnet H die Menge der Haufungspunkte von(an), so gilt

maxH = lim supn→∞

an und minH = lim infn→∞

an.

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Beweis. Ubung! �

Zum Schluss dieses Abschnitts notieren wir noch das Satz 4.10 entsprechendeErgebnis fur lim inf und lim sup:

Satz 4.21 Es seien (an) und (bn) reelle Folgen mit an ≤ bn fur alle n ∈ N. Danngilt auch

lim infn→∞

an ≤ lim infn→∞

bn und lim supn→∞

an ≤ lim supn→∞

bn.

Beweis. Dies folgt sofort aus Satz 4.10, indem man beobachtet, dass inf{ak : k ≥n} ≤ inf{bk : k ≥ n} sowie sup{ak : k ≥ n} ≤ sup{bk : k ≥ n} fur jedes n ∈ Ngilt. �

4.3 Konsequenzen der Vollstandigkeit

Besonders wichtig fur die Analysis sind die Konsequenzen fur die Untersuchungvon Folgen, die sich aus dem Vollstandigkeitsaxiom ergeben, wie etwa der Satz4.14 und der Satz von Bolzano-Weierstraß, dessen reelle Variante wir schon inKorollar 4.16 kennengelernt haben. (Die ubrigen bisher diskutierten Ergebnisselassen sich auch aus dem schwacheren Archimedischen Axiom gewinnen.)

Zunachst bemerken wir, dass die Ergebnisse des vorigen Abschnitts auch Kon-sequenzen fur komplexe Folgen haben. Deren Konvergenz lasst sich namlich aufdie Konvergenz von reellen Folgen zuruckfuhren.

Satz 4.22 Eine komplexe Folge (zn)n∈N konvergiert genau dann gegen z ∈ C,wenn limn→∞Re zn = Re z und limn→∞ Im zn = Im z gilt.

Beweis. ⇒: Zu ε > 0 wahle N ∈ N mit |zn − z| < ε fur alle n ≥ N . Fur diese ngilt dann auch

|Re zn − Re z| ≤ |zn − z| < ε und | Im zn − Im z| ≤ |zn − z| < ε.

⇐: Zu ε > 0 wahle N1 ∈ N und N2 ∈ N mit |Re zn−Re z| < ε2

fur alle n ≥ N1

und | Im zn − Im z| < ε2

fur alle n ≥ N2. Fur n ≥ N := max{N1, N2} ist dannnach der Dreiecksungleichung

|zn − z| = |Re zn − Re z + i(Im zn − Im z)|

≤ |Re zn − Re z|+ |i|| Im zn − Im z| < ε

2+ε

2= ε.

Satz 4.23 (Satz von Bolzano-Weierstraß) Jede beschrankte reelle (oder kom-plexe) Folge besitzt eine konvergente Teilfolge.

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Beweis. Nach Korollar 4.16 mussen wir nur noch komplexe Folgen untersuchen.Ist nun (an) eine beschrankte komplexe Folge, so sind nach Satz 3.38(iii) (Re an)n∈Nund (Im an)n∈N beschrankte reelle Folgen. Nach Korollar 4.16 gibt es eine Teil-folge (znk)k∈N, so dass (Re znk)k∈N konvergiert. Wieder nach Korollar 4.16 gibt eseine (Teil-)Teilfolge (znkj )j∈N, fur die (Im znkj )j∈N konvergiert. Als Teilfolge der

konvergenten Folge (Re znk)k∈N konvergiert aber auch (Re znkj )j∈N. Gemaß Satz

4.22 konvergiert dann auch die komplexe Folge (znkj )j∈N. �

Ein zentrales Konvergenzkriterium ist das Cauchykriterium, das eine notwen-dige und hinreichende Bedingung fur die Konvergenz einer reellen (oder komple-xen) Folge angibt, ohne dass der fragliche Grenzwert angegeben werden muss. Daman dieses Kriterium allgemeiner auch fur andere Bereiche als R oder C unter-sucht, in denen es notwendig, jedoch nicht hinreichend sein muss, geben wir hierzunachst eine extra Definition, die sich spater leicht verallgemeinern lasst.

Definition 4.24 Eine Folge reeller (oder komplexer) Zahlen (an) heißt Cauchy-folge, wenn es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt, so dass

|am − an| < ε fur alle m,n ≥ N

gilt.

Satz 4.25 Eine reelle (oder komplexe) Folge ist genau dann konvergent, wennsie eine Cauchyfolge ist.

Beweis. ⇒: Gilt limn→∞ an = a, so gibt es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N mit|an − a| < ε

2fur alle n ≥ N . Dann gilt aber auch

|am − an| = |am − a+ a− an| ≤ |am − a|+ |an − a| <ε

2+ε

2= ε

fur m,n ≥ N .

⇐: Es sei nun (an) als Cauchyfolge vorausgesetzt. Zu ε = 1 gibt es dann einN ∈ N mit |an − aN | < 1 und damit |an| ≤ |aN | + 1 fur alle n ≥ N . Dann aberist

|an| ≤ max{|a1|, |a2|, . . . , |aN−1|, |aN |+ 1},was zeigt, dass die Folge (an) beschrankt ist. Nach Satz 4.23 besitzt (an) also einekonvergente Teilfolge (ank)k∈N, etwa limk→∞ ank = a.

Tatsachlich gilt dann aber schon an → a. Ist namlich ε > 0 gegeben, so konnenwir N,K ∈ N mit

|am − an| <ε

2fur m,n ≥ N sowie |ank − a| <

ε

2fur k ≥ K

wahlen. Dann aber folgt fur alle n ≥ N , indem man k ≥ K mit nk ≥ N wahlt,

|an − a| ≤ |an − ank |+ |ank − a| <ε

2+ε

2= ε.

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Bemerkungen.

1. Die Aussagen des Satzes von Bolzano-Weierstraß und des Cauchykriteriumssind im folgenden Sinne sogar aquivalent zur Vollstandigkeit von R: Ist Kein angeordneter Korper, so sind aquivalent:

• K ist vollstandig. (D.h. das Vollstandigkeitsaxiom (V) gilt.)

• K ist ein archimedisch angeordneter Korper, in dem jede beschrankteFolge eine konvergente Teilfolge besitzt.

• K ist ein archimedisch angeordneter Korper, in dem jede Cauchyfolgekonvergiert.

Um dies zu zeigen, muss man zunachst bemerken, dass man die Konver-genz von Folgen – genau wie oben beschrieben – allgemein fur archimedischangeordnete Korper definieren kann, s. z.B. [Fo]. (Das archimedische Axi-om garantiert dann, dass der Grenzwert einer konvergenten Folge eindeutigist.) Wir gehen hier nicht weiter darauf ein. (Was Sie nicht daran hindernsoll, sich dies selbst zu uberlegen.)

2. Mit Hilfe von Cauchyfolgen lasst sich nun die Vollstandigkeit auch fur nichtangeordnete Raume definieren. Da nach Satz 4.25 insbesondere auch in Cjede Cauchyfolge konvergiert, sagen wir auch, dass C vollstandig ist.

4.4 Reihen

Durch sukzessive Addition der Glieder einer gegebenen reellen (oder komplexen)Folge (an)n∈N entsteht eine neue Folge: (sm)m∈N mit sm = a1 + . . . ,+am, dieunendliche Reihe der an. Etwas allgemeiner betrachten wir gleich Folgen miterstem Index n0 ∈ Z (vgl. den Absatz zu Beginn des Abschnitts 4.1). In diesemAbschnitt stellen wir grundlegende Konvergenzkriterien fur Reihen bereit.

Definition 4.26 Es sei (an)n≥n0 eine reelle (oder komplexe) Folge. Die Zahlsm =

∑mn=n0

an heißt die m-te Partialsumme von (an). Die Folge der Partial-summen (sm)m≥n0 nennt man auch die (unendliche) Reihe der an und schreibt

(sm)m≥n0 =∞∑

n=n0

an.

Ist diese Reihe konvergent oder uneigentlich konvergent, so bezeichnet manauch ihren Grenzwert so:

limm→∞

m∑n=n0

an =∞∑

n=n0

an.

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Beachten Sie: Das Symbol∑∞

n=1 an bedeutet zweierlei: Erstens steht es fur dieFolge der Partialsummen, zweitens – im Falle der Konvergenz – auch fur derenLimes.

Naturlich kann man die Folge (an)n≥n0 aus der Folge der Partialsummen(sm)m≥n0 zuruckgewinnen, da ja an0 = sn0 und an = sn − sn−1 fur n ≥ n0 + 1gilt.

Beispiele.

1. Die geometrische Reihe: Fur z ∈ C mit |z| < 1 gilt

∞∑n=0

zn =1

1− z.

Fur |z| ≥ 1 ist diese Reihe divergent.

Der Fall z = 1 ist hier klar. Fur z 6= 1 beobachten wir zunachst, dassder Satz 2.2 auch im Komplexen gultig ist. (Der Beweis ist haargenau dergleiche.) Demnach ist

m∑n=0

zn =1− zm+1

1− z.

Da zm+1 → 0 mit m → ∞, wenn |z| < 1 ist, und anderenfalls (zm+1)divergiert, folgt die Behauptung.

2. Die harmonische Reihe∞∑n=1

1

n

divergiert bestimmt gegen +∞:

Wahlt man zu gegebenem K > 0 ein N ∈ N mit N ≥ 2K, so gilt furm ≥ 2N

m∑n=1

1

n≥

2N∑n=2

1

n≥

N−1∑k=0

2k+1∑n=2k+1

1

n︸ ︷︷ ︸2k Summanden,

jeweils ≥ 1/2k+1

≥N−1∑k=0

2k · 1

2k+1≥ N

2≥ K.

3. Es gilt1

1 · 2+

1

2 · 3+

1

3 · 4+ . . . =

∞∑n=1

1

n(n+ 1)= 1.

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Die Summe∑∞

n=11

n(n+1)ist eine ‘Teleskopsumme’: Wegen 1

n(n+1)= 1

n− 1

n+1

ist tatsachlichm∑n=1

1

n(n+ 1)=(

1− 1

2

)+(1

2− 1

3

)+(1

3− 1

4

)+ . . .+

( 1

m− 1

m+ 1

)= 1− 1

m+ 1→ 1

mit m→∞.

Direkt aus den Grenzwertsatzen ergibt sich:

Satz 4.27 Sind∑∞

n=n0an und

∑∞n=n0

bn konvergente reelle (oder komplexe) un-endliche Reihen sowie c ∈ R (oder C), so konvergiert auch

∑∞n=n0

(an + c bn) undes ist

∞∑n=n0

(an + c bn) =∞∑

n=n0

an + c∞∑

n=n0

bn.

Beweis. Klar nach Satz 4.5. �

Wir untersuchen nun Kriterien fur die Konvergenz von unendlichen Reihen.Als erstes notwendiges (aber nicht hinreichendes!) Kriterium halten wir fest:

Satz 4.28 Konvergiert die reelle (oder komplexe) unendliche Reihe∑∞

n=n0an, so

ist (an)n≥n0 eine Nullfolge.

Beweis. Es seien a =∑∞

n=n0an und sm =

∑mn=n0

an die m-te Partialsumme. Zugegebenem ε > 0 wahlen wir M ∈ N mit |sm− a| < ε

2fur alle m ≥M . Dann gilt

fur m ≥M + 1 auch

|am| = |sm − sm−1| = |sm − a+ a− sm−1|

≤ |sm − a|+ |a− sm−1| <ε

2+ε

2= ε.

Beachten Sie: Die Umkehrung dieses Satzes gilt nicht! Z.B. ist ( 1n)n∈N eine

Nullfolge, die Reihe∑∞

n=11n

aber – wie wir gesehen haben – divergent.Naturlich liefert jedes Konvergenzkriterium fur Folgen auch ein Konvergenz-

kriterium fur Reihen, indem man es auf die entsprechende Partialsummenfolgeanwendet. Da es im Folgenden wichtig ist, gehen wir hier (noch einmal) speziellauf das Cauchykriterium ein.

Satz 4.29 Die unendliche Reihe∑∞

k=n0ak mit ak ∈ R (oder C) konvergiert ge-

nau dann, wenn es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt, so dass∣∣∣ m∑k=n

ak

∣∣∣ < ε

fur alle m ≥ n ≥ N gilt.

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Beweis. Ist (sm) die Folge der Partialsummen, so besagt diese Bedingung wegen∑mk=n ak = sm − sn−1 gerade, dass (sm) eine Cauchyfolge ist. Die Behauptung

folgt daher aus Satz 4.25. �

Als nachstes diskutieren wir ein hinreichendes (aber nicht notwendiges!) Kri-terium fur Reihen mit weitreichenden Konsequenzen. Dazu fuhren wir zunachsteinen Begriff ein.

Definition 4.30 Eine unendliche reelle (oder komplexe) Reihe∑∞

n=n0an kon-

vergiert absolut, wenn die Reihe∑∞

n=n0|an| konvergiert.

Satz 4.31 Jede absolut konvergente Reihe konvergiert.

Beweis. Es sei∑∞

n=n0an absolut konvergent. Ist ε > 0, so gibt es nach dem

Cauchykriterium ein N ∈ N mit

m∑k=n

|ak| < ε

fur alle m,n ≥ N gilt. Nach der Dreiecksungleichung aber ist |∑m

k=n ak| ≤∑mk=n |ak|, so dass auch ∣∣∣ m∑

k=n

ak

∣∣∣ < ε

fur alle m,n ≥ N gilt. Wieder nach dem Cauchykriterium folgt nun, dass auch∑∞n=n0

an konvergiert. �

Beachten Sie: Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht. Z.B. ist – wie wirgleich noch sehen werden –

∑∞n=1

(−1)nn

konvergent, nicht jedoch absolut konver-gent, da ja

∑∞n=1

1n

divergiert.Die wesentlich Beobachtung ist nun, dass

∑∞n=n0

an monoton wachst. Hierausergibt sich:

Satz 4.32 Eine unendliche reelle (oder komplexe) Reihe∑∞

n=n0an konvergiert

genau dann absolut, wenn die Folge der Partialsummen der Reihe∑∞

n=n0|an|

beschrankt ist.

Beweis. Dies folgt sofort aus Satz 4.14, da die Partialsummenfolge∑∞

n=n0|an|

monoton wachst. �

Im Folgenden diskutieren wir einige Konvergenzkriterien fur die absolute Kon-vergenz einer Reihe.

Satz 4.33 (Majorantenkriterium) Es seien∑∞

n=n0an eine reelle (oder kom-

plexe) Reihe und∑∞

n=n0bn eine konvergente Reihe mit reellen Gliedern bn ≥ 0.

Gilt |an| ≤ bn fur alle n ≥ n0, so konvergiert∑∞

n=n0an absolut.

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Man nennt in diesem Fall die Reihe∑∞

n=n0bn eine Majorante der Reihe∑∞

n=n0an.

Beweis. Da∑∞

n=n0bn als konvergente Reihe gemaß Satz 4.4 insbesondere be-

schrankt ist, gibt es ein C > 0 mit

m∑n=n0

|an| ≤m∑

n=n0

bn ≤ C

fur alle m ≥ n0. Die Behauptung folgt somit aus Satz 4.32. �

Beispiel. Die Reihe∞∑n=1

1

n2

konvergiert.Es genugt hier zu begrunden, dass

∑∞n=2

1n2 konvergiert. Dies folgt nun daraus,

dass die Reihe∞∑n=2

1

(n− 1)n=

1

1 · 2+

1

2 · 3+

1

3 · 4+ . . .

eine – nach dem Beispiel 3 von Seite 67 konvergente – Majorante ist.

Die folgenden beiden Kriterien fur die absolute Konvergenz beruhen auf demMajorantenkriterium, wobei eine geometrische Reihe als konvergente Majorantedient. Vorbereitend beweisen wir ein Lemma, durch das sich die Voraussetzungendieser Kriterien aquivalent umformulieren lassen.

Lemma 4.34 Ist (xn) eine reelle Folge, so gilt lim supn→∞ xn < 1 genau dann,wenn es ein r < 1 und ein N ∈ N gibt, so dass xn ≤ r fur alle n ≥ N gilt.

Achtung! Diese Bedingung ist nicht aquivalent dazu, dass xn < 1 fur allen ≥ N gilt. (Gegenbeispiel: xn = 1− 1

n.)

Beweis. ⇒: Ist lim supn→∞ xn = limn→∞ sup{xk : k ≥ n} =: x < 1, so gibt es zux < r < 1 ein N ∈ N mit (setze ε = r − x)

sup{xk : k ≥ N} < r.

⇐: Gibt es einen Index N und ein r < 1, so dass xk ≤ r fur alle k ≥ N ist,dann ist auch sup{xk : k ≥ N} ≤ r und damit nach Satz 4.14

lim supn→∞

xn = limn→∞

sup{xk : k ≥ n} ≤ sup{xk : k ≥ N} ≤ r < 1.

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Satz 4.35 (Quotientenkriterium) Es sei∑∞

n=n0an eine reelle (oder komple-

xe) Reihe. Gilt

lim supn→∞

|an+1||an|

< 1,

so konvergiert∑∞

n=n0an absolut.

Bemerkung. Gemaß Lemma 4.34 ist die Voraussetzung lim supn→∞|an+1||an| < 1

aquivalent zur folgenden Bedingung:

∃ r < 1 ∃N ≥ n0 ∀n ≥ N :|an+1||an|

≤ r.

Beweis von Satz 4.35. Wir wahlen nach Lemma 4.34 N ∈ N und r > 0 mit|an+1||an| ≤ r fur n ≥ N . Es genugt nun, die absolute Konvergenz der Reihe

∑∞n=N an

nachzuweisen, da die ersten endlich vielen Glieder keinen Einfluss auf das Kon-vergenzverhalten haben.

Aus |an+1||an| ≤ r folgt induktiv aber |an| ≤ rn−N |aN |, so dass sich die Behaup-

tung aus dem Majorantenkriterium ergibt, denn es ist

∞∑n=N

|aN |rn−N = |aN |∞∑n=0

rn <∞.

Beispiel. Die Reihe∑∞

n=1n72−n

1+n2 konvergiert absolut, denn es gilt

(n+1)72−n−1

1+(n+1)2

n72−n

1+n2

=(n+ 1)7

n7︸ ︷︷ ︸→1

· 2−n−1

2−n︸ ︷︷ ︸→ 1

2

· 1 + n2

1 + (n+ 1)2︸ ︷︷ ︸→1

→ 1

2< 1

mit n→∞.

Satz 4.36 (Wurzelkriterium) Es sei∑∞

n=n0an eine reelle (oder komplexe) Rei-

he.

(i) Gilt lim supn→∞n√|an| < 1, so konvergiert

∑∞n=n0

an absolut.

(ii) Gilt lim supn→∞n√|an| > 1, so divergiert

∑∞n=n0

an.

Beweis. (i) Wie im Beweis von Satz 4.35 wahlen wir nach Lemma 4.34 N ∈ Nund r > 0 mit n

√|an| ≤ r fur n ≥ N und beobachten, dass es genugt, die absolute

Konvergenz der Reihe∑∞

n=N an nachzuweisen.

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Aus n√|an| ≤ r folgt aber direkt |an| ≤ rn, so dass sich die Behauptung wieder

aus dem Majorantenkriterium ergibt, denn es ist

∞∑n=N

rn = rN∞∑n=0

rn <∞.

(ii) Gilt lim supn→∞n√|an| > 1, so gibt es unendlich viele n mit n

√|an| ≥ 1

und damit auch |an| ≥ 1. Die Folge (an) kann demnach keine Nullfolge sein, sodass die Reihe

∑∞n=n0

an gemaß Satz 4.28 divergiert. �

Beachten Sie: Gilt lim supn→∞n√|an| = 1, so ist keine allgemeine Aussage

moglich. Z.B. gilt lim supn→∞n

√| 1n| = lim supn→∞

n

√| 1n2 | = 1, wobei

∑∞n=n0

1n

divergiert,∑∞

n=n0

1n2 aber konvergiert.

Beispiel. Es sei

an =

{2−n fur n gerade,

3−n fur n ungerade.

Dann konvergiert∑∞

n=0 an nach dem Wurzelkriterium. Es ist namlich

n√an =

{12

fur n gerade,13

fur n ungerade

und somit lim supn→∞n√|an| = 1

2< 1.

Das Quotientenkriterium versagt in diesem Beispiel, denn es ist

∣∣∣an+1

an

∣∣∣ =

{2n

3n+1 = 13· (2

3)n fur n gerade,

3n

2n+1 = 12· (3

2)n fur n ungerade

und daher lim supn→∞ |an+1

an| =∞.

Das folgende Kriterium gilt fur alternierende Reihen, deren Glieder abwech-selnd positives und negatives Vorzeichen haben.

Satz 4.37 (Leibnizkriterium) Ist (an)n≥n0 eine monoton fallende Nullfolge,dann ist die Reihe

∞∑n=n0

(−1)nan

(und damit auch∑∞

n=n0(−1)n+1an = −

∑∞n=n0

(−1)nan) konvergent.Fur alle m ≥ n0 gilt die Abschatzung∣∣∣ m∑

n=n0

(−1)nan −∞∑

n=n0

(−1)nan

∣∣∣ ≤ am+1.

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Beweis. Es genugt den Fall n0 = 0 zu betrachten. Der allgemeine Fall folgthieraus durch Umnummerierung der Summe und ggf. Multiplikation mit −1:∑∞

n=n0(−1)nan = ±

∑∞n=0(−1)nan0+n.

Setze sm =∑m

n=0(−1)nan. Dann sind wegen

s2k = s2k−2−a2k−1 + a2k︸ ︷︷ ︸≤0

≤ s2k−2 und s2k+1 = s2k−1 +a2k − a2k+1︸ ︷︷ ︸≥0

≥ s2k−1

fur k ∈ N die Folgen (s2k)k∈N0 und (s2k+1)k∈N0 monoton fallend bzw. monotonwachsend. Dabei ist

s1 ≤ s2k+1 = s2k − a2k+1 ≤ s2k ≤ s0.

Diese Folgen sind also auch beschrankt und somit konvergent. Wir setzen s =limk→∞ s2k+1.

Fur m ≥ k ist außerdem

s2k+1 ≤ s2m+1 = s2m − a2m+1 ≤ s2m ≤ s2k

und folglich (mit m→∞)s2k+1 ≤ s ≤ s2k.

Fur m ∈ N ist also sm ≤ s ≤ sm+1 oder sm+1 ≤ s ≤ sm. Es folgt

|sm − s| ≤ |sm+1 − sm| = am+1 → 0

mit m→∞. �

Beispiel. Die alternierende harmonische Reihe

∞∑n=1

(−1)n+1

n

konvergiert nach Satz 4.37.

Wir untersuchen nun noch die Frage, inwiefern es bei unendlichen Reihen aufdie Summationsreihenfolge ankommt. Im Allgemeinen darf man die Reihengliedernicht beliebig umordnen wie die folgende Uberlegung zeigt: Es ist

1 +1

3+

1

5+ . . . =

∞∑k=1

1

2k − 1=∞ und

1

2+

1

4+

1

6+ . . . =

∞∑k=1

1

2k=∞.

(Anderenfall waren 2∑∞

k=11

2k−1 oder 2∑∞

k=112k

konvergente Majoranten der har-monischen Reihe.) Nun kann man die Glieder der alternierenden harmonischen

Reihe∑∞

n=1(−1)n+1

nz.B. so umordnen:

73

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• Addiere so lange die ersten Glieder mit ungeraden Indizes auf, bis das Er-gebnis ≥ 15 ist.

• Addiere dann die ersten Glieder mit geraden Indizes hinzu, bis das Ergebnis≤ −14 ist.

• Addiere dazu nun die nachsten Glieder mit geraden Indizes, bis das Ergebniswieder ≥ 15 ist.

• Addiere dann die nachsten Glieder mit ungeraden Indizes, bis das Ergebniswieder ≤ −14 ist.

• u.s.w.

Die Partialsummenfolge nimmt dann sowohl immer wieder Werte ≥ 15 als auchWerte ≤ −14 an und kann nicht konvergieren. Vgl. auch die Bemerkung imAnschluss an den folgenden Satz.

Umordnungen sind jedoch fur absolut konvergente Reihen erlaubt:

Satz 4.38 Es sei∑∞

n=n0an eine reelle (oder komplexe) absolut konvergente Rei-

he. Ist π : {n ∈ Z : n ≥ n0} → {n ∈ Z : n ≥ n0} bijektiv, so konvergiert auch∑∞n=n0

aπ(n) absolut und es ist

∞∑n=n0

aπ(n) =∞∑

n=n0

an.

Beweis. Da∑∞

n=n0an absolut konvergiert, gibt es zu gegebenem ε > 0 ein N ∈ N

mitm∑

n=N+1

|an| =∣∣∣∣ m∑n=n0

|an| −N∑

n=n0

|an|∣∣∣∣ < ε

2

fur alle m ≥ N und ∣∣∣∣ N∑n=n0

an −∞∑

n=n0

an

∣∣∣∣ < ε

2.

Ist nun N ′ ∈ N so groß gewahlt, dass {π(1), . . . , π(N ′)} ⊃ {1, . . . , N} ist(insbesondere N ′ ≥ N), so folgt fur m ≥ N ′ mit M = max{π(1), . . . , π(N ′)}(≥ N)∣∣∣∣ m∑n=n0

aπ(n) −∞∑

n=n0

an

∣∣∣∣ ≤ ∣∣∣∣ m∑n=n0

aπ(n) −N∑

n=n0

an

∣∣∣∣︸ ︷︷ ︸≤∑Mn=N+1 |an|

+

∣∣∣∣ N∑n=n0

an −∞∑

n=n0

an

∣∣∣∣ < ε

2+ε

2= ε.

Bemerkung. Es sei∑∞

n=n0an eine konvergente aber nicht absolut konvergente

Folge in R. Dann gibt es zu jedem x ∈ R eine Umordnung π der Indizes, so dass∑∞n=n0

aπ(n) = x ist. (Ubungsaugfgabe: Uberlegen Sie sich das!)

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4.5 Zur Darstellung der reellen Zahlen

Endlich konnen wir nun mit Hilfe der unendlichen Reihen die Darstellung derreellen Zahlen im Dezimalsystem oder – allgemeiner – in einem Zahlensystem zueiner naturlichen Basis ≥ 2 angeben.

Definition 4.39 Es sei b ∈ N\{1}. Ein b-adischer Bruch ist eine Reihe von derForm

±∞∑

n=−k

anb−n,

wobei k ∈ N0 und an ∈ {0, 1, . . . , b−1} die ‘Ziffern’ sind. Ist festgelegt, zu welcherBasis b man rechnet, so schreibt man eine solche Reihe dann auch einfach als

±∞∑

n=−k

anb−n = ±a−ka−k+1 . . . a0, a1a2 . . . ,

indem man die an einfach hintereinander aufreiht.

Satz 4.40 Es sei b ∈ N \ {1}.

(i) Jeder b-adische Bruch konvergiert gegen eine reelle Zahl.

(ii) Umgekehrt lasst sich jede reelle Zahl in einen b-adischen Bruch entwickeln.

Fur b = 10 heißt diese Darstellung die Dezimaldarstellung, fur b = 2 die binareDarstellung.

Beispiel. Die Zahl 0, 101010 . . . im Binarsystem ist

∞∑n=0

2−(2n+1) = 2−1∞∑n=0

(4−1)n =1

2· 1

1− 14

=2

3.

Bemerkung. In speziellen Fallen ist die Darstellung einer reellen Zahl als b-adischer Bruch nicht eindeutig. Das ist immer dann der Fall, wenn sich ein Zahldurch einen b-adischen Bruch schreiben lasst, dessen Ziffern von irgendeiner Stellean immer b − 1 sind. Z.B. ist etwa im Dezimalsystem 2, 5999 . . . = 2, 6000 . . .und im binaren Sytem 0, 111 . . . = 1, 000 . . .. Fur alle anderen Zahlen ist dieDarstellung als b-adischer Bruch jedoch eindeutig. (Ubungsaufgabe: UberlegenSie sich das!)

Beweis von Satz 4.40.2 (i) Dies folgt daraus, dass jeder b-adische Bruch±∑∞

n=−k anb−n

dem Cauchykriterium genugt. Ist namlich m ≥ n, so gilt∣∣∣± m∑j=n

ajb−j∣∣∣ ≤ m∑

j=n

(b− 1)b−j = (b− 1)b−n∞∑j=0

b−j ≤ (b− 1)b−n

1− b−1= b−n+1.

2Dieser Beweis wurde in der Vorlesung weggelassen.

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Wegen b−n+1 → 0 mit n → ∞, lasst sich daher zu gegebenem ε > 0 ein N ∈ Nfinden, so dass ∣∣∣± m∑

j=n

ajb−j∣∣∣ < ε

fur m ≥ n ≥ N ist.

(ii) Es genugt zu zeigen, dass sich jedes x ≥ 0 als Dezimalbruch x =∑∞

n=−k anb−n

schreiben lasst.Es sei k die kleinste Zahl aus N0 mit x < bk+1. Wir definieren die Folge

(an)n≥−k mit an ∈ {0, 1, . . . , b− 1} und

sm :=m∑

n=−k

anb−n ≤ x <

m∑n=−k

anb−n + b−m = sm + b−m.

induktiv:Zunachst betrachten wir die Unterteilung

0 = 0 · bk < 1 · bk < 2 · bk < . . . < (b− 1)bk < b · bk = bk+1

des Intervalls [0, bk+1). Da x in diesem Intervall liegt, gibt es genau ein a−k ∈{0, 1, . . . , b− 1} mit

s−k := a−kbk ≤ x < (a−k + 1)bk = a−kb

k + bk.

Ist nun a−k, . . . , am schon definiert, so betrachten wir die Unterteilung

sm = sm + 0 · b−m−1 < sm + 1 · b−m−1 < . . .

< sm + (b− 1)b−m−1 < sm + b · b−m−1 = sm + b−m

des Intervalls [sm, sm + b−m) und wahlen am+1 mit

sm+1 := sm + am+1b−m−1 ≤ x < sm + (am+1 + 1)b−m−1 = sm+1 + b−m−1.

Wegen |sm − x| < b−m folgt nun

x = limm→∞

sm =∞∑

n=−k

anb−n.

Bemerkungen.

1. Die rationalen Zahlen sind genau diejenigen, deren b-adische Darstellungvon irgendeiner Stelle an periodisch ist:

Q = {a−ka−k+1 . . . a0, a1a2 . . . : ∃N ≥ −k ∃ p ∈ N ∀n ≥ N : an+p = an}.

(Ubungsaufgabe: Uberlegen Sie sich das!)

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2. Mit Hilfe der Dezimaldarstellung lasst sich ein alternativer Beweis von Satz3.30 angeben. Mit dem ‘zweiten Cantorschen Diagonalverfahren’ (vgl. dasBeispiel 4 von Seite 19 zum Ersten) zeigt man dazu, dass eine Abbildungf : N → R nicht surjektiv sein kann. Schreibt man namlich die Nachkom-mastellen der Bilder von f als

f(1) = . . . , a11a12a13 . . .

f(1) = . . . , a21a22a23 . . .

f(1) = . . . , a31a32a33 . . .

...

und bildet aus den diagonalen Eintragen a11, a22, a33, . . . die Zahl

x = 0, b1b2b3 . . .

mit

bn =

{7 falls ann 6= 7,

3 falls ann = 7,

so ist tatsachlich x 6= f(n) fur jedes n ∈ N.

4.6 Potenzreihen und die Exponentialfunktion

Viele spezielle Funktionen, insbesondere etwa die Ihnen aus der Schule bekanntee-Funktion oder auch die Sinus- und Cosinusfunktion lassen sich mit Hilfe vonReihen definieren. Diese Reihen sind von der Form

∞∑n=0

cn(z − z0)n,

wobei cn ∈ C komplexe Koeffizienten und z0 ∈ C der sogenannte Entwicklungs-punkt sind, die wir als fest gewahlt betrachten. z ∈ C ist eine Variable. (Wirbetrachten hier gleich allgemein den komplexen Fall.) Konvergiert diese Reihefur z ∈ M , M eine Teilmenge von C, so definiert dies eine AbbildungsvorschriftM → C, z 7→

∑∞n=0 cn(z − z0)

n. Eine Reihe von dieser Form nennt man einePotenzreihe. Kummert man sich zunachst nicht um deren Konvergenz, so sprichtman auch von einer formalen Potenzreihe.

Mit den bislang entwickelten Methoden lasst sich genauer beschreiben, furwelche z diese Reihen konvergieren. Es stellt sich heraus, dass dies gerade aufKreisscheiben um z0 der Fall ist. Wir fuhren daher die Notation Br(z0) := {z ∈C : |z − z0| < r} ein.

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Satz 4.41 Es seien cn, z0 ∈ C, n ∈ N0. Setze

r =1

lim supn→∞n√|cn|

,

wobei hier(!) 1∞ als 0 und 1

0als ∞ zu lesen ist. Dann gilt:

(i) Die Reihe∞∑n=0

cn(z − z0)n

konvergiert absolut, falls |z − z0| < r ist, und stellt damit eine Funktionf : Br(z0)→ C dar.

(ii) Sie divergiert, falls |z − z0| > r ist.

Beweis. Setze an = cn(z − z0)n. Dann ist

lim supn→∞

n√|an| = |z − z0| lim sup

n→∞

n√|cn|

< 1⇔ |z − z0| < 1

lim supn→∞

n√|cn|,

> 1⇔ |z − z0| > 1

lim supn→∞

n√|cn|.

Die Behauptung folgt nun sofort aus dem Wurzelkriterium (Satz 4.36). �

Die Reihe konvergiert also fur diejenigen z ∈ C, die in einer Kreisscheibe mitdem Radius r um z0 liegen. Dabei wird allerdings keine Aussage daruber gemacht,ob sie auch auf den Randpunkten dieses Kreises konvergiert. Liegt z weiter alsr von z0 entfernt, so divergiert sie jedoch auf jeden Fall. Dies legt die folgendeDefinition nahe:

Definition 4.42 Es sei∑∞

n=0 cn(z − z0)n eine Potenzreihe. Die Zahl

sup

{|z − z0| :

∞∑n=0

cn(z − z0)n konvergiert

}=

1

lim supn→∞n√|cn|

heißt der Konvergenzradius dieser Potenzreihe.

Bemerkung. Der Konvergenzradius ist auch gegeben durch limn→∞|cn||cn+1| , falls

dieser Grenzwert existiert. (Ubung!)

Beispiele:

1. Die Potenzreihe∑∞

n=0 zn hat den Konvergenzradius r = 1. Sie stellt die

Funktion B1(0)→ C, z 7→ 11−z dar.

2. Die Potenzreihe∑∞

n=0 nnzn hat den Konvergenzradius 0. (Ubung!)

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3. Die Potenzreihe∑∞

n=0 3nzn hat den Konvergenzradius

r =1

lim supn→∞n√|3n|

=1

3.

Sie stellt die Funktion B1/3(0)→ C, z 7→ 11−3z dar.

4. Die sogenannte Exponentialreihe∑∞

n=0zn

n!hat den Konvergenzradius ∞,

konvergiert also fur alle z ∈ C.

Dies folgt aus dem Quotientenkriterium, da

|zn+1n!||zn(n+ 1)!|

=|z|n+ 1

→ 0 < 1

mit n→∞.

Bemerkung: Sind z0 = x0 und alle cn reell, so stellt die reelle Potenzreihe∑∞n=0 cn(x− x0)n, x ∈ R, eine reelle Funktion f : (x0− r, x0 + r)→ R dar, wobei

r = sup

{|x− x0| : x ∈ R und

∞∑k=0

ck(x− x0)k konvergiert

}ist. Nach unseren Ergebnissen von oben, konvergiert diese Reihe aber tatsachlichauf der ganzen komplexen Kreisscheibe {z ∈ C : |z−x0| < r} und stellt dort eineFunktion f : Br(x0)→ C dar.

Multipliziert man zwei Potenzreihen mit demselben Entwiclungspunkt z0, soerhalt man wieder eine Potenzreihe mit dem Entwicklungspunkt z0. Die Ideehierbei ist, all die Terme, die beim Ausmultiplizieren des Produktes der Rei-hen entstehen, nach Potenzen von zn zusammenzufassen. Wir fomulieren dazuzunachst einen Produktsatz fur allgemeine Reihen.

Satz 4.43 (Das Cauchyprodukt) Es seien∑∞

n=0 an und∑∞

n=0 bn absolut kon-vergente komplexe Reihen. Setzt man cn =

∑nk=0 an−kbk, so ist auch die Reihe∑∞

n=0 cn absolut konvergent und es gilt

∞∑n=0

cn =

( ∞∑n=0

an

)·( ∞∑

n=0

bn

).

Beweis. Setze

sm =m∑n=0

cn =m∑n=0

n∑k=0

an−kbk, sm =m∑n=0

|cn| ≤m∑n=0

n∑k=0

|an−kbk|

sowie

tm =

( m∑n=0

an

)·( m∑

n=0

bn

), tm =

( m∑n=0

|an|)·( m∑

n=0

|bn|).

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Nach Voraussetzung konvergieren (tm) und (tm), wobei

limm→∞

tm =

( ∞∑n=0

an

)·( ∞∑

n=0

bn

)ist.

Mit Hilfe der Indezmengen Qm = {(i, j) ∈ N0 × N0 : i, j ≤ m} und Dm ={(i, j) ∈ N0 × N0 : i+ j ≤ m} lassen sich diese Summen auch schreiben als

sm =∑

(i,j)∈Dm

aibj, sm ≤∑

(i,j)∈Dm

|aibj|

sowietm =

∑(i,j)∈Qm

aibj, tm =∑

(i,j)∈Qm

|aibj|.

Wegen Dm ⊂ Qm folgt hieraus zunachst sm ≤ tm ≤ limk→∞ tm, so dass in derTat

∑∞n=0 cn absolut konvergiert.

Zu gegebenem ε > 0 wahlen wir nun ein k ∈ N mit tm − tk < ε fur m ≥ k.Fur m ≥ 2k ergibt sich dann wegen Dm ⊃ Qk, dass

|tm − sm| =∣∣∣∣ ∑(i,j)∈Qm\Dm

aibj

∣∣∣∣ ≤ ∑(i,j)∈Qm\Qk

|aibj| = tm − tk < ε

ist. Damit aber folgt limm→∞ sm = limm→∞ tm, was zu zeigen war. �

Speziell fur Potenzreihen zeigt dies, dass das Produkt zweier Potenzreihenwieder eine Potenzreihe ist, deren Konvergenzradius mindesten so groß ist, wiedas Minimum der Konvergenzradien der Faktoren:

Korollar 4.44 Konvergieren die Potenzreihen∑∞

n=0 an(z−z0)n und∑∞

n=0 bn(z−z0)

n im Punkt z absolut, so gilt( ∞∑n=0

an(z − z0)n)·( ∞∑

n=0

bn(z − z0)n)

=∞∑n=0

( n∑k=0

an−kbk

)(z − z0)n.

Beweis. Klar nach Satz 4.43. �

Wir werden uns spater noch wesentlich ausfuhrlicher mit Potenzreihen beschafti-gen. Hier konzentrieren wir uns nun auf eine besonders wichtige. (Die Wichtigsteuberhaupt!)

Nach Beispiel 4 von Seite 79 durfen wir definieren:

Definition 4.45 Die Funktion exp : C→ C,

exp(z) =∞∑n=0

zn

n!

heißt die Exponentialfunktion. Die Zahl e := exp(1) heißt auch die Eulersche Zahl.

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Beachte, dass nach der Bemerkung von Seite 79 exp(x) reell ist, wenn x reellist. Offensichtlich ist exp(0) = 1.

Grundlegend ist nun die folgende Funktionalgleichung fur die Exponential-funktion.

Satz 4.46 Fur z1, z2 ∈ C ist

exp(z1 + z2) = exp(z1) · exp(z2).

Beweis. Nach Satz 4.43 ist

exp(z1) · exp(z2) =∞∑n=0

n∑k=0

zn−k1

(n− k)!· z

k2

k!=∞∑n=0

1

n!

n∑k=0

(n

k

)zn−k1 zk2

=∞∑n=0

(z1 + z2)n

n!= exp(z1 + z2),

wobei wir im dritten Schritt den allgemeinen binomischen Lehrsatz 2.9 ausgenutzthaben. (Der gilt auch in C; der Beweis ist wortlich derselbe.) �

Satz 4.47 Es gilt

(i) exp(z) 6= 0 fur alle z ∈ C,

(ii) exp(x) > 0 fur alle x ∈ R,

(iii) exp(n) = en fur alle n ∈ Z,

(iv) exp(pq) = q√ep fur alle p ∈ Z, q ∈ N.

Beweis. (i) Fur z ∈ C ist

exp(−z) exp(z) = exp(z − z) = exp(0) = 1

und somit insbesondere exp(z) 6= 0.

(ii) Fur x ≥ 0 ist offensichtlich exp(x) =∑∞

n=0xn

n!≥ 1 > 0. Fur x < 0 folgt

dann wegen exp(x) exp(−x) = 1 und exp(−x) > 0 nach dem schon Gezeigtenauch exp(x) > 0.

(iii, iv) Wir uberlegen uns, dass allgemeiner fur jedes z ∈ C und n ∈ Z gilt

exp(nz) = (exp(z))n.

Zunachst gilt exp(0 · z) = 1 = (exp(z))0. Induktiv ergibt sich daraus exp(nz) =(exp(z))n fur alle n ∈ N: Ist dies fur n schon gezeigt, so folgt

exp((n+ 1)z) = (exp(z))n exp(z) = (exp(z))n+1.

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Hieraus folgt dann fur n ∈ Z \ N (und damit −n ∈ N) auch

1 = exp(nz − nz) = exp(nz) exp(−nz) = exp(nz)(exp(z))−n,

also exp(nz) = 1(exp(z))−n

= (exp(z))n.

Nun folgt (iii) sofort mit z = 1. (iv) ergibt sich mit z = pq

aus (exp(pq))q =

exp(q · pq) = exp(p) = ep (nach (iii)). �

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Kapitel 5

Stetige Funktionen

Wir untersuchen nun Funktionen, die auf Teilmengen von R (oder C) definiertsind. Dabei konzentrieren wir uns im Wesentlichen auf den reellen Fall, also Funk-tionen f : D → R mit D ⊂ R. Oft ist dabei D ein Intervall in R.

5.1 Definition und grundlegende Eigenschaften

Im Folgenden sei D ⊂ R.Eine ganz wesentliche Guteeigenschaft einer Funktion f : D → R ist dann

gegeben, wenn kleine Anderungen in x ∈ D nur kleine Anderungen der Funkti-onswerte f(x) bewirken. Formal:

Definition 5.1 Eine Funktion f : D → R heißt stetig im Punkt x0 ∈ D, wennes zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass fur alle x ∈ D mit |x − x0| < δ gilt|f(x)− f(x0)| < ε, d.h.:

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀x ∈ D : |x− x0| < δ ⇒ |f(x)− f(x0)| < ε.

f : D → R heißt stetig, wenn f in jedem Punkt aus D stetig ist.

Das bedeutet: Zu jeder vorgelegten ‘Fehlertoleranz’ ε > 0 gibt es ein (kleines)δ > 0, so dass die Funktionswerte f(x) weniger als ε von f(x0) abweichen, wennnur der Abstand von x zu x0 kleiner als δ ist.

Beispiele.

1. Jede konstante Funktion f : R→ R, f(x) = c (fur ein c ∈ R) ist stetig.

(Klar: δ kann hier beliebig gewahlt werden.)

2. Die identische Funktion f : R→ R, f(x) = x ist stetig.

Indem man zu gegebenem ε > 0 einfach δ = ε wahlt folgt tatsachlich furjedes x0 ∈ R:

|f(x)− f(x0)| =∣∣x− x0∣∣ ≤ |x− x0| < ε.

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3. Der Absolutbetrag f : R→ R, f(x) = |x| ist stetig.

Sind namlich x0 ∈ R und ε > 0 gegeben, so gilt fur x mit |x− x0| < δ := εnach der umgekehrten Dreiecksungleichung

|f(x)− f(x0)| =∣∣|x| − |x0|∣∣ ≤ |x− x0| < ε.

4. f : R→ R, f(x) = x2 stetig.

Sind namlich x0 ∈ R und ε > 0 gegeben, so wahlen wir δ = min{1, ε1+2|x0|}.

Dann gilt fur x mit |x− x0| < δ

|f(x)− f(x0)| = |x2 − x20| = |x− x0 + x0 + x0||x− x0|≤ (|x− x0|+ 2|x0|)|x− x0| < (δ + 2|x0|)δ ≤ (1 + 2|x0|)δ ≤ ε.

5. Die Funktion f : R→ R,

f(x) =

{0, fur x ≤ 0,

1, fur x > 0,

ist im Nullpunkt nicht stetig. (Sonst schon.)

Zu ε = 12

gibt es zu jedem δ > 0 den Punkt x = δ2, der zwar |x− 0| = δ

2< δ

erfullt, aber auch

|f(x)− f(0)| = |1− 0| = 1 > ε.

6. Der ganzzahlige Anteil f : R → R, f(x) = bxc ist genau in den Punktenx0 ∈ Z nicht stetig. (Uberlegen Sie sich das!)

7. Die Funktion f : R→ R,

f(x) =

{1, fur x ∈ Q,0, fur x ∈ R \Q

ist nirgends stetig. (Uberlegen Sie sich das!)

Wahrend diese ‘ε-δ-Definition’ der Stetigkeit fur viele Untersuchungen grund-legend ist, ist sie, wie wir etwa im vorangegangenen Beispiel 4 gesehen haben,fur Beispiele oft zu schwerfallig. Wir geben daher nun eine aquivalente Umformu-lierung mit Hilfe von Grenzwerten der Form limx→x0 f(x) an. Dazu mussen wiruns zunachst uberlegen, wie sich eine solcher Grenzwert einer Funktion definierenlasst.

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Definition 5.2 Es seien D ⊂ R, f : D → R.

(i) Die Menge

D = {x ∈ R : Es gibt eine Folge (xn) in D mit limn→∞

xn = x}

heißt der Abschluss von D.

(ii) Ist x0 ∈ D, so schreiben wir

limx→x0

f(x) = a (oder auch f(x)→ a fur x→ x0),

wenn fur jede Folge (xn) in D mit limn→∞ xn = x0 gilt limn→∞ f(xn) = a.a heißt der Grenzwert von f bei x0.

Offensichtlich gilt immer D ⊂ D. Beachten Sie: In (ii) genugt es nicht, dasslimn→∞ f(xn) = a fur eine Folge (xn) mit xn → x0 gilt. Diese Bedingung mussfur alle diese Folgen erfullt sein.

Beispiele.

1. Fur f : R→ R, f(x) = xk (k ∈ N0) und x0 ∈ R ist

limx→x0

f(x) = limx→x0

xk = xk0 = f(x0).

Fur jede Folge (xn) mit xn → x0 gilt nach dem Grenzwertsatz fur Produktenamlich

limn→∞

xkn = xk0.

2. Fur exp : R→ R giltlimx→0

exp(x) = 1.

Um dies einzusehen, bemerken wir zuerst, dass fur |x| < 1 gilt

| exp(x)− 1| =∣∣∣∣ ∞∑n=1

xn

n!

∣∣∣∣ ≤ |x| ∞∑n=1

1

n!= |x|(e− 1).

Ist nun (xn) eine Folge in R mit xn → 0, so folgt hieraus limn→∞ | exp(xn)−1| → 0 und damit exp(xn)→ 1 fur n→∞.

Satz 5.3 Eine Funktion f : D → R ist genau dann stetig in x0 ∈ D, wenn gilt

limx→x0

f(x) = f(x0).

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Beweis. ⇒: Es sei (xn) eine Folge in D mit xn → x0. Zu gegebenem ε > 0 wahlenwir δ > 0 mit

|f(x)− f(x0)| < ε fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ.

Danach wahlen wir N ∈ N mit |xn−x0| < δ fur alle n ≥ N . Fur n ≥ N ist damitauch |f(xn)− f(x0)| < ε.

⇐: Die Ruckrichtung zeigen wir durch Kontraposition: Ist f bei x0 nichtstetig, so gilt

∃ ε > 0 ∀ δ > 0 ∃x ∈ D : |x− x0| < δ und |f(x)− f(x0)| ≥ ε.

Es gibt also ein ε > 0, so dass wir insbesondere zu jedem δ = 1n

(n ∈ N) einxn ∈ D finden mit

|xn − x0| <1

nund |f(xn)− f(x0)| ≥ ε.

Dann aber gilt xn → x0 und f(xn) 6→ f(x0) und somit f(x) 6→ f(x0) fur x→ x0.�

Beispiele.

1. Nach Beispiel 1 von Seite 85 ist die fur jedes k ∈ N0 Funktion f : R → R,f(x) = xk stetig.

2. Die Exponentialfunktion exp : R → R ist stetig. Die Stetigkeit im Null-punkt folgt sofort aus Beispiel 2 von Seite 85. Ist allgemein x0 ∈ R, so folgthieraus auch

limx→x0

exp(x) = exp(x0) limx→x0

exp(x− x0)︸ ︷︷ ︸=exp(0)=1

= exp(x0).

Wir zeigen nun, dass aus stetigen Funktionen zusammengesetzte Funktionenwieder stetig sind. Dabei definieren wir die Summe, die Differenz, das Produktoder den Quotienten zweier Funktionen ganz allgemein punktweise:

Definition 5.4 Es seien M eine Menge, f, g : M → R Funktionen. Man defi-niert dann dann f + g, f − g, fg : M → R und, falls g nirgends 0 ist, f

g: M → R

durch

(f ± g)(x) = f(x)± g(x), (fg)(x) = f(x)g(x),f

g(x) =

f(x)

g(x).

(Hat g Nullstellen, so kann man auf diese Weise immer noch fg

: {x ∈M : g(x) 6=0} → R definieren.)

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Satz 5.5 Es seien f, g : D → R in x0 ∈ D stetige Funktionen. Dann sind auchdie Funktionen f + g, f − g, fg : D → R und, falls g(x0) 6= 0, f

g: {x ∈ D : g(x) 6=

0} → R stetig in x0.

Beweis. Das folgt sofort aus den Grenzwertsatzen. �

Auch die Komposition stetiger Abbildungen ist wieder stetig:

Satz 5.6 Es seien D,E ⊂ R, f : D → E stetig in x0 ∈ D und g : E → R stetigin f(x0). Dann ist g ◦ f stetig in x0.

Beweis. Gilt xn → x0 in D, so folgt f(xn) → f(x0) aus der Stetigkeit von f beix0 und hieraus dann g(f(xn))→ g(f(x0)) aus der Stetigkeit von g bei f(x0), wiezu zeigen war. �

Beispiele.

1. Ist f : D → R stetig, c ∈ R, so auch cf : R→ R, x 7→ cf(x).

cf ist ja das Produkt der konstanten Funktion mit Wert c und f .

2. Jedes Polynom, also jede Funktion f : R→ R,

f(x) = anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a1x+ a0

fur gegebene Koeffizienten a0, . . . , an ∈ R ist stetig. (Ist an 6= 0, so nenntman n den Grad dieses Polynoms.)

3. Jede rationale Funktion fg

: R \ {x ∈ R : g(x) = 0} → R, wobei f und gPolynome sind, ist stetig.

4. Die Funktion f : R→ R,

f(x) =exp(x5)

2 + |x|ist stetig.

Zum Schluss dieses Abschnitts bemerken wir noch, dass man all diese Er-gebnisse direkt ins Komplexe ubertragen kann. Die Definition der Stetigkeit istgenau die gleiche:

Definition 5.7 Es sei nun D ⊂ C, z0 ∈ D. Eine Funktion f : D → C heißtstetig im Punkt z0 ∈ D, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass fur allez ∈ D mit |z − z0| < δ gilt |f(z)− f(z0)| < ε, d.h.:

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ z ∈ D : |z − z0| < δ ⇒ |f(z)− f(z0)| < ε.

f : D → C heißt stetig, wenn f in jedem Punkt aus D stetig ist.

Bemerkung. Genau wie zuvor zeigt man, dass die Stetigkeit in einem Punkt z0 ∈D zu limz→z0 f(z) = f(z0) aquivalent ist und dass aus stetigen Funktionen (durchAddition, Subtraktion, Multiplikation und Division wie auch durch Komposition)zusammengesetzte Funktionen wieder stetig sind.

Genau die gleiche Argumentation wir im Reellen zeigt, dass die Exponential-funktion exp : C→ C auch im Komplexen stetig ist.

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5.2 Stetige Funktionen auf kompakten Interval-

len

Wir untersuchen nun drei grundlegende Satze uber stetige Funktionen auf einemabgeschlossenen beschrankten Intervall [a, b]. Ein solches Intervall nennt manauch kompakt. Fur den folgenden Abschnitt fixieren wir a, b ∈ R mit a < b.

Die im Folgenden wesentliche Eigenschaft solcher Intervalle ist das folgendeKorollar zum Satz von Bolzano-Weierstraß, das man auch selbst oft wieder einfach‘Satz von Bolzano-Weierstraß’ nennt.

Korollar 5.8 Jede Folge in [a, b] besitzt eine in [a, b] konvergente Teilfolge.

Beweis. Nach Satz 4.23 besitzt jede Folge in [a, b] eine konvergente Teilfolge, derenLimes nach Korollar 4.11 selbst in [a, b] liegt. �

Der erste Satz befasst sich mit der Existenz von Minima und Maxima stetigerFunktionen.

Definition 5.9 Ist M eine Menge, f : M → R eine Abbildung, so nennt manf (nach oben/nach unten) beschrankt, wenn f(M) (nach oben/unten) beschranktist.

Satz 5.10 Es sei f : [a, b]→ R stetig.

(i) Dann ist f beschrankt.

(ii) f nimmt ihr Minimum und Maximum an, d.h. es gibt Punkte xmin ∈ [a, b]und xmax ∈ [a, b] mit

f(xmin) = min f([a, b]) sowie

f(xmax) = max f([a, b]).

Achtung: Fur beide Aussagen ist es wichtig, dass das Intervall [a, b] kompakt,also abgeschlossen und beschrankt, ist! (Z.B. ist das Intervall (0, 1] beschrankt,die Funktion (0, 1]→ R, x 7→ 1

xaber stetig und unbeschrankt. Weiterhin ist R ein

abgeschlossenes Intervall, die identische Funktion auf R jedoch ebenso stetig undunbeschrankt.) Des Weiteren sind die Extremalstellen xmin, xmax im Allgemeinennicht eindeutig.

Beweis von Satz 5.10. Setze M = sup f([a, b]). Dann gibt es zu jedem n ∈ N einxn ∈ [a, b] mit

M − 1

n≤ f(xn) ≤M, falls M <∞, bzw. n ≤ f(xn), falls M =∞.

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In jedem Fall gilt also f(xn) → M mit n → ∞. Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß in der Form von Korollar 5.8 gibt es eine Teilfolge (xnk) mit xnk →xmax fur ein xmax ∈ [a, b]. Aus der Stetigkeit von f folgt nun

f(xmax) = limk→∞

f(xnk) = M

und damit erstens M = f(xmax) < ∞, so dass f nach oben beschrankt ist, undzweitens f(xmax) = M = max f([a, b]).

Wendet man das eben Gezeigte auf −f an, so zeigt sich, dass f auch nachunten beschrankt ist und auch sein Minimum annimmt. �

Der zweite Satz garantiert unter geeigneten Voraussetzungen, dass eine Glei-chung von der Form

f(x) = 0

eine Losung in [a, b] besitzt. (Er zeigt sogar, wie man etwa mit Hilfe des soge-nannten Intervallhalbierungsverfahren eine solche Losung numerisch berechnenkann.)

Satz 5.11 (Zwischenwertsatz) Es sei f : [a, b]→ R stetig. Es gelte entweder

f(a) > 0 und f(b) < 0 oder f(a) < 0 und f(b) > 0.

Dann gibt es ein x0 ∈ (a, b) mit f(x0) = 0.

Wir zeigen zunachst ein auch fur sich genommen interessantes Lemma uberstetige Funktionen.

Lemma 5.12 Es sei f : D → R in x0 ∈ D stetig mit f(x0) > 0. Dann gibt esein δ > 0 mit

f(x) > 0 ∀x ∈ D ∩ (x0 − δ, x0 + δ).

(Indem man dies auf −f anwendet, ergibt sich eine analoge Aussage fur f(x0) <0.)

Beweis. Setze ε = f(x0). Dann gibt es nach der Definition der Stetigkeit in x0ein δ > 0 mit

f(x) = f(x0) + f(x)− f(x0) ≥ f(x0)− |f(x)− f(x0)| > f(x0)− ε = 0

fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ. �

Beweis von Satz 5.11. Es sei f(a) > 0 und f(b) < 0. Setze

A := {x ∈ [a, b] : f(x) ≥ 0} und x0 := supA.

Wegen a ∈ A ist A nicht leer. Wir wahlen (ahnlich wir im Beweis von Satz 5.10)eine Folge (xn) in A mit limn→∞ xn = x0. Da fur jedes n gilt f(xn) ≥ 0, mussauch

f(x0) = limn→∞

f(xn) ≥ 0

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gelten. Insbesondere folgt x0 6= b. Ware aber f(x0) > 0, so gabe es nach Lemma5.12 ein δ > 0 mit (x0 − δ, x0 + δ) ∩ [a, b] ⊂ A im Widerspruch zu x0 = supA.

Dies zeigt, dass in der Tat f(x0) = 0 ist. Wegen f(a), f(b) 6= 0, ist sogarx0 ∈ (a, b).

Ist umgekehrt f(a) < 0 und f(b) > 0, so folgt die Behauptung, indem wir daseben Gezeigte auf −f anwenden. �

Tatsachlich folgt hieraus direkt, dass f alle Werte zwischen f(a) und f(b)annimmt:

Korollar 5.13 Es sei f : [a, b] → R stetig. Setze c = min{f(a), f(b)}, d =max{f(a), f(b)}. Dann gilt [c, d] ⊂ f([a, b]).

Beweis. Naturlich ist immer {c, d} = {f(a), f(b)} ⊂ f([a, b]). Es bleibt zu zeigen,dass, falls c 6= d, auch (c, d) ⊂ f([a, b]) gilt.

Es sei also y ∈ (c, d). Definiere g : [a, b] → R durch g(x) := f(x) − y. Dannist g stetig und es gilt entweder g(a) = f(a) − y < 0 und g(b) = f(b) − y > 0oder umgekehrt g(a) > 0 und g(b) < 0. Nach dem Zwischenwertsatz gibt es alsotatsachlich ein x0 ∈ (a, b) mit

0 = g(x0) = f(x0)− y.

Beachten Sie, dass f auch großere und kleinere Werte annehmen kann.

Der letzte wichtige Satz in diesem Abschnitt zeigt, dass stetige Funktionenauf abgeschlossenen beschrankten Intervallen sogar einer verscharften Versionder Stetigkeit genugen, die besagt, dass das δ zu ε unabhangig vom betrachtetenPunkt x0 gewahlt werden kann.

Zur Erinnerung formulieren wir noch einmal die Bedingung, dass eine Funk-tion f : D → R, D ⊂ R, stetig ist:

∀x ∈ D ∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀x′ ∈ D : |x′ − x| < δ ⇒ |f(x′)− f(x)| < ε.

Definition 5.14 Eine Funktion f : D → R heißt gleichmaßig stetig, wenn eszu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass fur alle x, x′ ∈ D mit |x − x′| < δ gilt|f(x)− f(x′)| < ε, d.h.:

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀x ∈ D ∀x′ ∈ D : |x′ − x| < δ ⇒ |f(x′)− f(x)| < ε.

Beispiele.

1. Offensichtlich ist jede gleichmaßig stetige Funktion auch stetig. (Die Um-kehrung aber gilt, wie wir gleich sehen werden, nicht!)

2. Die Beispiele 1, 2 und 3 von Seite 83-84 (konstante Funktionen, identischeFunktion und Absolutbetrag) sind – wie wir dort schon gezeigt haben –sogar gleichmaßig stetig.

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3. Die Funktion f : R → R, f(x) = x2 aus Beispiel 4 von Seite 84 ist nichtgleichmaßig stetig.

Fur ε = 1 und jedes δ > 0 konnen wir namlich x = 1δ

und x′ = 1δ

+ δ2

wahlen, so dass |x′ − x| = δ2< δ, aber auch

|f(x′)− f(x)| =(1

δ+δ

2

)2−(1

δ

)2= 1 +

δ2

4> ε

ist.

Satz 5.15 Jede stetige Funktion f : [a, b]→ R ist sogar gleichmaßig stetig.

Beweis. Angenommen f ist nicht gleichmaßig stetig. Dann gibt es ein ε > 0, sodass es zu jedem n ∈ N Punkte xn, x

′n ∈ [a, b] gibt mit (wahle δ = 1

n)

|x′n − xn| <1

naber |f(x′n)− f(xn)| ≥ ε.

Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß in der Form von Korollar 5.8 gibt es eineTeilfolge (xnk) in [a, b] mit limk→∞ xnk = x fur ein x ∈ [a, b]. Wegen |x′n − xn| <1n→ 0 mit n→∞, folgt dann aber auch limk→∞ x

′nk

= x. Aus der Stetigkeit vonf (und dem Absolutbetrag) folgt nun der Widerspruch

limk→∞|f(x′nk)− f(xnk)|︸ ︷︷ ︸

≥ε fur alle n

= |f(x)− f(x)| = 0.

Achtung: Wieder ist es wichtig vorausszusetzen, dass das betrachtete Intervallabgeschlossen und beschrankt ist! Z.B. ist (0, 1) → R, x 7→ 1

xnicht gleichmaßig

stetig. (Ubungsaufgabe: Uberlegen Sie sich das!) Beispiel 3 von Seite 91 zeigt,dass auch die Beschranktheit notwendig ist.

Beispiel. Fur jedes k ∈ N0 ist f : [0,∞) → R, f(x) = k√x gleichmaßig stetig.

(Ubung!)

5.3 Monotonie und Umkehrfunktionen

Wir untersuchen nun bijektive Abbildungen f , fur die sich die Zuordnungsvor-schrift x 7→ f(x) umkehren lasst. Allgemein definiert man:

Definition 5.16 Ist f : M → N eine bijektive Abbildung zwischen Mengen Mund N , so ist die Umkehrfunktion f−1 : N →M definiert durch

f−1(y) = x ⇔ f(x) = y.

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Definition 5.17 Es sei D ⊂ R. Eine Funktion f : D → R heißt

(i) monoton wachsend, wenn ∀x, x′ ∈ D : x < x′ ⇒ f(x) ≤ f(x′),

(ii) streng monoton wachsend, wenn ∀x, x′ ∈ D : x < x′ ⇒ f(x) < f(x′),

(iii) monoton fallend, wenn ∀x, x′ ∈ D : x < x′ ⇒ f(x) ≥ f(x′), und

(iv) streng monoton fallend, wenn ∀x, x′ ∈ D : x < x′ ⇒ f(x) > f(x′).

Beispiele.

1. f : [0,∞)→ R, f(x) = xk (k ∈ N) ist streng monoton wachsend.

2. f : (0,∞)→ R, f(x) = x−k (k ∈ N) ist streng monoton fallend.

3. exp : R→ R ist streng monoton wachsend:

Fur x < x′ ist x′− x > 0 und daher exp(x′− x) =∑∞

n=0(x′−x)n

n!> 1. Damit

aber ist auch

exp(x′) = exp(x+ x′ − x) = exp(x) exp(x′ − x) > exp(x).

Satz 5.18 Es seien D ⊂ R und f : D → R streng monoton wachsend (oderfallend).

(i) Dann ist f : D → f(D) bijektiv und f−1 : f(D) → D ebenfalls strengmonoton wachsend (bzw. fallend).

(ii) Ist f stetig und D = [a, b] ein kompaktes Intervall, so ist auch f−1 stetigund f(D) = [f(a), f(b)] (bzw. f(D) = [f(b), f(a)]).

Hierbei ist mit f : D → f(D) diejenige Funktion gemeint, die aus f : D → Rentsteht, wenn man den Bildbereich R auf das Bild f(D) einschrankt. Strenggenommen sind das zwei verschieden Funktionen, wenn nicht gerade f(D) = Rist. Fur die Stetigkeit oder Monotonie einer Funktion ist diese Unterscheidungjedoch offenbar irrelevant. Genauso konnen wir f−1 auch wieder als Funktionf−1 : f(D)→ R mit Wertebereich R auffassen.

Beweis. (i) Wir behandeln nur den Fall, dass f streng monoton wachst. Derandere Fall ergibt sich vollig analog dazu (oder daraus durch Ubergang zu −f .)Als streng monoton wachsende Funktion ist f injektiv. Offensichtlich ist f : D →f(D) (nach Konstruktion) auch surjektiv, also bijektiv. Sind nun y, y′ ∈ f(D) mity < y′, etwa f(x) = y und f(x′) = y′, so folgt f−1(y) < f−1(y′), denn anderenfallsware x = f−1(y) ≥ f−1(y′) = x′ und damit y = f(x) ≥ f(x′) = y′.

(ii) Setze [c, d] = [f(a), f(b)] (bzw. [c, d] = [f(b), f(a)]). Aus der Monotonievon f folgt f(D) ⊂ [c, d]. Andererseits gilt nach Korollar 5.13 auch [c, d] ⊂ f(D).

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Ware nun f−1 nicht stetig, so gabe es ein y ∈ [c, d] und eine Folge (yn) in[c, d] mit yn → y aber f−1(yn) 6→ f−1(y). D.h. es gabe ein ε > 0 und unendlichviele Indizes n1 < n2 < . . . mit |f−1(ynk) − f−1(y)| ≥ ε fur alle k ∈ N. Nachdem Satz von Bolzano-Weierstraß gibt es dann eine Teilfolge (f−1(ynkj ))j∈N von

(f−1(ynk))k∈N mit limj→∞ f−1(ynkj ) = x fur ein x ∈ [a, b]. Aus der Stetigkeit von

f ergibt sich dann aber

f(x) = limj→∞

f(f−1(ynkj )) = limj→∞

ynkj = y

und hierauslimj→∞

f−1(ynkj ) = x = f−1(y)

im Widerspruch zu |f−1(ynk)− f−1(y)| ≥ ε fur alle k ∈ N. �

Beachten Sie: Fur die Stetigkeit der Umkehrfunktion ist es wichtig voraus-zusetzen, dass D ein Intervall ist. Z.B. ist die Umkehrfunktion der stetigen undstreng wachsenden Funktion

f : [0, 1] ∪ (2, 3]→ [0, 2], f(x) =

{x fur 0 ≤ x ≤ 1,

x− 1 fur 2 < x ≤ 3,

gegeben durch

f−1 : [0, 2]→ [0, 1] ∪ (2, 3], f−1(x) =

{x fur 0 ≤ x ≤ 1,

x+ 1 fur 1 < x ≤ 1,

und somit nicht stetig.

Beispiele.

1. Die Umkehrfunktion von f : [0,∞) → [0,∞), f(x) = xk (k ∈ N) istf−1 : [0,∞)→ [0,∞), f−1(y) = k

√y.

2. Die Exponentialfunktion bildet R bijektiv auf (0,∞) ab.

Wir wissen schon, dass exp(R) ⊂ (0,∞) ist, s. Satz 4.47(ii). Wegen exp(k) =∑∞n=0

kn

n!≥ k und damit auch exp(−k) = 1

exp(k)≤ 1

k, ergibt sich aus Satz

5.18(ii)

exp(R) ⊃⋃k∈N

exp([−k, k]) ⊃⋃k∈N

[1

k, k]

= (0,∞).

Das letzte Beispiel gibt zur Definition einer wichtigen Funktion Anlass.

Definition 5.19 Die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion heißt der naturlicheLogarithmus. Sie wird mit log : (0,∞) → R oder auch mit ln : (0,∞) → R be-zeichnet.

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Nach Satz 5.18 ist log stetig und streng monoton wachsend. Aus der Funk-tionalgleichung fur exp (‘Summen werden zu Produkten’, vgl. Satz 4.46) gewinntman die entsprechende Funktionalgleichung fur log (‘Produkte werden zu Sum-men’).

Satz 5.20 Fur x, x′ > 0 gilt log(xx′) = log(x) + log(x′).

Beweis. Es ist

exp(log(xx′)) = xx′ = exp(log(x)) exp(log(x′)) = exp(log(x) + log(x′)).

Da exp bijektiv ist, folgt hieraus auch log(xx′) = log(x) + log(x′) wie behauptet.�

Mit Hilfe der Exponential- und Logarithumsfunktion lassen sich nun beliebigeallgemeine Potenzen definieren.

Definition 5.21 Fur a > 0 und b ∈ R definieren wir die reelle Zahl ab (sprich:‘a hoch b’) durch

ab := exp(b log(a)).

Beachte, dass dies fur b ∈ Z wegen (vgl. den Beweis von Satz 4.47)

exp(b log(a)) = (exp(log(a)))b = ab

mit unserer fruheren Definition ubereinstimmt. Fur b = 1n

(n ∈ N) ist außerdem

a1n = n√a, denn(a

1n

)n=(

exp( 1

nlog a

))n= exp

(n · 1

nlog a

)= exp(log a) = a.

Insbesondere ist fur a = e = exp(1) und somit log(e) = 1

exp(x) = exp(x log(e)) = ex

fur alle x ∈ R. Allgemeiner schreibt man auch fur z ∈ C

exp(z) = ez.

Wir bemerken noch, dass sich unmittelbar aus dieser Definition das Rechen-gesetz

log(ab) = b log(a).

ergibt.

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Satz 5.22 (i) Es sei b ∈ R fixiert. Die allgemeine Potenzfunktion

(0,∞)→ (0,∞), x 7→ xb

ist stetig, fur b > 0 streng monoton wachsend und fur b < 0 streng monotonfallend. Es gilt

xb(x′)b = (xx′)b

fur alle x, x′ > 0.

(ii) Es sei a > 0 fixiert. Die Exponentialfunktion zur Basis a

R→ (0,∞), x 7→ ax

ist stetig, fur a > 1 streng monoton wachsend und fur 0 < a < 1 strengmonoton fallend. Es gilt

ax+x′= axax

′sowie axx

′= (ax)x

fur alle x.x′ ∈ R.

Beweis. Setze pb : (0,∞)→ (0,∞), pb(x) = xb und expa : R→ (0,∞), expa(x) =ax.

Die Stetigkeit von pb und expa ergibt sich daraus, dass sich diese Funktionenals Verkettung stetiger Funktionen schreiben lassen. Ist namlich fc : R → R fur(festes) c ∈ R gegeben durch fc(x) = cx, so ist

pb = exp ◦fb ◦ log und expa = exp ◦flog a.

Ubungsaufgabe: Beweisen Sie die ubrigen Aussagen! �

5.4 Asympotisches Verhalten

In diesem Abschnitt untersuchen und vergleichen wir das Verhalten von xα,exp(x) und log(x) fur betragsmaßig sehr kleine oder sehr große Werte von xund insbesondere im Limes x→ 0 und x→∞. Dazu mussen wir zunachst auchuneigentliche Funktionengrenzwerte definieren.

Definition 5.23 Es seien D ⊂ R, f : D → R.

(i) Ist x0 ∈ D und c ∈ {−∞,+∞}, so schreiben wir

limx→x0

f(x) = c,

wenn fur jede Folge (xn) in D, die gegen x0 konvergiert, gilt limn→∞ f(xn) =c (im uneigentlichen Sinne).

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(ii) Ist D nach unten (oder oben) unbeschrankt und c ∈ R ∪ {−∞,+∞}, soschreiben wir

limx→−∞

f(x) = c bzw. limx→+∞

f(x) = c,

wenn fur jede Folge (xn) in D, die gegen −∞ bzw. +∞ uneigentlich kon-vergiert, gilt limn→∞ f(xn) = c (im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne).

Beachten Sie, dass diese Grenzwerte und sogar die bloße Existenz dieserGrenzwerte vom Definitionsbereich D abhangt. Man schreibt die Bedingung x ∈D zur Verdeutlichung daher auch oft explizit unter das Limeszeichen.

Beispiele.

1. Fur D = (0,+∞) ist

limx→0x∈D

1

x= lim

x→0x>0

1

x= +∞,

fur D = (−∞, 0) aber

limx→0x∈D

1

x= lim

x→0x<0

1

x= −∞.

Fur D = R \ {0} existiert lim x→0x∈D

1x

= limx→0x 6=0

1x

nicht.

2. Es sei D = R und p : R→ R, p(x) = anxn + . . . a1x + a0 ein Polynom mit

an > 0. Dann ist

limx→∞

p(x) =∞ und limx→−∞

p(x) =

{+∞, falls n gerade ist,

−∞, falls n ungerade ist.

Ubungsaufgabe: Zeigen Sie dies!

Wir vergleichen nun das Wachstumsverhalten der Exponential-, Potenz- undLogarithumsfunktion fur x→ 0 und x→∞.

Satz 5.24 Fur jedes α ∈ R gilt

limx→∞

ex

xα=∞.

Man sagt daher, die Exponentialfunktion wachse starker als jede Potenz.

Beweis. Wir wahlen k ∈ N mit k ≥ α. Fur x ≥ 1 ist nach Satz 5.22(ii)

ex =∞∑n=0

xn

n!>

xk+1

(k + 1)!≥ xxα

(k + 1)!,

d.h. ex

xα≥ x

(k+1)!. Ist nun (xn) eine Folge mit xn →∞ und also auch xn

(k+1)!→∞,

so folgt hieraus auch limn→∞exn

xαn= +∞. �

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Korollar 5.25 Fur jedes α ∈ R gilt

limx→∞

xαe−x = 0 und limx→0x>0

xαe1x = +∞.

Beweis. Die erste Behauptung folgt aus xαe−x = 1x−αex

fur x > 0 und Satz 5.24.Die Zweite ergibt sich (mit y = 1

x) aus

limx→0x>0

xαe1x = lim

y→∞y−αey =∞

nach Satz 5.24. �

Eine weitere unmittelbare Konsequenz ist das

Korollar 5.26 Es gilt

(i) limx→+∞ ex = +∞ und limx→−∞ e

x = 0 sowie

(ii) limx→+∞ log x = +∞ und limx→0x>0

log x = −∞.

Beweis. (i) folgt sofort aus Satz 5.24 und Korollar 5.25 im Falle α = 0.(ii) Ist (xn) eine Folge mit xn → ∞ und K > 0, so gibt es ein N ∈ N mit

xn > eK fur alle n ≥ N . Aus der Monotonie des Logarithmus folgt dann aberauch

log xn ≥ log eK = K

fur n ≥ N . Dies zeigt limx→+∞ log x = +∞. Die zweite Behauptung ergibt sichhieraus, denn es ist

limx→0x>0

log x = limy→+∞

log(y−1) = − limy→+∞

log y = −∞.

Korollar 5.27 (i) Fur jedes α > 0 gilt

limx→+∞

xα = +∞ und limx→0x>0

xα = 0.

(ii) Fur jedes α < 0 gilt

limx→+∞

xα = 0 und limx→0x>0

xα = +∞.

97

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Beweis. (i) Ist (xn) eine Folge mit xn → +∞, so folgt log xn → ∞ wie ebengesehen und damit auch

xαn = eα log xn →∞.

Dies zeigt limx→+∞ xα = +∞. Daraus folgt auch

limx→0x>0

xα = limy→∞

(y−1)α = limy→∞

1

yα= 0.

(ii) Dies folgt aus (i) wegen

limx→+∞

xα = limy→0y>0

y−α = 0 und limx→0x>0

xα = limy→+∞

y−α = +∞.

Wir konnen also die Potenzfunktion x 7→ xα fur positive α auf [0,∞) stetigfortsetzen, indem wir 0α := 0 vereinbaren.

Korollar 5.28 Fur jedes α > 0 gilt

limx→+∞

log x

xα= 0 und lim

x→0x>0

xα log x = 0.

Das heißt: Der Logarithmus wachst im Unendlichen langsamer als jede posi-tive Potenz; fur x→ 0 divergiert er langsamer gegen Unendlich als jede positivePotenz gegen 0 konvergiert.

Beweis. Mit x→∞ gilt auch α log x→∞ und daher nach Korollar 5.25

limx→+∞

log x

xα= lim

x→+∞

1

α· α log x

eα log x= 0.

Hieraus ergibt sich auch

limx→0x>0

xα log x = limy→∞

y−α log(y−1) = limy→∞

− log y

yα= 0.

5.5 Trigonometrische Funktionen

Wir definieren nun die trigonometrischen Funktionen sin, cos und tan und unter-suchen einige ihre Eigenschaften.

Fur x ∈ R ist |eix|2 = eixeix = eixe−ix = e0 = 1. eix liegt also auf demEinheitskreis in der komplexen Ebene.

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Definition 5.29 Die Cosinusfunktion cos : R → R und die Sinusfunktion sin :R→ R sind definiert durch

cosx = Re eix und sinx = Im eix

fur x ∈ R.

Unmittelbar aus der Definition ergeben sich die im folgenden Satz zusammen-gestellten Eigenschaften.

Satz 5.30 Fur alle x ∈ R gelten

(i) die Eulersche Fomeleix = cosx+ i sinx,

(ii) cosx = 12(eix + e−ix) und sinx = 1

2i(eix − e−ix),

(iii) cos(−x) = cos x und sin(−x) = − sinx,

(iv) der ‘trigonometrische Pythagoras’

cos2 x+ sin2 x = 1,

(mit cos2 x = (cosx)2 und sin2 x = (sinx)2) sowie

(v) cos(0) = 1 und sin(0) = 0.

Beweis. Klar. �

Satz 5.31 cos und sin sind stetig.

Beweis. Ist (xn) eine reelle Folge mit xn → x, so folgt aus der Bemerkung vonSeite 87 und Satz 4.22

cosxn = Re eixn → Re eix = cosx und sinxn = Im eixn → Im eix = sinx.

Endlich konnen wir nun auch die schon am Ende von Abschnitt 3.5 benutztenAdditionstheoreme fur den Cosinus und den Sinus beweisen.

Satz 5.32 Fur x, y ∈ R gelten

cos(x+ y) = cos x cos y − sinx sin y und

sin(x+ y) = sin x cos y + cosx sin y.

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Beweis. Aus der Eulerschen Formel und der Funktionalgleichung der Exponenti-alfunktion folgt

cos(x+ y) = i sin(x+ y) = ei(x+y) = eixeiy

= (cosx+ i sinx)(cos y + i sin y)

= cosx cos y − sinx sin y + i(sinx cos y + cosx sin y),

woraus die Behauptung folgt, indem man Real- und Imaginarteil vergleicht. �

Aus der Exponentialreihe lasst sich auch eine Reihendarstellung fur cos undsin ableiten:

Satz 5.33 Fur jedes x ∈ R ist

cosx =∞∑n=0

(−1)nx2n

(2n)!= 1− x2

2!+x4

4!−+ . . . und

sinx =∞∑n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!= x− x3

3!+x5

5!−+ . . . .

Diese Reihen konvergieren absolut.

Beweis. Die absolute Konvergenz dieser Reihen folgt sofort aus der absolutenKonvergenz der Exponentialreihe und dem Majorantenkriterium.

Fur alle N ∈ N gilt

2N+1∑n=0

(ix)n

n!=

N∑n=0

(−1)nx2n

(2n)!+ i

N∑n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!,

woraus im Limes N →∞

cosx+ i sinx = eix =∞∑n=0

(ix)n

n!=∞∑n=0

(−1)nx2n

(2n)!+ i

∞∑n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!

folgt. Die Behauptung ergibt sich nun durch Vergleich des Real- und Imaginarteils.�

Zur naherungsweisen Berechnung dieser Reihen durch ihre Partialsummen,beweisen wir noch eine Restgliedabschatzung. Dazu setzen wir

R2N+2(x) := cos x−N∑n=0

(−1)nx2n

(2n)!=

∞∑n=N+1

(−1)nx2n

(2n)!,

R2N+3(x) := sin x−N∑n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!=

∞∑n=N+1

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!.

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Satz 5.34 Fur |x| ≤ 2N + 3 bzw. |x| ≤ 2N + 4 gilt

|R2N+2(x)| ≤∣∣∣∣ x2N+2

(2N + 2)!

∣∣∣∣ bzw. |R2N+3(x)| ≤∣∣∣∣ x2N+3

(2N + 3)!

∣∣∣∣.Beweis. Setze an = |x|2n

(2n)!, bn = |x|2n+1

(2n+1)!. Fur n ≥ N + 1 und |x| ≤ 2N + 3 bzw.

|x| ≤ 2N + 4 ist

an+1 =|x|2

(2n+ 1)(2n+ 2)an ≤

(2N + 3)2

(2N + 3)(2N + 4)an ≤ an bzw.

bn+1 =|x|2

(2n+ 2)(2n+ 3)bn ≤

(2N + 4)2

(2N + 4)(2N + 5)bn ≤ bn,

d.h. (an)n≥N+1 und (bn)n≥N+1 sind monoton fallende Nullfolgen. Aus der Abschatzungim Leibnizkriterium (Satz 4.37, der auch fur m = n0−1 richtig bleibt) folgt daher

|R2N+2(x)| =∣∣∣∣ ∞∑n=N+1

(−1)nx2n

(2n)!

∣∣∣∣ ≤ ∣∣∣∣ x2N+2

(2N + 2)!

∣∣∣∣ bzw.

|R2N+3(x)| =∣∣∣∣ ∞∑n=N+1

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!

∣∣∣∣ ≤ ∣∣∣∣ x2N+3

(2N + 3)!

∣∣∣∣.�

Wir wissen schon, dass sin(0) = 0 und cos(0) = 1 ist. Genauer konnen wirnun folgern:

Korollar 5.35 Es gilt

limx→0x 6=0

sinx

x= 1 und lim

x→0x6=0

1− cosx

x2=

1

2.

Beweis. Wegen |R3(x)| ≤ |x|33!

fur |x| ≤ 3 ist | sinx−xx| ≤ |x|2

6und wegen |R4(x)| ≤ x4

4!

fur |x| ≤ 4 ist | cosx−(1−x2

2)

x2| ≤ |x|2

24. Hieraus folgt die Behauptung. �

Als weitere Folgerung halten wir fest, dass der Cosinus auf dem Intervall [0, 2]sein Vorzeichen wechselt.

Lemma 5.36 Der Cosinus besizt im Intervall [0, 2] eine Nullstelle.

Beweis. Nach Satz 5.30 ist cos(0) = 1. Andererseits gilt nach Satz 5.34 |R4(2)| ≤24

4!und somit

cos(2) ≤ 1− 22

2!+

24

4!= 1− 2 +

2

3= −1

3< 0.

Die Behauptung folgt daher aus dem Zwischenwertsatz. �

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Definition 5.37 Die Kreiszahl π ist definiert als das Doppelte der kleinsten po-sitiven Nullstelle von cos:

π := 2 min{x > 0 : cos x = 0}.

Beachte, dass das Minimum der Menge M := {x > 0 : cosx = 0} tatsachlichexistiert. Nach Lemma 5.36 ist M nicht leer. Setzt man x = inf M (≥ 0) undwahlt man eine Folge (xn) aus M mit xn → x, so folgt aus der Stetigkeit desCosinus auch cosx = 0. Wegen cos(0) = 1 6= 0 muss außerdem x > 0 sein. Es istalso x ∈M und damit x = minM .

Satz 5.38 Es gilt eiπ2 = i.

Beweis. Wegen cos π2

= 0 ist nach Satz 5.30(iv) sin π2

= ±1. Satz 5.34 liefert nunfur x = π

2≤ 2

sinx = x+R3(x) ≥ x(

1− x2

6

)︸ ︷︷ ︸≥1− 4

6= 1

3

≥ x

3> 0

und somit sin π2

= 1. Dies zeigt eiπ2 = cos π

2+ i sin π

2= i. �

Hieraus ergibt sich allgemein eiπn2 = in fur n ∈ Z und daraus die Wertetabelle

x · · · 0 π2

π 3π2

2π · · ·eix · · · 1 i −1 −i 1 · · ·

cos(x) · · · 1 0 −1 0 1 · · ·sin(x) · · · 0 1 0 −1 0 · · ·

Insbesondere gilt die wunderschone Formel

eiπ + 1 = 0,

die die Eulersche Zahl e, die Kreiszahl π, die imaginare Einheit i, das neutraleElement 1 bezuglich der Multiplikation und das neutrale Element 0 bezuglich derAddition verbindet.

Als Folgerung aus dieser Wertetabelle und Satz 5.38 erhalten wir weitereEigenschaften der Cosinus- und Sinusfunktion

Korollar 5.39 Fur x ∈ R gilt

(i) cos(x+ 2π) = cos x und sin(x+ 2π) = sin(x),

(ii) cos(x+ π) = − cosx und sin(x+ π) = − sin(x),

(iii) cos(x+ π2) = − sinx und sin(x+ π

2) = cos x,

(iv) cos(π2− x) = sin x und sin(π

2− x) = cos(x).

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Beweis. Die Aussagen (i)–(iv) folgen direkt aus den Additionstheoremen, deroben angegebenen Wertetabelle und Satz 5.30(iii). Z.B. folgt die erste Gleichungin (iv) aus

cos(π

2− x) = cos

π

2︸ ︷︷ ︸=0

cos(−x)− sinπ

2︸ ︷︷ ︸=1

sin(−x)︸ ︷︷ ︸=− sinx

= sinx.

Bemerkung. (i) besagt, dass die Funktionen cos und sin 2π-periodisch sind.Allgemein nennt man eine Funktion f : R→ R p-periodisch fur ein p ∈ R, wenngilt

f(x+ p) = f(x) ∀x ∈ R.

Wir charakterisieren nun noch die Nullstellenmengen sowie die Positivitats-und Negativitatsbereiche von cos und sin. Wegen der 2π-Periodizitat genugt eshier, das Intervall [0, 2π) zu betrachten.

Satz 5.40 Auf [0, 2π) gilt

cosx

> 0 fur x ∈ [0, π

2) ∪ (3π

2, 2π),

= 0 fur x ∈ {π2, 3π

2},

< 0 fur x ∈ (π2, 3π

2),

sinx

> 0 fur x ∈ (0, π),

= 0 fur x ∈ {0, π},< 0 fur x ∈ (π, 2π).

Beweis. Wegen sin(0) = 0 ist nach Korollar 5.39(ii) auch sin(π) = 0.Andererseits ist nach Definition von π und wegen cosx = cos(−x) fur alle x

und cos(0) = 1 auch cosx > 0 fur −π2< x < π

2. Nach 5.39(iii) ist daher sinx > 0

fur 0 < x < π und damit nach 5.39(ii) auch sinx < 0 fur π < x < 2π.Aus 5.39(i) und (iii) folgen nun auch die entsprechenden Aussagen fur den

Cosinus. �

Korollar 5.41 Fur x ∈ R ist

(i) cosx = 0 ⇔ x ∈ π2

+ πZ und sinx = 0 ⇔ x ∈ πZ,

(ii) eix = 1 ⇔ x ∈ 2πZ.

Beweis. (i) Klar nach Korollar 5.39(i) und Satz 5.40.(ii) Es gilt eix = 1 genau dann, wenn cos x = 1 und sin x = 0 ist. Dabei

ist nach (i) sinx = 0 genau dann, wenn x ∈ πZ ist. Nach 5.39(ii) ist außerdemcos(nπ) = (−1)n fur ∈ Z. Hieraus folgt die Behauptung. �

Auch die Quotienten von Sinus und Cosinus sind wichtige Großen, weshalbsie einen eigenen Namen verdienen.

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Definition 5.42 (i) Die Tangensfunktion tan : R \ (π2

+πZ)→ R ist definiertdurch

tanx =sinx

cosx.

(ii) Die Cotangensfunktion cot : R \ πZ→ R ist definiert durch

cotx =cosx

sinx.

Da diese Funktionen durch cos und sin vollstandig beschrieben sind, disku-tieren wir ihre Eigenschaften hier nicht im Detail, bemerken aber noch, dass siesogar periodisch zur Periode π sind:

tan(x+ π) = tan x bzw. cot(x+ π) = cot x

fur alle x, fur die dieser Ausdruck definiert ist.

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Kapitel 6

Differentiation

Wir wollen das Verhalten einer Funktion f : D → R (D ⊂ R) nun lokal, d.h. inder Nahe eines gegebenen Punktes x0 ∈ D genauer untersuchen. Ist f in x0 stetig,so bedeutet dies gerade, dass sich f(x) fur x nahe x0 durch einen konstanten Wert,namlich f(x0) approximieren lasst; es gilt dann ja

limx→x0

f(x) = f(x0).

Etwas umstandlicher lasst sich das so ausdrucken: In einer (kleinen) Umgebung(x0 − η, x0 + η) ∩ D lasst sich die Funktion f durch die konstante Abbildungx 7→ f(x0) approximieren.

Damit ist aber noch nicht quantifiziert, wie gut diese Approximation furx 6= x0 ist. Z.B. ist R → R, x 7→ k

√|x| stetig in x0 = 0, die Konvergenz

f(x) → f(0) fur große k aber sehr langsam. Dies hat zur Folge, dass der ma-ximale Approximationsfehler (im Beispiel k

√|x|) viel großer sein kann als der

Abstand von x zu x0.Besonders gutartig sind nun solche Funktionen, fur die sich eine lokale Ande-

rungsrate definieren lasst. Das heißt, dass es ein a ∈ R (die ‘Anderungsrate’)gibt, das das Verhaltnis der Differenz der Funktionswerte f(x) − f(x0) und derDifferenz der Argumente x− x0 approximiert, so dass also

f(x)− f(x0)

x− x0≈ a

gilt. (Genauer: Fur x → x0 konvergiert die linke Seite gegen a.) Auflosen nachf(x) ergibt dann

f(x) ≈ f(x0) + a(x− x0),

wobei der Approximationsfehler sehr viel kleiner als |x− x0| ist. (Genauer: NachDivision durch x − x0 konvergiert der Fehler fur x → x0 immer noch gegen 0.)Wie wir sehen werden ist dies fur viele Funktionen der Fall, insbesondere fur Po-lynome, rationale Funktionen, trigonometrische Funktionen, allgemeine Potenz-

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und Exponentialfunktionen und den Logarithmus. Dies fuhrt zur Definition derDifferenzierbarkeit von f in x0.

Wahrend die Stetigkeit also eine Approximation von f durch eine konstanteFunktion liefert, erhalten wir aus der letzten Gleichung eine wesentlich genauereApproximation von f durch die affine Abbildung1 x 7→ f(x0) + a(x − x0). Esgeht also eigentlich darum, die Funktion f lokal zu ‘linearisieren’ und sie dadurchweiteren Untersuchungen zuganglicher zu machen.

6.1 Definition, Beispiele und Grundlagen

Definition 6.1 Es seien D ⊂ R und f : D → R.

(i) Es sei x0 ∈ D, so dass es mindestens eine Folge (xn) in D \ {x0} gibt mitxn → x0. Existiert der Grenzwert

f ′(x0) = limx→x0x 6=x0

f(x)− f(x0)

x− x0

der Differenzenquotienten f(x)−f(x0)x−x0 , so heißt f differenzierbar in x0. f

′(x0)heißt der Differentialquotient bei x0 oder auch die Ableitung von f bei x0.

Statt f ′(x0) schreibt man auch dfdx

(x0).

(ii) Ist f in jedem Punkt x0 ∈ D differenzierbar, so heißt f selbst differenzierbar.Die Abbildung f ′ : D → R, x 7→ f ′(x) nennt man dann die Ableitung vonf .

Geometrisch ist der Differenzenquotient die Steigung der Sekante des Graphenvon f durch die Punkte (x0, f(x0)) und (x, f(x)). Im Limes x → x0 gehen dieseSekanten in eine Tangente an den Graphen uber, die diesen im Punkt (x0, f(x0))beruhrt.

Bemerkungen.

1. Die Bedingung, dass es mindestens eine gegen x0 konvergente Folge in D \{x0} geben muss, heißt, dasss x0 kein isolierter Punkt von D ist. Sie ist furden wichtigsten Fall, dass D ein Intervall ist, immer fur alle x0 ∈ D erfullt.

2. Oft schreibt man den Differentialquotienten in der aquivalenten Form

f ′(x0) = limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h,

wobei hier h→ 0 eigentlich bedeutet h→ 0 mit h 6= 0 und x0 + h ∈ D.

1Abbildungen der Form x 7→ ax + b mit a, b ∈ R nennt man affin.

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Beispiele.

1. Ist f : R→ R konstant, etwa f(x) = c, so gilt fur jedes x0 ∈ R

f ′(x0) = limx→x0x 6=x0

f(x)− f(x0)

x− x0= lim

x→x0x 6=x0

0 = 0.

2. Ist f : R→ R affin, etwa f(x) = ax+ b, so gilt fur jedes x0 ∈ R

f ′(x0) = limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

x− x0= lim

h→0

a(x0 + h) + b− ax0 − bh

= a.

3. Es sei nun f : R→ R, f(x) = xn (n ∈ N). Dann ist fur jedes x0 ∈ R

f ′(x0) = limh→0

(x0 + h)n − xn0h

= limh→0

1

h

(xn0 + nxn−10 h+

n∑k=2

(n

k

)xn−k0 hk − xn0

)= nxn−10 .

4. Fur die Exponentialfunktion ergibt sich fur alle x

exp′(x) = limh→0

exp(x+ h)− exp(x)

h

= exp(x) limh→0

exp(h)− exp(0)

h= exp(x),

denn fur |h| < 1 ist

| exp(h)− 1− h| ≤∞∑k=2

|h|k

k!≤ |h|2

∞∑k=2

1

k!≤ e|h|2.

Dies ist eine fundamental wichtige Eigenschaft der Exponentialfunktion: Sieist ihre eigene Ableitung!

5. Die Ableitung des Sinus ist der Cosinus. Fur x ∈ R ist namlich

sin′(x) = limh→0

sin(x+ h)− sinx

h

= limh→0

sinx cosh+ cosx sinh− sinx

h

= sinx limh→0

cosh− 1

h+ cosx lim

h→0

sinh

h= cosx

nach Korollar 5.35.

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6. Umgekehrt ist die Ableitung des Cosinus das Negative des Sinus. Fur x ∈ Rist namlich

cos′(x) = limh→0

cos(x+ h)− cosx

h

= limh→0

cosx cosh− sinx sinh− cosx

h

= cosx limh→0

cosh− 1

h− sinx lim

h→0

sinh

h= − sinx

nach Korollar 5.35.

7. Die Funktion f : R→ R, f(x) = |x| ist im Nullpunkt nicht differenzierbar,

denn fur xn = (−1)nn→ 0 (n→∞) existiert der Grenzwert von

f(xn)− f(0)

xn=|xn|xn

= (−1)n

nicht. (In jedem Punkt x 6= 0 ist f aber differenzierbar, was man wie inBeispiel 2 sieht.) Die einseitigen Grenzwerte

limx→0x>0

f(x)− f(0)

x= 1 und lim

x→0x<0

f(x)− f(0)

x= −1

existieren in diesem Beispiel jedoch.

Bemerkung. Im Falle der Existenz nennt man

f ′+(x0) = limx→x0x>x0

f(x)− f(x0)

x− x0und f ′−(x0) = lim

x→x0x<x0

f(x)− f(x0)

x− x0

die rechtsseitige bzw. linksseitige Ableitung in x0.

Wir kommen nun auf unsere eingangs gegebene Motivation der Approximier-barkeit von Funktionen zuruck.

Satz 6.2 Es seien x0 ∈ D, so dass es mindestens eine Folge (xn) in D \ {x0}gibt mit xn → x0, und f : D → R. Genau dann ist f in x0 differenzierbar, wennes ein a ∈ R gibt, so dass

f(x) = f(x0) + a(x− x0) + r(x)

mit einer Funktion r gibt, fur die limx→x0x 6=x0

r(x)x−x0 = 0 ist.

Ist dies der Fall, so ist a = f ′(x0).

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In diesem Sinne ist die Abbildung x 7→ f(x0)+f′(x0)(x−x0) die Linearisierung

von f in der Nahe von x0.2

Beweis. Fur a ∈ R ist die gefragte Gleichung gerade fur r(x) = f(x) − f(x0) −a(x− x0) erfullt. Aus

r(x)

x− x0=f(x)− f(x0)

x− x0− a

ergibt sich nun, dass die linke Seite fur x→ x0 genau dann gegen 0 konvergiert,wenn f bei x0 differenzierbar ist und a = f ′(x0) gilt. �

Diffenzierbare Funktionen sind insbesondere stetig, denn es gilt:

Satz 6.3 Ist D ⊂ R, x0 ∈ D und f : D → R in x0 differenzierbar, so ist f in x0stetig.

Beweis. Fur r wie in Satz 6.2 ist offensichtlich limx→x0 r(x) = 0, da ja sogar

limx→x0x6=x0

r(x)x−x0 = 0 ist, so dass sich im Limes x→ x0

f(x) = f(x0) + f ′(x0)(x− x0)︸ ︷︷ ︸→0

+ r(x)︸︷︷︸→0

→ f(x0)

ergibt. �

Beachten Sie: Die Umkehrung gilt nicht!! (S. Beispiel 7 von Seite 108.)Ahnlich wie bei der Stetigkeit sind auch aus differenzierbaren Funktionen

zusammengesetzte Funktionen wieder differenzierbar.

Satz 6.4 Es seien f, g : D → R in x0 ∈ D differenzierbare Funktionen undλ, µ ∈ R. Dann gilt:

(i) Linearitat: Auch λf + µg ist bei x0 differenzierbar. Dabei ist

(λf + µg)(x0) = λf ′(x0) + µg′(x0),

(ii) Produktregel: Auch fg ist bei x0 differenzierbar. Es ist

(fg)′(x0) = f ′(x0)g(x0) + f(x0)g′(x0),

(iii) die Quotientenregel: Falls g(x0) 6= 0, fg

: {x ∈ D : g(x) 6= 0} → R differen-zierbar in x0 mit (f

g

)′(x0) =

f ′(x0)g(x0)− f(x0)g′(x0)

(g(x0))2.

2Be wise, linearize! (Engl. Sprichwort)

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Beweis. (i) Nach den Grenzwertsatzen gilt in der Tat

limx→x0x 6=x0

λf(x) + µg(x)− λf(x0)− µg(x0)

x− x0

= λ limx→x0x 6=x0

f(x)− f(x0)

x− x0+ µ lim

x→x0x 6=x0

g(x)− g(x0)

x− x0= λf ′(x0) + µg′(x0)

(ii) Dies folgt aus

f(x)g(x)− f(x0)g(x0)

x− x0=f(x)g(x)− f(x)g(x0) + f(x)g(x0)− f(x0)g(x0)

x− x0

= f(x)︸︷︷︸→f(x0)

g(x)− g(x0)

x− x0︸ ︷︷ ︸→g′(x0)

+g(x0)f(x)− f(x0)

x− x0︸ ︷︷ ︸→f ′(x0)

→ f ′(x0)g(x0) + f(x0)g′(x0)

im Grenzwert x→ x0, wobei wir Satz 6.3 benutzt haben.(iii) Fur den Quotienten schließlich betrachten wir zunachst den Fall f = 1.

Nach Satz 6.3 ist dann1

g(x)− 1

g(x0)

x− x0=

1

g(x)g(x0)︸ ︷︷ ︸→(g(x0))2

g(x0)− g(x)

x− x0︸ ︷︷ ︸→−g′(x0)

→ − g′(x0)

(g(x0))2

fur x→ x0. Nach (ii) folgt dann auch fur allgemeines f , dass der Quotient fg

beix0 differenzierbar ist mit(f

g

)′(x0) = f ′(x0)

1

g(x0)− f(x0)

g′(x0)

(g(x0))2=f ′(x0)g(x0)− f(x0)g

′(x0)

(g(x0))2.

Es bleibt zu bemerken, dass x0 kein isolierter Punkt von {x ∈ D : g(x) 6= 0} ist.Wegen g(x0) 6= 0 gibt es nach Lemma 5.12 namlich ein ε > 0, so dass g(x) 6= 0fur alle x ∈ D ∩ (x0 − ε, x0 + ε) ist. �

Beispiele.

1. Fur f : R \ {0} → R, f(x) = x−n (n ∈ N) ist

f ′(x) =( 1

xn

)′= −nx

n−1

x2n= −nx−n−1.

2. Fur x /∈ π2

+ πZ ist

tan′(x) =( sinx

cosx

)′=

sin′(x) cosx− sinx cos′(x)

cos2 x

=cos2 x+ sin2 x

cos2 x=

1

cos2 x.

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Auch die Verkettung differenzierbarer Funktionen ist wieder differenzierbar:

Satz 6.5 Es seien D,E ⊂ R, f : D → E differenzierbar in x0 ∈ D und g : E →R differenzierbar in f(x0). Dann ist g ◦ f differenzierbar in x0, die Ableitungberechnet sich nach der Kettenregel:

(g ◦ f)′(x0) = g′(f(x0)

)f ′(x0).

Beweis. Nach Satz 6.2 gibt es eine Funktion r : E → R mit

g(y)− g(f(x0)

)= g′

(f(x0)

)(y − f(x0)

)+ r(y)

und limy→f(x0)r(y)

y−f(x0) = 0. Teilen durch x− x0 fuhrt fur y = f(x) auf

g(f(x)

)− g(f(x0)

)x− x0

= g′(f(x0)

)f(x)− f(x0)

x− x0+r(f(x)

)x− x0

.

Fur x→ x0 und damit auch f(x)→ f(x0) (Satz 6.3) folgt nun wegen

r(f(x)

)x− x0

=

{0, falls f(x) = f(x0),r(f(x))

f(x)−f(x0) ·f(x)−f(x0)

x−x0 , falls f(x) 6= f(x0),

zunachst limx→x0x 6=x0

r(f(x))x−x0 = 0 und damit dann

limx→x0x 6=x0

g(f(x)

)− g(f(x0)

)x− x0

= g′(f(x0)

)f ′(x0).

Beispiele.

1. Die Ableitung von f : R \ {0} → R, f(x) = sin3(e1/x2) ist gegeben durch

f ′(x) = (sin3(e1/x2

))′ = 3 sin2(e1/x2

) · cos(e1/x2

) · e1/x2 · (−2x−3).

2. Fur die Exponentialfunktion R→ R, x 7→ ax zur Basis a > 0 ist

(ax)′ = (ex log a)′ = (ex log a) log a = ax log a.

Wir untersuchen nun noch Umkehrfunktionen.

Satz 6.6 Es seien D ⊂ R ein Intervall und f : D → R stetig und streng mo-noton. Ist f in x ∈ D differenzierbar mit f ′(x) 6= 0, so ist die Umkehrfunktionf−1 : f([a, b])→ R in y = f(x) differenzierbar und es gilt

(f−1)′(y) =1

f ′(f−1(y)).

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Beweis. Es sei (yn) eine Folge in f([a, b]) mit yn → y und yn 6= y fur alle n. Setzexn = f−1(yn). Da auch f−1 nach Satz 5.18 stetig und streng monoton ist, gilt

limn→∞

xn = limn→∞

f−1(yn) = f−1(y) = x und xn 6= x ∀n ∈ N.

Es folgt

limn→∞

f−1(yn)− f−1(y)

yn − y= lim

n→∞

xn − xf(xn)− f(x)

= limn→∞

1f(xn)−f(x)

xn−x

=1

f ′(x),

wie behauptet. �

Beispiele.

1. Fur x > 0 ist

log′(x) =1

exp′(log x)=

1

x.

2. Hieraus folgt mit Hilfe der Kettenregel fur die allgemeine Potenzfunktion(0,∞)→ R, x 7→ xα (α ∈ R)

(xα)′ = (eα log x)′ = eα log x · αx

= xα · αx

= αxα−1.

3. Eine alternative Darstellung der Exponentialfunktion: Wird ein Euro mitx (also mit 100x Prozent) verzinst, so erhalt man nach einem Jahr 1 +x Euro. Wurden stattdessen die halben Zinsen halbjahrig gutgeschrieben,so erhielte man mit Zins und Zinseszins nach einem Jahr den großerenBetrag von (1 + x

2)2 Euro. Bei Dritteljahriger Verzinsung mit x

3ergaben

sich (1 + x3)3 Euro. Wurde allgemein 1

n-jahrig der Zinssatz x

nangerechnet,

so ergabe sich nach einem Jahr ein Guthaben von (1 + xn)n Euro. Man

kann sich nun fragen, welcher Betrag sich erreichen ließe, wenn man immerkurzfristiger mit dem entsprechenden Bruchteil von x verzinsen wurde, alsozum Grenzwert n → ∞ einer instantanen ‘stetigen Verzinsung’ uberginge.Mathematisch ausgedruckt: Was ist

limn→∞

(1 +

x

n

)n?

Die Antwort folgt aus Beispiel 1. Fur die logarithmierten Werte ergibt sichwegen log(1) = 0 demnach namlich

limn→∞

n log(

1 +x

n

)= x lim

n→∞

log(1 + xn)− log(1)xn

= x log′(1) = x.

Da exp aber stetig ist, folgt hieraus

limn→∞

(1 +

x

n

)n= exp

(limn→∞

n log(

1 +x

n

))= ex.

(Fur x = 0, 02 ist das mit ca. 1.0202 nur geringfugig großer als 1+x = 1, 02.Viel bringt es also nicht.)

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Wir bemerken zum Schluss dieses Absatzes noch, dass man den Prozess desAbleitens naturlich auch iterieren kann: Ist f : D → R differenzierbar, so kannman uberprufen, ob die Ableitung f ′ : D → R selbst eine Ableitung f ′′ : D → Rbesitzt, die womoglich wieder einer Ableitung f ′′′ : D → R hat u.s.w.

Definition 6.7 Es sei f : D → R eine Funktion. Ist f (einmal) differenzierbarbei x0 ∈ D, so schreibt man auch f (1)(x0) = f ′(x0). Induktiv definiert man furn ≥ 2:

(i) Es sei x0 ∈ D. Die Funktion f ist n-mal differenzierbar bei x0, wenn es einε > 0 gibt, so dass f in jedem x ∈ (x0−ε, x0+ε) (n−1)-mal differenzierbarist und die Abbildung (x0 − ε, x0 + ε), x 7→ f (n−1)(x) bei x0 differenzierbarist. Die n-te Ableitung bei x0 ist dann f (n)(x0) := (fn−1)′(x0). (Fur n = 2, 3schreibt man auch f ′′(x0) bzw. f ′′′(x0).)

(ii) Ist f in jedem Punkt x ∈ D n-mal differenzierbar, so heißt f n-mal differen-

zierbar. Die n-te Ableitung von f ist f (n) : D → R.

Mit der ‘nullten Ableitung’ f (0) von f ist die Funktion f selbst gemeint.

Beispiele.

1. Fur f : R→ R, f(x) = xm ist

f (n)(x) = m(m− 1) · . . . · (m− n+ 1)xm−n =

{m!n!xm−n, falls n ≤ m,

0, falls n > m.

2. Fur f : R→ R, f(x) = cos x ist

f (n)(x) =

cosx, falls n ∈ 4N0,

− sinx, falls n ∈ 4N0 + 1,

− cosx, falls n ∈ 4N0 + 2,

sinx, falls n ∈ 4N0 + 3.

6.2 Der Mittelwertsatz und seine Konsequen-

zen

Wir wollen nun untersuchen, inwiefern sich aus bestimmten Aspekten der Ablei-tung f ′ einer Funktion f Ruckschlusse auf f selbst gewinnen lassen. Ein grund-legender Satz der Differentialrechnung ist hier der sogenannte Mittelwertsatz, deraus dem Satz von Rolle folgen wird.

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Definition 6.8 Es sei D ⊂ R. Eine Funktion f : D → R hat in x ∈ D einlokales Maximum (bzw. lokales Minimum), wenn es ein ε > 0 gibt, so dass

f(x) = max{f(y) : y ∈ D mit |y − x| < ε} bzw.

f(x) = min{f(y) : y ∈ D mit |y − x| < ε}

gilt. Man nennt dann x eine lokale Maximal- bzw. Minimalstelle.Maxima und Minima nennt man auch Extrema, Maximal- und Minimalstellen

entsprechend Extremalstellen.

Wir beschranken uns in diesem Abschnitt fortan auf den Fall, dass D einIntervall ist. Im Folgenden sei a < b.

Durch Ableiten erhalt man ein notwendiges Kriterium fur Extremalstellen:

Satz 6.9 Es sei f : (a, b) → R und x0 ∈ (a, b). Ist x0 eine Extremalstelle von fund f differenzierbar in x0, so gilt

f ′(x0) = 0.

Beweis. Hat f bei x0 ein lokales Maximum, so so gibt es ein ε > 0 mit f(x) ≤f(x0) fur alle x ∈ D mit |x− x0| < ε. Daher ist

f ′(x0) = limx→x0x>x0

f(x)− f(x0)

x− x0≤ 0

und

f ′(x0) = limx→x0x<x0

f(x)− f(x0)

x− x0≥ 0,

also f ′(x0) = 0.Ist x0 eine lokale Minimalstelle, so hat −f bei x0 ein lokales Maximum, wes-

halb −f ′(x0) = 0 also auch f ′(x0) = 0 ist. �

Beachten Sie: Dieses Kriterium ist nicht hinreichend! So gilt z.B. fur die Funk-tion

f : (−1, 1)→ R, f(x) = x3

f ′(0) = 0, obwohl sie bei 0 kein lokales Extremum hat. Es ist außerdem wichtiganzunehmen, dass x0 im offenen Intervall (a, b) liegt. Z.B. sind die Extremalstellenvon

f : [0, 1]→ R, f(x) = x

0 und 1, jedoch f ′(0) = f ′(1) 6= 0.

Satz 6.10 (Satz von Rolle) Es sei f : [a, b] → R stetig und in (a, b) differen-zierbar. Gilt f(a) = f(b), so gibt es ein x0 ∈ (a, b) mit f ′(x0) = 0.

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Beweis. Ist f konstant, so ist die Behauptung trivial. Anderenfalls gibt es, danach Satz 5.10 f sein Minimum und sein Maximum in [a, b] annimmt, eine Ex-tremalstelle x0 ∈ (a, b). Gemaß Satz 6.9 ist dann f ′(x0) = 0. �

Korollar 6.11 (Mittelwertsatz) Es sei f : [a, b] → R stetig und in (a, b) dif-

ferenzierbar. Dann gibt es ein x0 ∈ (a, b) mit f ′(x0) = f(b)−f(a)b−a .

Das heißt: Es gibt einen Punkt x0 ∈ (a, b), so dass die Steigung f ′(x0) der

Tangente an den Graphen von f durch (x0, f(x0)) gerade die Steigung f(b)−f(a)b−a

der Sekante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) ist.

Beweis. Setze g : [a, b]→ R,

g(x) = f(x)− f(b)− f(a)

b− a(x− a),

so dass insbesondere g(b) = g(a) ist. Nach dem Satz 6.10 von Rolle gibt es einx0 ∈ (a, b) mit

0 = g′(x0) = f ′(x0)−f(b)− f(a)

b− a,

womit x0 die Behauptung des Satzes erfullt. �

Korollar 6.12 (Schrankensatz) Es sei f : [a, b] → R stetig und in (a, b) dif-ferenzierbar. Setze m = inf{f ′(x) : x ∈ (a, b)} und M = sup{f ′(x) : x ∈ (a, b)}.Dann gilt

m(y − x) ≤ f(y)− f(x) ≤M(y − x)

fur alle x, y ∈ [a, b] mit x ≤ y.

Beweis. Wendet man den Mittelwertsatz (Korollar 6.11) auf das Intervall [x, y]an, so folgt fur ein x0 ∈ (x, y)

f(y)− f(x)

y − x= f ′(x0) ∈ [m,M ].

Korollar 6.13 Es sei f : [a, b] → R stetig und in (a, b) differenzierbar. Giltf ′(x) = 0 fur alle x ∈ (a, b), so ist f konstant.

Beweis. Nach dem Schrankensatz (mit m = M = 0) ist f(x) = f(y) fur allex, y ∈ [a, b]. �

Eine weitere Folgerung aus dem Satz von Rolle ist eine verallgemeinerte Formdes Mittelwertsatzes.

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Satz 6.14 (Verallgemeinerter Mittelwertsatz) Es seien f, g : [a, b] → Rstetig und in (a, b) differenzierbar, wobei g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b) sei. Danngibt es ein x0 ∈ (a, b) mit

f(b)− f(a)

g(b)− g(a)=f ′(x0)

g′(x0).

(Insbesondere ist g(a) 6= g(b).)

Beweis. Wir bemerken zunachst, dass g(a) 6= g(b) ist. Anderenfalls hatte gnamlich nach dem Satz von Rolle eine Nullstelle in (a, b). Setze nun h : [a, b]→ R,

h(x) = f(x)− f(b)− f(a)

g(b)− g(a)(g(x)− g(a)),

so dass insbesondere h(b) = f(a) = h(a) ist. Nach dem Satz 6.10 von Rolle gibtes ein x0 ∈ (a, b) mit

0 = h′(x0) = f ′(x0)−f(b)− f(a)

g(b)− g(a)g′(x0),

womit x0 die Behauptung des Satzes erfullt. �

Der verallgemeinerte Mittelwertsatz liefert ein nutzliches Kriterium zur Be-rechnung von Funktionengrenzwerten von Quotienten in Fallen, in denen dieGrenzwertsatze versagen.

Satz 6.15 (Regel von l’Hospital) Es seien f, g : (a, b) → R differenzierbar,wobei g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b) sei. Des Weiteren gelte

limx→ax>a

f(x) = 0 und limx→ax>a

g(x) = 0

oderlimx→ax>a

f(x) = ±∞ und limx→ax>a

g(x) = ±∞.

Falls nun der Grenzwert limx→ax>a

f ′(x)g′(x)

existiert, so existiert auch limx→ax>a

f(x)g(x)

undes ist

limx→ax>a

f(x)

g(x)= lim

x→ax>a

f ′(x)

g′(x).

Analoge Aussagen gelten fur x → b. Dies gilt auch noch fur a = −∞ oderb = +∞, da sich diese Falle durch eine geeignete Substitution (y = ∓ 1

x) auf den

Fall endlicher Intervallgrenzen zuruckfuhren lassen.

Beweis. 1. Im ersten Fall konnen wir f und g durch f(a) := g(a) := 0 stetig beia erganzen. Ist nun (xn) eine Folge in (a, b) mit xn → a, so gibt es nach dem

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verallgemeinerten Mittelwertsatz Punkte ξn ∈ (a, xn) (und damit auch ξn → a)mit

f(xn)

g(xn)=f(xn)− f(a)

g(xn)− g(a)=f ′(ξn)

g′(ξn)→ lim

x→0x>a

f ′(x)

g′(x).

2. Im zweiten Fall wahlen wir fur c = limx→ax>a

f ′(x)g′(x)

zu gegebenem ε > 0 einδ > 0, so dass ∣∣∣f ′(x)

g′(x)− c∣∣∣ < ε fur x ∈ (a, a+ δ)

gilt. Fur alle x, y ∈ (a, a+ δ) gibt es nun nach dem verallgemeinerten Mittelwert-satz ein ξ zwischen x und y mit

f(x)

g(x)=f(x)− f(y)

g(x)− g(y)· 1− g(y)/g(x)

1− f(y)/f(x)︸ ︷︷ ︸=:d(x,y)

=f ′(ξ)

g′(ξ)d(x, y)

und daher wegen ξ ∈ (a, a+ δ)∣∣∣f(x)

g(x)− c∣∣∣ =

∣∣∣f ′(ξ)g′(ξ)

d(x, y)− c∣∣∣

=∣∣∣(f ′(ξ)g′(ξ)

− c)d(x, y) + c

(d(x, y)− 1

)∣∣∣≤ ε|d(x, y)|+ |c| |d(x, y)− 1|,

wobei die rechte Seite fur x→ a gegen ε konvergiert, da ja dann d(x, y)→ 1 gilt.Indem wir 0 < δ′ < δ hinreichend klein wahlen, folgt also∣∣∣f(x)

g(x)− c∣∣∣ < 2ε

fur x ∈ (a, a+ δ′). Hieraus folgt limx→ax>a

f(x)g(x)

= c. �

Beispiele.

1. Fur α > 0 ist im Grenzwert x→ 0

limx→0x>0

xα log x = limx→0x>0

log x

x−α= − lim

x→0x>0

x−1

αx−α−1= α−1 lim

x→0x>0

xα = 0.

2. Zweimalige Anwendung der l’Hospitalschen Regel zeigt

limx→0

tanx− xx3

= limx→0

cos−2 x− 1

3x2= lim

x→0

2 cos−3 x sinx

6x=

1

3,

da ja limx→0sinxx

= 1 ist.

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6.3 Monotonie, Extrema und Konvexitat

Eine weitere direkte Folgerung aus dem Mittelwertsatz gestattet es, das Monoto-nieverhalten von f in Termen der Ableitung f ′ zu beschreiben, was uns schließlichbei der genaueren Untersuchung von Extremalstellen von f nutzlich sein wird.

Das Vorzeichen der lokalen Anderungsrate gibt Auskunft daruber, ob dieFunktionswerte mit wachsendem Argument lokal zu- oder abnehmen. Genauergilt:

Satz 6.16 Es seien [a, b] ⊂ R ein Intervall und f : [a, b] → R eine stetigeFunktion, die in (a, b) differenzierbar sei. Dann gilt:

(i) f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ (a, b) ⇔ f ist monoton wachsend,

(ii) f ′(x) > 0 fur alle x ∈ (a, b) ⇒ f ist streng monoton wachsend,

(iii) f ′(x) ≤ 0 fur alle x ∈ (a, b) ⇔ f ist monoton fallend,

(iv) f ′(x) < 0 fur alle x ∈ (a, b) ⇒ f ist streng monoton fallend.

Beachten Sie: Die Umkehrungen in (ii) und (iv) gelten nicht, wie die Beispielef : (−1, 1)→ R mit f(x) = x3 bzw. f(x) = −x3 zeigen.

Beweis. (i) ‘⇒’: Fur x, x′ ∈ [a, b] mit x < x′ gibt es nach dem Mittelwertsatz einx0 ∈ (x, x′) mit

f(x′)− f(x)

x′ − x= f ′(x0) ≥ 0.

‘⇐’: Ist f monoton wachsend, so gilt fur jedes x0 ∈ (a, b)

f ′(x) = limx→x0x>x0

f(x)− f(x0)

x− x0≥ 0.

(ii) Dies folgt analog zu ‘⇒’ in (i) mit > statt ≥.

(iii) & (iv) Diese Aussagen ergeben sich aus (i) und (ii) durch Ubergang zu−f . �

Als Anwendung dieses Satzes kommen wir nun auf die Untersuchung der tri-gonometrischen Funktionen zuruck.

Beispiele.

1. Der Cosinus ist streng monoton fallend auf [0, π]. Nach Satz 5.40 namlichist (cosx)′ = − sinx < 0 fur 0 < x < π. Wegen cos(0) = 1 und cos(π) = −1ist daher

[0, π]→ [−1, 1], x 7→ cosx

bijektiv. Die Umkehrfunktion hiervon wird als Arcuscosinus (oder auch alsder Hauptzweig des Arcuscosinus) arccos : [−1, 1]→ [0, π] bezeichnet. Nach

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Satz 6.6 und der Beziehung sin y = ±√

1− cos2 y fur alle y ∈ R gilt furx ∈ (−1, 1)

(arccosx) =1

− sin(arccosx)= ∓ 1√

1− cos2(arccosx)= ∓ 1√

1− x2.

Beachtet man noch, dass auch arccos monoton fallt, so ergibt sich

arccos′ x = − 1√1− x2

.

Nach Satz 5.40 und Korollar 5.39 ist nun cos auf jedem Intervall der Form[nπ, (n + 1)π], n ∈ Z, streng monoton, so dass man die Cosinusfunktionauch auf ein solches Intervall einschranken und die Umkehrfunktion hierzubetrachten kann. Dies fuhrt fur n 6= 0 auf die sogenannten Nebenzweige desArcuscosinus.

2. Nach dem ersten Beispiel und Korollar 5.39 ist[− π

2,π

2

]→ [−1, 1], x 7→ sinx

streng monoton wachsend und bijektiv. Die Umkehrfunktion hiervon wirdals Arcussinus (oder als auch der Hauptzweig des Arcussinus) arcsin :[−1, 1] → [−π

2, π2] bezeichnet. Nach Satz 6.6 und der Beziehung cos y =

±√

1− sin2 y fur alle y ∈ R gilt fur x ∈ (−1, 1)

(arcsinx)′ =1

cos(arcsinx)= ± 1√

1− sin2(arcsinx)= ± 1√

1− x2.

Beachtet man noch, dass auch arcsin monoton wachst, so ergibt sich

arcsin′ x =1√

1− x2.

Analog wie fur den Arcuscosinus sind die Nebenzweige des Arcussinus defi-niert.

3. Die Tangensfunktion erfullt

tan′ x =1

cos2 x= 1 = tan2 x > 0

fur alle x ∈ (−π2, π2). Wegen cos x > 0 auf (−π

2, π2), sin(−π

2) = −1, sin(π

2) = 1

und cos(±π2) = 0 gilt außerdem

limx→−π2x>π2

tanx = −∞ und limx→+π2x<π2

tanx = +∞,

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so dass also tan : (−π2, π2) → R monoton wachsend und bijektiv ist. Die

Umkehrfunktion, der sogenannte (Hauptzweig des) Arcustangens

arctan : R→ (−π2,π

2)

ist dann ebenfalls streng wachsend mit

arctan′ x =1

1 + tan2(arctanx)=

1

1 + x2.

Wieder gibt es analog zum Arcuscosinus auch Nebenzweige des Arcustan-gens. Ganz analog erhalt man auch die Umkehrfuntion des Cotangens: denstreng fallenden Arcuscotangens arccot : R→ (0, π).

Wir leiten nun ein hinreichendes Kriterium fur lokale Extrema her.

Satz 6.17 Es seien f : (a, b)→ R, x0 ∈ (a, b). Ist f in x0 zweimal differenzierbarmit

f ′(x0) = 0 und f ′′(x0) > 0 oder f ′′(x0) < 0,

so hat f bei x0 ein lokales Minimim bzw. Maximum.

Beweis. Ist

f ′′(x0) = limx→x0

f ′(x)− f ′(x0)x− x0

> 0,

so gibt es ein ε > 0 mitf ′(x)− f ′(x0)

x− x0> 0

fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε). Wegen f ′(x0) = 0 ist daher

f ′(x) < 0 fur x ∈ (x0 − ε, x0) und f ′(x) > 0 fur x ∈ (x0, x0 + ε),

so dass f nach Satz 6.16 auf [x0 − ε, x0] streng monoton fallt und auf [x0, x0 + ε]streng monoton wachst. Dies zeigt, dass f bei x0 ein Minimum hat.

Den Fall f ′′(x0) < 0 behandelt man analog oder indem man das eben Gezeigteauf −f anwendet. �

Beachten Sie: Das Kriterium ist nicht notwendig, wie das Beispiel (−1, 1)→R, x 7→ x4 zeigt.

Bemerkung. Der Beweis zeigt, dass in x0 sogar eine isolierte Extremalstellevorliegt: Es gibt ein ε > 0, so dass fur x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) mit x 6= x0 sogar diestrikte Ungleichung

f(x0) < f(x) bzw. f(x0) > f(x).

erfullt ist.

Wir untersuchen nun noch eine Eigenschaft von Funktionen, die in vielenAnwendungen und in der Analysis selbst eine wichtige Rolle spielt.

120

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Definition 6.18 Es sei D ⊂ R ein Intervall. Eine Funktion f : D → R heißt

(i) konvex, wenn fur alle x1, x2 ∈ D und alle λ ∈ [0, 1] gilt

f(λx1 + (1− λ)x2) ≤ λf(x1) + (1− λ)f(x2),

(ii) strikt konvex, wenn fur alle x1, x2 ∈ D mit x1 6= x2 und alle λ ∈ (0, 1) gilt

f(λx1 + (1− λ)x2) < λf(x1) + (1− λ)f(x2),

(iii) (strikt) konkav, wenn −f (strikt) konvex ist.

Geometrisch bedeutet die (strikte) Konvexitat, dass der Graph von f im In-tervall (x1, x2) (echt) unterhalb der Sekante durch die Punkte (x1, f(x1)) und(x2, f(x2)) liegt.

Da fur x1 < x2 die Punkte x = λx1 + (1 − λ)x2 mit λ ∈ [0, 1] gerade diePunkte x ∈ [x1, x2] sind, lasst sich die Konvexitatsungleichung aquivalent auchals

f(x) ≤ x2 − xx2 − x1

f(x1) +x− x1x2 − x1

f(x2)

(mit strikter Ungleichung fur x /∈ {x1, x2} im Falle strikter Konvexitat) schreiben.(Beachte, dass x = λx1 + (1− λ)x2 ⇔ λ = x2−x

x2−x1 ⇔ 1− λ = x−x1x2−x1 .)

Bemerkung. Konvexe Funktionen sind stetig. (Ubung!)

Beispiel. Die Funktion f : R → R, f(x) = |x| ist konvex: Fur x1, x2 ∈ R und0 ≤ λ ≤ 1 ist

|λx1 + (1− λ)x2| ≤ λ|x1|+ (1− λ)|x2|

nach der Dreiecksungleichung. (Insbesondere mussen konvexe Funktionen nichtunbedingt differenzierbar sein.)

Lemma 6.19 Es seien D ⊂ R ein Intervall, f : D → R eine Funktion, x, x1, x2 ∈D mit x1 < x < x2. Dann sind aquivalent

(i) f(x) ≤ x2−xx2−x1f(x1) + x−x1

x2−x1f(x2),

(ii) f(x)−f(x1)x−x1 ≤ f(x2)−f(x1)

x2−x1 ,

(iii) f(x2)−f(x1)x2−x1 ≤ f(x2)−f(x)

x2−x und

(iv) f(x)−f(x1)x−x1 ≤ f(x2)−f(x)

x2−x .

Dies gilt auch, wenn man in diesen Ungleichungen jeweils ≤ durch < ersetzt.

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Beweis. (i) ⇔ (ii): (i) ist aquivalent zu

f(x)− f(x1) ≤ −x− x1x2 − x1

f(x1) +x− x1x2 − x1

f(x2) =(x− x1)(f(x2)− f(x1))

x2 − x1,

was wiederum zu (ii) aquivalent ist.

(i) ⇔ (iii): (i) ist aquivalent zu

f(x)− f(x2) ≤x2 − xx2 − x1

f(x1)−x2 − xx2 − x1

f(x2) =(x2 − x)(f(x1)− f(x2))

x2 − x1,

was wiederum zu (iii) aquivalent ist.

(i) ⇔ (iv): (i) ist aquivalent zu

(x2 − x+ x− x1)f(x) ≤ (x2 − x)f(x1) + (x− x1)f(x2)

und damit zu

(x2 − x)(f(x)− f(x1)) ≤ (x− x1)(f(x2)− f(x)),

was wiederum zu (iv) aquivalent ist.

Damit ist der Satz vollstandig bewiesen. �

Satz 6.20 Es seien (a, b) ⊂ R ein Intervall und f : (a, b) → R eine zweimaldifferenzierbare Funktion. Dann gilt:

(i) f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ (a, b) ⇔ f ist konvex,

(ii) f ′′(x) > 0 fur alle x ∈ (a, b) ⇒ f ist strikt konvex.

Naturlich gelten entsprechende Aussagen fur konkave Funktionen.

Beweis. Gilt f ′′(x) ≥ 0 (bzw. > 0) fur alle x ∈ (a, b), so ist f ′ nach Satz 6.16(streng) monoton wachsend. Sind nun x, x1, x2 ∈ (a, b) mit x1 < x < x2 gegeben,so folgt aus dem Mittelwertsatz

f(x)− f(x1)

x− x1= f ′(ξ1) ≤ f ′(ξ2) =

f(x2)− f(x)

x2 − x

fur geeignete ξ1 ∈ (x1, x) und ξ2 ∈ (x, x2), wobei die Ungleichung im Fall f ′′ > 0strikt ist. Nach Lemma 6.19 ist f demnach (strikt) konvex.

Ist nun umgekehrt f als konvex vorausgesetzt, so folgt fur x1 < x2 aus Lemma6.19 (ii) und (iii)

f ′(x1) = limx→x1x>x1

f(x)− f(x1)

x− x1≤ f(x2)− f(x1)

x2 − x1≤ lim

x→x2x<x2

f(x)− f(x2)

x− x2= f ′(x2).

f ′ ist also monoton. Nach Satz 6.16 folgt hieraus aber f ′′ ≥ 0. �

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Beispiele.

1. Die Funktion f : R→ R, f(x) = x2 ist strikt konvex.

2. exp : R→ R ist strikt konvex.

3. log : (0,∞)→ R ist strikt konkav, denn log′′(x) = − 1x2< 0 fur alle x > 0.

Als Anwendung leiten wir nun einige Ungleichungen her, die fur viele Unter-suchungen in der Analysis von großer Bedeutung sind.

Satz 6.21 (Die Youngsche Ungleichung) Es seien p, q ∈ (1,∞) mit 1p

+ 1q

=1. Dann gilt fur alle a, b ≥ 0

ab ≤ ap

p+bq

q.

Beweis. Die Behauptung ist klar fur a = 0 oder b = 0. Gilt a, b 6= 0, so folgt ausder Konkavitat des Logarithmus

log(1

pap +

1

qbq)≥ 1

plog(ap) +

1

qlog(bq)

und hieraus, indem man auf beiden Seiten die Exponentialfunktion anwendet,

ap

p+bq

q≥ (ap)

1p (bq)

1q = ab.

Hieraus ergeben sich zwei grundlegende Ungleichungen fur Vektoren im Rn

(oder Cn) (also n-Tupel von reellen bzw. komplexen Zahlen). Zunachst fuhrenwir die folgende Notation ein.

Definition 6.22 Fur x = (x1, . . . , xn) ∈ Rn (oder Cn) und p ∈ [1,∞) definierenwir die p-Norm von x durch

‖x‖p :=

( n∑k=1

|xk|p) 1

p

.

Fur p =∞ setzt man

‖x‖∞ := max1≤k≤n

|xk| (:= max{|xk| : k = 1, . . . , n}).

Satz 6.23 (Die Holdersche Ungleichung) Es seien p, q ∈ [1,∞] mit 1p

+ 1q

=

1, wobei hier 1∞ = 0 zu lesen ist. Dann gilt fur x = (x1, . . . , xn), y = (y1, . . . , yn) ∈

Cnn∑k=1

|xkyk| ≤ ‖x‖p‖y‖q.

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Beweis. O.B.d.A. (d.h. ‘ohne Beschrankung der Allgemeinheit’) nehmen wir an,dass ‖x‖, ‖y‖ 6= 0 ist. (Anderenfalls ist x = 0 oder y = 0 und die Aussage trivial.)

1. Fall: p, q ∈ (1,∞). Indem wir fur k = 1, . . . , n die Youngsche Ungleichung

jeweils mit a = |xk|‖x‖p und b = |yk|

‖y‖q anwenden, ergibt sich

1

‖x‖p‖y‖q

n∑k=1

|xkyk| =n∑k=1

|xk|‖x‖p

· |yk|‖y‖q

≤n∑k=1

(|xk|p

p‖x‖pp+|yk|q

q‖y‖qq

)=

1

p+

1

q= 1.

Nach Multiplikation mit ‖x‖p‖y‖q folgt hieraus die Behauptung.

2. Fall: {p, q} = {1,∞}. O.B.d.A. sei p = 1 und q =∞. (Ansonsten vertauscheman die Rollen von p und q.) Es folgt

n∑k=1

|xkyk| ≤ max1≤k≤n

|yk|n∑k=1

|xk| = ‖y‖∞‖x‖1.

Bemerkung. Speziell fur p = 2 ergibt sich die Cauchy-Schwarzsche Ungleichungauf dem Rn (oder Cn): Das euklidische Skalarprodukt von x und y ist x · y :=∑n

k=1 xkyk (bzw.∑n

k=1 xkyk). Wegen |x · y| ≤∑n

k=1 |xkyk| folgt nun

|x · y| ≤ ‖x‖2‖y‖2.

Satz 6.24 (Die Minkowskische Ungleichung) Es sei p ∈ [1,∞]. Dann giltfur x = (x1, . . . , xn), y = (y1, . . . , yn) ∈ Cn

‖x+ y‖p ≤ ‖x‖p + ‖y‖p.(Hierbei bezeichnet x + y = (x1 + y1, . . . , xn + yn) die komponentenweise zubildende Vektorsumme von x und y.)

Beweis. 1. Fall: p ∈ (1,∞). Nach der Holderschen Ungleichung ist fur 1p

+ 1q

= 1,also q = p

p−1 ,

‖x+ y‖pp =n∑k=1

|xk + yk| · |xk + yk|p−1

≤n∑k=1

|xk| · |xk + yk|p−1 +∞∑k=1

|yk| · |xk + yk|p−1

≤ ‖x‖p( n∑

k=1

|xk + yk|(p−1)q) 1

q

+ ‖y‖p( n∑

k=1

|xk + yk|(p−1)q) 1

q

=(‖x‖p + ‖y‖p

)(( n∑k=1

|xk + yk|p) 1

p) p

q

=(‖x‖p + ‖y‖p

)‖x+ y‖p−1p .

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Division durch ‖x+ y‖p−1p ergibt die Behauptung

2. Fall: p = 1: Fur p = 1 folgt direkt aus der Dreiecksungleichung

‖x+ y‖1 =n∑k=1

|xk + yk| ≤n∑k=1

|xk|+n∑k=1

|yk| = ‖x‖1 + ‖y‖1.

3. Fall: p = ∞: Fur p = ∞ schließlich erhalt man die Behauptung, da mit|xk| ≤ ‖x‖∞ und |yk| ≤ ‖y‖∞ fur alle k auch |xk + yk| ≤ ‖x‖∞ + ‖y‖∞ fur alle kist. �

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Kapitel 7

Das Integral

In diesem Kapitel definieren wir das Integral∫ baf(x) dx fur geeignete Funktionen

f : [a, b]→ R und und untersuchen dessen wichtigste Eigenschaften. Das Integralmisst die (signierte) Flache zwischen Funktionsgraph und x-Achse. Heuristischerhalt man das Integral, indem man die Strecke [a, b] in unendlich viele unendlichfeine Intervalle [x, x+dx) aufteilt und die entsprechend unendlich vielen unendlichdunnen Rechtecke mit signierter Flache f(x) dx aufsummiert:

∫f(x) dx. Daher

auch das stilisierte S als Integrationszeichen. Unsere erste Aufgabe wird es sein,diese heuristischen Ideen in sinnvolle Mathematik zu uberfuren: Das geschieht inAbschnitt 7.1.

Der Integrationsbegriff ist von grundlegender Bedeutung fur die gesamte Ana-lysis und viele weitere Bereiche innerhalb der Mathematik und den Anwendungen.Vor allem der Zusammenhang zur Differentiation ist fundamental: Wir werdensehen, dass die Integration in gewisser Hinsicht eine zur Differentiation inverseOperation darstellt.

7.1 Definition des Integrals

Die Strategie zur Definition des Integrals ist die folgende: Zunachst betrachtenwir besonders einfache Funktionen, fur die man das Integral einfach hinschreibenkann. Dann verwenden wir einen Grenzprozess, um die Klasse der integrierbarenFunktionen soweit auszudehnen, dass sie fur all unsere Belange ausreicht undinsbesondere alle stetigen Funktionen beinhaltet. Fur diesen Grenzprozess gibtes in der mathematischen Literatur mehrere Ansatze, die zu Integralbegriffenunterschiedlicher Allgemeinheit fuhren. Wir werden hier vor allem das Riemann-Integral behandeln und spater noch kurz auf das sogenannte Regelintegral ein-gehen. Beide dieser Ansatze haben ihre Vorzuge und Nachteile, der Begriff desRiemann-Integrals ist aber wohl der anschaulichere. Das wesentlich allgemeinereLebesgue-Integral werden wir erst in der Analysis 3 behandeln.

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Das Integral fur Treppenfunktionen

Es sei [a, b] ⊂ R ein kompaktes Intervall.

Definition 7.1 Eine Funktion f : [a, b] → R heißt Treppenfunktion, wenn eseine Unterteilung a = x0 < x1 < . . . < xn = b derart gibt, dass f |(xi−1,xi) konstantist fur alle i = 1, . . . , n. Eine solche Unterteilung heiße f zugehorig. Die Mengeder Treppenfunktionen auf [a, b] wird mit T [a, b] bezeichnet.

(Sind M,N Mengen, f : M → N eine Abbildung und U ⊂ M , so bezeichnetf |U : U → N die Einschrankung von f auf U , die durch f |U(x) = f(x) fur x ∈ Ugegeben ist.)

Lemma 7.2 Sind f, g ∈ T [a, b] und λ ∈ R, so sind auch f + g und λf Treppen-funktionen.

Beweis. Es seien

Z : a = x0 < x1 < . . . < xn = b und Z ′ : a = x′0 < x′1 < . . . < x′m = b

Zerlegungen, so dass f auf allen (xi−1, xi) und g auf allen (x′j−1, x′j) konstant ist.

Die gemeinsame Verfeinerung von Z und Z ′ ist dann die Unterteilung

Z ′′ : a = x′′0 < x′′1 < . . . < x′′l = b

mit {x′′0, . . . , x′′l } = {x0, . . . , xn} ∪ {x′0, . . . , x′m}. Da f + g und λf auf allen Inter-vallen (x′′k−1, x

′′k) konstant sind, ergibt sich die Behauptung. �

Bemerkung. Da die Menge R[a,b] aller Abbildungen von [a, b] nach R ein Vek-torraum ist und offensichtlich 0 ∈ T [a, b] gilt, besagt dieses Lemma gerade, dassT [a, b] ein Vektorraum ist. Man spricht daher auch vom Raum der Treppenfunk-tionen auf [a, b].

Definition 7.3 Es sei f ∈ T [a, b] mit f(x) = ci fur x ∈ (xi−1, xi), i = 1, . . . , n,fur die f zugehorige Unterteilung a = x0 < x1 < . . . < xn = b. Das Integral vonf ist dann definiert durch∫ b

a

f(x) dx :=n∑i=1

ci(xi − xi−1).

Wir schreiben auch manchmal nur kurz∫ baf .

Wir mussen zeigen, dass dieser Begriff wohldefiniert ist, also nicht von der speziellgewahlten Zerlegung abhangt.

Beweis. Es seien

Z : a = x0 < x1 < . . . < xn = b und Z ′ : a = x′0 < x′1 < . . . < x′m = b

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zu f gehorige Zerlegungen, so dass f die Werte ci bzw. c′j auf den entsprechendenIntervallen annehme. Enthalt etwa Z ′ nur einen zusatzlichen Punkt x′, der imIntervall (xk−1, xk) liegt, so ist

m∑j=1

c′j(x′j − x′j−1)

=k−1∑i=1

ci(xi − xi−1) + ck(x′ − xk−1) + ck(xk − x′) +

n∑i=k+1

ci(xi − xi−1)

=n∑i=1

ci(xi − xi−1),

so dass diese Unterteilungen zum gleichen Integral fuhren. Daraus ergibt sichinduktiv der Fall, dass Z ′ eine Verfeinerung von Z ist, d.h., dass jeder Untertei-lungspunkt von Z auch einer von Z ′ ist, induktiv. Der allgemeine Fall folgt dann,indem man die Werte fur Z und Z ′ mit dem der gemeinsamen Verfeinerung Z ′′

vergleicht. �

Lemma 7.4 Das Integral ist linear und monoton auf T [a, b]:

(i) Fur f, g ∈ T [a, b], λ ∈ R gilt∫ b

a

f(x) + g(x) dx =

∫ b

a

f(x) dx+

∫ b

a

g(x) dx sowie∫ b

a

λf(x) dx = λ

∫ b

a

f(x) dx.

(ii) Fur f, g ∈ T [a, b] mit f ≤ g ist∫ b

a

f(x) dx ≤∫ b

a

g(x) dx.

Beweis. Indem wir ggf. zur gemeinsamen Verfeinerung ubergehen, durfen wiralle Integrale bezuglich einer sowohl zu f als auch zu g gehorigen Unterteilungangeben. Die Behauptungen sind dann klar. �

Das Riemann-Integral

Wir kommen nun zur wesentlichen Idee der Riemann-Integration: der Approxi-mation von oben und unten durch Treppenfunktionen.

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Definition 7.5 Ist f : [a, b] → R beschrankt, so definieren wir das Ober- undUnterintegral von f durch∫ ∗

f(x) dx := inf

{∫ b

a

ϕ(x) dx : ϕ ∈ T [a, b], ϕ ≥ f

}, bzw.∫

∗f(x) dx := sup

{∫ b

a

ϕ(x) dx : ϕ ∈ T [a, b], ϕ ≤ f

}.

Ist f selbst schon eine Treppenfunktion, so gilt naturlich∫ ∗f(x) dx =

∫∗f(x) dx =

∫ b

a

f(x) dx.

Des Weiteren ist offenbar fur jedes f∫∗f ≤

∫ ∗f und

∫∗f = −

∫ ∗(−f).

Lemma 7.6 Es seien f, g : [a, b]→ R beschrankt und λ ≥ 0. Dann gilt:

(i) Subadditivitat des Oberintegrals:∫ ∗(f + g) ≤

∫ ∗f +

∫ ∗g.

(ii) Superadditivitat des Unterintegrals:∫∗(f + g) ≥

∫∗f +

∫∗g.

(iii) Positive Homogenitat des Ober- und Unterintegrals:∫ ∗λf = λ

∫ ∗f und

∫∗λf = λ

∫∗f.

Beweis. (i) Es sei ε > 0. Wahle Treppenfunktionen ϕ, ψ mit ϕ ≥ f , ψ ≥ g und∫ ∗f ≥

∫ baϕ− ε

2sowie

∫ ∗g ≥

∫ baψ − ε

2. Nach Lemma 7.4 ist dann∫ ∗

(f + g) ≤∫ b

a

(ϕ+ ψ) =

∫ b

a

ϕ+

∫ b

a

ψ ≤∫ ∗

f +

∫ ∗g + ε.

Da ε beliebig war, folgt die Behauptung.(ii) Das folgt direkt aus (i) und

∫∗ f = −

∫ ∗(−f).

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(iii) Der Fall λ = 0 ist trivial, so dass wir λ > 0 annehmen. Zu ε > 0 wahle

eine Treppenfunktion ϕ mit ϕ ≥ f und∫ ∗f ≥

∫ baϕ− ε

λ. Da λf ≤ λϕ gilt, ergibt

sich ∫ ∗λf ≤

∫ b

a

λϕ = λ

∫ b

a

ϕ ≤ λ

(∫ ∗f +

ε

λ

)= λ

∫ ∗f + ε.

Wieder weil ε beliebig war, folgt daraus nun∫ ∗λf ≤ λ

∫ ∗f

und damit – angewendet auf λ−1 – auch

λ

∫ ∗f = λ

∫ ∗λ−1λf ≤ λλ−1

∫ ∗λf =

∫ ∗λf.

Die analoge Aussage fur Unterintegrale ergibt sich nun wieder durch Ubergangvon f zu −f . �

Definition 7.7 Eine beschrankte Funktion f : [a, b]→ R heißt (Riemann-)inte-grierbar, wenn ∫ ∗

f =

∫∗f

gilt. Ist f Riemann-integrierbar, so definiert man das (Riemann-)Integral von fdurch ∫ b

a

f :=

∫ b

a

f(x) dx :=

∫ ∗f(x) dx.

Die Menge der Riemann-integrierbaren Funktionen auf [a, b] bezeichnen wir mitR[a, b].

Naturlich kann man statt x auch andere Bezeichnungen fur die Integrationsva-riable benutzen, etwa

∫ baf =

∫ baf(t) dt =

∫ baf(y) dy . . .

Beachte, dass dieses Integral fur Treppenfunktionen mit dem zuvor definiertenIntegral ubereinstimmt.

Beispiel: Es seien a = 0, b = 1 und f(x) = x. Fur jedes n ∈ N sind die Funktio-nen ϕ, ψ mit

ψn(x) =1

nbnxc , ϕn(x) = ψn(x) +

1

n

Treppenfunktionen mit ψn ≤ f ≤ ϕn und Integralen∫ 1

0

ψn(x) dx =n−1∑i=0

i

n· 1

n=n− 1

2n,

∫ 1

0

ϕ(x) dx =

∫ 1

0

ψn(x) dx+1

n=n+ 1

2n.

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Daher ist fur alle n

n− 1

2n≤∫∗f(x) dx ≤

∫ ∗f(x) dx ≤ n+ 1

2n.

Mit n→∞ folgt f ∈ R[0, 1] und ∫ 1

0

x dx =1

2.

Direkt aus der Definition ergibt sich das folgende Kriterium.

Lemma 7.8 Eine Funktion f : [a, b] → R liegt genau dann in R[a, b], wenn eszu jedem ε > 0 Treppenfunktionen ψ, ϕ ∈ T [a, b] mit ψ ≤ f ≤ ϕ und∫ b

a

ϕ−∫ b

a

ψ ≤ ε

gibt.

Beweis. Klar. �

Integrierbare Funktionen

Satz 7.9 Die Menge der Riemann-integrierbaren Funktionen R[a, b] bildet einenVektorraum. Das Riemann-Integral ist eine monotone lineare Abbildung von R[a, b]nach R:

(i) Fur f, g ∈ R[a, b], λ ∈ R sind auch f + g und λf ∈ R[a, b] mit∫ b

a

f(x) + g(x) dx =

∫ b

a

f(x) dx+

∫ b

a

g(x) dx sowie∫ b

a

λf(x) dx = λ

∫ b

a

f(x) dx.

(ii) Fur f, g ∈ R[a, b] mit f ≤ g gilt∫ b

a

f(x) dx ≤∫ b

a

g(x) dx.

Beweis. (i) Die Additivitat folgt aus Lemma 7.6. Demnach ist∫ b

a

f +

∫ b

a

g ≤∫∗(f + g) ≤

∫ ∗(f + g) ≤

∫ b

a

f +

∫ b

a

g,

131

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so dass hier sogar Gleichheit gilt. Damit ist f + g integrierbar und das Integralist ∫ b

a

(f + g) =

∫ ∗(f + g) =

∫ b

a

f +

∫ b

a

g.

Die positive Homogenitat ergibt sich auch direkt aus Lemma 7.6. Dann gilt aberauch fur λ < 0∫

∗λf = −

∫ ∗(−λf) = λ

∫ ∗f = λ

∫ b

a

f = λ

∫∗f = −

∫∗(−λf) =

∫ ∗λf,

also λf ∈ R[a, b] mit∫ baλf = λ

∫ baf .

(ii) Fur jedes ϕ ∈ T [a, b] mit ϕ ≥ g ist auch ϕ ≥ f . Daher ist∫ b

a

f =

∫ ∗f ≤

∫ ∗g =

∫ b

a

g.

Des Weiteren erfullt R[a, b] die folgenden Eigenschaften.

Satz 7.10 Sind f, g ∈ R[a, b], so sind auch

(i) f+, f− ∈ R[a, b],

(ii) |f |α ∈ R[a, b] fur alle α > 0 und

(iii) fg ∈ R[a, b].

Hierbei bezeichnet f± die Funktionen

f+(x) =

{f(x), falls f(x) ≥ 0,

0, falls f(x) < 0und

f−(x) = (−f)+(x) =

{−f(x), falls f(x) ≤ 0,

0, falls f(x) > 0.

Beweis. (i) Fur jedes ε > 0 gibt es ϕ, ψ ∈ T [a, b] mit ψ ≤ f ≤ ϕ und∫ baϕ−∫ baψ <

ε. Dann aber sind auch ϕ± und ψ± Treppenfunktionen, die

ψ+ ≤ f+ ≤ ϕ+ und ϕ− ≤ f− ≤ ψ−

erfullen. Die Behauptung folgt dann aus Lemma 7.8 mit∫ b

a

ϕ+ −∫ b

a

ψ+ ≤∫ b

a

(ϕ− ψ) < ε,

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denn es ist ϕ+ − ψ+ ≤ ϕ− ψ, und∫ b

a

ψ− −∫ b

a

ϕ− ≤∫ b

a

(ϕ− ψ) < ε,

denn es ist ψ− − ϕ− = (−ψ)+ − (−ϕ)+ ≤ −ψ − (−ϕ) = ϕ− ψ.

(ii) Wir uberlegen uns zunachst, dass es zu jedem η > 0 und M > 0 eineKonstante C gibt, so dass

|yα − xα| ≤ η + C|y − x| ∀x, y ∈ [0,M ]

gilt. Dazu muss man nur beachten, dass es wegen der gleichmaßigen Stetigkeit derAbbildung t 7→ tα auf [0,M ] ein δ > 0 gibt, so dass |yα − xα| ≤ η fur |y − x| ≤ δgilt. Setzt man dann C = Mα

δ, so gilt diese Abschatzung fur alle x, y ∈ [0,M ].

Es sei ε > 0 beliebig. Setze M = max{|f(x)| : x ∈ [a, b]} und η = ε2(b−a) .

Wahle ϕ, ψ ∈ T [a, b] mit 0 ≤ ψ ≤ |f | ≤ ϕ ≤ M und∫ baϕ −

∫ baψ < ε

2C.

(Nach (i) ist |f | = f+ + f− ∈ R[a, b].) Dann sind einerseits ϕα, ψα ∈ T [a, b] mitψα ≤ |f |α ≤ ϕα. Andererseits gilt∫ b

a

ϕα −∫ b

a

ψα ≤∫ b

a

(η + C(ϕ− ψ)) =ε

2+ C

(∫ b

a

ϕ−∫ b

a

ψ

)< ε.

(iii) Dies folgt aus (ii) und fg = 14(|f + g|2 − |f − g|2). �

Als direkte Folgerung halten wir noch eine elementare aber wichtige Abschatzungfest.

Korollar 7.11 Ist f Riemann-integrierbar, so auch |f |. Dabei gilt∣∣∣∣ ∫ b

a

f(x) dx

∣∣∣∣ ≤ ∫ b

a

|f(x)| dx.

Beweis. Dies folgt direkt aus der Monotonie des Integrals und aus f,−f ≤ |f |. �In Abhangigkeit vom Integrationsbereich ergibt sich das folgende Lemma.

Lemma 7.12 Es sei a < b < c. Genau dann ist f ∈ R[a, c], wenn f |[a,b] ∈ R[a, b]und f |[b,c] ∈ R[b, c] ist. In diesem Falle gilt∫ c

a

f =

∫ b

a

f +

∫ c

b

f.

Beweis. Klar. �

Vereinbarungsgemaß setzen wir noch∫ a

b

f := −∫ b

a

f

fur a < b.Besonders wichtig ist es nun naturlich zu wissen, ob gegebene Funktionen

integrierbar sind. Der folgende Satz garantiert dies fur alle stetigen Funktionen.

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Satz 7.13 Jede stetige Funktion f : [a, b]→ R ist Riemann-integrierbar.

Wir zeigen hierzu ein auch fur sich genommen interessantes Lemma uber dieApproximierbarkeit von stetigen Funktionen durch Treppenfunktionen.

Lemma 7.14 Es sei f : [a, b] → R stetig. Zu jedem ε > 0 gibt es Treppenfunk-tionen ϕ, ψ ∈ T [a, b] mit ψ ≤ f ≤ ϕ und ϕ− ψ ≤ ε.

Beweis. Da f auf [a, b] gleichmaßig stetig ist, konnen wir zu gegebenem ε > 0 einδ > 0 finden, so dass |f(x) − f(y)| ≤ ε fur alle x, y ∈ [a, b] mit |x − y| ≤ δ ist.Es sei nun Z : a = x0 < x1 < . . . < xn = b eine Zerlegung mit max{xk − xk−1 :k = 1, . . . , n} < δ, z.B. die aquidistante Zerlegung mit xk = a + k

n(b − a) mit

xk−xk−1 = b−an

fur hinreichend große n. Wir definieren dann Treppenfunktionenψ, ϕ durch

ψ(x) = min{f(ξ) : ξ ∈ [xi−1, xi]}, ϕ(x) = max{f(ξ) : ξ ∈ [xi−1, xi]}fur x ∈ [xi−1, xi) und ψ(b) = ϕ(b) = f(b). Dann gilt ψ ≤ f ≤ ϕ und ϕ − ψ ≤ ε.

Beweis von Satz 7.13. Es sei f : [a, b] → R stetig. Zu jedem ε > 0 gibt es nachLemma 7.14 Treppenfunktionen ϕ, ψ ∈ T [a, b] mit ψ ≤ f ≤ ϕ und ϕ− ψ < ε

b−a .Dann aber ist auch ∫ b

a

ϕ−∫ b

a

ψ ≤∫ b

a

ε

b− adx = ε,

und die Behauptung folgt aus Lemma 7.8. �

Bemerkungen.1

1. Es gibt noch mehr integrierbare Abbildungen. Eine weitere Klasse ist dieder monotonen Funktionen: Jede monotone Funktion f : [a, b] → R istRiemann-integrierbar. (Ubung!)

2. Ohne Beweis und Relevanz fur unsere weiteren Untersuchungen geben wirnoch ein notwendig und hinreichendes Kriterium fur die Riemann-Integrier-barkeit an. Man nennt eine Teilmenge M ⊂ [a, b] eine Lebesguesche Null-menge, wenn es zu jedem ε > 0 eine Folge von Intervallen (ai, bi) gibt, dieM uberdecken, d.h.

M ⊂⋃

(ai, bi)

gilt, und die ∑i

(bi − ai) < ε

erfullen. (Solche Mengen sind also in gewissem Sinne sehr klein.) Man kanndann zeigen, dass eine beschrankte Funktion f : [a, b] → R genau dannRiemann-integrierbar ist, wenn sie außerhalb einer Lebesgueschen Nullmen-ge stetig ist.

1Die zweite Bemerkung wurde in der VL weggelassen.

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Riemannsche Summen

Ist f : [a, b]→ R eine Funktion,

Z : a = x0 < x1 < . . . < xn = b

eine Zerlegung von [a, b] und ξk ∈ [xk−1, xk], k = 1, . . . , n, so nennt man

n∑k=1

f(ξk)(xk − xk−1)

eine Riemannsche Summe. Man definiert die Feinheit von Z durch

ρ(Z) := max{xk − xk−1 : k = 1, . . . , n}.

In der Tat konvergieren Riemannsche Summen gegen das Integral von f , wenndie Feinheit der Zerlegung gegen 0 strebt:

Satz 7.15 Es sei f : [a, b] → R stetig. Dann gibt es zu jedem ε > 0 ein δ > 0,so dass fur jede Unterteilung Z : a = x0 < x1 < . . . < xn = b mit ρ(Z) ≤ δ undjede Wahl von Stutzstellen ξk ∈ [xk−1, xk], k = 1, . . . , n,∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(x) dx−n∑k=1

f(ξk)(xk − xk−1)

∣∣∣∣∣ < ε

gilt.

Bemerkung: Der Satz gilt sogar fur alle f ∈ R[a, b], was wir hier aber nichtbeweisen.

Beweis. Zu gegebenem ε > 0 definieren wir genau wie im Beweis von Lemma 7.14(nur mit ε

b−a an Stelle von ε) zu einer Zerlegung Z : a = x0 < x1 < . . . < xn = bmit ρ(Z) ≤ δ die Treppenfunktionen ψ und ϕ. Es ist dann einerseits∫ b

a

ψ ≤∫ b

a

f ≤∫ b

a

ϕ ≤∫ b

a

ψ + ε.

Andererseits ergibt sich wegen ψ(x) ≤ f(ξk) ≤ ϕ(x) fur x ∈ [xk−1, xk) auch∫ b

a

ψ ≤n∑i=1

f(ξi)(xi − xi−1) ≤∫ b

a

ϕ ≤∫ b

a

ψ + ε.

Hieraus folgt die Behauptung. �

Als Anwendung dieses Satzes konnen wir nun die Holder- und die Minkowski-Ungleichung vom Rn auf Funktionen ubertragen.

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Definition 7.16 Fur f ∈ R[a, b] und 1 ≤ p <∞ definiert man die p-Norm vonf durch

‖f‖p :=

(∫ b

a

|f(x)|p dx) 1

p

.

Satz 7.17 Es sei f : [a, b]→ R stetig.

(i) Holdersche Ungleichung: Fur p, q ∈ (1,∞) mit 1p

+ 1q

= 1 ist

‖fg‖1 ≤ ‖f‖p‖g‖q.

(ii) Minkowski-Ungleichung: Fur p ∈ [1,∞) ist

‖f + g‖p ≤ ‖f‖p + ‖g‖p.

Beweis. Wir zerlegen das Intervall [a, b] aquidistant in n ∈ N Strecken der Lange∆n = b−a

nund wahlen entsprechende Stutzstellen ξ1, . . . , ξn. Indem man die

Holdersche Ungleichung fur den Rn auf die Vektoren ∆1/pn (f(ξ1), . . . , f(ξn)) und

∆1/qn (g(ξ1), . . . , g(ξn)) anwendet, ergibt sich

n∑k=1

|f(ξk)g(ξk)|∆n ≤

(n∑k=1

|f(ξk)|p∆n

) 1p(

n∑k=1

|g(ξk)|q∆n

) 1q

.

Die hier auftretenden Summen sind nun Riemannsche Summen, so dass sich dieBehauptung (i) mit n→∞ ergibt.

Ahnlich sieht man mit der Minkowski-Ungleichung fur den Rn angewendetauf die Vektoren ∆

1/pn (f(ξ1), . . . , f(ξn)) und ∆

1/pn (g(ξ1), . . . , g(ξn))(

n∑i=1

|f(ξk) + g(ξk)|p∆n

) 1p

(n∑k=1

|f(ξk)|p∆n

) 1p

+

(n∑k=1

|g(ξk)|p∆n

) 1p

,

so dass sich im Limes n→∞ auch (ii) aus Satz 7.15 ergibt. �

Bemerkung: Auch dieser Satz gilt sogar auf R[a, b].

Integration vektorwertiger Funktionen

Die Integration vektorwertiger Funktionen f : [a, b] → Rn, insbesondere die In-tegration komplexwertiger Funktionen f : [a, b] → C kann ganz einfach auf dieIntegration reeller Funktionen zuruckgespielt werden, indem man das Integralkomponentenweise definiert:

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Definition 7.18 Eine Funktion f : [a, b] → Rn, x 7→ f(x) = (f1(x), . . . , fn(x))heißt Riemann-integrierbar, wenn jede Komponente fk : [a, b]→ R, k = 1, . . . , n,Riemann-integrierbar ist. Wir schreiben dann f ∈ R([a, b];Rn) und setzen∫ b

a

f(x) dx :=

(∫ b

a

f1(x) dx, . . . ,

∫ b

a

fn(x) dx

).

Fur eine komplexwertige Funktion f : [a, b] → C, x 7→ f(x) = u(x) + iv(x)mit u, v : [a, b]→ R erhalt man gemaß C ∼= R2, dass f Riemann-integrierbar ist(d.h. f ∈ R([a, b];C)), wenn u, v ∈ R[a, b] ist. Es ist dann∫ b

a

f(x) dx :=

∫ b

a

u(x) dx+ i

∫ b

a

v(x) dx.

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Literaturverzeichnis

[Br] Th. Brocker: Analysis I Spektrum Akademischer Verlag, 1995.

[Fo] O. Forster: Analysis 1. Vieweg + Teubner, Wiesbaden, 2011.

[He] H. Heuser: Lehrbuch der Analysis, Teil 1. Vieweg + Teubner, Wiesbaden,2009.

[Hi] S. Hildebrandt: Analysis 1. Springer, Berlin, 2006.

[Ko] K. Konigsberger: Analysis 1. Springer, Berlin, 2004.

[La] S. Lang: Undergraduate Analysis. Springer, New York, 1997.

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