strassenfeger Ausgabe 20 2013 - Momente

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    Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 20, Okober 2013

    BUNDESTAGSWAHLSieg oder Niederlage (Seie )

    BABY SMILEGeschf mi dem ersenMomen (Seie )

    GEKNDIGT!mob e.V. und die Prenzlauer

    Allee (Seie )

    MOMENTE

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    srasseneger | Nr. | Okober | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraenzeiung srassenegerwird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V.herausgegeben. Das Grundprinzip des srassenegeris: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srassenegerwird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-senegerbiee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie knnen selbs enschei-den, wo und wann sie den srassenegeranbieen. Die Verkuer erhaleneinen Verkuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau des srassenegersoziale Projeke wie die Nobernachung und den sozialen TreffpunkKaffee Bankrot in der Prenzlauer Allee 87.Der Verein erhl keine saaliche Unerszung.

    Liebe Leser_innen,im Leben gibt es immer wieder ganz besondere Momenten, he-rausragende Augenblicke, die man nie vergisst. Es fngt an mitder ersten groen Liebe. Jeder erinnert sich gern an den erstenzarten Kuss und daran, wie das Herz schmerzte, als die ersteLiebe verblht war. Und dann ist da dieser unvergessliche Mo-

    ment, wenn ein Kind geboren wird. Wenn man es zum erstenMal in seinen Hnden hlt und das erste se Kinderlachengeschenkt bekommt. Aber auch an die wunderbaren Tage derKindheit denkt man mit Wonne zurck (S. 6).

    Aber ja, es gibt auch die anderen Momente, die sich einem ganztief ins Hirn, ins Gedchtnis brennen. Wer als Kind den Krieg er-lebt hat, mit all seinen Schrecken und Gruel, der wird diese Er-lebnisse nie ganz verdrngen knnen (S. 14). Ganz schlimm sinddie Momente, in denen man sich verabschieden muss von einemgeliebten Menschen, wenn man hilflos ist und voll von Schmerzim Angesicht des unerbittlichen Todes (S. 10, 11, 13 und 14).

    Ganz anders dagegen die Momente, in denen oft klingt das sehrhochtrabend Geschichte geschrieben wird. Eine Bundestags-

    wahl ist so ein Moment. An einem ganz bestimmten Tag entschei-den die Brger_innen darber, wer ein Land fr ein paar Jahrefhren soll. Dabei gibt es Gewinner und Verlierer (S. 4). Auchim Sport gibt es sie, die herausragenden Augenblicke: Im Fuballfllt ein wichtiges oder ein sehr schnes Tor, zwei Mannschaftenliefern sich atemberaubende Duelle, einem groen Favoriten aufden Sieg versagen die Nerven (S. 26/27). Immer dabei ist derFotograf, der Chronist des besonderen Augenblicks, der Mensch,der ihn festhlt fr die Ewigkeit (S. 7).

    Neben diesen Momentaufnahmen haben unsere Autoren aberauch wieder allerhand Kunst im Angebot: In unserer Reiheber die kongeniale Ausstellung Arte Postale in der Akade-mie der Knste berichten wir ber das famose Mail-Art-ArchivGuillermo Deislers. Und wir stellen Ihnen Kirsten KlcknersBeuteKunst I und II vor.

    In dieser Ausgabe erzhlen wir Ihnen auch weiter ber die Ge-schichte unseres Stammsitzes von mob e.V. in der PrenzlauerAllee 87. Diesmal geht es darum, wie wir mit eigener Kraft undvielen Spenden unsere Notbernachtung Ein Dach ber demKopf und den sozialen Treffpunkt Kaffee Bankrott aufgebauthaben. Demnchst mssen wir dort raus. Unsere Vermieterin hatuns gekndigt (S. 24/25).

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    MOMENTEMomene was sie uns bedeuen

    Auregende Momene der Bundesagswahl

    Wie ich geboren wurde

    Ein Foo hl einen Momen esBaby Smile: Das Gesch mi dem

    ersen Momen

    Suizid im Aler Das Leiden dahiner

    Auch der Tod kose Geld und ha seine Regeln

    Hospiz: Tod, was is dein Ziel?

    Als Kind im Schuzbunker

    Auseinandersezung mi dem Tod

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n f e g e rKirsen Klckner Beuekuns II

    Are Posale in der Akademie der Knse

    Guillermo Deislers Mail-Ar-Archiv

    k a f f e e | b a n k r o t tDer Barpianis Chriso P zu Gas im TV-Sudio

    des srasseneger

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    V e r e i nmob e.V. und die Prenzlauer Allee Wie alles

    begann und wie alles vielleich ende ()

    Kaffee Bankrot & Nobernachung

    S p o r tUnion Berlin: Zwischen Jubel & Frus

    Herha BSC au einem guen Weg

    E i n k a u f e nSchnppchen im Sozialwarenkaufaus

    Trdelpoin

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rDarlehen TEIL IV

    K o l u m n eAus meiner Schnupabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    srasseneger | Nr. | Okober MOMENTE |

    MomenteWas sie uns bedeutenB E T R A C H T U N G : B e r n h a r d t

    Das Wort Moment ist abgeleitet von dem La-teinischen movere, was soviel heit wie be-wegen. Es hat zwei Bedeutungen, was manan den unterschiedlichen Geschlechtswortenerkennen kann: das Moment und der Moment.

    Das Moment ist laut Duden Band 7, Herkunftswrterbuch,1963, aus dem lateinischen momentum entlehnt: Bewe-

    gung; Bewegkraft in dessen wohl ursprnglicher Bedeutungals bergewicht, das bei gleich schwebenden Waagebalkenden Ausschlag in der Bewegung gibt; im bertragenen Sinne:kritischer, ausschlaggebender Augenblick; im weiterenSinne: ausschlaggebender Umstand (z. B. der Tropfen, der dasFass zum berlaufen bringt), Merkmal, Gesichtspunkt. In derPhysik kennt man das Drehmoment.

    Der Moment entstand laut Duden (aaO.) in einer weiterhinbertragenen, jetzt aber allgemeinen Bedeutung und bezeich-net eine kurze Zeitspanne, Augenblick; Zeitpunkt.

    Moment hin oder her. Hiermit war eigentlich immer ein Aus-schnitt aus einer Bewegung gemeint, was dem Naturgesetzder Bewegung entspricht. Alles fliet, wussten schon die

    alten Griechen; panta rhei (Heraklit, 536 - 475 v. Chr.); allesSein ist ein Werden und Vergehen, oder Man steigt niemalsin denselben Fluss (deutsches Sprichwort). Darauf beruhenauch die Erkenntnis, dass die Zeit alles heilt, weil es ja im-mer weiter geht, und das Prinzip Hoffnung (Ernst Bloch,1885 - 1977), weil man bei der stndigen Bewegung und da-mit nderung der Umstnde und Verhltnisse knftig einmalGlck in seinen Angelegenheiten haben kann.

    Neben dem Gesetz der Bewegung gibt es noch eine Reiheanderer Naturgesetze; z.B. das Gesetz der Wechselwirkung.Es wird gut veranschaulicht durch das Bibelwort Was derMensch st, das wird er ernten. Alles, was man tut, unter-lsst oder auch nur denkt, wird auf den Urheber zurckfal-len; und zwar in dem Ausma, das als Folge seines Verhal-tens bei anderen und davon betroffenen weiteren Anderenentstanden ist. Wer Wind st, wird Sturm ernten, lautetein Sprichwort.

    Umgekehrt folgt aus dem Gesetz der Bewegung, dass es soetwas wie Stabilitt nicht geben kann; weder Geldwertsta-bilitt noch Besitzstandswahrung. Diese kmen zwar demmenschlichen Bedrfnis nach Sicherheit entgegen, sie sindaber wegen der stndigen Bewegung im Universum und aufder Erde unmglich. Nur der Wandel hat Bestndigkeit,sagt ein sophistisches Sprichwort. Wrden sich die Menschenihre Abhngigkeit von der Natur und von deren Gesetzen de-

    mtig und dankbar eingestehen und mit diesen Gesetzen imEinklang leben, mit und in ihnen schwingen, htten sie vielweniger Probleme auf der Erde, als es gegenwrtig der Fall ist.

    Ferner gibt es das Gesetz des Ausgleichs. Alles muss zu ei-nem beweglichen (labilen, nicht stabilen) Gleichgewicht zu-rckkehren, in eine Balance. Der Kaufmann nennt das Bilanz.Nirgendwo wachsen die Bume in den Himmel, wussteschon meine Gromutter. Der Vergleich mit einem Mobiledrngt sich auf, wo die einzelnen frei schwingenden Balkensich in einem beweglichen Gleichgewicht befinden mssen.

    Demgegenber bezeichnet die in der allgemeinen Umgangs-sprache heute verbreitete Bedeutung Zeitpunkt etwasFeststehendes, eine Momentaufnahme, ein stehendes Bild

    und nicht einen laufenden Film. Diese letzte Entwicklungs-stufe des Begriffes Moment kommt dem menschlichenBedrfnis nach, in dem stndigen Getriebe des Lebens unddamit der Evolution einmal inne zu halten, sich zu besinnenund ber das bisher Abgelaufene nachzudenken, sich dessenbewusst zu werden. Das gilt besonders fr einschneidendeEreignisse wie Geburt und Tod. ber Letzteren knnen na-trlich nur die berlebenden nachdenken. Was der Verstor-bene nach seinem irdischen Ableben und nach dem Hin-bergehen seines geistigen Kerns (Seele) in das Jenseits tut,entzieht sich unserer Kenntnis. Wir wissen also nicht, wieer sich mit seinem Schicksal, mit der Bilanz seiner frherenirdischen Leben, auseinandersetzt.

    Fr uns Irdische haben aber solche Standbilder oder Moment-aufnahmen eine groe Bedeutung bei der Bewusstwerdung vonuns selbst, fr unsere Standortbestimmung im Leben, fr un-sere Erinnerung und fr unser weiteres Wirken auf dieser Erde.

    Elbe in Bad Schandau (Foo: Wikipedia/Chr95)

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    Top oder Flop!?

    Was geht?Die aufregenden Momente der Bundestagswahl 2013B E T R A C H T U N G & F O T O S : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    Alle vier Jahre findet an einem ganz bestimmtenTag die Wahl der Mitglieder des Deutschen Bun-destags statt. Um Punkt 18 Uhr verffentlichendie TV-Sender die erste Hochrechnung der fh-renden Meinungsforschungsinstitute zum Ab-

    stimmungsverhalten der Whler. Diesem Augenblick fiebernvor allem die sich zur Wahl stellenden Politiker und Parteien

    entgegen. Entscheidet sich doch damit, wer fr die nchstenvier Jahre die Weichen in unserem Land stellt. Wer bekommtden Auftrag, eine Regierung zu stellen? Wer wird Bundes-kanzler_in? Kann man das Land allein regieren oder brauchtman Koalitionspartner? Schafft man berhaupt den Sprungber die gesetzlich festgeschriebene 5-Prozent-Hrde ins Par-lament? Aber auch fr uns Brger, fr den Souvern, ist der18-Uhr-Termin eine durchaus spannende Angelegenheit: Ge-winnt der Politiker bzw. die Partei, der wir unsere Stimme ge-geben haben? Was passiert mit denen, deren Politik wir ganzentschieden ablehnen? All das findet sich zumeist schon in derersten Hochrechnung der Demoskopen um 18 Uhr.

    M i t S p e c k f n g t m a n M u s eo d e r W h l e r _ i n n e n !

    Dabei dauert eine Bundestagswahl eigentlich viel lnger, alsdiese Fokussierung auf diesen einen Moment. Wochenlang, jamonatelang buhlen die Politiker und die Parteien um unsereStimmen. Sie suchen nach Schwachpunkten beim politischenGegner. Sie engagieren Spindoktoren, die ihnen erzhlen, wasihre Strken sind, mit denen sie beim Wahlvolk punkten kn-nen. Und dann, nach dieser Analyse, die zumeist zuvorderstnur dem eigenen Machterhalt oder der Eroberung der Machtdient, werden uns Versprechen gemacht: Steuern runter,Steuern rauf. Mehr Geld im Portemonnaie das zieht immer!Freiheit und Demokratie kommen gleich danach. Na klar, nie-mand mchte bevormundet werden. Niemand mag es, jedeSekunde seines Lebens ausgespht zu werden. Atomkatastro-phen wie in Fukushima oder Tschernobyl wnscht sich auchganz sicher keiner. Gutes, biologisch einwandfreies Essen, das

    auch noch erschwinglich ist, isst jeder gern. Mit allen diesenVersprechen sozusagen dem Speck der Politiker, fngt manuns, die Muse. Zumindest versuchen sie es. Und das, wiegesagt, wochenlang, ja monatelang. Dabei scheuen sie sichnicht, zu lgen, zu betrgen, zu verflschen bzw. sich gegen-seitig anzuschwrzen, zu verleumden, mies zu machen. Na ja,zugegeben: Es gibt auch viele ehrliche, aufrichtige Politiker!

    M e r k e l s i t z t a u s , s t a t t a n z u p a c k e n u n d d a s i n b e s t e r K o h l s c h e r M a n i e r

    Schauen wir uns mal die letzten Wochen vor dem 22. Septem-ber an: Ausgerechnet Angela Merkel (CDU) kndigte auf derletzten Bundestagssitzung an, sie werde bei einem Wahlsiegals eine der ersten Manahmen eine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) angehen. Es msse die Dynamikder Kostenentwicklung gestoppt werden. Ein Durchschnitts-haushalt msse 2014 voraussichtlich rund 225 Euro nur fr

    die kostromfrderung zahlen, statt bisher 185 Euro. Klingtgut, nicht wahr? Aber: Geht es Frau Merkel tatschlich um die

    Entlastung der Brger_innen oder eher der Konzerne? Und warum hat die Frau Bundeskanzlerin das nicht in der letztenLegislaturperiode erledigt? Weil sie eben lieber aussitzt, stattaktiv zu werden. Darin ist sie mittlerweile schon deutlich bes-ser als ihr Ziehvater Helmut Kohl!

    D i e F D P - D u m m s c h w t z e r m s s e n i n d i eA u e r p a r la m e n t a r i s c h e O p p o s i t i o n

    Oder nehmen wir FDP-Fraktionschef Rainer Brderle (FDP):Ausgerechnet er hielt dem SPD-Kanzlerkandidaten PeerSteinbrck vor, einen Wahlkampf unterhalb der Grtelliniezu machen. Der Vorwurf an Merkel, sie habe in der Sphaffreder Geheimdienste ihren Amtseid verletzt und Deutschlandnicht geschtzt, sei vllig daneben gewesen. Und er setzte

    noch einen drauf und beschimpfte Steinbrck als Besserwis-ser, der eigene Fehler ausblende: Sie haben eine Pannensta-tistik wie ein Fiat Punto und fhren sich auf, als ob Sie einSpitzen-BMW wren. Na ja, die Quittung dafr hat Brder-les FDP von den Whler_innen prompt bekommen.

    S t e i n b r c k s K l a r t e x t k o m m t v i e l z u s p t

    Aber auch Steinbrck startete erst auf eben jener Plenar-sitzung die Generalabrechnung mit Angela Merkel. Ange-kndigt, abgewartet, ausgesessen, habe sie. Die Kanzlerinhabe kein Projekt und keine Vision gehabt, die ber dieseLegislaturperiode hinaus Deutschland Zukunft und Richtunggegeben habe. Wann haben Sie Ihr Amt in die Waagschalegeworfen ... und Ihre Richtlinienkompetenz ausgebt, umdiesem Land eine Richtung zu geben, fragte Steinbrck.Und: Die Kanzlerin sei fr das tatenloseste, zerstrittenste,rckwrtsgewandteste aber vollmundigste Kabinett seit der

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    Im Willi-Brand-Haus waren SPD-Anhnger und

    Medien au die erse Hochrechnung

    Erncherung mach sich brei bei den SPD-Anhngern

    Jrgen Tritin (Bndnis 90/Grne) rit nach der

    Wahl ab

    Angela Merkel (CDU) bleib die Muti der Naion

    Peer Seinbrck hate es wohl geahn

    srasseneger | Nr. | Okober MOMENTE |

    deutschen Wiedervereinigung verantwortlich.Starker Tobak, aber sicher wahr. Nur warum hatSteinbrcks SPD diese Politik nicht whrend dervergangenen vier Jahre nicht genauso hart kriti-siert und die Whler_innnen durch eine eigene,berzeugende Politik fr sich gewonnen? Ge-rade einmal 25,7 Prozent der Whler verbuchte

    die Sozialdemokratie!

    M i t V e g g i e - D a y a u f S t i m m e n f a n g

    Aber auch Bndnisgrne und die Linke habensich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. KatrinGring-Eckardt, Spitzenkandidatin der Gr-nen, warf Merkel in der Debatte vor, sozialeProbleme zu ignorieren und das Land mde zulcheln. Auerdem unterstellte sie der schwarz-gelben Regierung eine Konterrevolution inder Energiepolitik. Recht hat sie. Aber habensich die Grnen tatschlich energisch dagegengestemmt? Warum war es ihnen im Wahlkampfwichtiger, auf Steuererhhungen und auf einen

    vorgeschriebenen vegetarischen Tag zu setzen,statt auf die wahren grnen Kernthemen? Si-cher: Steuererhhungen fr die Groverdienersind unabdingbar, will man das soziale Gleich-gewicht bewahren und die Leistungen von Staatund Kommunen sichern. Nur muss man das demVolk nachvollziehbar kommunizieren, genauso,dass es wichtig ist, auch mal auf Fleisch verzich-ten zu knnen, nicht zu mssen.

    D i e M a c h t b z w . O h n m a c h t d e r L i n k e n

    Was ntzt es der Linken z. B., stndig die Sozial-demokraten anzufeinden, statt sich den wahrenGegner, die schwarz-gelbe Regierungskoalition,vorzuknpfen? Wie will Die Linke es schaf-fen, von anderen Parteien als mglicher Partnerin einer Koalition akzeptiert zu werden, wenn

    man nichts Besseres anzubieten hat, als die ei-gene Partei als einzige Alternative gegen eineangebliche Konsenssoe aller versammeltenpolitischen Konkurrenz zu empfehlen? Sicherhat Linke-Fraktionschef Gregor Gysi Recht,wenn er darauf verweist, dass ohne seine Parteiim Bundestag so wichtige Themen wie Hartz IV,Rckkehr zur Rente mit 65, Altersarmut oder dieBundeswehreinstze im Ausland niemals so kon-trovers diskutiert worden wren. Ganz bestimmtist Die Linke ein Gewinn fr die Demokratie,nur sie muss auch bereit und in der Lage sein,Verantwortung zu bernehmen. Und dazu ge-hrt in einer parlamentarischen Demokratie nun

    mal auch Konsensbereitschaft und fhigkeit.

    V o n S i e g e r n & V e r l i e r e r n

    Fr all diese gab es am Wahlabend um 18 Uhrdie Quittung. Tatsache ist, dass es in Deutsch-land trotz Whrungskrise etc. immer noch sehr,sehr vielen Menschen gut geht. Zumindest, wennman uns mit den anderen Lndern in Europaoder der Welt vergleicht. Und die, denen es gutgeht in diesem Land, die haben diese Kanzlerin,die Mutti der Nation, und deren Partei, die CDU/CSU gewhlt. Man hat halt Sehnsucht nach Ge-borgenheit und Sicherheit und schlpft sehr gernunter Muttis Rocksche.

    Null Bock mehr hatten die Whler auf dieverlogene Partei der Besserverdienenden, aufdie Rslers, Brderles und Westerwelles, die

    allen Ernstes glaubten, man knne die Wahr-heit ber das Auseinanderdriften der Gesell-schaft aus dem Armuts- und Reichtumsberichteinfach rauszensieren. Die eine Klientel-Politik unfassbaren Ausmaes betrieben undden viel strkeren Koalitionspartner CDU/

    CSU mehr als einmal vor sich hertrieben wiedumme Schafe.Aber auch SPD, Grne und Linke konnten

    sich am 22. September um 18 Uhr nicht wirklichfreuen. Zwar wurde das Ziel, Schwarz-Gelbzu strzen, erreicht. Aber was kommt nun? Dieeinzige Koalition, die das Land wirklich voran-bringen knnte, wird es nicht geben. Schwarz-Rot bzw. Schwarz-Grn steht zu befrchten.Wohin die Reise geht, wir werden es sehen. Nichtmehr an Bord sind die fhrenden Grnen und dieFDP. Und ob Peer Steinbrck noch eine heraus-ragende Rolle bei den Sozialdemokraten spielenwird, steht in den Sternen. Vielleicht wird es so-gar Neuwahlen geben, an einem ganz bestimm-ten Tag. Und dann, um 18 Uhr, ist er wieder da,dieser spannende, ganz besondere Moment. Wirwerden dabei sein.

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    Jan Markowsky unerm Weih-

    nachsbaum

    Jan Markowsky als kleiner Junge

    (Quellen: Jan Markowsky)

    srasseneger | Nr. | Okober | MOMENTE

    Der AugenblickMeine entscheidenden MomenteE R I N N E R U N G E N & F O T O S : J a n M a r k o w s k y

    Es gibt Momente, da bin ich selbst die Hauptper-son und ich bekomme davon nichts mit oder ichkann mich nicht erinnern. Dabei sind das dieentscheidenden Momente fr mich. Ich kannmich nicht erinnern, warm und zufrieden im

    Bauch meiner Mutter geschwommen zu sein. Irgendwann

    kam der Augenblick, an dem es mir dort zu eng war. Dasist Jahrzehnte her.

    V o r g e s c h i c h t e 1

    Maria Markowsky wurde 1923 in Greifswald als Maria Petzschgeboren. Sie ist mit einem groen Bruder und einer kleinenSchwester aufgewachsen. Ihre Mutter war Krankenschwester,ihr Vater hat sich aus bescheidenen Verhltnissen zum Profes-sor fr alte Geschichte an der Ernst-Moritz-Arndt-Universitthochgearbeitet. Von der Untermiete bis zur eigenen Villa inGreifswald. Aufsehen erregte er, als er bei Grabungen mitStudenten auf Hiddensee einen Goldschatz fand. Er ist nachlanger, schwerer Krankheit 1936 gestorben.

    Maria ging ins Lyzeum, das ist eine hhere Schule frMdchen. Der Besuch im Lyzeum hat dafr gesorgt, dass Ma-

    ria ein Leben lang Horror vor Mathematik hatte. Dem Zeit-geist folgend machte sie bei der Naziorganisation fr MdchenBDM mit und wurde im Krieg zu Schanzarbeiten eingezogen.Natrlich musste sie fliehen und kam dank glcklicher Zuflleheil da raus. Sie kam auch zurck zu ihrer Mutter. Der Bruderist als Soldat in Russland gefallen. Nach dem Krieg musstensich Frau Professor und ihre Familie die Villa mit einer Offi-ziersfamilie der Sieger teilen. In der Besatzungszeit begann siezu studieren. Medizin in Greifswald.

    V o r g e s c h i c h t e 2

    Werner Markowsky wurde im Februar 1922 als Sohn des Fri-seurehepaars Robert und Anna Markowsky in Berlin geboren.Der Friseur und die Friseuse lebten bescheiden zur Miete in der

    Straburger Strae. Groe Sprnge konnte sich ein selbstndi-ger Friseurmeister im Berlin der 20er Jahre nicht erlauben, wenndie Kunden normale Arbeiter und kleine Angestellte waren. DerPrenzlauer Berg, heute ein angesagtes Wohnquartier, war Jahr-zehnte lang ein Arbeiterbezirk. Robert war als junger Mann sehrinteressiert, und in den 20-er Jahren pulsierte in Berlin das Le-ben. Besonders nachhaltige Eindrcke hinterlieen Vortrgenber Gesundheit die Vorfhrungen von Hypnose auf ihn.

    Robert trumte, wie es sei, Arzt zu sein. Er konnte sichseinen Traum nicht erfllen. Er hatte aber seinen Sohn Wer-ner. Der musste sich nach der Grundschule mit Latein qu-len. Auf dem Gymnasium der 30er und 40er Jahre ging ohneLatein nichts. Der Krieg der Nazis ist fr Werner Chance frAusbruch. Er meldet sich freiwillig, macht Notabitur undwird Soldat. Er wird in Frankreich und in Russland eingesetzt.Im russischen Winter holt er sich Erfrierungen an den Zehen.Eine flapsige Bemerkung bei einem glubigen Nazi sorgt dafr,dass er sich freiwillig zur Luftwaffe meldet. Er muss nicht flie-

    gen, dafr abgeschossene Flieger und ihre Erken-nungsmarken bergen. Danach Gefangenschaft,russische Gefangenschaft. Er muss hungern,jahrelang. Aber er berlebt. Er berlebt auch dieFieberschbe des Typhus. Irgendwann kommter aus der Gefangenschaft frei. Er schlgt sichdann zu seinen Eltern durch, aber auch da wirdgehungert. Trotz der alles andere als gnstigen

    Umstnde beginnt er, Medizin zu studieren. Ander Ernst-Moritz-Arndt-Universitt Greifswald.

    D e r A u g e n b l i c k

    Werner Markowsky und Maria Petzsch studie-ren gemeinsam Medizin in Greifswald. Wie dasso ist, sie untersttzen sich beim Lernen, gehennach dem Lernen spazieren. Irgendwann wirdbeim Spaziergang gefragt, wie das mit Heirat sei.Sie heiraten und beziehen eine kleine Mansardein der Professorenvilla. Es kam wie es kommenmusste. Und als es mir ganz deutlich zu eng inMutters Bauch wurde, stand mein knftiger Va-ter etwas unschlssig im Flur der Universitts-

    frauenklinik. Ein Professor dort erkannte ihnund fhrte ihn mit Kommen Sie, junger Mann!Schauen Sie sich ruhig an, was Sie angerichtethaben! in den Kreisaal.

    E p i l o g

    Fast zwei Jahre spter wurde mein Bruder Berndgeboren. Das schlechte Mensaessen der UniGreifswald fordert seinen Tribut: Mein Vater flltdurch das Physikum. Sein Gedchtnis kann dievielen lateinischen Begriffe nicht abspeichern.Er muss aber eine Familie ernhren. Er erfhrt,dass im Uranbergbau gut verdient wird. Er fngtbei der Wismut im Erzgebirge an. Er wird nachkurzer Zeit Steiger. Meine Mutter zieht nach Ab-schluss ihres Studiums nach und wird rztin imKrankenhaus Aue.

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    srasseneger | Nr. | Okober MOMENTE |

    Der besondere AugenblickEin Foto hlt einen Moment fest und bewahrt ihn fr immerB E T R A C H T U N G & F O T O S : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    Ein guter Fotograf ist immer auch ein Chronist des

    ganz besonderen Moments. Er steht immer vor derschwierigen Entscheidung: Wann drcke ich aufden Auslser? Neben rein Technischen Fragen wie ist es z. B. um die Verzgerung der Kamera

    bestellt, schiet sie sehr schnell oder eher langsam geht esvor allem um die ganz persnliche Entscheidung: Das ist er,der ganz besondere Augenblick, den es gilt festzuhalten frdie Ewigkeit oder wenigstens so lange, wie das Fotopapiernicht verblasst oder die elektronische Speicherung funktio-niert. Natrlich ist es mig, sich darber zu streiten, wel-cher Moment denn so wertvoll ist, dass er bewahrt werdenmuss. Oder welches Motiv diesen Wert besitzt. Das liegt ganzsicher zuallererst in der ganz subjektiven Einstellung des Fo-tografen. Aber natrlich ganz oft auch in der Einstellung ei-nes Auftraggebers, eines Kunden, insbesondere, wenn es um

    professionelle Fotografie geht.

    S c h n a p p s c h u s s o d e r K u n s t ?

    Ich persnlich sehe mich eher als Knipser, als Laie. Ich fo-tografiere Subjekte und Objekte fr diese Zeitung. Es sindeher zufllige Schnappschsse, einfache Reportagefotos, ge-whnliche Momentaufnahmen, die helfen sollen, die eigenenTexte und die unserer ehrenamtlichen Autoren zu bebildern.Manchmal ergeben sich glckliche Momente dabei und wennalles passt, dann entsteht so auch schon mal ein gelungenerSchnappschuss. Im digitalen Zeitalter, in dem es nicht mehrdarauf ankommt, Filmmaterial zu sparen und nur genau dasMotiv auszuwhlen, von dem man wei, das es am Ende funk-tioniert, wird Fotografie natrlich inflationr, d. h. man kannauf den Auslser drcken und die schnelle Spiegelreflexka-meras macht bis zu 13 Bilder pro Sekunde. Eines davon wirdganz sicher gut.

    F o t o g r a f i e r e n i s t w u n d e r b a r !

    Mein Freund, der Ostkreuz-Fotograf HaraldHauswald, lehnt das strikt ab. Ihm, als gelerntemFotoknstler, ist es extrem wichtig, dass er ent-scheidet, was das besondere Motiv ist, welcherMoment ganz einzigartig ist, und was sich tatsch-lich lohnt, aufbewahrt zu werden. Seine grandio-sen Fotos beweisen, was fr ein Gespr er fr denganz besonderen Augenblick hat. Beide Herange-hensweisen haben ihre Berechtigung, sowohl diedes schnellen, flchtigen Reportagefotos einesJournalisten, als auch die der sorgfltig ausgewhl-ten, knstlerisch vorbestimmten Fotografien einesKnstlers. Am Ende steht: Beide haben einen ganzbesonderen Moment fr sich und andere Men-schen bewahrt. Das ist ganz wunderbar!

    Die beiden Frauen

    werden es mir hoffenlich

    verzeihen, dass ich sie

    ungewoll au dem Tr-

    delmark am Mauerpark

    abgeliche habe. Ich war

    selbs sehr erschrocken.

    Aber es is ein ganz wun-

    derbarer Momen!

    Der Welmeiser im

    Sabhochsprung Raphael

    Holzdeppe flieg am

    Brandenburger Tor!

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    Tauchender Sugling beim Baby-

    schwimmen

    (Quelle: Wikipedia/MaserFinally)

    60 000 oografiere Babys (lau

    Facebook) in ber 300 Kliniken in

    Deuschland (Screensho)

    Baby Smile gib sich nach auen

    hin proessionell, air und mi Link

    zu Unice sozial (Screensho)

    Ach Wochen ales Baby(Quelle: Wikipedia/MaserFinally)

    INFO

    babysmile24.de babysmile24-klinikoograie.de oooo.de oobuchexpress24.de

    srasseneger | Nr. | Okober | MOMENTE

    Das Geschftmit dem erstenMomentAuf vielen Geburtsstationen kann man sein Baby

    professionell fotografieren lassen. Doch das verant-wortliche Unternehmen hat einen zweifelhaften Ruf.S T R A S S E N F E G E R I N V E S T I G A T I V : B o r i s B a b y r a z z o N o w a c k

    Einen Tag nach der Geburt stand die Fo-tografin in der Tr. Vor wenigen Stun-den hatte Andrea die kleine Maria ineinem Berliner Krankenhaus zur Welt

    gebracht. Es gab Komplikationen, sie wollteihre Ruhe und verstand nicht, was die fremdeFrau wollte. Die Fotografin gab ihr einen Ter-min fr den Folgetag, stand pnktlich um 11Uhr am Bett und machte zehn Minuten lang

    Fotos. Sie drckte dem Ehepaar eine Broschrein die Hand, lie Andrea eine Einverstndniser-klrung unterschreiben, damit Marias Foto inder Onlinegalerie erscheinen drfe. Das Gra-tisfoto knne man ein paar Tage spter in derKlinik abholen.

    Die Firma Baby Smile Fotografie OHGaus Chemnitz bietet diesen Service laut eige-ner Aussage in ber 300 Krankenhusern inDeutschland an, auerdem in der Schweiz undin sterreich. Die Meinungen dazu fallen in El-ternforen im Internet geteilt aus. Manche Paarefreuen sich, dass dieser Moment festgehaltenwird. Andere fhlen sich berrumpelt, vieleMtter wollen nach der Geburt schlicht Ruhefr sich und ihr Kind.

    Auffllig sind weitere immergleiche Kritik-punkte: berteuertes Produkt bei kurzer Dauer

    des Termins und wenig Kreativitt, Aufdrngenvon teuren Zusatzleistungen, Mahnungen perTelefon und Brief bei Nichtabnahme der Fotos.

    Denn mit dem Gratisfoto erhlt man gleich-zeitig die Option auf ein Paket mit Bilder-CD,Fotoalbum, Grukarten und einer groen Foto-leinwand. Kostenpunkt: rund 200 Euro.

    I m H o r m o n r a u s c h b e r r u m p e l t

    Auch Andrea und Marco realisierten erst zuHause, was sie ausgelst hatten, als sie der Fo-tografin die Erlaubnis erteilten, auf den Auslserzu drcken. Zu teuer, fanden sie, und schicktenihr eine Absage. Sogleich kam der Rckruf. ZehnMinuten lang erklrte Marco, dass kein Interessebestehe. Nach zwei Monaten traf das Paket vonBaby Smile ein unbeauftragt. Das Ehepaarahnte, was drin ist: das komplette Angebot derBroschre. Sie verweigerten die Annahme underhielten zwei Tage spter erneut einen Anruf.Die beiden blieben stur, zumal sie selbst guteFotos machen: Sie ist Architektin, er Knstler.Doch viele Eltern knnen dem eigentlich uner-wnschten Angebot mit den halt doch so senBildern nicht widerstehen. Taktik?

    Grundstzlich begren die Kliniken den

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    Fotoservice, heit es auf Nachfrage im Krankenhaus. Aller-dings sei bisher nicht bekannt gewesen, wie aggressiv und zuwelchem Preis das zustzliche Material beworben wird. Esist nicht vertretbar, wenn Eltern unter Druck gesetzt werden.Dann gibt man viel Geld aus, was man unter normalen Um-stnden nicht wrde oder knnte, sagt die Pressesprecherineiner Klinik.

    D e r D r u c k v o n o b e nw i r d n a c h u n t e n w e i t e r g e g e b e n

    Die Fotografinnen arbeiten auf Provisionsbasis, obwohl dasUnternehmen auf seiner Website mit festangestellten wirbt.Deshalb mssen sie verkaufen. Auch die Professionalitt istfraglich. Baby Smile sucht seit Jahren regelmig auf Job-plattformen nach Mitarbeiterinnen, Kenntnisse in Fotografiesind erwnscht, aber nicht Voraussetzung. Whrend einesdreitgigen Seminars werden die Kandidatinnen auf ihren Jobvorbereitet.

    Das Geschft muss enorm lukrativ sein, denn dem Ge-schftsfhrer der Baby Smile Fotografie OHG, RonnyPoitzsch, gehren an derselben Adresse in Chemnitz auch diePhoto24 Production GmbH und die Photowelt24 GmbHsamt zugehriger Onlineportale, ber die Fotoprodukte verkauft

    werden. Man kann also zum Selbstkostenpreis produzieren.Ein Fotograf mit Studio verlangt rund 100 Euro fr seineArbeitszeit zuzglich Kosten fr Abzge. Mit Leinwand magauch das 200 Euro kosten. Doch nimmt sich der Fotograf an-derthalb Stunden Zeit und die Eltern kommen, wenn Mutterund Kind sich fit fhlen.

    Baby Smile uerte sich bis Redaktionsschluss nichtzu den Vorwrfen. Die sind dem Unternehmen jedochlngst bekannt: Auf Beschwerden in Elternforen und aufFacebook antwortet man regelmig und gelobt Besserung seit Jahren.

    Auch im Kantonsspital Baden in der Schweiz wusste mannichts von Kosten und Art, mit der die Firma noch Wochenspter auf die Eltern einwirkt. Nach einem kritischen Artikelin der Aargauer Zeitung hat man die Umstnde geprft unddie Zusammenarbeit mit Baby Smile beendet. Ein lokalesFotostudio hat nun den Auftrag. Die Kommunikation klapptund die Eltern sind glcklich, heit es aus Baden.

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    Das Leiden dahinterMitte September hat sich der Schriftsteller Erich Loest dasLeben genommen. Eine ffentliche Debatte lste der Suizidnicht aus, wird einem Mann in hohem Alter doch eine solche Tatzugestanden. Aber wie selbstbestimmt ist ein Suizid wirklich?T E X T : J u t t a H .

    Der deutschen ffentlichkeit war Erich Loestbekannt als Schriftsteller deutsch-deutscherGeschichte, dessen Werk sich zum groen Teilaus der eigenen Biografie speiste. Er galt alsAnwalt der kleinen Leute, die er in den Mit-

    telpunkt vieler seiner Bcher stellte. Erich Loest strzte sicham 12.September 87jhrig aus dem Fenster eines LeipzigerKrankenhauses. In den vielen Nachrufen, die seitdem berihn verffentlicht worden sind, vermuten Journalisten undWegbegleiter, Alter und Krankheit seien Loest wohl zur ber-groen Last geworden. Den Umstand, nicht mehr schreibenzu knnen wie frher, habe er nur schwer ertragen knnen.Der Akt der Selbstttung, heit es an mehreren Stellen, passezu einem, der immer Klartext geredet, sich nicht mit Halb-wahrheiten zufrieden gegeben habe.

    Der Suizid Erich Loests ist einer von sehr vielen Suiziden,

    die ltere und alte Menschen jhrlich in Deutschland begehen.Bei insgesamt rcklufigen Selbstttungszahlen bewegensich die Suizidraten alter Menschen konstant auf sehr hohemNiveau. 40 Prozent der etwa 10 000 jhrlichen Suizide wer-den von Menschen ber 60 Jahre begangen, einer Personen-gruppe, deren Anteil an der Bevlkerung bei 25 Prozent liegt.Jede zweite Frau, die sich in Deutschland das Leben nimmt, istber 60 Jahre alt. Im Gegensatz zu jungen Menschen begehenMenschen in hohem Lebensalter deutlich seltener Suizidver-suche, das heit, ihre Handlungen enden in den allermeistenFllen mit dem Tod. Entsprechend sind es besonders harteund effektive Methoden, die von alten Menschen zur Selbstt-tung gewhlt werden, wie zum Beispiel erhngen, erschieenoder ein Sprung aus groer Hhe.

    Prominente Flle von Suizid, wie der des Fuballspielers

    Robert Enke oder der der Schauspielerin Silvia Seidel rufenin Medien und ffentlichkeit stets eine grere Debatte her-vor, in der insbesondere die Frage nach dem Warum gestelltwird. Doch der Fall Erich Loest liegt anders. Der Schriftstel-ler war 87 Jahre alt, als er sein Leben eigenmchtig beendete.Da erbrigt sich wohl die Frage nach dem Warum. Man weija, dass, wer ein so hohes Alter erreicht hat, mit Gebrech-lichkeit, Schmerzen und Krankheit zu kmpfen hat, ja, sogardamit rechnen muss, zum Pflegefall zu werden. Empfindetman da nicht sogar Achtung fr den, der die noch bestehendeHandlungsfreiheit nutzt, um weiteren Einschrnkungen desAlters zuvorzukommen?

    W e r i m A l t e r b e r S u i z i d n a c h d e n k t , h a t d a ss e h r h u f i g a u c h s c h o n v o r h e r i m L e b e n g e t a n

    Mediziner, Therapeuten und Wissenschaftler beschftigensich noch nicht lange mit dem sogenannten Alterssuizid. Was

    man heute wei, ist, dass in aller Regel mehrere Faktoren zu-sammenkommen, die einen alten Menschen seine Situationausweglos erscheinen lassen. Mit dem Eintritt ins Rentenal-ter stehen ja viele Umbrche an, die Aufgabe des Berufes, der

    Auszug der Kinder, das Nachlassen der krperlichen Krftehinterlassen ihre Spuren. Noch schwerer wiegen Trennungoder Tod des Partners und chronische Krankheiten. Eineerhebliche Rolle bei der Entwicklung eines Todeswunschesspielen auch psychische Erkrankungen, allen voran die De-pression. Etwa 50 bis 60 Prozent der alten Menschen, diesich das Leben nehmen, sind depressiv, sagt Reinhard Lind-ner, Arzt fr Gerontopsychiatrie und langjhriger Leiter desTherapiezentrums fr Suizidgefhrdete des Universittskli-nikums Hamburg-Eppendorf. Ein wesentlicher Punkt sei,wie ein Mensch bisher durch sein Leben gekommen sei. Wirwissen heute, dass Menschen, die im Alter suizidal sind, sehrhufig im Laufe ihres Lebens das auch schon mal waren oderim Laufe ihres Lebens erhebliche zwischenmenschliche oderpsychische Probleme hatten, so Lindner.

    Eine Gruppe alter Menschen ist besonders suizidgefhr-det: Das sind Mnner ber 70, verwitwet oder schon immerallein lebend, mit Alkoholproblemen, sagt Reinhard Lindner.

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    Erich Loes au der LeipzigerBuchmesse 2006 (Quelle: wikimedia)

    Jede zweie Frau, die sich in

    Deuschland das Leben nimm,

    is ber 60 Jahre al

    (Quelle: Michael Peiffer)

    Gue Konake beugen

    Todeswnschen vor

    (Quelle: moor-alk.de)

    srasseneger | Nr. | Okober MOMENTE |

    Ein Teil von ihnen hat noch den Krieg miterlebt,als Soldat oder als Kind. Hufig brechen alteErlebnisse von Tod und Zerstrung, die jemandein Leben lang mit sich herumgetragen hat, imAlter an die Oberflche. Diese Menschen kom-men dann bei Erfahrungen von Verlust, von Ver-lassenheit, bei Erfahrungen von Krnkung oderVerletzung zu der berlegung, sich umzubrin-gen, sagt Facharzt Lindner. Doch so gro dasLeid, so gro ist auch die Hemmschwelle, sichHilfe zu holen. Angehrige der wohlerzogenen,gehorsamen Kriegsgeneration erlaubten sichhufig nicht, ber Suizid zu reden, selbst wennsie schon lange darber nachdchten, sagt Rein-

    hard Lindner. Viele, gerade Hochbetagte, seiender Meinung, dass man Probleme mit sich selberausmachen msse.

    A n s e i n e n L e i d e n s o r t B a u t z e nk e h r t e E r i c h L o e s t n i e z u r c k

    Lindner, der auch Psychotherapeut ist, warnt da-vor, den Suizid eines Menschen als freie, gut ber-legte Entscheidung zu werten. Man wisse heute,dass ein Suizid fast nie das Resultat einer rationalenAbwgung sei. Ein Suizid ist meist der Endpunkteiner psychischen Krise und groer innerer Not.Dieser psychische Zustand legt kaum die Mglich-keit einer freien Entscheidung nahe. Nicht jeder,der Suizidgedanken habe, wolle unbedingt sterben.Der Todeswunsch knne in der Regel als Ausdruckeiner subjektiv erlebten Ausweglosigkeit verstan-

    den werden, welche den Blick auf die Mglichkei-ten des Weiterlebens blockiere. Als Therapeut seies fr ihn wichtig, nach dem Leiden zu fragen, dashinter der Suizidabsicht stecke.

    Erich Loest war im Zweiten Weltkrieg Kind,Jugendlicher und dann im letzten Kriegsjahr nochSoldat. In der Folgezeit zunchst dem Staatssozia-lismus zugetan, wurde er bald zu dessen scharfemKritiker. Als politischer Schwerverbrecher lan-dete er fr sieben Jahre im Stasi-Gefngnis Baut-zen. Er erlebte dort eine Zeit, die er spter in seinerAutobiografie Durch die Erde ein Riss verarbei-tete. Doch wie viel war dabei Auseinandersetzungmit dem System, wie viel war Auseinandersetzung

    mit den persnlichen Haft-Erfahrungen? EvelynFinger, Redakteurin der Wochenzeitung Die Zeit,schreibt nach Loests Tod in einem Artikel berden Schriftsteller, dieser sei nach der Wende vonder Gedenksttte Bautzen wiederholt eingeladen

    worden, dort vor Publikum zu lesen. Ein Besuchdort wre fr Loest die Chance gewesen zu sehen,so Finger, dass das Zuchthaus von damals heuteein anderer Ort ist. Doch Erich Loest hat die Ein-ladungen stets abgelehnt. An diesen Leidensortkehrte er nie zurck.

    Die Frage nach dem Suizid betagter Men-schen habe auch eine gesellschaftliche Dimension,sagt Reinhard Lindner. Wenn Suizid zunehmendals Ausweg in hohem Lebensalter toleriert werde,bestehe die Gefahr, dass sich in einer Gesellschaftdas Gebot durchsetze, bei bestimmten krperli-chen Einschrnkungen, wie zum Beispiel Immo-bilitt oder Blindheit, aus dem Leben ausscheiden

    zu sollen. Fr diejenigen, die dann in diese Lagekmen, entstehe so eine ganz brutale Situation.Denn man knne sich dann nicht mehr sichersein, solange am Leben bleiben zu drfen, wie esmglich ist. Letztlich gehe es hier also um diezentrale Frage, wie eine Gesellschaft mit dem Alt-werden, mit ihren Mitmenschen umgehe.

    Evelyn Finger, die Zeit-Redakteurin, kannteErich Loest von mehreren Besuchen in seinerLeipziger Wohnung. In Artikeln, die sie nachseinem Tod ber ihn schrieb, fragt sie nachGrnden fr das vom Schriftsteller vorzeitigund eigenmchtig beendete Leben. Die Autorinzieht eine Linie zu den zwei deutschen Finster-nissen, die Loest berlebt habe und stellt dieVermutung an, dass einer, der ein berma anUnmenschlichkeit erfahren hat, vielleicht nieganz ins Helle zurckgekehrt ist.

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    Frisches Grab am Wesriedho in Mnchen (Quelle: Wikipedia/Usien)

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    Auch der Tod kostet Geld

    und hat seine RegelnWas man alles im Trauerfall beachten mussB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f

    Wenn ein lieber und nahestehenderMensch stirbt, trifft das die Hin-terbliebenen meist unvorbereitet.Immer hatte man gehofft, dass

    das glckliche Zusammenleben wenn nicht frdie Ewigkeit, dann doch fr lngere Zeit erhal-

    ten bleibt. Da denkt man nicht an die Stunde desAbschiednehmens, schon gar nicht spricht mandarber, denn das knnte ja so ausgelegt wer-den, als sehne man den Zeitpunkt herbei.

    W e l c h e F o r m a l i t t e n s i n dz u b e a c h t e n ?

    Tritt der Tod zuhause ein, muss ein Arzt geru-fen werden, der den Totenschein ausstellt. Ambesten macht das der Hausarzt, bei dem derVerstorbene in Behandlung war, denn er kenntdie Vorgeschichte und kann deshalb sicher einenatrliche Todesursache feststellen. Kann derherbeigerufene Arzt keine eindeutige Todesur-sache feststellen, wird die Kriminalpolizei ein-

    geschaltet, die den Leichnam vorbergehendbeschlagnahmt, um durch einen Amtsarzt nachObduktion die Todesursache feststellen und ei-nen Totenschein ausstellen zu lassen. Das kannbis zu eine Woche dauern.

    Mit dem Totenschein muss dann baldmg-lichst das Standesamt informiert werden, dasdann die Sterbeurkunde ausstellt. Dazu mssender Personalausweis des Verstorbenen, bei Ledi-gen die Geburtsurkunde, bei Verheirateten dieHeiratsurkunde oder das Familienstammbuch,bei Geschiedenen das rechtskrftige Scheidungs-urteil und bei Verwitweten die Sterbeurkundedes Ehegatten vorgelegt werden.

    Diese Formalitten erledigt in der Regel das

    Bestattungsinstitut fr die Hinterbliebenen. Esist daher wichtig, mglichst bald einen Bestat-ter zu beauftragen. Trauer und Piett scheinenes zu verbieten, nun zuerst Kostenvoranschlgeund Preisvergleiche einzuholen. Bestatter sindfreie Unternehmer, die ihre Preise selbst kalku-lieren und keiner Gebhrenordnung unterwor-fen sind. Da knnen schnell Preisunterschiedevon mehreren hundert Euro anfallen. Ein Preis-vergleich kann sich also lohnen.

    Als erstes muss mit dem Bestatter die Bestat-tungsart geregelt werden. Die Erdbestattung aufeinem Friedhof, bei der der Sarg mit dem Leich-nam nach einer Trauerfeier beigesetzt wird, istdie traditionelle Bestattungsform. Eine Erdbe-stattung kann auch anonym erfolgen. Dann wirdder Sarg auf einem Gemeinschaftsfeld beigesetzt;eine Kennzeichnung der Stelle erfolgt nicht. Bei

    einer Feuerbestattung wird der Tote zu einem

    Krematorium zur Verbrennung berfhrt unddann die Urne mit der Asche in einem Urnengrabbeigesetzt. Auch die Feuerbestattung kann ano-nym erfolgen. Auch eine Seebestattung ist mg-lich, allerdings nicht in einem der Berliner Seen,sondern nur irgendwo in den Weltmeeren.

    In Berlin herrscht freie Friedhofswahl. DieHinterbliebenen knnen entscheiden, auf wel-chem Friedhof der Angehrige seine letzte Ruhefinden soll. Sowohl stdtische als auch kirchlicheFriedhfe sind mglich. Die kirchlichen Friedhfesind nicht konfessionsgebunden. Die stdtischenFriedhfe sind allerdings ein paar hundert Euroteurer. Damit sind wir beim Geld.

    W a s k o s t e t e i n e B e s t a t t u n g ?

    Die preiswerteste Form ist die anonyme Feu-erbestattung. Sie kostet um 1 600 Euro. Einenormale Erdbestattung kostet um 2 500 Euro.Diese Preise sind die Basiskosten. Wenn es Ext-rawnsche gibt wie Musik oder besonderer Blu-men- und Pflanzenschmuck bei der Trauerfeier,geht das natrlich ins Geld. Auch wer seinenAngehrigen nicht in einem einfachen Reihen-grab bestattet wissen mchte und besondereWnsche hinsichtlich der Gre und Lage derletzten Ruhesttte hat, muss mit erheblich hhe-ren Kosten rechnen. Geistlicher Beistand wirdbei der Beerdigung von Kirchenmitgliedern inder Regel gratis gewhrt. Das Engagement ei-nes Trauerredners kostet 220 Euro, soll der zueinem Informationsgesprch einen Hausbesuch

    machen, kommen weitere 150 Euro dazu. Eben-

    falls kostensteigernd wirkt es sich aus, wennzwischen dem Eintreten des Todes und derBestattung mehrere Tage vergehen. Dann sindKhlungskosten fllig.

    Wenn die Hinterbliebenen nicht in der Lagesind, die Kosten fr eine wrdige Bestattung auf-zubringen, knnen sie sich an das Sozialamt wen-den. Dort wird dann die Bedrftigkeit geprft,und das Amt bernimmt die Kosten einer einfa-chen Bestattung. Wenn es keine Angehrigen desVerstorbenen gibt, organisiert und bezahlt dasOrdnungsamt die Bestattung.

    Neben den unmittelbaren Bestattungskos-ten fallen in der Regel noch weitere Kosten an.Es muss angemessene Trauerkleidung erwor-

    ben werden. Verwandte und Freunde erwarten,dass sie nach der Beisetzung zu einem Leichen-schmaus eingeladen werden, bei dem man ingeselliger Runde noch einmal des Toten gedenkt.Eine Anzeige in der Zeitung kostet Geld, ebensoein gedruckter Brief, in dem Freunden und Be-kannten der Tod und der Termin und Ort derBeisetzung mitgeteilt werden. Letzteres lsst sichleicht mit dem Computer herstellen und kostetdann fast nichts. Nur die Portokosten bleiben.

    Wer seinen Hinterbliebenen grere Sor-gen ersparen will, sollte einen Betrag von ca.6 000 Euro hinterlassen, aus dem die Kostenfr die Bestattung bestritten werden knnen.Auch der Tod ist nicht umsonst, er kostet dasLeben sagt der Volksmund. Das gilt nur frden Verstorbenen. Fr die Hinterbliebenen kos-tet ein Sterbefall auch Geld.

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    Palliaive Pflege im Hospiz (Quelle: www.hehubalmone.com)

    Buchcover

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    Tod, was istdein Ziel?Was Arbeit mit Sterbenden mit demLeben zu tun hatB E R I C H T : D a n i e l G i e e r

    D

    er Tod ist in unserer technifizierten Gesellschaftzu einem Skandal geworden. Ein laut beschwie-gener, stummer Skandal. Mit dem Einsetzen desmedizinischen Fortschritts im 20. Jahrhundert,

    durch den pltzlich viele Krankheiten thera-pierbar wurden, schlich sich ein Machbarkeitsglaube ein, derden Tod als natrliches, unvermeidbares Ende unseres Lebensnicht mehr wahrhaben wollte. Das Elend dieses Fortschrittstraf man in den Krankenhusern, wo Sterbende z.T. in Ab-stellkammern abgeschoben wurden, weil ihr Anblick nicht indas Konzept einer alles bewltigbaren Medizin passte oder woSterbende mit allen Mitteln, Apparaturen und medizinischenTorturen am Leben gehalten wurden, ohne je nach ihren eige-nen Bedrfnissen, Wnsche oder nach ihrer Wrde zu fragen.

    Genau dieses Elend nahm die Hospizbewegung, die Mitte des20. Jahrhunderts in Grobritannien entstand, zum Anlass,um ber Sterbebegleitung neu nachzudenken. Ihr Motto warsinngem: Nicht dem Leben mehr Tage anfgen, sondernden Tagen mehr Leben. Eine Pionierin der Hospizbewegungwar Elisabeth Kbler-Ross. Mit einem Team aus Studentenwollte sie schwer Erkrankte in Krankenhusern aufsuchen

    und sie nach ihrem Befinden und ihren Bedrf-nissen fragen. Sie stie auf massiven Widerstandvon Seiten der rzte, die nach dem Motto ar-gumentierten: Auf meiner Station wird nichtgestorben. Schlielich schaffte es Kbler-Rossdoch den Widerstand zu besiegen, und aus denGesprchen mit 200 Schwerkranken entstand

    das Buch: Interviews mit Sterbenden. Ein sehreinfhlsames und berhrendes Buch ber dieletzten Momente im Leben, seine Kmpfe undHoffnungen.

    Elisabeth Kbler-Ross analysierte verschie-dene Phasen, die der Sterbende durchluft. AmAnfang steht das Nicht-Wahrhaben-Wollendes eigenen Endes. Eine Frau z. B. leugnetehartnckig ihren bevorstehenden Tod und je hin-flliger sie wurde, um so grotesker machte sie sichzurecht. Der sonst diskret verwendete Lippenstiftwurde dick aufgetragen, sie whlte immer leucht-enderes Rot, bis sie schlielich wie ein Clownwirkte. Ebenso leuchtend und farbenfroh wurde

    auch ihre Kleidung. Sie vermied es zuletzt, in denSpiegel zu blicken, versuchte aber immer noch,mit bunter Maskerade den Verfall und die Ver-zweiflung zu verdecken. Bis zum Schluss leugnetesie die Realitt, bis sie endlich erschpft ausstie:Ich glaube, ich kann nicht mehr. Sie starb knappeine Stunde danach.

    Auf die Phase der Leugnung folgen meist Phasenvon Zorn, Verhandlungen, Depression und Zu-stimmung. Phasen knnen auch nebeneinanderbestehen. Die Phase der Zustimmung vergleichtdie Autorin mit der frhesten Kindheit und zitiertden Psychologen Bettelheim: Es war wirklich einLebensalter, in dem nichts von uns verlangt, unsaber alles, was wir brauchten, gegeben wurde.

    Meine Schwester Susanne lebt in Sddeutsch-land und arbeitet seit Jahren in einem Hospiz.Oft wird sie gefragt, wie sie die Arbeit nur aus-halten knne. Einmal sprach Susanne mit einerfast 100-jhrigen Frau und fragte sie, worauf esdenn nun im Leben ankme. Die hochbetagteDame meinte: Humor, tanzen und Neugierde.Und darin spiegelt sich, was Sterbebegleitungeigentlich bedeutet: Dienst am Leben. Die Men-schen im Hospiz, die kurz vor ihrem Ende stehen,haben alle ihre Lebensgeschichte, ihre Schrullen,ihre liebenswerten Seitenwie im Leben auch.Ob sie nun kmpfen bis zur Agonie oder ob siees schaffen ihr Schicksal zu bejahen und Friede

    finden all das ist nichts anderes als das Lebenselbst. Ich fragte meine Schwester, ob sie durchihre Arbeit anders ber den Tod denke? Nein,antwortet sie, aber ber das Leben. Deshalbarbeitet sie gerne im Hospiz, ganz entgegen un-serer Vorurteile, die Arbeit mit Sterbenden gerneals deprimierend abtun mchten.

    Den Tod aufhalten kann dort niemand, aber dasSterben menschlich und wrdevoll gestalten,den schwer Erkrankten Kummer und Last ab-nehmen und ihre Lebensqualitt erhhen dasgeht schon und das ist viel. In der Arbeit mitSterbenden erfhrt man, dass der Tod eben nichtauf das Format eines Skandals reduziert undverbannt werden muss, sondern dass der Sterbe-prozess auf das Leben verweist und natrlicherBestandteil des Lebens ist. Was auch sonst.

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    Als Kind imSchutzbunkerTraumatisches Erlebnisin der Stuhlbauerstadt RabenauE R I N N E R U N G E N : W e r n e r r F r a n k e

    Neulich fischte ich zufllig einen Mbelkatalogaus meinem Briefkasten. Ein besonderes Einzel-stck, ein auf alt getrimmter Stuhl, zog meineBlicke auf sich. Sofort kamen Erinnerungen ausder Kindheit in mir hoch. Bis zu meinem 14.

    Lebensjahr lebte ich in einer schsischen, alten Stuhlbauer-stadt namens Rabenau, gerade einmal 15 km swestlich vonDresden. Die erstmalig 1235 urkundlich erwhnte Stadt istsagenumwoben. In der Stadtchronik ist nachzulesen, dassRabenau 1639 im Dreiigjhrigen Krieg Plnderungen aus-gesetzt war und von den Schweden bis auf die Grundmauernniedergebrannt wurde. Im Kirchenbuch wurde 1675 erstmalsdas Handwerk des Stuhlbauens erwhnt, das sich im 18. Jahr-hundert rasant entwickelte. Nach Fertigstellung der Industrie-gebude und Einzug der Dampfmaschine spezialisierten sich

    die Rabenauer Stuhlbauer auf den Burgholzstuhlbau. In die-sem Ort werden bis heute Sthle aller Art gefertigt. Deshalbdiese sofortige Erinnerung. Allerdings gibt es zu diesem Ortauch andere Erinnerungen.

    E i n T a g i m A p r i l 1 9 4 5

    Es muss wohl an einem Sonntag im April 1945 gewesen sein.Ich wurde fr den Sonntag festlich angezogen und in denKinderwagen gesetzt. Ganz dunkel erinnere ich mich daran,dass durch ein Waldstck, die Hainleiten, spaziert wurde.Der Wald wurde immer dichter, immer dunkler. An unse-rem Zielort waren schon einige Menschen versammelt. Manunterhielt sich kaum oder nur gedmpft. Vor einer groenausgehobenen Grube lagen aufgetrmt Rasenstcke und

    daneben ein aus dnnen sten zusammengebundenes Ge-flecht. Man reichte mich in die Grube hinab. Ich hatte Angstund schrie laut. Mir wurde der Mund zugehalten. Mein lau-tes Weinen ging in heftiges Schluchzen ber. Karbidlampenwurden angezndet. Wir befanden uns in einem knstlich an-gelegten Schutzbunker. Gespenstisch flackerte das sprlicheLicht. Es war mucksmuschenstill. Pltzlich heftiges Kra-chen. Bomben schlugen ein. Sirenen heulten in der Ferne. Ichhatte frchterliche Angst und zitterte am ganzen Leib. Dochschnell verga ich diesen schlimmsten Moment meines kind-lichen Daseins. Spter erzhlte mir meine Lehrerin von denDresdner Bombennchten. In der Nacht des Bombardementssei der Himmel taghell erleuchtet gewesen. Die schsischeKulturmetropole sei in Schutt und Asche versunken. Ausge-bombte Menschen htten sich auch nach Rabenau geflch-tet. Die Stuhlbauerstadt blieb zum Glck unversehrt. MeineEltern berichteten mir spter ebenfalls von diesem Tag, demBombardement und meiner kindlichen Angst.

    S i r e n e n g e h e u l a m 1 6 . J u l i 1 9 6 8

    Meine Leben nahm dann einen unspektakulren Verlauf. Mit

    22 Jahren lernte ich meine Frau kennen und lieben. Nachunserer Hochzeit bezogen wir eine kleine Wohnung unterdem Dach in einer oberbergischen Kleinstadt. Auf dem Ne-benhaus installierte man in den 1960-er Jahren eine Sirene.Die kam zum Einsatz, wenn im Ort ein Feuer ausbrach. Eswar am 16. Juli 1968. Diesen Tag vergesse ich nie. Am Tagherrschten gefhlte 30 Grad, und sehr trockene Luft tat ihrbriges. So schliefen wir bei offenem Fenster. Ich war ge-rade im Tiefschlaf. Pltzlich setzte ein ohrenbetubenderLrm ein. Laut anschwellendes und wieder abschwellendesHeulen der Sirene tnte schrill und Angst einflend durchdie laue Sommernacht. Ich hatte das Gefhl, keine Luft zukriegen und fing laut an zu schreien. Ich strampelte wie einkleines Kind. Meine Frau, die neben mir lag, hat mich festins Gesicht geschlagen, um mich zu wecken. Ich schrecktehoch und wusste genau: Im Traum war ich in meine Kindheitzurckgekehrt und erlebte noch einmal ausgelst durch dieSirene die Bombennacht vom April 1945.

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    Ein schauriger Or(Quelle: Andreas Dllick VG Bild-Kuns)

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    Gedankenzum Todber meinen Umgangmit Tod und SterbenB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    Der Tod das endgltige Ende eines Menschen?Oder gibt es ein Leben nach dem Tod? Die Ein-stellung zu dieser Frage kann entscheidend sein,wenn man sptestens im Alter mit dem Tod unddem Sterben konfrontiert wird und sich damit

    auseinandersetzen muss. Sptestens dann sollte man sichber seine Einstellung bezglich dieses Themas klar sein, umim Alter ein ruhiges, nicht von negativem Denken und De-

    pressionen bestimmtes Leben zu fhren. Auch wenn Tod undSterben fast ein Tabuthema sind, mchte ich mich in diesemArtikel mit dem Thema auseinandersetzen.

    K o n f r o n t a t i o n m i t d e m T o d

    Seit 2000 das Jahr in dem ich Alkoholiker wurde hatte ichstndig Begegnungen mit dem Tod. Einerseits meiner Suchtwegen, die mich ohne mir darber bewusst zu sein mitdem Tod konfrontiert hat, andererseits weil viele fr michwertvolle Menschen (Eltern, Freundin, Lieblingsschwester,Freunde und Kumpels) gestorben sind. Dadurch habe ichviel ber den Tod nachgedacht und mir darber Gedankengemacht. Es ist nun einmal so, dass alles, was lebt, irgend-wann einmal stirbt. Der Mensch macht anderen Menschen

    Platz und verlsst diese Welt. Es ist wichtig, mit sich, wenn essoweit ist, im Reinen zu sein, um von seinem Dasein auf derErde Abschied nehmen zu knnen. Alle Unklarheiten undStreitigkeiten mit anderen Menschen sollten bis zu diesemTag geklrt sein, damit der Abschied vom Leben reibungslosabluft und man bereit ist, zu gehen, einfach loszulassen vonseinem Leben auf diesem Planeten. Natrlich gehe ich nichtgerne, weil ich viel zu sehr an meinem Leben hnge und Spaam Leben habe. Wenn ich es aber schaffe, in mir zu ruhen,kann ich diesen Weg, den ich ehrlich gesagt ungern gehe,wenigstens zufrieden und ohne Groll antreten.

    W e n n V e r w a n d t e u n d B e k a n n t e s t e r b e n

    2003 ging bei mir das groe Verwandten- und Bekanntenster-ben los und katapultierte mich ganz nach unten. Meine Mutterstarb nach einer Krebsoperation, geschwcht von einer einfa-chen Grippe. 2005 folgte mein Vater, der Opfer seines Trinkens

    wurde und durch seinen Alkoholismus an den Rollstuhl gefes-selt war. 2006 starb meine Freundin Marita durch einen Gehirn-schlag. Mein Lieblings-Opa Georg folgte 94-jhrig, was michendgltig am Boden zerstrte. Ich begann strker zu trinkenund wurde vom Spiegeltrinker (Sucht ist nach einer bestimmtenMenge befriedigt) zum richtig stark trinkenden Alkoholiker. Ichwollte sterben und verlor meine Lebenslust, weil alle Menschenstarben, die mir nahe standen und ich den Bezug zur Welt da-

    durch verlor. Durch mein Trinken wollte ich meinen Kummerverdrngen und verstecken, was mir aber nicht oder nur unzu-reichend gelang. Immer, wenn ich wieder nchtern war, qulteder Schmerz mich wieder. 2008 besann ich mich schlielich undging in die Therapie, weil ich merkte, dass ich es alleine nichtschaffe, trocken zu bleiben. Ich vershnte mich wieder mit demLeben und lernte mit Hilfe meiner Therapeuten, den Tod dermir liebsten Menschen zu bewltigen, Trauer zuzulassen und zuverarbeiten ohne in eine Lebenskrise zu strzen. Dies half mirauch, als im letzten Jahr meine Lieblingsschwester Jutta starb.Ich fand nebenbei zu meinen Glauben zurck, der auch wiederein wichtiger Faktor in meinem Leben wurde.

    G l a u b e : L e b e n n a c h d e m T o d

    Ich bin ein sehr religiser Mensch und glaube an Gott. Es stehtfr mich fest, dass ich nach meinem Tod weiterleben werde.Mein Krper wird sicherlich sterben. Aber meine Seele wirdweiterleben und zu Gott ins Paradies kommen und dort einunbeschwertes Dasein fristen, wenn ich ein vernnftiges Le-ben gefhrt habe und ein guter Mensch gewesen bin. Wennnicht, glaube ich, dass ich wiedergeboren werde und eine neueChance geboten bekomme, an meiner Spiritualitt zu arbeitenund zu Gott zu kommen. Die Bibel spricht von Himmel undHlle. Ich glaube, dass die Hlle das Leben auf Erden ist. Habeich mich in einem meiner Leben als wrdig erwiesen, werdeich nach meinem Tod Gott nahe und von allem Elend und Lei-den befreit sein. Mein Glaube gibt mir die Kraft, mein Lebenzu leben und nimmt mir die Angst vor dem Tod. Ich kann demTod gelassen entgegensehen, weil ich daran glaube, dass eshinterher weitergeht und die Mglichkeit Gott nahe zu seineine fr mich annehmbare Perspektive ist, die mir die Angstvor dem Tod nimmt.

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    Wolgang (25. April), 2013 - inspirier

    von Wolgang Ullrich (Foo: Kirsen Klck-

    ner VG Bild-Kuns, Bonn 2013)

    Kirsen Klckner

    (Quelle: Urszula Usakowska-Wolff)

    Falko (31. Mrz), 2013 - inspirier von

    Falko Hennig (Foo: Kirsen Klckner VG

    Bild-Kuns, Bonn 2013)

    Karo, 2012 (Foo: Kirsen Klckner VG Bild-

    Kuns, Bonn 2013)

    Buchcover

    srasseneger | Nr. | Okober | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    INFO

    Ausgewhlt. Kirsten Klckner.BeuteKunst I und II

    Noch bis zum 3. November in derAkademie der Knse, Halle 3, Han-seaenweg 10, 10557 Berlin

    Diensag bis Sonnag 11 19 Uhr;Einrit 5/3 Euro, bis 18 Jahre und am1. Sonnag im Mona rei

    www.adk.de

    Milchtten,Multiples undMusenKirsten Klckners BeuteKunst I und II inder Akademie der Knste am HanseatenwegT E X T : S u s a M u s a k o f f

    Vor drei Jahren begann Kirsten Klck-ner eine Serie, die in mehrfacherHinsicht auergewhnlich war.Zum einen wurden die 14 gleich-

    groen lackierten Bilder mit Wasserfarben aufLeinwand, und nicht etwa auf Papier, gemalt.Zum anderen machte die Knstlerin den Ent-stehungsprozess ffentlich, indem sie darberauf ihrer Facebook-Seite und ihrem extra frdiesen Zweck eingerichteten Blog ausfhrlichberichtete. Recht ungewhnlich war auch derTitel, den sie fr ihre Arbeit(en) whlte: Beu-teKunst I hie das Ganze und deutete zweier-lei an: dass ihr Interesse womglich den Kultur-

    gtern galt, die whrend und nach dem Endedes Zweiten Weltkrieges geraubt wurden. Unddass unmissverstndlich die BeuteKunst eineFortsetzung haben wird.

    I n s p i r a t i o n a u s d e m A r c h i v

    Es ist richtig: die Inspiration fr die Beute-Kunst I schpfte Kirsten Klckner aus der Ge-schichte, die jedoch nicht so weit zurckliegt.2011 hatte sie die Mglichkeit, sich im Archivder brandenburgischen Kleinstadt Beeskowumzusehen, wo 23 000 Kunstobjekte, darunterviele Bilder, lagern: Auftragsarbeiten, Ankufeund Schenkungen, die ffentliche Gebude der

    DDR schmckten. Auch eine Art Beutekunst,nach der Wiedervereinigung von der Treuhandverwaltet und 1994 an die Bundeslnder ber-geben, in denen sie gefunden wurde. Zugleichein heikles Erbe, denn die offizielle Kunst derDDR hatte die Aufgabe, das Leben der Werk-ttigen im ersten Arbeiter- und Bauernstaatzu verherrlichen und die Errungenschaften desSozialismus zu preisen. Kann eine solche Kunstgut sein? Nein, sie ist hchstens ein traurigesZeugnis der Zeit, in der sie produziert wurde.Und eine Mahnung an Knstler, sich von Politikund Ideologie fernzuhalten.

    V o n d e n B i l d e r n d e r D D R a n g e s t u p s t

    Doch das alles hatte fr Kirsten Klckner keineBedeutung, als sie sich auf die Kunst der DDR

    einlie. Sie war von der Masse der Bilder imBeeskower Archiv berwltigt, ihre Klassespielte fr die 1962 in Braunschweig geboreneund seit 2002 in Berlin lebende Malerin und Ob-jektknstlerin keine Rolle. Was ihr Interesse er-weckte, waren scheinbare Nebenschlichkeiten,mehr oder wenige skurrile Details, die sie aufdiesen Bildern entdeckte: eine wei-blaue Tetra-Pak-Milchtte, ein Kabelgewirr, eine wei-roteStraenabsperrung, zwei auffllig gemusterteTassen, die auf einem schlichten Tisch standen,der Helm einer Kraftwerkerin, eine Leiter, Kir-schen auf einem Verandatisch, gestapelte Kisten,Lampions eines Gartenfestes, Schiffe an einem

    Ausrstungskai. Alles Dinge, die lnder- undsystembergreifend zum Leben eines Menschengehren und so alltglich, allgegenwrtig undomniprsent sind, dass man sie bersieht. DieseBilder erzhlten etwas, was in ihr Erinnerungenund Assoziationen weckte und was sie nicht frsich behalten durfte. Ich bin angestupst wor-den von diesen Bildern der DDR im Archiv inBeeskow, schrieb Kirsten am 21. Juli 2011 inihrem Blog. Und ich stupse zurck. Nehme miraus einem Bild den Ausschnitt. Kopiere, wasmich interessiert, male weiter.

    K u n s t d e r V e r w a n d l u n g

    Aus den dinglichen Elementen der im Verborge-nen schlummernden Kunst der Vergangenheitfertigte Kirsten Klckner etwas Neues und Ei-genes, das sie ffentlich unter dem Titel Beu-teKunst I zur Schau stellte. Die als nutzlosgeltenden Kunstprodukte der DDR verwandeltesie in hochwertige zeitgenssische Bilder. DieErgebnisse dieser sonderbaren Upcycling Art zusammen mit der Fotodokumentation ihresEntstehungsprozesses zeigte sie im Sommer2012 in der Galerie des Stdtischen MuseumsEisenhttenstadt, der ersten sozialistischeWohnstadt in der DDR, die Anfang der 1950Jahre bei Frstenberg an der Oder aus dem Bo-den gestampft wurde. Einen passenderen Aus-stellungsort fr Bilder einer Knstlerin aus West-deutschland, die sich lange nach dem Untergangder DDR von deren Kunst anregen lie, konnte

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    srasseneger | Nr. | Okober TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    E i n l a d u n g z u m M u s e n t r e f f e n a m 1 4 .Ok t o b e r

    Talk und Musik mi Falko Hennig, ThiloBock, Friedel Drauzburg, Claudia Jan-sen, Hans Werner Kalkmann, SandraScheeres, Klaus Saeck, Trash Treasure,Wolgang Ullrich, Urszula Usakowska-Wolff. Moderaion: Kirsen Klckner

    Mi Aussellungsicke(Aussellung ab 18 Uhr geffne)

    Halle 3, Hanseaenweg 10, 10557 Berlin

    B e g l e i t b c h e r z u rA u s s t e l l u n g

    Kirsen Klckner: Musenbesuch. Beu-eKuns II, Luschiff Verlag 2013, Preis15 Euro

    Rober Eberhard, Ben MendelsonKirsen Klckner, erschienen in derReihe Aelierbesuch im Wolff Verlag2013,Preis 9,90 Euro

    es in der Tat nicht geben. Diese Bilder, jedes 1 mx 1 m gro, also eher kleinformatig, waren einVersuch, der Wirklichkeit Muster zu verleihenund sie immer wieder zu transformieren: einSpiel mit Farben und Formen, bei dem aus Qua-dern Kugeln, aus Kugeln Streifen, aus Punktenschwingende Linien wurden die Freude an derGestaltung und Verwandlung der gegenstndli-chen Welt. Nur ein Bild tanzte aus dieser Reihe:Das letzte Beutestck zeigte die von Max Uh-lig angeregte Bildnisstudie der Knstlerin, diewie ein wohlgemerkt weier Scherenschnitt vondunklen Strahlen umgeben war.

    U n k o n v e n t i o n e l l e K o n t e r f e i s

    Das letzte Bild leitete eine neue Werkreihe ein:die BeuteKunst II, in der sich Kirsten Klck-ner als Portrtmalerin versuchte. Ihre eigentm-lichen Portrts bilden auch den Schwerpunkt derAusstellung Ausgewhlt in der Akademie derKnste am Hanseatenweg 10. Doch Achtung!Wer erwartet, in der dortigen Halle 3 traditio-nelle, das heit mehr oder weniger geschnte,realistische Bildnisse zu sehen, wird angenehmberrascht sein. Wie bei BeuteKunst I, von derein Groteil an der rechten Wand hngt, lsst sichdie Knstlerin nicht so sehr von den Menschen,sondern von den sie umgebenden Dingen, von

    ihren Aufflligkeiten, seltsamen Kopfbedeckun-gen, Symbolen ihrer Berufe, von Worten undKlngen, von grnen Topflappen, Klsch-Gl-sern, mit bunten Blumen bestickten Decken undeiner Holzvogelsammlung inspirieren. Zu denMusen, deren Bildnisse sie auf ihre unkonventi-onelle Art malte, gehren 14 Menschen, darunterein kleiner Junge, mehr oder weniger bekanntePersnlichkeiten aus dem ffentlichen Lebenund aus der Kunstszene, mit denen sie flchtigenKontakt hatte, ferner Lebensknstlerinnen undLebensknstler, sympathische Outsider, die zuihrem Freundeskreis gehren. Die Bilder aus derReihe BeuteKunst II sind mit den Vornamender Portrtierten sowie mit dem Entstehungsda-tum der Konterfeis betitelt. Mit vollem Namenkommen sie im Ausstellungsbegleitbuch Mu-senbesuch zu Wort, in dem die Knstlerin ihnen

    eine groe Bhne fr eine umfangreiche Selbst-darstellung bot. Zudem wird die Beteiligung derMusen am Entstehungsprozess der Bilder aneiner separaten Wand dokumentiert.

    K r a l l e n u n d K a r t o f f e l n

    Die Ausstellung am Hanseatenweg 10, vor allemdie BeuteKunst II ist ein neuer Schritt auf Kirs-

    ten Klckners knstlerischem Weg. Sie befreitsich vom Diktat des 1 m x 1 m Quadrats. Die Bil-der haben unterschiedliche Gren, viele davonsind Diptychen oder Triptychen, es gibt auch einvierteiliges Portrt. Querformate hngen nebenHochformaten, Blumen und Vogelkrallen nebenVariationen zum Thema einer Kartoffel, Abstrak-tes neben Erkennbarem. Ergnzt wird die bunteund fantasievolle Portrtreihe durch einen Tisch,auf dem Kirstens Klckners Multiples liegen:von ihr selbst ausgeblasene Eier, nur echt mit 37Lchern, ein Kompliment-Spiegel, ein Glasham-mer, mehrere Rezensionskekse, ein Zwillingshutund viele andere Objekte, die die Funktionalittder Dinge auf die Schippe nehmen. Die Kunst,wie sie Kirsten Klckner betreibt, ist ein Spielmit mannigfaltigen Mglichkeiten, Varianten,Figuren und Musen.

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    H. R. Fricker/Bro r knslerische

    Umriebe au dem Land, Trogen/

    Schweiz, an Guillermo Deisler,

    Halle/DDR, 1.11.1989 - Angslos

    Glasnos( H. R. Fricker)

    Guillermo Deisler

    (Quelle: Valeria Geisler)

    Valeria Deisler

    (Quelle: Mirko Guillermo Deisler Coll)

    Daniel Spoerri - Marienplaz und

    Frauenkirche, 1972, Poskare der

    Ediion Saeck ( Ediion Saeck, Heidel-

    berg / VG Bild-Kuns, Bonn 2013)

    srasseneger | Nr. | Okober | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    DemokratischeKunst in Zeitender DiktaturenGuillermo Deislers Mail-Art-Archiv ist einerder Hhepunkte von Arte PostaleB E R I C H T : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Sulen unterschiedlicher Hhe prangen an den Wn-den wie Diagramme. Sie bestehen aus gleichgroen,alphabetisch nach Anfangsbuchstaben der Lndersortierten Kartons. Das ist die uere Hlle des Ar-chivs von Guillermo Deisler. Darin ist seine Kor-

    respondenz mit sage und schreibe 1249 Mailartisten, Kul-turinstitutionen und Galerien aus 55 Lndern versammelt.Die fnftausend Exponate, vom chilenischen Grafiker, Bh-nenbildner und visuellen Poeten in den Jahren 1975 1995zusammengetragen, zeigen, was sich auf Papier gestalten,ausdrcken, stempeln und mit der Post befrdern lsst: Einla-dungskarten, Ausstellungsplakate, Fotomontagen, Collagen,Assemblagen, Knstlermarken, Umschlge, Pakete, Pck-chen, Mappen und Versandrollen. Dieses einzigartige Archivmit einem groen kunsthistorischen und zeitgeschichtlichen

    Wert wurde 1988 und 1995 von der Akademie der Knsteerworben. Teile davon sind zum ersten Mal in der AusstellungArte Postale zu sehen. Sie geben Einblicke in das Leben undOeuvre eines Intellektuellen, der sich auch in den gefhrlichs-ten Situationen nicht davon abbringen lie, fr die Freiheitder Kunst und die Freiheit des Wortes einzutreten.

    I m G e f n g n i s u n d i m E x i l

    Guillermo Deisler ein Mensch, der in die Fnge der Ge-schichte geraten war. Am 15. Juni 1940 in Santiago de Chilegeboren, studierte er Grafik und Bhnenbildnerei an derUniversitt seiner Heimatstadt. Von 1967 bis 1973 arbeiteteer als Dozent an der Universidad de Chile in Antofagastaim Norden des Landes. Dort kamen seine vier Kinder zurWelt: Mariana (1960), Claudia (1961), Valeria (1968) undder Sohn Guillermo (1973). Der populre Hochschulleh-rer, Kommunist und Anhnger der Unidad Popular wurde

    nach dem Militrputsch vom 11. September1973 verhaftet und verbrachte zwei Monate

    im Gefngnis von Antofagasta. Mit Hilfe seinesFreundes, des Bildhauers Gregorio Berchenko,bekam er von der franzsischen Botschaft einAusreisevisum und emigrierte mit seiner Fami-lie nach Paris. Doch weil er keine Arbeit fand,reiste er in die DDR aus. Auch dort durfte Deis-ler nicht lange bleiben. Als Mitglied der PartidoCommunista de Chile schien er ideologisch un-verdchtig zu sein. Weil der Knstler kein Ver-treter des Sozrealismus war, schob man ihn undseine Familie als Kontingentflchtlinge nachBulgarien, in die zweitgrte Stadt des Landes Plovdiv ab. Seit 1986 wohnte er mit Frau,Tochter Valeria und Sohn Guillermo in Halle ander Saale, wo er als Bhnenbildner im Opern-haus wirkte. Mariana und Claudia beendetenin Plovdiv ihr Studium, heirateten Exilchilenenund kehrten nach Chile zurck, wo die eine als

    INFO

    Auss tell ung

    ARTE POSTALE Bilderbriee,Knslerposkaren, Mail Arnoch bis zum 8. Dezember in derAkademie der Knse am PariserPlaz 4,10117 Berlin

    ffnungszeiten:

    Diensag - Sonnag 11-19 Uhr

    Einrit: 6/4 Euro, Bis 18 Jahre undam 1. Sonnag im Mona Einrit rei

    Fhrungen jeweils sonnags 11.30Uhr, donnersags 17.30 Uhr,Teilnahme ohne Anmeldung & midem Aussellungsicke zzgl. 2 Euro

    Katalog

    ARTE POSTALE. Bilderbriee,Knslerposkaren, Mail Ar ausder Akademie der Knse und derSammlung Saeck. Rosa von derSchulenburg im Aurag der AdK(Hrsg.) AdK, Archiv, Berlin 2013

    Preis 20,00 Euro

    Postkarten-Edition

    Mi Reprins von ausgewhlen Mo-iven aus der Aussellung und einerhierr von Klaus Saeck gesaleenPoskare

    www.adk.de www.acebook.com/aka-

    demiederkuense

    Blog zur Mail Ar-AkionAcademy/Akademie

    hp://mailaracademy.wordpress.com

    Vermilungsprogramm Sille Pos

    www.adk.de/de/projeke/2013/are-posale/vermilungsprogramm.hm

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    srasseneger | Nr. | Okober TAUFRISCH & ANGESAGT | s t r a s s e n f e g e r r a d i o

    Journalistin, die andere als Zahnrztin arbeitet.2008 zog auch ihre Mutter in ihr Heimatland,nachdem sie fast 40 Jahre im Exil verbrachte.Das war Guillermo Deisler nicht gegnnt: Am

    21. Oktober 1995 starb er an den Folgen einerKrebserkrankung in Halle. Immerhin ist eineStrae in Antofagasta nach ihm benannt.

    K o m m u n i k a t o r u n d M u l t i p l i k a t o r

    Valeria Deisler, Dolmetscherin und bersetze-rin fr Spanisch, Bulgarisch und Deutsch, lebtin Berlin und mchte wie ihr Vater Brcken frdie Kunst bauen. Gegenwrtig macht sie Fh-rungen durch die Ausstellung Arte Postale,wo unter anderem eine reprsentative Auswahlaus dem Guillermo-Deisler-Archiv gezeigt wird.Die Kunst war ein wichtiger Bestandteil unse-res Lebens, erzhlt Valeria. Mein Vater hat

    uns immer gezeigt, was er macht. Er hat vielber sein Konzept gesprochen, und zwar, dassjeder Mensch seinen eigenen Zugang zur Kunstfinden soll, weil jeder Mensch seine eigene Sen-sibilitt und seine eigene Geschichte hat. DieMail Art war fr ihn sehr wichtig, denn sie warein Mittel, mit dem man sich absolut frei ausdr-cken konnte. Sie war auch eine sehr demokrati-sche Kunst, denn es stand allen offen, auf die-sem Gebiet ttig zu sein, auch jenen, die keineakademischen Knstler waren. Es war nicht nureine Kunstform, sondern eine Mentalitt undeine Bewegung. Diese Leute wollten kommu-nizieren, auch persnliche Kontakte pflegen.Es war das Gegenteil der elitren Kunst. Fernerwar die Mail Art fr meinen Vater und andere

    Knstler, die in isolierten Lndern wie Bulgarienoder in der DDR lebten, ein Ersatz fr ihre po-litische Arbeit. Es waren sehr politische Leute,die sich politisch nicht engagieren durften. Dieeinzige Mglichkeit und Triebkraft, sich mit derPolitik und dem Weltgeschehen auseinanderzu-setzen, war fr sie die Mail Art. Mein Vater warein Multiplikator, der ein weltweites Mail-Art-Netzwerk geschaffen hat. An seinen Aktionenhaben sehr viele Personen teilgenommen, weiler eben die Fhigkeit besa, die Menschen frsich zu gewinnen.

    V o n e i n e m z u m a n d e r e n E n d ed e r W e l t

    Im falschen Land und zur falschen Zeit geboren,war das Leben von Guillermo Deisler und seinerFamilie von Verfolgung, Mangel und erzwunge-nen Reisen ins Ungewisse geprgt; eine Odysseevon einem zum anderen Ende der Welt mit Sta-tionen in Frankreich, der DDR, Bulgarien und derDDR. Es war das Schicksal von politischen Flcht-lingen, in ihrer Heimat verfolgt, misshandelt undin Todesgefahr, im Exil misstrauisch beugt, ge-duldet, abgeschoben. An jedem neuen Ort einNeuanfang, eine fremde Umgebung mit fremdenMenschen. Fremdsprachen, die es schnellstens zuerlernen galt; die Zukunft ein Fremdwort. Es gabschon viel Tragik in unserem Leben, sagt ValeriaGuillermo. Als mein Vater verhaftet wurde, truger seine Armbanduhr nicht. Es war eine japani-sche Uhr, die sich durch die Handbewegung auf-

    lud. Die Uhr ist also stehengeblieben, und meineMutter dachte, dass er tot sei. Paris mussten wirverlassen, weil mein Vater dort keine feste Anstel-lung fand und somit unsere sechskpfige Fami-lie keine Existenzgrundlage hatte. Deutschlandwar in der Vorstellung meines Vaters das gelobteLand, denn sein Grovater wanderte 1885 oder

    1890 aus Berlin nach Chile aus. Deutschland, daswar im Fall der Familie Guillermo die DeutscheDemokratische Republik. Sie kamen zuerst in Ei-senhttenstadt, im Hotel Lunik unter, wo sie zweiMonate verbrachten. Wir hatten Glck, denn eswar ein sehr schnes Hotel, erinnert sich Valeria,ganz mit chilenischen Flchtlingen gefllt. MeinVater hoffte, dass er bald im Teatro Lautaro inRostock arbeiten kann, einem Theater, das 1974von Exilchilenen gegrndet wurde. Doch es kamanders. Der alternative Knstler und Verleger vonBchern, in denen visuelle Poesie, also Worte einegroe Rolle spielten, konnte eine Gefahr fr denverordneten Sozialistischen Realismus werden.Zum anderen waren die chilenischen Flchtlinge

    so zahlreich, dass sie auf andere Bruderlnder,unter anderem Rumnien und Bulgarien, verteiltwerden mussten.

    K l a r e S p r a c h e d e r K u n s t

    Wir kamen nach Plovdiv zusammen mit derFamilie des chilenischen Knstlers EugenioCornejo. Mein Vater und er waren von der Uni-dad Popular inspiriert und machten politischengagierte konzeptuelle Kunst. Damals warBulgarien ein isoliertes Land, in dem es keineMail Art gab. Viele bulgarische Knstler woll-ten deshalb meinen Vater kennen lernen. MeinVater hat sich als Teil der linken Bewegung ver-standen, doch er benutzte in seiner Kunst eineklare, praktische und unkomplizierte Sprache.Diese Sprache entwickelte er wohl unter dem

    Einfluss seines Lebens im Exil, um mit anderenKnstlern, unabhngig von ihrer Mutterspracheoder Fremdsprachenkenntnissen, zu kommuni-zieren. In Plovdiv arbeitete Guillermo Deislerals Grafiker, in dieser Zeit hat er auch viele Holz-schnitte gefertigt. Nach einer Ausbildung, derersten in ihrem Leben, wurde Valerias Mutter

    in einer Fabrik beschftigt. Meine Mutter hatteeine sehr positive Einstellung zum Leben, sagtValeria. Obwohl wir von Tag zu Tag, hufigauf Koffern lebten und keine Plne schmiedenkonnten, hatten wir immer viel Besuch. In Bul-garien und spter in der DDR war mein Vaterfr seine Freunde eine kleine Enzyklopdie. Erkannte Knstler berall auf der Welt, war sehroffen und aufnahmebereit. Wenn ihm jemandgeschrieben hat, antwortete er sofort. In derMail Art sah er vor allem ein Mittel der Kom-munikation, mit der die politischen und geogra-fischen Grenzen berwunden werden konnten.Abgesehen davon war mein Vater ein systema-tischer Mensch, der alles aufbewahrte und ord-

    nete, weil er deutsche Wurzeln hatte.Das Guillermo-Deislers-Archiv ist diegrte Sammlung der Mail Art in Deutsch-land, zugleich das beeindruckende und be-wegende Werk eines Menschen, der in Zeitenund in Lndern lebte, die das autonome Indivi-duum entweder auslschen oder auf eine mehroder weniger subtile Weise mundtot machenwollten. Zur Heimatlosigkeit und Sprachlo-sigkeit verurteilt, ist er nie verstummt. Im Ge-genteil, er konnte auch andere ermutigen undfr seine Ideen begeistern. Er schuf ein welt-umspannendes Netzwerk von Knstlerinnenund Knstlern, die er dazu motivierte, sich anseinen Mail-Art-Aktionen und Buchprojektenkontinuierlich zu beteiligen. Nicht warten,sondern handeln und Zeichen setzen, lauteteGuillermo Deislers Devise.

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    srasseneger | Nr. | Okober | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Anzeige

    Poskare von Klaus Saeck Klabund, Davos, an Irene Brunhilde und Max Heberle, Passau, Dezember

    1923 (Klabund-Sammlung, Akademie der Knse, Berlin)

    George Grosz, Huningon/Long Island (New York), an Oto

    Schmalhausen, Berlin, 15.2.1957 ( Esae o George Grosz, Princeon, N. J.

    / VG Bild-Kuns, Bonn 2013)

  • 7/22/2019 strassenfeger Ausgabe 20 2013 - Momente

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    Chriso P am Piano(Quelle: Gui do Fahrendholz/Archiv srasseneger)

    srasseneger | Nr. | Okober TAUFRISCH & ANGESAGT | k a f f e e | b a n k r o t t

    Der Barpianist

    Christo PDas kaffee|bankrott prsentiert im Oktoberwieder einen Musiker der ExtraklasseV O R B E R I C H T : G u i d o F a h r e n d h o l z

    Am 25. Oktober gastiert im Studio von kaffe-eIbankrott der Barpianist Christoph Pagel. SeinInstrument ist das Klavier. Auf ihm spielt Chris-toph Pagel Bach und Mozart genauso gern wieinstrumentale Dinnermusik, Jazz oder eben Bar-

    songs. Deshalb ist er als Pianist und Snger auch fast berallzu finden. Neben den Bhnen haben es ihm ganz besonders

    auch die Hotel- und Cocktailbars angetan. Und wenn es ihnberkommt, frnt er auch schon mal dem deutschen Sprech-gesang.

    E x z e l l e n t e M u s i k & g r o e s s o z i a l e sE n g a g e m e n t

    Am Wahlsonntag spielte er brigens vor dreieinhalbtausendbegeisterten Zuschauern vorm Kanzleramt. Das hat aber ber-haupt nichts mit Pagels politischen Vorlieben zu tun. Ganz imGegenteil: Christoph Pagel war auch ein gern gesehener Gastbeim 3. Pressefest des strassenfeger2009 auf dem Helmholt-zplatz. 2010 spielte er zusammen mit dem Cellisten ChristoffBecker bei strassenfeger unplugged. Auerdem sorgte er frdie musikalische Untermalung des strassenfeger talkim Mai2011 zur Dokusoap ZDF-neo Reich und obdachlos. Wie

    man sieht, ist Christoph ein sehr engagierter Mensch, der dar-berhinaus auch noch groartige Musik macht. Also nicht ver-sumen: 25. Oktober kaffeebankrottmit Christo P.

    k a f f e e I b a n k r o t t a u f A L E X

    Die Show mit Christo P wird wie immer im Studio unseresHaussenders ALEX aufgezeichnet. ALEX befindet sich inder Voltastrae 5, in 13355 Berlin-Wedding und dort aufdem Medienhof im Haus 10/Treppe 6. Die Studio-Tore ff-nen sich fr das geneigte Publikum gegen 19 Uhr und dieShow beginnt dann gegen 19.30 Uhr. Der Eintritt ist wieimmer frei und das Mitbringen von vor allem Kaltgetrnkenist ausdrcklich erwnscht!

    INFO

    kaff eeba nkro tt be i ALE X

    Volasrae 5, Haus 10/Treppe 613355 Berlin-Wedding

    TV-Aufzeichung

    25. Okober 2013 Chriso P

    Einlass: 19.00 UhrBeginn: 19.30 Uhr

    EINTRITT FREI!

    kaff eeba nkro tt be i face book

    hps://www.acebook.com/kaeebankro?re=s

    Karikatu

    r:OL

  • 7/22/2019 strassenfeger Ausgabe 20 2013 - Momente

    22/32

    srasseneger | Nr. | Okober | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : L a u r a

    BHNE

    Rixdorfer Perlen

    Nach dem grandiosen Erfolg vom Frhjahr undum zwei Geburten leichter kehren die Rixdor-fer Perlen endlich wieder auf die Bhne desNeukllner Heimathafens zurck. MitSchlagern, Schoten und Schnpperken fr alle!Der gewissenlose Groinvestor FriedbertKlauke, der Donald Trump aus LichterfeldeWest ist auf Beutezug im trendigsten Stadtbezirkder Welt. Fr sein bahnbrechendes neuesGastronomiekonzept will er die traditionelleAltberliner Kneipe Zum Feuchten Eckaufkaufen. Doch Besitzerin Marianne Ko-schlewsky und ihre beiden Mitstreiterinnen Amsierdame Jule und Putzfrau Mietze wissen sich mit Hilfe von GetrnkehndlerRitchie und Rechtsanwalt Dr. Fiedler zu wehren.Bis ihnen eine schreckliche Entdeckung zumVerhngnis zu werden droht. Cool!

    Am 04./05. + 17./18./19.10.und am 02./03. + 14./16.11.Tickes per Teleon: 030 - 56 82 13 33oder per E-Mail: [email protected]

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    Karl-Marx-Srae 141, 12043 Berlinwww.heimahaen-neukoelln.de

    TAG DER OFFENEN TR

    Tag der Offenen

    MoscheenDer Tag der offenen Moschee findetin Deutschland seit 1997 am Tagder Deutschen Einheit statt. DenTermin hat der Zentralrat derMuslime in Deutschland bewusstgewhlt. Er soll die Zugehrigkeitder Muslime zur Einheit Deutsch-lands zeigen. In ganz Deutschlandffnen etwa 1.000 Moscheenverschiedener Verbnde ihre Torefr ber 100.000 Besucher.

    Am 3. Oktober, zu verschiedenenUhrzeiten - Eintritt frei!

    Ino & Bild: www.kleiner-kalender.de& www.agderoffenenmoschee.de

    MUSIK

    Gitarre & CelloGitarre & Cello aka Ania und Matthias Strass laden am12. Oktober ein ins Caf Tasso zu einer Reise nachNorden. Das Konzert klingt wie der Soundtrack zu einemFilm, der noch nicht gedreht wurde. Ein besonderes Werkmusikalischer Freiheit, raus aus dem Regelkorsett derKlassik, rein ins Abenteuer des mal harmonisch ruhigen, malleidenschaftlich bewegten Zusammenspiels zweier Instru-mente, die sich im Privaten treffen. Ania und Matthias Strassverfhren zum Augen schlieen und die Reise genieen!

    Am 12. Oktober, um 20 Uhr - Eintritt frei!Cae TassoFrankurer Allee 11

    10247 BerlinIno & Bild: www.giarre-cello.de

    LEUTE TREFFEN

    University meets Professionals

    Einmal im Monat finden in Kooperationen mit unterschiedli-chen Hochschulen, Forschungszentren und anderen wissen-schaftlichen Institutionen Abendveranstaltungen statt, dieden Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis frdern.Impulsvortrge liefern Informationen und Erkenntnisse ausaktuellen Forschungsprojekten, die anschlieend mitFachpublikum und Studenten diskutiert werden.

    Am 9. Oktober, um 18.15 Uhr - Eintritt frei!

    Fasanensrae 87a, 10623 BerlinIno & Bild: www.zebau.de

  • 7/22/2019 strassenfeger Ausgabe 20 2013 - Momente

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    VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:

    [email protected]

    Je skurriler, famoser und

    preiswerer, deso besser!

    srasseneger | Nr. | Okober TAUFRISCH & ANGESAGT | K u l t u r t i p p s

    KINDER

    KinderKulturMonat

    Whrend des KinderKulturMonats Berlin im Oktober ffnennamhafte kulturelle Einrichtungen ihre Tren ganz besondersweit fr Kinder und bieten zustzliche Veranstaltungen wieWorkshops und Fhrungen fr Kinder und ihre Familien an.Teilnehmende kulturelle Einrichtungen sind zum BeispielMuseen und Theater, Ausstellungen. Dieses Angebot wendetsich an Kinder zwischen vier und zwlf Jahren. Der Eintrittzu allen Ausstellungen und Veranstaltungen ist fr sie frei.

    Vom 5. bis zum 27. Oktober,Eintritt frei!Zu verschiedenen Zeien & an verschiedenen Oren. Das Farben-hersellen finde am 5. Okober um 12 Uhr im Kleinen Aelier inder Oudenarder Srae 32,13347 Berlin sat.

    Ino & Bild: kinderkulurmona.de

    COMEDY

    Wrde ist fr mich nur einKonjunktiv

    Eigentlich hat Anne ernste Schauspielereistudiert aber da die Leute auch lachten wenn sietief-dramatische, griechische Tragdien spielte,hat sie sich dann voller Freude gleich der Komikzugewandt. Lachen gehrt neben Essen sowiesozu ihren Lieblingsbeschftigungen. Nachdem siein L. A. und New York die Comedy Clubs

    unsicher gemacht hat, ist sie jetzt wieder in ihrergeliebten Heimatstadt Berlin. Wenn Anne Kraftdie Bhne betritt ist da erst mal unbndigeFreude und ein Strahlen. Nachdem glaubhaftversichert wurde, dass sie keine Drogen oderPharmazeutika nimmt, guckt man einfachfasziniert zu, wie dort jemand so schonungslosoffen ber seine Fettnpfchen erzhlt. VollerFreude zelebriert sie die Blamagen des Lebens.

    Am 6. Oktober um 21 UhrEintritt: elf Euro / ermigt: neun EuroScheinbar Varie e.V.Monumenensr. 910829 Berlin

    Ino: www.scheinbar.deBild: www.annekra.com

    LESEBHNE

    Die UnerhrtenDie Unerhrten sind kreativeAutorinnen und Autoren die mitgroem Engagement unerhrteLiteratur schreiben und ihre Texteseit 2009 gemeinsam in Berlinvorlesen. Das Besondere an denUnerhrten Leseabenden ist diebreit gefcherte Individualitt derSchreibstile. 2011 waren DieUnerhrten zur besten LesebhneBerlins nominiert. Das Thema derLesung: So ein Zirkus.

    Am 10. Oktober, um 20 UhrEintritt frei, aber eine Spende

    ist erbeten.SinneWerk e.V.Liegnizer Srae 1510999 Berlin

    Ino & Bild: www.sinnewerk.de

    MUSIK

    Jam Session, Offene Bhneund Musikertreff

    Jeden Freitag heit es: Herzlich willkommen Liebhaber_in-nen & Musiker_innen! Dann trifft der Singer-Songwriter aufden Rapper und der Klassizist auf den Rocker. Denn derFreitag steht in der duften Musikbar, wie es der Namebereits ankndigt, ganz im Zeichen der Musik. Dabei stehenden Selbermacher_innen unter den Musikliebhaber_innen beieiner Session jammen oder die Offene Bhne nutzen.

    Jede n Freit ag, ab 1 8 Uh r - E intr itt f rei!

    Due Musikbar, Jahnsrae 27, 12347 BerlinIno & Bild: www.due-musikbar.de

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    srasseneger | Nr. | Okober | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r e i n

    Der mob e.V. und diePrenzlauer Allee 87Wie alles begann und wie alles vielleicht endet (2)Moderne Kche im Kaffee Bankrott & vieles neuin der NotbernachtungT E X T & F o t o s : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    Am 23. Mai 2007 um 12 Uhr konntenwir einen neuen Meilenstein in unse-rem Stammsitz Prenzlauer Allee 87feiern: Die neue Kche des Vereins-

    projekts Kaffee Bankrott war endlich fertig!Bei laufendem Betrieb wurde die Kche desKaffee Bankrott ausgebaut. Da vieles in Eigen-leistung und mit Untersttzung von Geldspen-den gebaut wurde, zog sich der Kchenneubaufast anderthalb Jahre hin. Es wurden Elektrolei-tungen verlegt, eine Lftungsanlage installiertund die Kche komplett gefliest. Neben der

    Kche wurde ein neuer Tresen aufgestellt. Undauch neue Toiletten - natrlich behindertenge-recht wurden eingebaut.

    S p e n d e n u n d E i g e n m i t t e l m a c h t e nd e n A u s b a u m g l i c h

    Dass wird die Kche berhaupt modernisierenkonnten, ist einigen greren Spenden zu ver-danken. Unter anderem spendete die Veolia-Stiftung 6 000 Euro. Weitere 5 000 Euro spen-dierte ein Edel-Bordell, das dieses Geld eigentlichdem Kinderprojekt Arche zugute kommenlassen wollte. Die Arche lehnte damals ausverstndlichen Grnden ab. Der mob e.V. hattedamit weniger Probleme und freute sich berdie dringend bentigte Untersttzung. Mit wei-teren Spendengeldern und selbst erwirtschafte-

    ten Mitteln vom Land Berlin bekommen wirkeine finanzielle Untersttzung (!) haben wirdie Kcheneinrichtung weiter vervollstndigt:Ein zweiter groer Herd und eine groe Brat-pfanne wurden angeschafft. Nachdem die neueKche auf Vordermann gebracht worden war,investierte der mob e.V. weiter in das Kaff