Anarchie - Ausgabe 18-2015 des strassenfeger

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  • 7/17/2019 Anarchie - Ausgabe 18-2015 des strassenfeger

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    Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT r

    den_die Verkuer_in

    No. 18, Sepember 2015

    SIDODer sprich uns ausder Seele (Seie )

    BANKSYSubversiv &anarchisch (Seie )

    KTHE KRUSEMich beschigimmer die Wel(Seie )

    ANARCHIE

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    srasseneger | Nr. | Sepember | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraenzeiung srassenegerwird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V.herausgegeben. Das Grundprinzip des srassenegeris: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srassenegerwird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-senegerbiee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie knnen selbs enschei-den, wo und wann sie den srassenegeranbieen. Die Verkuer erhaleneinen Verkuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srassenegersoziale Projeke wie die Nobernachung und den sozialen TreffpunkKaffee Bankrot in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhl keine saaliche Unerszung.

    Liebe Leser_innen,sicher kennen viele von Ihnen die subversiven Graffitis des bri-tischen Streetart-Knstlers Banksy: Eines seiner berhmtestenWerke ist ganz sicher das Graffiti, das einen mit einem Hals-tuch vermummten Palstinenser zeigt, der einen bunten Blu-menstrau wirft. Gezeichnet hat Banksy dieses hochpolitische

    Graffiti auf eine Mauer in Bethlehem. Nun hat der geheimnis-umwobene Streetartist zu einem neuen Geniestreich ausgeholt:Auf dem Gelnde des frheren Freibads Tropicana im BadeortWeston-super-Mare an der englischen Westkste Grobritanni-ens gibt es seit kurzem einen ganz besonderen Vergngungs-park. Dismaland (Trostloses Land) ist eine sehr anarchis-tische Anspielung auf Disneyland. Banksy prsentiert dortmit vielen anderen Knstlern kritische Arbeiten zu Elitarismus,sozialen Sedierungsmechanismen sowie berwachungs- undFlchtlingspolitik (S 3ff). Bezahlbarer Wohnraum ist in Berlinmittlerweile schwer zu finden. Deshalb kmpft der Berliner Mie-tenvolksentscheid e.V. fr eine Umstrukturierung des Gesetzesber die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung inBerlin. Nun gibt es wohl eine Einigung mit dem Senat (S. 6f).Auerdem berichten unsere Autor_innen ber die Graswurzel-

    revolution (S. 9), den Hartz IV-Protest-Aktivisten Ralph Boes(S. 10), eine Falknerin aus Potsdam (S. 12f) und eine formidablePerformance von Andreas Dorau und Sven Regener beim Festi-val Pop-Kultur (S. 11)

    In der Rubrik art strassenfegerprsentiert Urszula Usakowska-Wolff Kthe Kruse. Gemeint ist nicht die Erfinderin der be-rhmten Spielzeugpuppe, sondern die anarchistische Knst-lerin, die Mitte der 80er Jahre Drummerin der Gruppe DieTdliche Doris (S. 16f) war. Aufmacher auf dem Cover derAusgabe ist der Rapper Sido. Er geht demnchst auf Tourneemit seinem aktuellen Album. Vorher hat er uns aber noch eintolles Interview gegeben (S.18f). Im Sportteil geht es diesmalum den 1. FC Union (S. 25) und die Nationalmannschaft derWohnungslosenfuballer auf ihrem Weg zur Weltmeisterschaftin Amsterdam (S. 26f).

    Viel Spa beim Lesen wnscht IhnenAndreas Dllick

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    ANARCHIEBanksy und sein Dismaland

    Mieenvolksenscheid und der Sena

    Was is eigenlich Anarchie?

    Die GraswurzelrevoluionHarz IV- Akivis Ralph Boes im Hungersreik

    Pop-Kulur: Andreas Dorau & Sven Regener

    Adler in der Hand und Eule au dem Dach

    Ordnung muss sein

    Anarchie in der DDR

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n f e g e rKhe Kruse: Ich langweile mich nie,

    denn mich beschfig immer die Wel

    P u n k t r i f f t P r o m iAnne-Lydia Mhle im Gesprch

    mi dem Rapper Sido

    B r e n n p u n k tMein Tag in der Bahnhosmission am Zoo

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    A k t u e l lRezension: Flaschensammler

    S p o r t. FC Union Berlin enlss Trainer

    Im Trainingslager der Obdachlosen-Fuballer

    s t r a s s e n f e g e r r a d i oARD will mehr Geld vom Gebhrenzahler

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rNeue Aushrungsvorschrifen Wohnen ()

    K o l u m n eAus meiner Schnupfabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    stras senfeger | Nr. | September ANARCHIE |

    Festival der Kunst, Unterhaltungund Einstieg in den AnarchismusBanksys Dismaland steckt voller subversiver AussagenB E R I C H T : P a u l S a n d l e / I N S P N e w s S e r v i c e w w w . I N S P . n g o / R e u t e r s | F O T O S : P e s t C o n t r o l L i m i t e d | B E R S E T Z U N G : V a n e s s a

    P h i l l i p s ( B e a r b e i t u n g d u r c h d i e R e d a k t i o n )

    Auf dem Gelnde des frheren FreibadsTropicana im Badeort Weston-su-per-Mare an der englischen WestksteGrobritanniens gibt es seit kurzem

    einen ganz besonderen Vergngungspark.Dismaland (Trostloses Land) heit das an-archistische Projekt und wer anders als derGraffiti-Knstler Banksy knnte dahinter ste-cken. Banksy bedient sich der Taktiken der Kom-munikationsguerilla, insbesondere was seine In-spirationsquellen betrifft und der Adbusters, umeine alternative Sichtweise auf politische undwirtschaftliche Themen zu bieten. Er verndertund modifiziert dabei oftmals bekannte Motiveund Bilder. Genauso ist Banksy auch diesmalvorgegangen: In Dismaland findet man einverfallenes Schloss, ein Karussellpferd, das auf-getischt werden soll, und auf einem kleinen Teich

    berfllte Flchtlingsboote. Der sogenannteVerwirrungspark oder auch Verdrusspark,nicht weit entfernt von Banksys HeimatstadtBristol, wird als die enttuschendste neue Besu-cherattraktion Grobritanniens bezeichnet; sieenthlt neben Banksys Arbeiten auch Werke 50anderer Knstler, darunter Damien Hirst. Dabeihandelt es sich um kritische Arbeiten zu Elita-rismus, sozialen Sedierungsmechanismen sowieberwachungs- und Flchtlingspolitik.

    Der Geheimniskrmer Banksy, berhmt fr seinesubversiven Wandmalereien, die an unerwarte-ten Orten auftauchen, behauptete, dass die Aus-stellung etwas anders als seine Straenkunst sei,die genauso beruhigend wei, spiebrgerlichund frauenfeindlich geworden ist wie alle andereKunst. Besucher knnen bei der Ausstellung,

    die in einem stillgelegten Freizeitbad stattfin-det, ein Souvenir Foto von sich erhalten. Etwaim Schloss der Cinderella als Kulisse, komplettmit verunglckter Prinzessin, in umgekippterMrchenkutsche, whrend mrrische Mitarbei-ter verdrielich Ballons herum tragen, auf denenIch bin ein Volltrottel steht.

    F e s t i v a l d e r K u n s t , U n t e r h a l t u n gu n d E i n s t i e g i n d e n A n a r c h i s m u s Banksy, dessen Identitt nie preisgeben wurde,beschrieb die Ausstellung als Festival der Kunst,Unterhaltung und Einstieg in den Anarchismus.Diese Ausstellung ist nicht als Kritik an Disneygedacht, versicherte er der Presse. Ich habealle Mickey Mouse-Abbildungen am Gelndeverboten. Die besten Knstler, die ich mir vor-stellen kann, stellen hier ihre Werke aus,

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    auer den beiden, die es ablehnten mit-zumachen. Das Gelnde erinnert aber starkan Disneyland, wenngleich es voller subversive

    Aussagen des Knstlers steckt, sozialkritischeKommentare zur westlichen Kultur, zu den Me-dien, zum Kapitalismus und zu den extremenUnterschieden zwischen Arm und Reich. EineRentnerin, ganz wie sie sein soll, die von Mwengrausam umzingelt wird, ist eine Anspielung aufdie angsterfllten Berichte in den Medien, dassVgel heuer so angriffslustig geworden wren.Das Karussellpferd, aus dem alsbald Lasagnewird, ist wiederum ein Hinweis auf den Skan-dal, der durch das Auffinden von Pferdefleisch inFertigspeisen in Supermrkten ausgelst wurde.

    E s s c h a d e t n i c h t s , p r o v o z i e r e n d eF r a g e n z u s t e l l e n Banksys Schablonen-Graffiti, die von Londonbis New York, sowie auch im Westjordanlandund Gaza-Streifen auftauchten, werden von der

    Kunstszene, die sie einst verspotteten, heutzu-tage hoch geschtzt. Sammler, zu denen Pop-sngerin Christina Aguilera und Schauspieler

    Brad Pitt gehren, haben bis zu 500 000 Dollarfr seine Werke bezahlt. Behrden, die routi-nemig vor zehn Jahren noch seine Graffitisbertnchen lieen, erkennen jetzt ihren Wert.Die zustndige Behrde, das North SomersetCouncil, sagt, es untersttze das Projekt Dis-maland vorbehaltslos. Man hat den Erfolg ei-ner Show im nahegelegenen Bristol, die mehrals 300 000 Fans aus aller Welt im Jahr 2009anzog, nicht vergessen. Wir sind berglck-lich, den grten Besuchermagneten der heu-tigen Kunstszene hier bei uns zu haben, sagteNigel Ashton von der Regionalverwaltung beieiner Pressekonferenz. Ashton, der politisch zuEnglands regierenden Konservativen zhlt, liesich nicht von jeweiligen antiautoritren The-men abschrecken. Es schadet nichts, provozie-rende Fragen zu stellen, sagte er.

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    Hereinspazier, hereinspazier!Der Themenpark Dismaland des Sree-Ar-KnslersBanksy ha jede Menge Versrendes und Subversiv-

    Anarchisisches zu bieen!

    stras senfeger | Nr. | September ANARCHIE |

    INFO

    Die Aussellung Dismaland in Weson-super-Mare is noch bis 27. Sepember jeden Tag geff-ne. Der Einrit in den Banksy-Themenpark kosedrei Pund (4,20 Euro).

    www.dismaland.co.uk

    T h e m e n p a r k s s o l l t e ng r e r e T h e m e n h a b e n Banksy, von dem man glaubt, dass er in Bristol auf-gewachsen sei und anfing, Gebude in den frhen90iger Jahren zu verschnern, konnte bei derPresse Einfhrung nicht offiziell in Erscheinungtreten. Dennoch wurde seine Auffassung von derAusstellung bekannt gegeben: Es ist ein The-menpark, dessen groes Thema ist: Themenparkssollten grere Themen haben. Die Mitarbeiteram Gelnde, die eine Kombination aus MickeyMouse hnlichen Ohren, aufflliger Bekleidungund gelangweilter Mienen tragen, waren kurz an-gebunden, als man sie auf den geheimnisvollenKnstler anzusprechen versuchte. Willkommenin Dismaland und Viel Vergngen! war alles,was man aus ihnen herausbekommen konnte,whrend sie miteinander wetteiferten, wer denn

    wohl von ihnen das unehrlichste Lcheln aufbrin-

    gen konnte. Obwohl nun nicht gerade Paradiesauf Erden, so hat Dismaland doch fr Begeis-terung in der Ferienstadt gesorgt, nah und fernwaren Banksy-Anhnger gespannt. Die ganzeWoche war ich schon so neugierig, sagte DanaWinestone, 21, die in einem Caf am Strand ar-beitet. Ich freue mich so darauf, es wird die besteAusstellung weit und breit!

    Dismaland ist brigens Banksys bislang gr-tes Projekt. Laut BBC wussten nur vier Mitgliederdes Stadtrates von Weston-super-Mare davon.

    Whrend der sechswchigen Ausstellung wirdes auch ein musikalisches Programm mit Auftrit-ten von Run The Jewels, Pussy Riot, Mas-sive Attack, Kate Tempest sowie den SleafordMods geben.

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    Tropfen auf den

    heien SteinDie Brgerinitiative Berliner Mietenvolksentscheid e.V.und der Senat stehen vor einer Einigung aber wemhilft sie wirklich?B E R I C H T : L e o n i e K a r n o w s k y

    Bezahlbarer Wohnraum ist in Berlin mittlerweileschwer zu finden. Und wenn man ihn findet, ste-hen bei der Wohnungsbesichtigung oft unzhlige

    andere Interessenten mit einem in der Schlange,denn sie alle wollen in eine der rund 1,6 Millionen

    Mietwohnungen in Berlin einziehen. Von diesen Wohnungensind 300 000 im Besitz landeseigener Wohngesellschaften,140 000 zhlen zum gefrderten sozialen Wohnungsbau. Seit1990 wurden 220 000 Wohnungen privatisiert, die Mietensind durchschnittlich um 46 Prozent gestiegen. Viele Objektesind auch gnzlich vom Mietmarkt verschwunden: Circa10 000 Mietwohnungen wurden in den letzten Jahren zu Ei-gentums- oder Ferienwohnungen umgewandelt, die unerlaub-terweise zu horrenden Preisen an Touristen vermietet werden.Wie soll man da noch eine Wohnung finden, deren Finanzie-rung sich mit dem monatlichen Gehalt vereinbaren lsst?

    Gesetz ber die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumver-

    sorgung in Berlin so lautet die offizielle Bezeichnung derRichtlinien, die der Berliner Mietenvolksentscheid e.V. um-strukturiert sehen mchte. Fr den geplanten Volksentscheidzur Schaffung von ausreichendem preiswerten Wohnraumwill die Initiative bis 2016 eigentlich 175 000 Unterschriftensammeln, wobei nach den aktuellen Gesprchen unklar ist,ob besagter Volksentscheid berhaupt stattfinden muss. MitteAugust wurde ein Kompromisspapier der Brgerinitiativeund dem Senat vorgestellt, in welchem konkrete Schritte fest-gelegt wurden, wie das Berliner Wohnraumversorgungsgesetzneu ausgerichtet werden knnte. Vorzeitig absagen mchtedie Initiative den Volksentscheid trotzdem nicht, dies soll erstgeschehen, wenn das Gesetz wie geplant im November ver-abschiedet wird. Aber was genau ist geplant? Eine der neuenFestlegungen des Gesetzes besagt, dass die Nettokaltmieteeiner Sozialwohnung 30 Prozent des Nettoeinkommens desMieters nicht berschreiten darf. Ist die Miete trotzdem h-her, wird der Differenzbetrag vom Land bernommen.

    Ein Problem hierbei ist, dass hufig nicht die Miete an sich dasProblem ist, sondern die Nebenkosten Verursacher finanziel-ler Schwierigkeiten sind. Gerade im sozialen Wohnungsbau

    fallen oft hohe Betriebskosten fr Aufzge an, die anteilig anjede Mieterpartei weitergegeben werden. Fr den Fall, dassdie Nebenkosten auergewhnlich hoch sein sollten, soll lautSenat auch die staatliche Mietfrderung hher ausfallen kn-nen. Aber nicht nur bei der Kostenfrage soll es klare Grenzengeben, sondern auch bei der Frage nach der angemessenenWohnraumgre sie soll ebenfalls neu verhandelt werden.Fr ALG II-Bezieher betrgt sie momentan 45m fr eine Per-son und 60 m fr zwei Personen. Jede weitere in der Woh-nung lebende Person hat Anspruch auf 15m.

    Weiter wurde beschlossen, dass 55 Prozent der frei werden-den landeseigenen Wohnungen an Wohnberechtigungsschein-Inhaber verteilt werden sollen, nachdem bisher ungefhr dieHlfte aller Berliner Sozialwohnungen fr Geringverdiener

    reserviert war. Einen Wohnberechtigungsschein erhlt jederAntragsteller, dessen Jahreseinkommen nicht ber 16 800 (Einzelperson) bzw. 25 200 (Zweipersonenhaushalt) liegt.

    Auch wenn das Annhern von Senat und Brgerinitiativewohl einige positive Ergebnisse bringen wird, zeigen sichnicht alle begeistert von der Mieten-Einigung. Ein groerKritikpunkt ist, dass sich das Gesetz ausschlielich auf densozialen Wohnungsbau konzentriert. Andere Mieter ha-ben dadurch zwar keinen Nachteil, aber ihnen wird auchnicht geholfen. Wohnraum ist extrem teuer geworden unddie Einkommensgrenze fr den Erhalt eines Wohnberechti-gungsscheines klar geregelt. Verdient man nur 100 mehrim Jahr, als es die Grenze erlaubt (auf den Monat gerechnetsind das circa 8,30 mehr), hat man keinen Anspruch aufeinen WBS. Eine mehr oder weniger fiktive (und deshalbnicht unbedingt reprsentative) berlegung: Ich mchteumziehen und sehe mich im Internet auf einem bekannten

    Andrej Holm, Sozial-wissenschafler an derHumbold-Universi(Quelle: Archiv srasseneger)

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    Wohnungsinserat-Portal um. Ich finde zwei Wohnungen imWedding, beide liegen in derselben Strae, haben die gleicheWohnflche von 43m und auch den gleichen Standard. Bei

    einer Wohnung betrgt die Kaltmiete monatlich 300 . Und:Ich darf nur einziehen, wenn ich einen WBS habe. Die an-dere Wohnung kostet 390 kalt. Die quasi gleiche Wohnungmit der gleichen Gre in der gleichen Strae kostet alsofr Leute, die keinen Wohnberechtigungsschein haben, circa90 mehr. Und das, obwohl sie vielleicht nur knapp an derGrenze zum Scheinerhalt stehen und umgerechnet nur achtEuro mehr im Monat haben. Acht Euro stellen aber bei derWohnungssuche keinen nennenswerten Betrag dar, weshalbeinige verrgert sind, dass bei der Mieten-Einigung lediglichdas soziale Wohnen ein Thema darstellt. Schwierig ist hier-bei nmlich auch: Wer einmal eine Sozialwohnung bezieht,fr die man keinen Berechtigungsschein bentigt, kanndarin wohnen, solange er mchte, denn nach Einzug wirdnicht mehr kontrolliert, ob der Mieter hinsichtlich seines

    Einkommens Anspruch auf eine subventionierte Wohnunghat. Durch die fehlenden Kontrollen mangelt es an freienWohnungen, weshalb sich auch auf Schaffung und Neubauweiterer Sozialwohnungen konzentriert werden soll.

    Was Luxussanierungen angeht, kme es vielen Mietern ent-gegen, wenn hier wenigstens teilweise ein Riegel vorge-schoben werden knnte. Zumindest bei landeseigenen Woh-nungen soll dies nun umgesetzt werden: Statt wie bisher elfProzent soll der Vermieter knftig nur noch neun Prozentder Sanierungskosten auf den Mieter umlegen knnen. Al-lerdings: Dort, wo hohe Mieten in Aussicht stehen, wird dersoziale Wohnungsbau zur Verdrngungsfalle fr die Armen,erklrt Andrej Holm, Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universitt. Das Problem in Berlin ist aber noch grer: Werseine Wohnung verlassen muss, findet einfach keine preiswer-ten Alternativen, denn selbst in den Grosiedlungen am Stadt-rand sind die Mieten fr Geringverdiener meist zu teuer.

    Probleme mit der Finanzierung der Miete haben unter ande-rem auch Flchtlinge und Obdachlose. Im neuen Wohnraum-versorgungsgesetz soll deshalb festgelegt sein, dass jede fnftefrei werdende Sozialwohnung an sie gehen soll. Als problema-tisch knnte sich hierbei erweisen, dass auch sie dann einenWohnberechtigungsschein brauchen. Um diesen beantragenzu knnen, muss man jedoch eine Vielzahl an Dokumenteneinreichen, unter anderem eine Einkommenserklrung sowieein Ausweisdokument. Einige Obdachlose knnten schon andiesem ersten Schritt der Antragstellung scheitern: Oft besit-zen sie keinen Personalausweis mehr, weil sie ihn verloren ha-ben oder er abgelaufen ist. Einen neuen zu beantragen kostetGeld, das sie nicht haben. Wirft man den Menschen eventuellgar Steine in den Weg, indem man ihnen etwas anbietet, wofr

    sie die Grundbedingungen nicht erfllen knnen?

    Zudem ist diese Regelung fr Holm ein hinter Zahlen ver-steckter Tropfen auf den heien Stein, denn: In den letztenJahren sind bei allen Wohnungsbaugesellschaften zusammennicht einmal 8 000 Wohnungen neu vermietet worden. Daswren also 4 400 WBS-Vermietungen und gerade mal 880Wohnungen fr Obdachlose und Flchtlinge. Pro Monat undBezirk wren dies also ganze sechs Wohnungen, die verge-ben werden knnten. Das fhlt sich ein bisschen nach Kind-heitserinnerungen an, aber nicht nach den guten: Der groeBruder hlt der kleinen Schwester etwas vor die Nase, umes dann hoch ber ihren Kopf zu halten, wo die Kleine esnicht erreichen kann. Laut Holm gebe es zwar eine Reihe vonvernnftigen Vorschlgen im Gesetzentwurf. Und trotzdem:Wie auch die bisherige Wohnungspolitik in Berlin ist auchder neue Gesetzvorschlag blind fr die sozial Benachteiligtenund Ausgegrenzten.

    Al und neu billig und euer(Foo: Andreas Dllick VG Bild-Kuns)

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    Was ist Anarchie?ber den Begriff Anarchie und die gesellschaftliche AnarchieB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    D

    ie Anarchie wird in den meisten Medien meis-tens mit Chaos verbunden, weil weder Staatnoch institutionelle Macht vorhanden ist. Siewird daher von den meisten Menschen abge-lehnt. Eine Meinung, die hufig einfach ohne

    Nachdenken bernommen wird, was man daran sieht, dassviele auf genaue Nachfrage hin den Begriff nicht wirklich er-klren knnen. Dieser Artikel soll aufzeigen, was es mit demBegriff auf sich hat. Am Beispiel des Anarchismus wird ge-zeigt, wie er politisch verwendet wird.

    B e g r i f f s k l r u n g u n d p o l i t i s c h e A n w e n d u n gBesonders in der Linken Szene hrt man sehr viel ber denBegriff der Anarchie. Der Begriff lsst sich eigentlich sehreinfach erklren: Grundstzlich handelt es sich bei dem Be-griff Anarchie um eine Verneinung. Es geht um die Ablehnungvon Herrschaft und repressiver Macht. Es gibt mehrere ge-sellschaftliche Modelle der Anarchie: Gelufige und bekanntesind die Sozialanthropologie und die politische Anthropolo-gie. Es gibt auch den Anarchismus, in dem Anarchie als politi-sche Utopie entwickelt und umzusetzen versucht wird.

    D a s M o d e l l d e s A n a r c h i s m u sWichtig ist wie bei allen politischen Entwrfen auch beim An-archismus, dass keine Herrschaft vorhanden ist, die als repres-siver Modus von Macht verstanden werden kann. Freiwilligangenommene Autoritten wie Lehrer, Trainer oder Beratersind in der Anarchie akzeptabel, wenn sie nicht in irgendeinerArt und Weise aufgezwungen sind. Das Wesentliche einer An-archie ist, dass keine Zentralgewalt vorhanden ist, also keinStaat und auch keine dadurch vorhandenen Institutionen, dieDruck ausben und den Brgern repressiv begegnen knnen.Normen und Regeln sind einer Anarchie ebenfalls nicht fremd,besonders wenn sie dazu dienen, die Entstehung von Herr-schaft und damit Machtkonzentrationen zu verhindern, die dieBrger in ihrer Freiheit beschrnken und damit in ihrer Entfal-

    tung und Selbstverwirklichung behindern. Immanuel Kant de-finierte daher Anarchie als Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.

    F r e i h e i t a l s G r u n d p r i n z i p d e r A n a r c h i eAlle Menschen sollen in dieser Gesellschaftsform frei undgleich sein. Anarchie bedeutet, dass jeder Mensch sich ohneunterdrckende Autoritten und in freier Assoziation mit an-deren Menschen entfalten kann. Diese Gesellschaftsform sollhierarchie-, zwangs- und gewaltfrei sein. Jeder soll fr sichselbst und in Kooperation mit anderen Verantwortung ber-nehmen, ohne von irgendeiner Zentralgewalt gelenkt oder be-stimmt zu werden. Da es keine Fhrungsschicht gibt, knnenBestrafungen in der Regel auch nur erfolgen, wenn vorher ver-einbarte Regeln verletzt werden. Der Ausschluss aus der kom-munalen Kommune knnte dabei die weitreichendste Konse-quenz sein. Die Anarchisten wollen sich die Gesellschaft selbstregeln lassen, zum Beispiel ber Rte, freie bereinknfteund funktionelle Entscheidungen, die von der Gemeinschaft

    in freier Abstimmung bestimmt und in Kraft gesetzt werden.Pierre Joseph Proudhon, der erste Vertreter des solidarischenAnarchismus, sagte: Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft.

    A n w e n d u n g d e r A n a r c h i ei n d e r h e u t i g e n G e s e l l s c h a f tAnarchie findet in unser Gesellschaft, wenn berhaupt, nurin Nischen statt, die fr sich den Anspruch stellen, fr Men-schen da zu sein, die am Rande der Gesellschaft stehen, woder Anspruch besteht miteinander zu agieren und sich aufAugenhhe zu befinden, ohne die oft ein gemeinsames Agie-ren bei Menschen und dem Klientel, der dort verkehrt nicht

    mglich ist, weil diese sich aufgrund ihrer Lebensgeschichtesonst zurckziehen wrden.

    Als Beispiel mchte ich den Verein Unter Druck e. V. - Kulturvon der Strae nennen. Auf einer gemeinsamen Versammlunglegen alle Besucher die Regeln fest, unter denen der gesamteTreff funktionieren soll. Probleme werden dort im gemeinsa-men Gesprch auf Augenhhe besprochen und nach Lsungengesucht. Niemand trifft dort allein die Entscheidungen.

    Bei Unter Druck e. V. sind also durchaus anarchistische Teileim Vereinsleben vorhanden, auf deren Einhaltung auch austraditionellen Grnden groen Wert gelegt wird. Die tglichePraxis im Verein zeigt, dass bei Disziplin der Beteiligten Anar-chie durchaus funktionieren kann, wenn die Gruppe in sich denWillen trgt, es zu praktizieren und Wert darauf legt. Genau dasist ja die Strke des Vereins: Eine Nische fr Leute am Randeder Gesellschaft zu sein, auch durch ihre Organisationsform.

    Pierre Joseph Proudhon (1809-65) und seine Kinder (Gusave Courbe, l au Leinwand, 1865)

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    Von einem lebendigen Haus, roterFarbe, Paraden, jungen Menschenund einer seltsamen ZeitschriftMeine Begegnung mit der GraswurzelrevolutionB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    A

    uf den Geschmack gekommen: Wirsitzen auf dem Boden im Kreis und un-terhalten uns. Es gibt viel zu erzhlen.Erfahrungsberichte von Aktionen und

    von Demos, Aktionen anderer Gruppen, Vorbe-reitung zuknftiger Aktionen. Zwei Frauen be-treten den Raum und busseln vor sich hin. Sielassen sich von uns nicht stren, und es scheint,auer mir nimmt niemand aus der Runde Notizvon ihnen. Als wir mit dem Plenum durch sind,spreche ich sie an. Ich bin notorisch neugierig.Sie kochen sich etwas zu Essen. Ich blicke inden Topf. Mir wrde Geschmack fehlen. KeinFleisch, keine Wurst. Am Wochenende wurdeich zu einem leckeren Auflauf eingeladen. VielGemse und eine Decke aus verlaufenem Kse.Der Koch erzhlte uns von Veganern, die vl-lig auf tierisches Eiwei verzichten, und denLaktovegetariern er selbst ist auch einer , dieMilchprodukte in Maen essen. Ich erinnerte

    mich da an einen Mitstreiter der kogruppe derOstberliner Samaritergemeinde Friedrichshain,der auf ein Seminar in Wittenberg eingeladenund sauer ber das Essen war: Es gab nur Gerste.

    D a s M a r t i n - N i e m l l e r - H a u sa l s l e b e n d i g e r O r tIch war schon einige Male in dem unscheinbarenHaus. Mit der U-Bahn bis Dahlem-Dorf, dannlinks zu einer Landgaststtte, dann rechts auf derlinken Seite an der Friedhofsmauer vorbei. Dannkommt das unscheinbare Haus. Von der Straeaus wirkt es kleiner, als es wirklich ist. Hoch-parterre ein groes Zimmer, fast schon Saal,Parkettfuboden. Ich bin von einer jungen Frau

    eingeladen worden, die mich von Veranstaltun-gen der unabhngigen Friedensbewegung in Ost-berlin kannte. Sie hatte sich in einen Studentender Freien Universitt verliebt und ist etwa zurgleichen Zeit wie ich von Ost- nach Westberlinbergesiedelt: Komme mal am in das Mar-tin-Niemller-Haus. Tolle Leute. Der TheologeMartin Niemller war mir damals ein Begriff,und das nach ihm benannte Haus kannte ich ausden Anzeigen fr die Beratung fr Wehrdienst-verweigerer in der taz. Dort teilten sich einigeGruppen die Rume im Erdgeschoss. Zum Bei-spiel der Republikanische Anwaltwaltverein.

    A n a r c h i s t e n e r k l r e n i h r e W e l tBeim zweiten Plenum wurden wir ber dasSelbstverstndnis der Gruppe aufgeklrt: KeinChef, libertr (was auch immer damit gemeint

    war), gewaltfrei, aber grenzbertretend, anar-chistisch. Das mit dem gewaltfreien Widerstandkannte ich von den unabhngigen Gruppen inder DDR. Aber anarchisch? Kein Chef. Auchdas kannte ich von einigen Gruppen jenseitsder Mauer. Und Ablehnung des Staates. Damuss ich sagen, dass ich in Ostberlin und in derDDR erfahren hatte, wie sinnvoll es sein kann,die staatliche Obrigkeit an die Versprechungenzu erinnern. Die Funktionre kamen immer

    ins Schwitzen, wenn die Friedensgruppen vonder DDR als Friedensstaat sprachen. Dass dasnicht in einer offenen Gesellschaft funktioniert,habe ich schnell gelernt. Beim zweiten Plenumtauchte zum ersten Mal das Wort auf: Graswur-zelrevolution. Steht fr Umwlzung von unten,von der Wurzel. Grenzbertretung muss nichtPlatzbesetzung oder Blockade heien. Ein Stu-dent erzhlte von einer Anzeige wegen Sachbe-schdigung. Er hatte sich in eine Messe der Rs-tungsindustrie eingeladen und auf einen Standrote Farbe als Blut verspritzt.

    G r a s w u r z e l r e v o l u t i o nBei einem Plenum kurz vor einer groen Demobrachte eine junge Frau einen Stapel Zeitungenmit. Ganz gro der Titel: Graswurzelrevolution.Geliefert aus Gttingen, Auflage 5 000. Inzwi-

    schen kommt die Zeitung mit geringerer Auflageaus Mnster. Ich konnte mit den Beitrgen herz-lich wenig anfangen. Bei der Demo haben einigeLeute versucht, ihr Blatt an die Frau und den Mannzu bringen, ein mhsames Geschft. Gefhlte Mil-lionen Grppchen verteilten ihre Flugbltter. Sorecht sprach mich kein Text an. Kopfgeburten.

    Der Zwang zur Selbstdarstellung der Gruppenund Grppchen hat die Friedensbewegung in

    Westberlin eher geschwcht, denn gestrkt. DieGraswurzler konnten sich dem nicht entziehen.Die gut organisierten Kader der SozialistischenEinheitspartei Westberlins hatten so leichtesSpiel, die FRIKO zu dominieren.

    N a c h f r a g e : W e r g e f h r d e t w i r k l i c hd e n S t a a t ?Einigermaen berrascht war ich, als ich vonder berwachung durch den Verfassungsschutzhrte. Wikipedia besttigt das. Die Akribie mitder linke Gruppen beobachtet wurden und wer-den, ist ein Grund fr das Versagen der Schtzerbei rechter Gewalt wie des Neonazi-Trios Mund-los, Bhnhardt, Zschpe.

    Die berwachung kritischer, aber letztendlichharmloser Menschen war mir nicht neu. Stasi.

    Anarchisische Medien (Quelle: Reclus/Wikimedia CC0)

  • 7/17/2019 Anarchie - Ausgabe 18-2015 des strassenfeger

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    stras senfeger | N r. | September | ANARCHIE

    Es ist Unsinn, michals Sozialschmarotzer

    zu bezeichnenRalph Boes befindet sich seit dem 1. Juliim SanktionshungerB E R I C H T : L e o n i e K a r n o w s k y ( P r a k t i k a nt i n )

    R

    alph Boes hat Philosophie und Geisteswissen-schaften studiert, ist ausgebildeter Ergothera-peut, hat lange in der Krankenpflege gearbeitetund war zuletzt Manager einer Seniorenresi-

    denz, erzhlt er. Mittlerweile ist es sein Job, ge-gen Hartz IV und fr ein bedingungsloses Grundeinkommenzu kmpfen. Seit einigen Wochen ist er von Mittwoch bisSonntag von 19 bis 22 Uhr am Pariser Platz vor dem Branden-burger Tor anzutreffen, jedoch nicht bei Regen und Sturmund nur, solange es sein Zustand noch zulsst. Denn Ralphhat seit zwei Monaten nichts gegessen, aber nicht, weil ernicht wolle, sondern weil er von den Hartz IV-Gesetzen dazugezwungen werde, weswegen er sich nun im Sanktionshun-ger befinde und schon ber 13 Kilogramm abgenommenhabe. Ganz unschuldig ist er an seiner Situation aber nicht:Er hat bewusst wiederholt Sanktionen durch das Jobcenterprovoziert, um darauf aufmerksam zu machen, dass durchdie Hartz IV-Gesetze Menschenrechte und die Verfassung au-er Kraft gesetzt sind und mchte dagegen vor dem Bundes-

    verfassungsgericht in Karlsruhe klagen.

    Er selbst sei seit 2007 Hartz IV-berechtigt, erhalte aber auf-grund von Sanktionen seit drei Jahren kein Geld mehr. Des-halb bezeichnet er sich heute nicht mehr als Hartz IV-Bezie-her, sondern als Betroffener. Arbeiten wrde er dennochseit Jahren ehrenamtlich in Vollzeit, was momentan vorallem daraus bestehe, E-Mails und Telefonate zu beantwor-ten, Webseiten zu pflegen und den Dialog mit Freunden undUntersttzern aufrecht zu erhalten. Und zu hungern, natr-lich. Denn bei einer 100prozentigen Sanktion wird das Geldkomplett gestrichen, lediglich Lebensmittelgutscheine knneman beantragen. Bedeutet das, das Amt wrde einen gar nichtwirklich verhungern lassen, wenn man komplett sanktioniertist, so wie Ralph es darstellen mchte? Das nicht, rumt erein, man muss dann allerdings damit leben, dass Beantra-gung und Einlsung der Lebensmittelgutscheine im hchstenMa entwrdigend sind.

    Oft erhalte er vom Jobcenter Angebote, in Callcentern zuarbeiten, die er selbstverstndlich nicht annehmen will, vorallem nicht jetzt. Denn er habe sich zur Aufgabe gemacht,das Sozialsystem wieder in den Rahmen des Grundgeset-

    zes und der Menschenwrde einzugliedern damit sei ervoll beschftigt und habe fr derartige Arbeit keine Zeit.Nebenbei kmpft er nmlich auch fr die Einfhrung desbedingungslosen Grundeinkommens von 1 000 . Auf dieFrage, ob dann berhaupt noch jemand arbeiten gehenwrde, antwortet er: Dass noch jemand arbeiten geht, wredann Aufgabe der Arbeitgeber, sie mssten Angebote ma-chen, durch die man Lust zum Arbeiten hat. Whrend heuteim Niedriglohnsektor alles Geld, das man verdient, fr dieDeckung der Grundbedrfnisse draufgeht, htte man danndas hinzuverdiente Geld komplett zur freien Verfgung.Auerdem knnten die Ttigkeiten, von denen man heuteabgehalten wird, endlich aufgegriffen werden. Heute ist es javerboten, ber eine bestimmte Stundenanzahl hinaus ehren-amtlich ttig zu sein. Man wird eher in sinnlose Manahmen

    gesteckt, als sich zum Beispiel um pflegebedrftige Angeh-rige kmmern zu knnen.

    Man knne natrlich einerseits froh sein, dass Deutschland einsoziales System hat, andererseits frage man sich als Hartz IV-Bezieher, ob man sich ber die Leistungen freuen solle oderob sie einem etwas nehmen, nmlich die eigene Wrde. Ralphfindet, die Leistungen wrden in einer asozialen Haltung ge-whrt, unter welcher man sich extrem verbiegen msse. Aufseine Aktion habe die Politik jedoch bisher nicht wirklich re-agiert. Es gebe zwar schon einige ausweichende Antwortenvom Bundesministerium fr Gesundheit und Soziales, derDialog fehle allerdings noch. Er habe sich deshalb auch keinezeitliche Begrenzung auferlegt, nach der er das Sanktionshun-gern beende, es gebe auch keinen Plan B fr ihn. Was mit ihmpassiere, liege in der Macht des Sozialgesetzes. Solange die Re-gelungen so seien, dass man kein Geld fr Essen bekomme,werde er nichts zu essen haben.

    Ralph Boes (Mehr als 2.000 Teilnehmer demonsrieren r ein Bedin-gungsloses Grundeinkommen au der BGE-Demonsraion am 14.

    Sepember 2013 in Berlin) (Quelle: Wikipedia/Ralph Boes CC BY 2.0)

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    stras senfeger | Nr. | September ANARCHIE |

    INFO

    rger mit der Unsterblichkeit

    Verlag Galiani Berlin

    www.galiani.de

    www.bureau-b.com/dorau.php

    www.svenregener.de

    Regener liest und Dorau

    zeigt VideoschnipselPop-Kultur anarchischB E R I C H T : A n d r e a s D l l i c k

    Ich muss ehrlich zugeben: Bislang habe ichnicht gewusst, dass Andreas Dorau ein ech-ter Anarchist ist. Klar kenne ich Doraus Er-folgshit Fred vom Jupiter. Aber jetzt mal

    ehrlich, ich habe diesen Titel immer gehasst.Doch als das neue Festival Pop-Kultur (Nach-folge der Berlin Music Week), ein Projekt derMusicboard Berlin GmbH, zu einer Performance

    von Dorau zusammen mit Sven Regener ins Berg-hain einlud, musste ich mich zwangslufig mitAndreas Dorau beschftigen. Zudem hatte mirder Galiani-Verlag das Buch, aus dem die bei-den in der Schlackehalle performten, zuvor zurRezension zukommen lassen. Es heit: rgermit der Unsterblichkeit, und es ist in hchstemMae amsant! Genauso amsant, um nicht zusagen subversiv und anarchistisch war der Auf-tritt von Dorau und Regener. Dass Sven Regenereine echte Rampensau ist, muss man nun wirk-lich nicht mehr sagen. Furztrocken und immerauch mit einem leicht sffisantem Unterton liester ein paar dieser wunderbaren Kurzgeschichten,darunter u. a. Fred vom Jupiter, Hollywood,Die kleine Frau und Angst und Tanz. Dazu

    prsentiert Andreas Dorau, nur so strotzend vorSelbstironie, Fotos und Videoschnipsel wirklichprchtiger Trash, sodass das zahlreich erschienenePublikum sich vor Lachen kaum halten kann. Im-mer wieder tauchen Personen der Zeitgeschichteauf, Holger Hiller (Palais Schaumburg) z. B., beidem Dorau das Gitarrespielen lernte. Oder wun-derbare Plattenlabel wie Atatak, dem Doraugegen den Willen seines Lehrers den im Rahmeneiner Schul-AG entstandenen Song Fred vomJupiter zuschickte. Nachdem der Titel zusam-men mit den Marinas, die den Refrain singen,nochmals aufgenommen wurde, katapultierte erDorau in die Hitliste der Neuen Deutschen Welle.Regener und Dorau berichten auch ber die Zeit,

    in der Dorau an der Hochschule fr Fernsehenund Film Mnchen studierte. Seine Abschlussar-beit trug den Titel Schlag Dein Tier. Die meistenTexte auf seinen Alben verfasste Dorau selbst, seitden 1990er Jahren hat auch Wolfgang Mller vonDie Tdliche Doris zahlreiche Texte fr ihn ge-schrieben. Herrlich brigens auch die Geschichteber den Grungerman Remix (Wolfgang Voigt)der Dorau-Single Girls in Love, der 1997 in dieTop-10 der franzsischen Charts einstieg.

    brigens: Kurz bevor die Performance star-ten sollte, stand pltzlich neben mir Sven Re-gener. Nassforsch nutzte ich die Chance undfragte den Snger von Element of Crime,wie es denn zu der Zusammenarbeit mit And-reas Dorau fr das Buch und zur gemeinsamenLesung gekommen sei.

    Sven Regener: Na ja, eigentlich haben wir1981 schon fast zusammengearbeitet, als michAndreas gefragt hat, ob ich in seiner Band spie-len will, was ich gern gemacht htte. Ich habedamals noch in Hamburg gewohnt, aber ichhatte keine Zeit. Wir waren auch Labelkolle-gen bei der Plattenfirma Atatak, haben malzusammen ein Lied aufgenommen Hamburg75. Neulich hat er mir erzhlt, dass er ein Ange-bot hat, in einem Verlag ein Buch zu schreiben.Er wusste nicht, was er machen sollte. Aber erbrauchte dringend Geld, weil das HamburgerFinanzamt ihm auf den Fersen war, er hatte einegrere Nachzahlung zu leisten. Alle guten An-dreas Dorau-Geschichten beginnen brigens mit

    dem Finanzamt Hamburg-Mitte. Und dann hattedie Managerin Charlotte Goltermann folgendeIdee fr Andreas: Fang nicht an, Dir Geschich-ten auszudenken, sondern erzhle einfach Deineeigene Geschichte! Und die kannte ich ja auchschon zum Teil, weil man sich diese Geschichtenja im Rock n Roll-Bereich lngst erzhlte. Unddie waren immer aufregend, schrg. Dann habeich gesagt: Weit Du Andreas, wir schreiben dieeinfach zusammen auf!

    Du httest mit Element of Crime auf demPop-Kultur-Festival auch spielen knnen.Warum seid Ihr nicht dabei?

    Wir sind a) nicht gefragt worden, und es istb) auch eine Frage der Gage. Element of Crimeist mittlerweile fr so ein Festival auch zu gro.Wir spielen normaler Weise fr 5 000 bis 10 000

    Leute. Und das hast Du hier nicht. Dazu kommt,dass unsere Band sehr etabliert ist. Hier, wo es umneue Bands geht, eine Band an den Start zu brin-gen, die sowieso jeder kennt, wre Quatsch. Esist besser, so Leute wie die CocoRosie-Schwesternhier zu prsentieren. Wenn die Toten Hosenhier spielen wrden, das wre ja auch Quatsch!

    Stimmt! Aber die Berliner gieren ja frmlichauch nach kleinen Klubkonzerten von Ele-ment of Crime!

    Ja, das kann man mal irgendwann machen,aber man muss sich mal was ganz Speziellesberlegen. Beim ersten Mal hier bei Pop-Kul-tur ist es besser, das genauso zu machen, wie die

    Veranstalter das geplant haben. Ich glaube, dashaben sie sehr klug gemacht, weil sie im Wesent-lichen Sachen machen, die was ganz Besonderessind. Dass die Leute nicht denken, das Festivalist so ein ganz normales Ding!

    Sven Regener & Andreas Dorau ormidabel! (Quelle: www.pop-kulur.berlin/Ronald Owsnizki und Tonje Thilesen)

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    stras senfeger | N r. | September | ANARCHIE

    Den Adler in der Handund die Eule auf dem DachAuf dem Falkenhof Ravensberg in Potsdam kommt man beflgelten Waldtieren

    ganz nah. Die Ausbildung dort ist nur etwas fr die Harten aus dem Garten.R E P O R T A G E & F O T O S : B o r i s Z a u n g a s t N o w a c k

    Ich ducke mich instinktiv, als Eule Willilautlos dicht ber meinen Kopf hinwegauf den Hochstand hinter mir fliegt. Wahr-scheinlich ist mein Ausweichmanver un-

    ntig, denn die Tiere sehen, riechen und hrenweitaus besser als Menschen. Trotzdem fhleich mich so sicherer. Eulen und Kuze mit gel-ben Augen jagen auch tagsber. Setzt Euch hin

    und haltet die Hnde unten, bittet Ilka Simm-Schnholz die Zuschauer. Sie ist Falknerin, Ge-schftsfhrerin des Falkenhofs Ravensberg inPotsdam und Pdagogin der Waldschule. Ge-meinsam mit zwei Auszubildenden fhrt sie dieGreifvgel vor, die in der Einrichtung leben. InMenschenhand werden die Tiere meistens dop-pelt so alt wie in freier Wildbahn. Falken bis zuzwanzig Jahre, Bussarde bis dreiig, Adler undUhus sogar bis zu fnfzig.

    Vor mir auf den Bnken sitzt eine Kita-gruppe, hrt gebannt zu und beantwortet Fra-gen: Was gibts bei uns fr Bussarde? Mu-sebussarde, sagt ein kleiner Junge. Genau.Ilka Simm-Schnholz will gerade einen Kderin die Luft werfen, als ein Habicht aus dem an-grenzenden Wald auf die Beute stt. Hey!Die drei Damen wehren die Attacke ab. Junge

    Habichte versuchen, alles zu kriegen, erklrt Ilka Simm-Schnholz, und sie schlagen dabei durchaus auch Falken.

    Manchmal kehren die Tiere von ihren Freiflgen vom Fal-kenhof nicht zurck. Mit Glck werden die gechipten Vgelgefunden, bevor sie von wilden Greifvgeln erlegt werden.Ein Musebussard frisst zirka 2 000 Muse im Jahr und holtsich dafr auch gerne mal die totgefahrenen Tiere von derAutobahn. Fr die Jagd ist er ungeeignet, schlielich braucht

    der Falkner keine Muse. Steinadler oder Habichte eignensich besser. Die Falknerei ist mit ihrer rund 3 500jhrigen Ge-schichte die lteste, natrlichste und schonendste Jagdform.Im Mittelalter hat man zum Beien Beizen gesagt, deshalbheit die Jagd mit Greifvgeln heute noch Beizjagd. Damalsjagte man mit Falken, die Bisstter sind, erzhlt Ilka Simm-Schnholz. Der krftigste Adler hingegen ist der Steinadler.Die Weibchen werden bis sechs Kilogramm schwer und ha-ben eine solche Kraft, dass sie mit ihren Fngen durch dieSchdeldecke eines Wolfes kommen.

    D i e M d c h e n s i n d z u v e r l s s i g e r

    Umso erstaunlicher, dass auf dem Falkenhof Ravensberg nurFrauen mit den Greifvgeln hantieren, die, hier immerhinauch bis zu drei Kilo schwer, auf einem Arm getragen werdenund respekteinflend wirken. Die Mdchen sind einfachzuverlssiger als die Jungs, zuckt die Chefin mit den Ach-

    INFO

    ffnungszeienMo & Di: nach VereinbarungMi - Sa: 14.00 - 16.30 UhrSonn- & Feierag: 10.00 - 16.30 Uhr

    FlugvorhrungenMrz - Okober: 14.30 UhrNov - Februar: nach Vereinbarung

    www.waldhaus-posdam.de

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    stras senfeger | Nr. | September ANARCHIE |

    Ilka Simm-Schnholz mi einem Seinadler au dem Hoch-sand: Manche Tiere kehren von ihren Freiflgen nich zurck

    Auszubildende Nadine erklr, was zu beachen is, wennman einen Greivogel au der eigenen Hand halen mche

    Ein Falke mach beim Maneln die Schwingen brei und ormden So zu einem Fcher, um seine Beue vor der Konkurrenz

    zu schzen

    Aha, Auszubildende Vanesse mi Uhu: Die Federohren zeigendie Simmung der Eule an, r das Gehr haben s ie keineFunkion

    Ha r ihre Schzlinge immer ein Aas im rmel: Ilka

    Simm-Schnholz is Geschfshrerin und Cheffalknerin desFalkenhos Ravensberg in Posdam

    seln. Wir bieten eine dreijhrige Ausbildung zum Tierpfle-ger bzw. Tierpflegerin an und jeder, der die Lehre besteht,hat bisher eine Arbeitsstelle gefunden. Insbesondere Falknerfreuen sich ber Tierpfleger mit Greifvogelerfahrung. Na-trlich kommen die Azubis nicht gleich mit den Vgeln inKontakt. Der Hof, die Volieren und Stellpltze mssen tglichgesubert werden. Da geht es schon los mit der Selbstn-digkeit. Wer dabei oberflchlich arbeitet, das Wasser nicht

    wechselt oder bei der Futterzubereitung schlampt, riskiert,dass die Tiere krank werden, betont Ilka Simm-Schnholz.Der dritte Vorstellungstag fr den dieses Jahr ausgeschriebe-nen Ausbildungsplatz ist vorbei und es war kein geeigneterKandidat dabei. Manche informieren sich noch nicht einmalvorher auf unserer Website, was wir hier so machen. Auch dasGrundlagenwissen ist mangelhaft, ein paar Bume nennen,Hunderassen, so was. Denn auch das gehrt zur Ausbildungin einer zoologischen Einrichtung.

    Wer sie besteht, darf an den zahlreichen Angebotenmitarbeiten, die der Falkenhof bietet. Dazu gehren auchFilmdrehs fr Werbung und Fernsehen. Der Schwerpunktliegt jedoch bei der Waldpdagogik, also Bildungs- und Erzie-hungsarbeit mit Wald- und Naturbezug.

    Nach der Vorfhrung darf jeder mit einem Gutscheinunter Anweisung der Auszubildenden einen Greifvogel nachWahl auf dem behandschuhten Arm halten. Die Kinder sindbegeistert. Ich bleibe respektvoll auf Abstand.

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    Ordnung muss sein!Oder Anarchie mal ganz anders gesehenB E T R A C H T U N G : A s t r i d B a t y

    Man behauptet, unsere Gesellschaftfunktioniert nur, weil wir Gesetzehaben, die unser Zusammenlebenregeln. Stimmt, aber hundertpro-

    zentig funktionieren sie auch nicht. Es gibt immereinige, die dagegen protestieren oder sie brechen.Die Protester kommen ins Fernsehen, die Geset-zesbrecher mglicherweise ins Gefngnis.

    Ein Staat oder Land kann nun mal nur mit Regeln

    funktionieren, da sonst jeder machen wrde, waser will. Das wre das reinste Chaos, jeder wrdeauf der Strae fahren, wie es ihm gefiele. Niemandwrde mehr bezahlen, was er aus dem Geschftmitgenommen hat, und/oder es wrde jeder ein-fach machen, was ihm gefllt. Nun sagen manche,unser Staat bertreibt es ein wenig mit den Geset-zen; das kann man so oder so sehen. Es fllt eini-gen findigen Leuten immer ein Schlupfloch ein,um der Strafe fr irgendeine nicht ganz legale Tatihrerseits zu entgehen, also muss der Staat stndigdie Gesetze ndern. Mir tun die Rechtsanwlteleid, laufend mssen die dazu lernen.

    Jetzt sagen einige, das Tierreich kommt aber ohneGesetze aus. Stimmt nicht, selbst bei Insekten,

    die Staaten bilden, gibt es Gesetze, und die brichtauch niemand. Eine Ameise oder Biene, die frdie Brutpflege zustndig ist, macht diese Aufgabeund weicht nicht von ihrem Posten ab. In einemLwenrudel jagen die Lwinnen, der Pascha alias

    der Lwe spielt solange Babysitter. Und in einemWolfsrudel paaren sich nur die Alphatiere, ver-stt jemand dagegen, werden diese Tiere ausdem Rudel gejagt, also verbannt. Anarchie kommtalso auch im Tierreich nicht vor, es gelten Regeln.

    Ich leide an einer psychischen Strung, die un-ter der Bezeichnung Bipolaritt luft. War malfrher als manisch-depressiv bekannt. Die Ma-nie ist Anarchie in meinem Gehirn, ich brauche

    kaum Schlaf, habe Hunderte von Ideen gleich-zeitig, bin mehr in Gesellschaft unterwegs undnach meiner Meinung (die aber nur von meinemGehirn vorgetuscht wird) Superman. Ich hatteGlck, die Krankheit wurde erkannt, und ichnehme jetzt Tabletten, die meinen Zustand in ei-nem Gleichgewicht halten. Ich vermisse ab undzu nur meinen Schaffensdrang.

    Jetzt werde ich mal gemein, ich stelle mich derChemie. Das war mein Hass-Fach in der Schule.Aber selbst unter den winzigsten Teilchen herrschtOrdnung. Zwei Wasserstoffatome und ein Sauer-stoffatom ergeben Wasser, ein freies Atom kannnicht andocken. Sonst herrscht Chaos. Nur derMensch spielt schon mal mit der Ordnung rum,

    das kann schiefgehen, wenn es dann mal rumst.Oder es entsteht eine Bedrohung, die unserenPlaneten inzwischen tausendfach vernichtenkann, die Atomwaffen. Schon bld, wir habennur den einen Planeten.

    Eine Unterart der Physik, die Astronomie, warmal ein Hobby von mir, und auch dort herrschtOrdnung. Oh ja, keiner der Planeten weicht vonseiner Umlaufbahn ab oder wir htten Riesen-probleme, wenn Jupiter mal auf einen Besuch beiuns vorbei schauen wrde. Auch wandern dieSternbilder nicht durch die Gegend, die liegenschon seit Jahrmillionen an dem gleichen Platz.Nur die Umlaufbahn der Erde und ihr Rotations-winkel haben sich ab und zu mal verndert. Na

    ja, ein Asteroid, der in einen Planeten einschlgt,kann so etwas hervorrufen. Das lernten leiderauch die Dinosaurier kennen, als die einen As-teroiden nicht berlebten. Und wenn auf einerHalbkugel der Erde die Bltter im Herbst fallen,wird sie schwerer. Lustig, nicht wahr? Nur keineAnarchie, macht Sinn.

    Also existiert natrliche Anarchie irgendwo? Ja,laut der Chaostheorie schon. Diese besagt, schlgtein Schmetterling in Shanghai mit den Flgeln,knnte er theoretisch in New York einen riesigenSchneesturm auslsen. Sie werden sich nun amKopf kratzen, das betrifft Wetterkunde. Das Teil-stck der Chaostheorie besagt, der Lufthauch desSchmetterlingsflgels kann winzige Winde beein-

    flussen, die dann nach tausenden von Kilometerneinen Sturm hervorrufen knnten. Bewiesen hatdas noch niemand, deshalb sind die Chaostheo-rien auch nur bedingt glaubwrdig. Und leiderauch nichts fr uns Normalbrger.

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  • 7/17/2019 Anarchie - Ausgabe 18-2015 des strassenfeger

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    (Quelle: CC BY 2.5 Wikimedia)

    stras senfeger | Nr. | September ANARCHIE |

    Karikaur: OL

    Anarchie oder Nichtanarchie?Mein Blick auf diesen BegriffB E R I C H T : C a r s t e n D a h l e k e ( v e r k a u f t d e n s t r a s s e n fe g e r )

    Einen schnen guten Tag, deutsche Volkspolizei,Abschnittsbevollmchtigter PolizeiobermeisterKrause. Was ist das denn hier, eine nicht geneh-migte Demonstration? Nein Herr Wachtmeister,wir sitzen hier nur und fachsimpeln ber unsere

    Maschinen. Was fr Maschinen? Na unsere Simson S50und S51, Herr Wachtmeister. Na dann htte ich gerne maldie Papiere zu diesen Maschinen gesehen und das aber etwaspltzlich und die Personalausweise bitte gleich mit dazu!Und weiter: Meine Herren, sie wissen hoffentlich, das ich sie

    nach 215 und 217 Strafgesetzbuch der DDR gleich verhaf-ten knnte. Ja das ist uns bekannt, Herr Schmiermeister.

    Zur Erklrung sei hier gesagt: So oder hnlich spielte sichdiese Handlung fast jeden Freitag in lndlichen Gegenden ab.Wie unschwer zu erkennen ist, ist der Abschnittsbevollmch-tigte als Vertreter der Staatsmacht nur einer der Beteiligten.Die anderen waren meist mnnliche Jugendliche so um die 15bis 17Jahre. Was da geschah, waren einfach nur wchentlicheTreffen der Jugendlichen, im Sprachgebrauch der DDR auchJungerwachsenen. Sie besprachen dabei, was sie in ihrer Frei-zeit am Wochenende anstellen wollten. Dies geschah meistauf Drfern, an den Endhaltestellen von Buslinien. Fr dieDDR-Oberen war alles, was nicht von ihnen verordnet oderorganisiert war, gegen ihre Ordnung gerichtet und Anarchie.Auch solch simple Treffen.

    Aber was ist Anarchie wirklich? Aus meiner Sicht ist dies vie-les. Aber nicht die vorher beschriebene Geschichte. Ich warvielleicht vier oder fnf Jahre alt. Damals bekam ich schonmit, wenn ich mit meiner Oma einkaufen war, wie ltere Da-men ber die Rocklnge junger Frauen tuschelten. Damalskam grade der Minirock in Mode, was die lteren Damen frAnarchie hielten. Genauso war es mit der Antibabypille undAbtreibungen. Meist war es die ltere Generation, die mitdem Begriff Anarchie den Wandel vom Althergebrachtenzum Neuen bezeichneten. Aber es war ja nicht nur auf Sei-ten der Frauen so, auch auf Seiten der Mnner. Dort warenes die langen Haare, die junge Mnner zu tragen begannen.Es sei hier nur an die vielen SFB-Sendungen zu dieser Zeiterinnert, die sich dann auch meist noch mit den Studenten

    im damaligen Westberlin befassten.

    Fr mich persnlich dagegen grenzt es an Anarchie, wenn dieEigentmer von Mietshusern und Eigentumswohnungen dasBedrfnis auf Wohnung und Wohnen zur Ware machen. Imjetzt geltenden Grundgesetz gibt es den Artikel 13 (1) DieWohnung ist unverletzlich. Mehr aber auch nicht. Demnachkann jeder beliebige Mensch, der heute noch Mieter in einerWohnung ist, morgen schon obdachlos sein. Gut, ganz soschnell geht es zwar nicht, aber im Grunde ist es so. Dennhier handelt es sich um Herrschaftslosigkeit, ohne staatlicheGewalt, so wie es das Lexikon beschreibt. Und da sage nochjemand, es gbe in diesem vereinigten Lande keine Anarchiemehr!Man kann jetzt im realen Leben nach noch mehr Bei-spielen fr diesen Begriff suchen, man wird immer welchefinden. Und sei es nur im familiren Kinderzimmer. Wennsich die lieben Kleinen damit beschftigen, stetig die gesetz-ten Grenzen auszutesten und zu versuchen, sie zu erweitern.

    Eltern mit mehreren Kindern werden dies kennen, bei Kin-dern gibt es keine Vorschriften Gesetze Verordnungen. Siesind die wahren Anarchisten, wie schon ein bekannter Sn-ger in seinem Lied Gebt den Kindern das Kommando, denn! sang. Aber da ist etwas Wahres dran, bei ihnen gibt eskeine Herrschaft mit staatlicher Gewalt, ob dies nun gut oderschlecht ist, mag jeder selbst entscheiden. Manchmal kann

    aber Anarchie auch etwas Gutes sein, leider kann ich hier keinspezielles Beispiel im Moment anbringen.

    In diesem Sinne wnsche ich eine anarchiefreie Woche.

  • 7/17/2019 Anarchie - Ausgabe 18-2015 des strassenfeger

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    stras senfeger | N r. | September | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Ich langweile mich nie,

    denn mich beschftigtimmer die Welt Kthe KruseKthe Kruse, am 10. September 1958 geboren, ist eine faszinierende undcharismatische Persnlichkeit, deren Leben gengend Stoff fr einen Roman bietet.Sie war Hausbesetzerin und Mitglied der Knstlergruppe Die Tdliche Doris. DieKnstlerin und Musikerin schafft seit ber 20 Jahren raumgreifende undmultimediale Installationen, die wie Bhnenbilder wirken. Sie ist seit 1991 mit dem

    Schweizer Schriftsteller Yves Rosset verheiratet und hat zwei Tchter: Edda (24) undKlara (20), mit denen sie in Performances auftritt. Nan Goldin, mit der sie imbesetzten Haus in Kreuzberg wohnte, verewigte Kthe und ihre Tchter aufzahlreichen Fotografien, die sich heute in den wichtigsten internationalenSammlungen und Museen befinden. Seit knapp zwei Jahren wohnt Kthe Kruse imTaut-Haus am Engeldamm, wo ich sie in ihrem Atelier besuchte.I N T E R V I E W & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Urszula Usakowska-Wolff: Kthe, wa-rum hast Du auf Deinen Vornamen

    Elke verzichtet? Ist Dein jetziger Vor-name eine Referenz an die Schauspie-

    lerin und Puppenmacherin Kthe Kruse?Kthe Kruse: Ich kam zwar als Elke auf die

    Welt, bin aber sofort nach der Entbindung mei-ner Mutter als Kthe ins Bett gelegt worden. Inmeinem Jahrgang gab es sehr viele Mdchen mitdem Vornamen Elke, in meiner Schulklasse al-lein fnf, und alle waren froh, dass sie mich K-the nennen konnten. Ich habe mir den Vornamenalso nicht selber ausgesucht, doch irgendwannlie ich ihn in meinen Pass eintragen. Mit derPuppenmacherin hat das insofern zu tun, dasswir Kruse hieen, da denkt man automatisch aneine Verbindung mit ihr. Die gibt es aber nicht.

    Du bist in der ostwestflischen KleinstadtBnde im Kreis Herford geboren und hastDeine Heimat recht frh verlassen. Warum?

    Ich bin in Bnde geboren, wuchs aber imDorf Kirchlengern auf, wo meine Eltern einHaus hatten. Mein Vater war Alkoholiker, malmehr, mal weniger, Quartalssufer sagt mandazu, und ich war immer sein Fuabtreter, ichbin ziemlich durchgeprgelt, krperlich miss-handelt worden von ihm als Kind. Pnktlichzu meinem 18. Geburtstag habe ich mein El-ternhaus verlassen und habe in den WGs in derGegend gewohnt. 1980 bin ich mit geflsch-tem internationalem Fhrerschein als zweiteFahrerin eines Busses mit einer Gruppe berLand nach Indien gefahren. Als wir nach einemMonat Katmandu erreichten, trennte ich mich

    von der Gruppe und reiste auf eigene Faustdurch Indien, Nepal, Sri Lanka und dann berPakistan zurck nach Ostwestfalen. Ich wollteauch nach Afghanistan fahren, aber das gingleider nicht, denn 1979 sind dort die Russeneinmarschiert.

    Ist es wahr, dass Du ausgerechnet in Indienber die Hausbesetzerszene in West-Berlingelesen hast?

    Ja, auch ber John Lennons Tod. Das hatmich sehr bewegt und ich bin im Mai 1981 nachBnde zurckgekommen, in meine alte WG, wowir zusammen mit Norbert Hhnel und seinerPartnerin Theo wohnten. Norbert war der sptereInhaber des Scheiladens in Kreuzberg.

    Norbert Hhnel, der wahre Heino, ist auchaus Bnde?

    Ja, ich wollte dort aber nicht bleiben und sobin ich mit Norbert und Theo und einer Gruppevon Musikern mit einem Reisebus nach Londongefahren, weil ich dachte, dass ich in London le-ben knnte. Nach kurzer Zeit merkte ich, dassdas aber nicht so spannend ist und zog im Juni1981 in das besetzte Haus in die Manteuffel-strae 41/42 in Kreuzberg ein.

    Dein Berliner Leben begann in der Hausbeset-zerszene, als Du 22 Jahre alt warst. Hast Du Dirdamals Gedanken darber gemacht, was Du inZukunft auch sonst machen mchtest? WolltestDu schon damals Knstlerin werden?

    Khe Kruse in ihrem Aelier

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    stras senfeger | Nr. | September TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    Nein, ich wusste immer nur, was ich nichtwollte, nmlich in der Enge meines Elternhau-ses bleiben, so etwas schwebte mir nicht frmein ganzes Leben vor, ich wollte immer et-was anderes. Das Kleinbrgertum war mir zu-tiefst verhasst. Ich war immer offen fr etwas

    Neues und bin es, glaube ich, bis heute. Ichprobiere gern Dinge aus, von denen ich nichtso genau wei, wo sie hinfhren werden undwie sie eigentlich gehen. Deshalb war diesesHausbesetzerleben fr mich hochinteressant.Es war komplett illegal, wir haben Strom undWasser geklaut, angezapft von der Strae, wirhaben versucht, ber die Post ein Telefon zubekommen, doch das ging nicht, weil wir ineinem besetzten Haus lebten. So stellten wireinen Bauwagen vor die Tr, haben das Tele-fon fr den Bauwagen beantragt und es auchbekommen, wir haben dann ein Kabel ber denBrgersteig ins Haus gelegt. Dass Kreuzbergberhaupt noch so steht, ist das Verdienst der

    Hausbesetzer. Wir haben die alte Substanz ge-schtzt, sonst she alles wie am Kottbusser Toraus. Das sind eben Dinge, die wir aufgebauthaben in den ersten Jahren.

    Wie lange hast Du in der Manteuffelstrae ge-wohnt?

    33 Jahre. Wir haben dort neue Formenausprobiert und haben uns schnell entwickeltzu dem Haus, das fr alle besetzten Huser dieMaterialien gehortet und geliefert hat. Wir ha-ben kologische Projekte entwickelt mit der TU,nmlich Wasserrecyclinganlagen und ein Block-heizkraftwerk, das grundstcksbergreifend dieanderen neun Huser mit eigener Energie ver-sorgte. Wir haben Vertrge mit der BEWAG ge-schlossen und waren die Ersten in Deutschland,die selbstproduzierte Energie verkaufen durften.

    Wir haben bereits 1983 eine Genossenschaft ge-grndet, die 1986 als Luisenstadt eG legalisiertwurde. Das ist schon ein groes Verdient, daswir uns als Hausbesetzer zuzuschreiben haben.

    Von der Hausbesetzerszene ging es dann zur

    alternativen Kunstszene, wo Du zuerst als feu-erspuckender schwarzer Engel einen Aufsehenerregenden Auftritt hattest. Wie kam es dazu?

    Feuerspucken fand ich schon frher inter-essant, als wir zusammen mit Norbert Hhnel inBnde und Umgebung Umsonst & Drauenund andere Musikfestivals gemacht haben. UndHeiligabend 1981 hatte Norbert Hhnel im SO36 ein Weihnachtskonzert veranstaltet. Er hatmich damals aufs Plakat gesetzt und ich habe ge-sagt: OK, wenn ich schon darauf stehe, muss ichmeinem Namen alle Ehre machen. Ich habe michalso als schwarzer Engel verkleidet

    Mit den legendren goldglnzenden schwarzen

    Flgeln und ganz in LederGenau. Ich hatte ja noch diese schwar-zen Dreadlocks und habe Feuer gespuckt. Ichmerkte, dass ich das Publikum glcklich ge-macht habe. Da habe ich gedacht, dass ich einegute Ausstrahlung auf der Bhne habe und denLeuten etwas geben kann. Und an diesem Abendsprachen mich Wolfgang Mller und Nicki (Ni-kolaus Utermhlen, Anm. d. Red.), die unterden Zuschauern waren, an und fragten, ob ichzusammen mit ihnen im Januar 1982 in einemKonzert im Arsenal auftreten mchte. Es gingnur um dieses eine Konzert. Wir haben uns danngetroffen, und ich sagte, dass ich auch ein biss-chen Schlagzeug spielen kann. Ich habe mir dannsofort fr 200 Euro ein gebrauchtes Schlagzeuggekauft und habe fr diesen Konzertabend dasNaturkatastrophenballett entwickelt.

    Es sollte ein Konzert sein, doch Du hast bei dervon Wolfgang Mller und Nicki Utermhlengegrndeten Knstlergruppe bis zu ihrer Aufl-sung 1987 mitgemacht. Was war das Besonderean der Tdlichen Doris? Wodurch zeichnetesich eure Zusammenarbeit aus?

    Der Name Die Tdliche Doris war ja schon

    da, den haben sich Wolfgang und Nicki, die ander Hochschule der Knste studierten, ausge-dacht. Doris war damals, wie mir die beidensagten, der hufigste Frauenname im BerlinerTelefonbuch, und ich fand diese Anspielung aufDosis auch ganz toll und sehr einprgsam. Wirhaben jeden Tag zusammen gearbeitet, wir ha-ben uns jeden Tag getroffen und jeder brachteTexte mit. Dann haben wir immer zu dritt an die-sen Texten rumgefeilt, manchmal haben wir eineStunde nur an einem Wort gesessen, bis wir eswirklich so hatten, wie wir es wollten.

    Soll das heien, dass die Genialen Dilettantenin Wirklichkeit keine Dilettanten, sondern Pro-fis waren?

    Als Musiker waren wir absolute Dilettanten,keiner konnte ein Instrument richtig spielen undsingen auch nicht, doch was die Textkultur an-geht, war uns der Inhalt der Texte sehr wichtig.

    Ist Die Tdliche Doris schuld daran, dass DuKnstlerin geworden bist?

    Ja, damals habe ich gemerkt, dass ich in derbildenden Kunst meine Schwerpunkte legenkann. Dann habe ich mein Studium an der HdKbegonnen, weil ich meinte, dass ich dort nocheinige Techniken lernen kann, vor allem Druckund Siebdruck. Ich habe gedacht, auch fr dieZukunft ist es gut, ein Studium zu haben, vorherhatte ich dafr keine Zeit, also bewarb ich mich an

    der HdK, und dachte, entweder sie nehmen mich,dann gucke ich, ob es mir Spa macht, oder sienehmen mich nicht, aber Knstlerin bin ich so-wieso. Sie haben mich sofort genommen, das fandich auch toll und ich habe halt ganz viele Techni-ken gelernt, besonders die Drucktechniken.

    Du arbeitest schon seit ber 20 Jahren als freieKnstlerin, die auerordentlich vielseitig ist.Du fotografierst und filmst, machst raumgrei-fende und multimediale Installationen, Teppi-che, Objekte aus Stoff, aus alltglichen odervorgefundenen Materialien, Du schreibst Texteund machst Musik- und Wortperformances.Woher kommt diese Bandbreite?

    Ich liebe es, in mehreren Schichten zu arbei-ten. Meine Arbeiten sind zugleich auch Projekti-onsflchen fr meine Lieder, zu jedem Song gibt eseine Arbeit und einen Film, es gibt die Musik unddas Kostm, das Kostm fungiert immer als Lein-wand. Ich arbeite an mehreren Projekten gleich-zeitig, jetzt fotografiere ich zum Beispiel leereBnke, weil mich die Abwesenheit von Menscheninteressiert, und an einer Serie von Textbildern, frdie ich Zeitungsberschriften sammle. Das wirdeine 365-Tage-Arbeit sein, die zeigen wird, wie dieSprache sich verndert. Ich langweile mich nie,denn mich beschftigt immer die Welt.

    INFO

    www.kaehekrusekuns.de

    Im Aelier von Khe Kruse

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    stras senfeger | N r. | September | TAUFRISCH & ANGESAGT P U N K t r i f f t P R O F

    Heroin Niemals im Leben!Die Promi AnnA LYse

    I N T E R V I E W : A n n e - L y d i a M h l e m i t s i d o

    Anne-Lydia Mhle: Am 4. September erscheintDein neues Album: VI, es ist Dein sechstes Al-bum und heit auch so.

    sido: Ich nenne es gern VI, das klingt bes-ser, ist eine sthetische Frage. Genauso wie ich

    finde, dass sido gerne immer klein geschrieben wird. Das siehtschner aus.

    sido heit: Scheie in dein OhrSo hie es mal, das fand ich dann doof. Dann habe ich

    es als super intelligentes Drogenopfer definiert. Das habeich aber auch irgendwann verworfen. Ich bin nmlich nichtsuper intelligent.

    Und auch kein Drogenopfer. Auf deinem neuen Album hastdu einen Song, der sehr einfhlsam getextet ist: Grtel amArm. Ein Lied ber Kevin, einen Fixer.

    Ich bin in meiner Familie als Kind schon damit in Berh-rung gekommen. Ich habe Flle in der Familie gehabt, die mirsehr nahe gingen. Auch im Mrkischen Viertel, wo ich herkomme. Dort gab es den einen oder anderen Fall, den manmitgekriegt hat. Fr mich war das, was den Spa mit Drogenangeht, immer eine harte Grenze. Ich wusste, das geht viel zu

    weit, das ist schlimm. Ich will nicht sagen, dass andere Drogennicht auch schlimm sind. Aber das, was ich da gesehen habe,fand ich sehr abstoend.

    Wenn man es sich leisten kann, sauberes Heroin zu kaufen, istes weniger schdlich als Alkohol. Gefhrlich sind vor allem dieKrankheiten, die Spritzen und die Beschaffungskriminalitt.

    Es gibt wenig Menschen, die Heroin nehmen und ganznormal im Arbeitsleben, im System mitarbeiten. Es gibt vieleKnstler, die das machen und dann vielleicht Geld verdienen,aber ansonsten hindert dich das am Leben. Diese Droge, He-roin, schrnkt dich ein. Ich glaube, dass es einen Menschenverndert, fr mich sind es nicht die Krankheiten, fr mich istes das, was es aus dir macht. Du verlierst die Menschlichkeit,die Droge wird der Mittelpunkt deines Lebens.

    Wie stehst Du zu Marihuana?Ich finde Marihuana von allen Genussmitteln, die man

    auf der Welt hat, das ungefhrlichste, sanfteste. Ich mchtees nicht verherrlichen, und ich mchte nicht, dass junge Men-schen damit anfangen, weil sie hren, dass ich das mache. Ichmchte aber auch nicht lgen und den Leuten was vorma-chen. Ich rauche ab und zu ganz gerne mal einen.

    Ich finde das tausendmal besser als Alkohol oder sons-tige harte Drogen. Ich zhle Marihuana nicht zu den hartenDrogen. Es macht nicht krperlich abhngig. Man muss dazusagen, dass es mittlerweile in meinen Augen gefhrlichesGras gibt: Wenn ein 14jhriger mit Haze anfngt dasZeug hat 27 bis 28 Prozent THC. Als ich angefangen habe zukiffen, war 14 Prozent THC viel. Da war ich jung und da wardas Ok. Mittlerweile, wenn ein 14 - 15 jhriger mit Hazeanfngt, und die Psyche noch nicht komplett ausgebildet ist,kann das mglicherweise Psychosen hervorrufen. Genau wie

    bermiger Konsum.Ich glaube an den medizinischen Nutzen

    von THC. Ein sehr guter Freund von mir war dererste, der Hanf auf Rezept bekommen hat. Er hatTourette, er kifft oder er nimmt ein l, aus derApotheke, und seine Zuckungen, sein Touretteverschwinden.

    In einem Song singst Du: Zu nett fr das Ghetto,zu Ghetto fr die Spieer.

    Im Mrkischen Viertel bist du damals un-ter den jungen Leuten angesehen gewesen, wenndu viel, erfolgreich Scheie gebaut hast. Es gabein paar 16jhrige, die sind mit dicken Autosdurchs Viertel gefahren, ohne Fhrerschien undalles. Die waren sehr angesehen. Ich war derDeutschrapper. Deutschrapper waren damalsim Viertel berhaupt keine Nummer. Das hatkein Schwein interessiert, man war ein Alien,wenn man Deutschrap gemacht hat. Techno warbei uns im Viertel angesagt, ein bisschen HeavyMetal, Bhse Onkelz. Deutschrap war gar keineNummer. Ich war im Viertel nie der krass Angese-

    hene. Ich hatte Kumpels, und ich war kein Opfer,aber ich war keiner von den Krassen im Viertel.

    Jetzt wohne ich in einer brgerlichen Ge-gend, und dort bin ich auch nicht angesehen. Wirbekommen Briefe, in denen steht: Geht zurck inEuer Ghetto, ihr Zigeunerpack. Damit muss ichmich jetzt rumschlagen. Das sagt der Song, ohnedass ich mich darber groartig beschwere. Ichhabe es mir einfach mal von der Seele gesprochen.

    Aber als Du berhmt warst, warst Du im Vierteldoch angesehen?

    Es gab Leute, die gesagt haben: Ja, derspricht uns aus der Seele, und dann gab esLeute, die gesagt haben: Wie kann er so ber

    unser schnes Viertel sprechen? Die Meinun-gen im Viertel haben sich sehr schnell gespalten.Nicht alle haben mich gemocht.

    Angela Merkel hat sich in der Flchtlingsfragemit der Aussage: Die Krawalle sind absto-end endlich positioniert.

    Das ist nicht die Lsung des Problems. DerAnsatz ist: Wie gehen wir jetzt mit den Flchtlin-gen um? Wie helfen wir denen? Wir haben dieMglichkeiten, man muss nur einen Weg finden.Es ist nicht damit getan, hier Flchtlingsheimehinzubauen, sondern sie brauchen auch einenJob und mssen integriert werden. Dafr brau-chen die Flchtlinge Hilfe. Das muss man denenalles bieten. Darber muss man reden und nichteinfach nur sagen: Die Krawalle sind absto-end. Was soll Angela Merkel anderes sagen?

    P U N K t r i f f t P R O F

    D I E P R O M I A n n A L Y s e

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    stras senfeger | Nr. | September TAUFRISCH & ANGESAGT | P U N K t r i f f t P R O F

    Angela Merkel hat sehr lange zu den Gewalt-

    taten und bergriffen von rechts geschwiegen.Das schlaue Volk hat PEGIDA nicht ernst

    genommen. Die Hauptmeinung im Volk wardoch: PEGIDA ist lcherlich. Ich kenne keinen,aus meinem Umkreis, der PEGIDA gut fand. Diehaben sich in Fernsehsendungen belst diffa-miert. Die haben sich mit ihren angemalten Au-genbrauen selbst auseinander genommen.

    Flchtlingsheime werden wieder angegrif-fen. Wie damals in Rostock-Lichtenhagen. Damuss Frau Merkel was sagen. Was soll sie zu denPEGIDA-Sachen sagen, wir leben in der Demo-kratie, du kannst den Leuten nicht verbieten zudemonstrieren. Jeder darf seine Meinung sagen.Wir mssen nur aufpassen, dass die Leute, die

    diese Meinung vertreten, die da jeden Montagunterwegs sind, nicht zu viele werden. Und dasdie Leute, die die nicht deren Meinung sind, auchmal laut sind. Im Moment sind die Braunen dielauteste Stimme, was diese Flchtlingsdebatteangeht. In den Medien, berall wird deren Mei-nung breitgetreten. Was man liest ist gerade:Der braune Mob stellt sich gegen Flchtlinge.Warum steht nicht in der Zeitung: Deutschlandvorbildlich in Flchtlingshilfe, das ganze Landist fr die Rettung.

    Ich habe ber Dich gehrt, dass Du groer Ste-phan Remmler-Fan bist. Auf Deinem Unplugged,habt ihr einen Song gemeinsam gesungen.

    Ich finde es groartig, dass ich StephanRemmler kennenlernen durfte. Meine Muttererzhlt immer wieder die Anekdote, wie ich als

    Dreijhriger in der Windel mit Kopfhrern vorm

    Radio stand und Da, da da, gesungen habe.Das ist ein Text, der fr ein kleines Kind sehreingngig ist. Das ist mein Lieblingslied, immerwenn das kam, bin ich ausgerastet. Das erzhltmeine Mutter heute noch. Die Art und Weise,wie Stephan Remmler an Songs geht, das hatetwas Lockeres, Freies. Diese Songs sind freivon allen Konventionen. Es gibt Songs, die sindkomplett aus dem Rhythmus oder die fangen aufeiner ganz komischen Eins an. Stephan Remmlerhat sich von allem frei gemacht, und da habe ichmir eine riesen Scheibe von abgeschnitten.

    Beim MTV Unplugged durfte ich ihn ken-nenlernen. Wir haben Da, da, da zusammengesungen. Mittlerweile produziert sein Sohn

    viel fr mich. Meine neue Single: Astronaut,hat Cecil Remmler, der Sohn von StephanRemmler mitproduziert.

    Du bis jetzt Mitte dreiig und hast einen 15-jh-rigen Sohn. Knnen wir mit der Jugend nochmithalten?

    Es geht sehr schnell im Internet. Meinltester Sohn erzhlt mir von diesen ganzenYoutube Channel-Phnomenen. Es gibt sehrviele ganz bekannte Youtube-Aktivisten. Undda gibt es heute einen, und der ist in zwei Wo-chen schon wieder out. So schnell geht das: Inzwei Wochen gibt es schon wieder einen neuenkrassen, coolen Youtube-Typen, den man unbe-dingt sehen muss.

    Heutzutage kommst du so schnell an einenSong oder an eine News von deinem Lieblings-

    star. Das war frher Hardcore, du musstest auf

    eine Bravo oder eine Juice oder irgend-eine Fachzeitschrift warten um etwas Neuesber deinen Lieblingsstar zu hren. Und dannmusstest du hoffen, dass der in dieser Zeitungberhaupt vorkam.

    Von Dir stammt das Zitat: Auf der Strae istman frei von Zwngen, aber nicht glcklich.

    Ich war auch obdachlos. Meine Muttermusste sich zwangsweise, weil sie kein Geldmehr verdient hat, eine kleinere Wohnung neh-men. Und da war kein Platz mehr fr mich, nurfr sie und meine Schwester. Und dann habe ichgesagt: Ich gehe. Ich habe ihr immer vorgemacht,dass ich das schon schaffe, aber ich hatte nichts.

    Ich musste immer bei irgendwelchen Freun-den unterkommen. Und eine ganze Weile langgucken, wo ich bleibe. Man ist frei von diesemSystem, der einzige Zwang, den man hat ist, dassman irgendwo gemeldet sein muss.

    Was ich trotzdem glaube ist, dass man sichnicht gehen lassen darf. Man muss am Ball blei-ben, auch wenn es schwer fllt. In Wehmut zuverfallen und viel Alkohol zu konsumieren, dasist falsch. Je tiefer du da reinrutscht, desto schwe-rer wird es fr dich wieder raus zu kommen.

    Hat die Musik in der Zeit eine Rolle in DeinemLeben gespielt?

    Ich hab alles, was ich hatte, in Musik in-vestiert. Ich habe alles versucht zu mobilisieren,dass ich irgendwie Musik machen kann. Weil ichwusste, das ist mein einziger Weg hier raus.

    Sido Akuelles Album: Sido VI (Foos: Universal/Mura Arslan)

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    stras senfeger | N r. | September | TAUFRISCH & ANGESAGT B r e n n p u n k t

    Ein Tag am Bahnhof ZooWie luft ein ganz normaler Tag in Deutschlands grter Bahnhofsmission ab?R E P O R T A G E & F O T O S : L e o n i e v o n K a r n o w s k y

    Von der Idee, einen Tag in der Bahn-hofsmission am Zoo zu verbringen,war ich zunchst begeistert, aber alsich Freunden davon erzhlte, sagten

    sie nur Sachen wie pass blo auf dich auf! undich knnte das ja nicht. Auf meine Frage nachdem Warum sah mich eine Freundin erstauntan, als knne sie nicht verstehen, wie ich diesenAusflug ernsthaft in Erwgung ziehen konnte.Am Bahnhof Zoo is doch total gefhrlich! Allesvoller Junkies, da dreht sich alles nur um Drogen.Kennst du das Buch nicht?! Doch, ich kennedas Buch. Und ja, der Bahnhof Zoo ist sicher-

    lich ein sozialer Brennpunkt, aber Christiane F.sSchilderungen sind mittlerweile fast 40 Jahre alt.Natrlich sind die Zustnde noch lngst nichtoptimal, aber durch wegschauen verbessert mansie auch nicht.

    Also mache ich mich an einem Mittwoch auf denWeg, und als ich um 11:45 Uhr ankomme, ste-hen schon Leute fr das Mittagessen Schlange,dass in zweieinhalb Stunden ausgegeben wird.Ich ziehe mir gerade die blaue Weste mit demLogo der Bahnhofsmission ber, da werde ichangesprochen, was denn mein Tattoo bedeute.Ich erklre es dem Mann, drehe mich kurz wegund werde wieder angetippt. Was denn mein Tat-too bedeute, will er wieder wissen. Es wird nichtdas letzte Mal an diesem Tag sein, dass er mirdiese Frage stellt. Er knne sich Sachen schlecht

    merken, erklrt er mir und leert dann seineSchnapsflasche. Trink nicht so viel, du willstdoch nicht an unserem Baum enden!, mahnt derSchichtleiter und zeigt mir besagten Baum, indem verschiedene Bnder hngen: Das ist unserGedenkbaum, jedes Band steht fr einen verstor-benen Gast. Viel Zeit fr Gesprche bleibt unsnicht, denn es mssen Brote geschmiert werden.

    Mit Sarah und Julia, die beide ein Praktikummachen, bereite ich Kse- und Wurstbrote vor,die spter an die Gste ausgegeben werden. Vierbis fnf Kisten sollen wir vollmachen, aber nach

    dreien geht uns das Brot aus. Hoffentlich bringtdie Tafel nachher noch welches. Es ist immerwichtig, dass wir genug Stullen haben, denn dieknnen sich die Leute auch mitnehmen und amnchsten Tag noch essen, erzhlt Sarah. Sie istfroh darber, dass wir im ruhigen Lagerraum sit-zen und uns nebenbei unterhalten knnen, ander Tr ist es nmlich ziemlich anstrengend. Ge-gen Ende des Monats wird es auerdem immervoller, weil dann bei vielen Menschen das Geldnicht mehr reicht. Kaum hat sie das ausgespro-chen, kommt Schichtleiterin Iris und fragt, obich Lust habe, mir nach der Pause die Ablufe ander Tr anzusehen. Dort werden Nummern aus-gegeben, die dann in Zehnerschritten aufgerufenwerden, sodass maximal 50 Personen gleichzeitigim Gastraum essen. Diejenigen, die fr die Trzustndig sind, passen auf, dass niemand ohne

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    1-6: Worau es in der Bahnhosmission am Zoo an-komm: Alle mssen krfig mi anpacken!

    stras senfeger | Nr. | September TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Nummer hineingeht oder sich in der Schlangevordrngelt. Am besten ist es, wenn immer einstarker Mann mit drauen steht. Wenn sich je-mand vordrngelt oder generell schlechte Stim-mung herrscht, kommt es mitunter nmlich auch

    zu Prgeleien, erzhlt Schichtleiter Rolf. DieTrsteher geben auerdem Auskunft zu Fragenjeglicher Art, was teilweise nicht einfach ist.

    Ein Mann mchte zur Notbernachtung, erspricht kein Deutsch und nur wenige Worte Eng-lisch. Er hat einen Zettel bei sich, auf dem zweiAdressen stehen, aber er versteht nicht, dass nureine der beiden Einrichtungen Schlafmglich-keiten bietet. Nachdem ich ihm mit Hnden undFen zu erklren versucht habe, wo sein Busabfhrt und wo er aussteigen muss, bedeutet ermir, er wolle lieber zu Fu gehen. Er kann sichkein Busticket leisten. Ein anderer Gast mischtsich ein, er erklrt: Dit is janz einfach, is nichweit zu loofen. Da jehste die nchste rechts, danndie Strae entlang, biegst n paar Mal noch linksab und dann biste ooch schon da! Das verwirrt

    den Mann endgltig, weshalb ihm eine Trste-herin den Weg zur Sicherheit auf seiner Karteeinzeichnet. Gerade als er sich auf den Wegmacht, hlt der Lieferwagen der Tafel vor derTr und bringt kistenweise Lebensmittel, die wir

    im Lager sortieren: Frische Sachen wie belegteBrtchen oder Desserts bringen wir direkt andie Ausgabe, whrend haltbare Dinge wie Butterund Tomatensoe in einen der zahlreichen Khl-oder Gefrierschrnke gestellt werden. Ich nehmeeinen fertig gemischten Salat in die Hand, dasPreisschild klebt noch auf der Packung: 5,25 .Ich knnte mir das nicht leisten, sagt einer derPraktikanten, und ohne zu berlegen, stimme ichzu: Ich auch nicht! Doch dann denke ich, un-sere Gste knnen sich das auch nicht leisten,sonst wren sie ja nicht hier. Und nur, weil manstatt in teuren Restaurants in der Bahnhofsmis-sion essen muss, heit das nicht, dass man keineguten Sachen bekommen kann.

    Als ich mich abends auf den Weg nach Hausemachen will, steht ein Krankenwagen vor der

    Tr, ein ziemlich betrunkener Mann sitzt am Bo-den. Er ist hingefallen, von oben bis unten vol-ler Blut, doch ins Krankenhaus will er nicht. Ermchte lieber von Torsten versorgt werden, derbei der Bahnhofsmission als Sanitter arbeitet ehrenamtlich, wie die meisten hier, die einenTeil ihrer Zeit aufwenden, um anderen zu helfen.Aber nicht nur die Mitarbeiter verbringen vielZeit in der Bahnhofsmission, auch einige Gstehalten sich hier Tag fr Tag auf, von morgens bisabends: Ich will gerade gehen, als mir jemand aufdie Schulter tippt. Ich drehe mich um und schauein ein bekanntes Gesicht. Ich wei genau, welcheFrage gleich kommt.

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    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    FILMFESTIVAL

    Film ohne GrenzenZum dritten Mal findet das internationale Festival Film ohneGrenzen in der Kulturscheune des Gut Eibenhof in Bad

    Saarow statt. Das Filmfestival wurde 2008 in Italien gegrn-det und hat sich mittlerweile auch in New York und in BadSaarow bei Berlin etabliert. Das Festival hat es sich zurAufgabe gemacht, den Dialog ber Themen wie Humanitt,Menschenwrde und Solidaritt zu frdern. Neben Kurz- undLangfilmen wird ein Themenspecial zu Rainer WernerFassbinder gezeigt, der in diesem Jahr 70 Jahre alt gewordenwre. Die Moderatoren Barbara Schneberger, Gero vonBoehm und Knut Elstermann laden zu spannenden Talkrun-den mit interessanten Gsten ein.

    11. bis 13. September

    Einzelicke: 5 , Tagesicke: 10

    Kulurscheune des EibenhosAle Eichen 33

    15526 Bad SaarowIno: www.filmohnegrenzen.de

    MITMACHAKTION

    Aktion saubere HavelPlastikmll unsere Meere sind voll davon. EinePlastikflasche kann von Land in die Havel unddann in die Nordsee und in den Nordatlantikgelangen. Deshalb fngt Meeresschutz auf demLand und an den Flssen an. Machen Sie mit beieiner regelmig stattfindenden Mllsammel-Aktion am Havelufer! Mitmachen knnenKinder, Jugendliche, Familien, Erwachsene. DieLeitung der Aktion haben Angelika Heckhausenund Antonius Gockel-Bhner. Mllscke werdengestellt und entsorgt.

    19. September, 11 bis 14 Uhr

    Or/Sar:Naurschuzzenrum kowerkTeuelsseechaussee 22 2414193 Berlin-Grunewald

    Ino: www.oekowerk.de

    TANZ

    Dance for SaleSeit 2006 erforscht das unabhn-gige Tanzkollektiv Grupo Oitoin seinen Projekten die Beziehun-gen zwischen Individuum undGesellschaft. Inspiriert vom

    alltglichen Leben bildenIdentitten dabei einenReferenzpunkt. Im Rahmen einerKooperation mit dem Goethe-Institut Kenia war die Gruppe imJuni 2015 fr einen Workshopund zwei Vorstellungen inNairobi und hat gemeinsam mitkenianischen Tnzer_innen eineVersion des Stckes erarbeitet,die sie nun auch am Ballhauszeigt.

    12. bis 15. September, 20 Uhram 13. Sepember um 19 UhrEinrit: 14 , erm. 8

    Ino: www.ballhausnaunynsrasse.deFoo: Wagner Carvalho

    LESUNG

    Liebesgeschichten zur NachtWenn rote Pappherzen an den Falschenverschenkt werden, sich ungleiche MenschenWartenummern teilen, und der Hochzeits-marsch durch den Kopf drhnt dann muss essich wohl um irgendwas mit Liebe handeln.Claudia Luise Bose liest zur spten Stunde eineAuswahl aus den Liebesgeschichten derObjekt-Dings-Ausstellung im Foyer derSchaubude. Dauer circa 30 Minuten.

    18. September, 22:30 Uhr, Eintritt frei

    Schaubude BerlinGreiswalder Sr. 81-8410405 Berlin Prenzlauer Berg

    Ino: www.schaubude-berlin.deFoo: Sven Paproh

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    VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:

    [email protected]

    Je skurriler, amoser und

    preiswerer, deso besser!

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    AUSSTELLUNG

    Im Blick: Das KindDie Knstlerin Marei Lutterbach interessiert sich fr denStellenwert des Kindes in unserer Gesellschaft: Das Pushenzu immer greren Leistungen und die daraus erwachsendeVereinzelung. Damit hngt fr sie auch das Thema Einsam-keit zusammen. Als knstlerisches Mittel bedient sich dieKnstlerin vor allem der Mimik und Gestik ihrer Figuren.

    9. September bis 1. November, Eintritt freiffnungszeien Di bis So, 10 bis 18 Uhr

    Galerie Schwarzsche VillaGrunewaldsrae 5512165 Berlin

    Ino: www.kulur-segliz-zehlendor.de

    LESEPERFORMANCE

    berlin liestDas internationale literaturfes-tival berlin hat gemeinsam mitder Heinrich-Bll-StiftungBerliner_innen dazu aufgeru-fen, zu Beginn des Festivals

    am 9. September literarischeTexte zur Situation vonFlchtlingen und Asylsuchen-den in Europa und weltweitvorzutragen. Die Textestammen von internationalenAutor_innen oder sind selbstgeschrieben bzw. ausgewhlt.Die Auswahl des Lesungs-Ortes wurde den Vorleser_in-nen selbst berlassen. EineLesung wird zwischen fnfund 15 Minuten dauern.

    9. September, 6 bis 17:30 Uhr

    Or & Zeipunk der Lesungenuner:www.lierauresival.com

    RASANTE S DORFFE ST

    182. Rixdorfer Strohballenrollen

    Es ist wieder soweit! Die Knstlerkolonie Rixdorfund die Botschaft der Tschechischen Republik inBerlin laden zum Strohballenrollen ein, eineralten, wiederbelebten Tradition, bei der Strohbal-len um die Wette gerollt werden. Den Rahmender Veranstaltung bilden die Rixdorfer Festspiele,gerollt wird am geschichtstrchtigen Richard-platz, in Erinnerung an die bhmischen Einwan-derer, die damals schon Strohballen rollten. Rund30 Teams werden in diesem Jahr wieder um deninoffiziellen Weltmeistertitel dieser schweitrei-benden Disziplin ringen. Alle sind herzlicheingeladen, die Teams anzuspornen und sich zuvergngen bei Spiel, Essen, Musik und Tanz.

    12. September, ab 14 Uhr

    Richardplaz12055 Berlin-Neuklln

    Ino: www.popraci.deFoo: A. Grndler

    LYRIK UND MUSIK

    Ein Penis stirbt immer zuletzt

    In Anwesenheit von Rosa von Praunheim liest und singt JeanetteRasenberger Texte und Lieder aus der Feder des Dichters, Malersund Regisseurs. Am Klavier begleitet Andreas Wolter, der fr dieletzten 80 Filme von Praunheims die Musik komponiert hat undneben eigenen Stcken auch Musik von Chopin und Rachmani-noff vortrgt. Rosa von Praunheim wird spontan lesen und singen erwartet wird ein spannender Abend.

    10. September, ab 18:30 Uhr, Beginn: 19.30 Uhr

    Einrit: Wie es Ihnen gell

    Ca K - Kuns uner KieernSensburger Allee 26

    14055 Berlin - WesendIno: www.cae-k.com

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    INFO

    Philipp Catereld,Alban Knech (Hg.)

    Flaschensammeln berleben in derSad

    UVK Verlagsgesell-

    schaf mbH 2015

    Wer den Groschen

    nicht ehrtVom Flaschensammeln als NebenverdienstebenverdienstB E R I C H T : L e o n i e v o n H a r t m a n n

    Gerade in Berlin sieht man sie tglich:die Flaschensammler. Sptestens seitder TV-Sender Pro7 sich des Themasauch mal angenommen hat und in ei-

    ner riesigen Wow-Effekt-Sendung verkndete,Flaschensammler seien gar nicht immer obdach-los, sondern manchmal auch Berufsttige, diesich was dazu verdienen wollten, nimmt Otto

    Normalverbraucher sie so richtig war.Den sehr viel unspektakulreren, aber dafrumso realistischeren Bericht, dass Flaschen-sammler auch (nur) Menschen sind, bringt nunauch die Hochschule Mnchen in dem BuchFlaschensammeln berleben in der Stadt,herausgegeben von Philipp Catterfeld und AlbanKnecht. Die Beitrge kommen von den Studentender Hochschule Mnchen, die zwei Semester dieFlaschensammler in ihrer Stadt beobachtet, inter-viewt und ihre Erfahrungen in Berichten festge-halten haben.

    Diese sind bunt gemischt und lassen sich interes-sant lesen. Das Spektrum reicht vom Selbstver-

    such bis hin zum Interview mit Flaschensamm-lern. Die Studenten erzhlen aus ihrer Perspektiveund geben wieder, was tatschlich gesagt undgesehen wird. Sie versuchen ein mglichst ber-schauendes Bild von dem Flaschensammlerzu zeichnen: So wurde beispielsweise im zwei-ten Semester der Fokus mehr auf Frauen gelegt,nachdem dies im ersten Semester unbeabsichtigtvernachlssigt wurde. Aus den Erfahrungen imersten Semester wird gelernt, wie auch aus demselbst Gelernten und das sprt man in jeder Zeile.

    Ganz wichtig: Hier sind keine Enthllungsjour-nalisten von Pro7 unterwegs, sondern interes-sierte und aufgeschlossene Studenten, denen

    man gern stilistische Eigenheiten verzeiht, daman dafr echte Beobachtungen statt Mei-nungsmache bekommt.

    Ob die Erkenntnis neu ist, dass oft auch Rent-ner oder Geringverdiener sich mit dem Fla-schensammeln ein paar Euro dazu verdienenoder dass es eine berwindung ist, im Mll zuwhlen, sei dahin gestellt. Warum jedoch ge-rade die Nachkriegsgeneration viel zu sammelnscheint oder warum es einige Flaschensammlersogar nervt, wenn jemand eine Flasche auf stattin den Mlleimer stellt das sind tatschlichmal neue Erkenntnisse, die man aus diesemBuch mitnehmen kann.

    Nach einer kurzen Einfhrung in die Thematikgeht es sofort mit den Beitrgen der Studenten

    weiter. Aufgeteilt wird nur in Winter- und Sommersemester,ansonsten sind die Beitrge wild durcheinander, was das Le-sen umso spannender macht, weil man auch in kleinen Ab-schnitten lesen kann. Auf die Berichte der Studenten folgt einwenig Theorie: Welcher Interviewleitfaden wurde verwendet,zusammenfassende Interviews, Tipps zum Weiterlesen. Allesin allem bringt einen das Buch der Problematik des Flaschen-sammelns auf eine einfache und wirkungsvolle Weise nahe.

    Bei mir fhrte das Buch zu offeneren Augen im Alltag. DieFlaschensammler, die ich zwar schon immer wahrgenommenhabe, sind pltzlich nicht einfach mehr Flaschensammler, son-dern ich frage mich, welche Geschichte sie erzhlen knnen,welches Schicksal oder welche Entwicklung sie zum Sammelngebracht hat. Wer sich nicht traut, nach diesen Geschichtenzu fragen, dem sei die Lektre von Flaschensammeln sehrans Herz gelegt.

    Buchcover (Quelle: Verlag Galiani)

  • 7/17/2019 Anarchie - Ausgabe 18-2015 des strassenfeger

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    srasseneger | Nr. | Sepember TAUFRISCH & ANGESAGT | S p o r t

    Leidenschaft schlgt Klasse

    fast...Die Eisernen erkmpfen ein Remis gegen die Leipziger BullenB E R I C H T : A n d r e a s D l l i c k

    Dieses Spiel hatte es in sich 1. FCUnion Berlin gegen RB Leipzig. Amfnften Spieltag der 2. Bundesligaging es fr beide Trainer vor 21.283

    Zuschauern im Stadion An der Alten Frste-rei darum, drei Punkte fr den avisierten Auf-stieg in die 1. Bundesliga einzufahren. In diesem

    Spiel steckte enormer Zndstoff: Fr die Ei-sernen sind die Bullen aus Leipzig ein RotesTuch. Dementsprechend hatten sich die BerlinerFans etwas ausgedacht: Alle Unioner kommenin Rot. Zustzlich hatte man beschlossen, dieersten 15 Minuten schweigend zu begleiten. Sowar es dann auch: Das Stadion war ein Meer inRot, und es war still. Nicht ganz, die RB-Fansnutzten die Chance, schwenkten ihre Fahnenund skandierten: Auf gehts Leipziger Jungs,schiet ein Tor fr uns! und Ohne Leipzig, wrhier gar nichts los! Ab der 15. Minute beende-ten die Unioner ihre Schweigezeit und lfte-ten das erste Banner, auf dem in Anspielung aufden Sponsor der Leipziger, Red Bull, zu lesenwar: Ein berauschender Abend auf Adrenalin,

    statt knstlich geschaffen durch Taurin! Dazukamen dann noch Banner, auf denen auf dieWerte eines Traditionsklubs verwiesen wi