Ausgabe 01 2013 Auf Geht's! - strassenfeger

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1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer www.strassenfeger.org strassen| feger Mit Hartz-IV-Ratgeber! Parität prangert Umverteilung von unten nach oben an Pleiten, Pech und Pannen am Großflughafen „Die Bahnhofsmission ist mein Wohnzimmer“ Auf geht’s! Soziale Straßenzeitung Ausgabe 1 Dez 12 / Jan 2013

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Ausgabe des strassenfeger mit folgenden Themen: Paritaet, Grossflughafen, Bahnhofsmission, Aktuelles, Politik, Soziales, Kultur, Sport

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1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer

www.strassenfeger.org

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Mit Hartz-IV-Ratgeber!

Parität prangert Umverteilung von unten nach oben an

Pleiten, Pech und Pannen am Großfl ughafen

„Die Bahnhofsmission ist mein Wohnzimmer“

Auf geht’s!

Soziale Straßenzeitung

Ausgabe 1 Dez 12 / Jan 2013

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KulturtippsAus unserer Redaktion 22/23

TitelOje, wir leben noch! 3

Weltuntergang oder Tag der Zeitenwende? 4

Was geschieht, wenn der Euro scheitert? 5

Parität 6/7/8

S-Bahn unpünktlich, dafür teurer! 9

Pleiten, Pech und Pannen am Flughafen „BER“ 10/11

Berlinförderung und Berliner Wohnungsmarkt 12

„ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice“ 13

Hannes Wader: „Heute hier, morgen dort...“ 14/15

Vorletzte SeiteLeserbriefe, Impressum, Vorschau 31

MittendrinVon Kptn Graubär 30

art strassenfeger„Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich nichts tue“ 16/17Johannes Grützkes Ausstellung „die ganze Welt in meinem Spiegel“ im Ephraim-Palais

VereinWeihnachten bei mob e.V./strassenfeger 28

strassenfeger radioMan(n) war das ein Jahr! 21

SportHertha nimmt Kurs auf die 1. Bundesliga 24/25

Hartz-IV-RatgeberSanktionen Teil 4 29

BrennpunktChef der Bahnhofsmission am Zoo zieht Bilanz 18/19/20

AktuellPilotprojekt für osteuropäische Obdachlose 26/27

Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe! Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des strassenfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entscheiden, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist. Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treffpunkt „Kaffee Bankrott“ in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung. Der Verein beauftragt niemanden, Spenden für das Projekt an der Haustür zu sammeln!

Spenden für die Aktion „Ein Dach über dem Kopf“ bitte an:mob e.V., Bank für Sozialwirtschaft, BLZ: 100 205 00, Kto.: 32838 01

Liebe Leser_innen,das Jahr 2012 nähert sich mit Riesenschritten dem Ende, und das neue Jahr steht sozusagen schon in den Startlöchern. Zeit für uns, Bilanz zu ziehen. Was war wichtig und gut im vergangenen Jahr? Was war eher schlecht und verbesserungswürdig? Darüber haben wir z.B. mit dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Dr. Ulrich Schneider, gesprochen. Zu Wort kommt in unserer ersten Ausgabe 2013 auch Dieter Puhl, Chef der Bahnhofsmission am Zoo, die einer der härtesten sozialen Brennpunkte dieser Stadt ist. Auf der Seele brennt uns aber auch das völlige Versagen der Verantwortlichen für das größte Infrastrukturprojekt von Berlin und Brandenburg, dem neuen Großfl ug-hafen in Schönefeld. Was hier durch politisches und wirtschaftliches Unvermögen an Steuergeldern verbrannt wurde, macht uns fassungslos. Was hätte man mit diesem Geld nicht alles an Sinnvollem in Sozial- und Kulturpolitik in dieser Stadt leisten können!

Loben muss man zum Jahresende mal die Kicker von Hertha BSC. Was sie nach der Katastrophensaison mit Abstieg in die 2. Liga in den letzten Monaten geleistet haben, ist beeindruckend. Ein Fazit dazu auf unseren Sportseiten.

Am 7. Dezember haben wir wieder unser Weihnachtsfest für die Verkäufer des strassenfeger, für obdachlose und arme Menschen in unserem sozi-alen Treffpunkt „Kaffee Bankrott“ in der Prenzlauer Allee 87 gefeiert. Die Räume waren festlich geschmückt, unser Küchenteam hat liebevoll weihnachtliche Speisen vorbereitet, es gab Süßigkeiten und heiße und kalte Getränke. Es war warm und kuschlig wie im eigenen Wohnzimmer, gerade auch für die Menschen, die kein eigenes Dach über dem Kopf haben. Viele Menschen kamen und feierten in gemütlicher Atmosphäre. Und es gab ein paar warme Kleidungsstücke für die, die wenig oder nichts haben.

Diese wunderbare Weihnachtsfeier wurde möglich durch die vielen kleinen und großen Spender, bei denen ich mich an dieser Stelle schon mal ganz herzlich bedanken möchte. Ohne dieses von Herzen kommende, großartige soziale Engagement – auch für unsere Spendenkampagne

„Ein Dach über dem Kopf“ wäre unsere wichtige Arbeit überhaupt nicht möglich. Viel Spaß beim Lesen und einen guten Start in Jahr 2013 wünscht IhnenAndreas Düllick

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Bahnhofsmission am Zoo

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Oh je, wir leben noch!Stellen Sie sich vor, es ist Weltuntergang, und keiner geht hin

Das war wohl nix! Die Erde dreht sich wider Erwarten weiter und die Menschheit

musste sich nicht in riesigen Schif-fen davonretten, wie uns Roland Emmerich im Fahrwasser Abrahams weismachen wollte. Während am 22. Dezember weltweit alle Verkäufer von Kalendern und Terminplanern für das kommende Jahr aufatmeten und jubeljauchzend ihre Stricke und Pistolen beiseitelegten, stand der Rest der Menschheit vor einem neuen, riesigen Problem: „Wo bekomme ich nun Weihnachtsgeschenke her, von denen ich hoffte, ich könnte sie mir dieses Jahr sparen?“ Nach den großen Plünderungen der Einkaufspassagen, der H&M-LKWs und kurzfristig aufgebauten Weltneuanfangs-Stores, kehrte gegen Ende des Jahres dann langsam wieder Normalität in der westlichen Konsumwelt ein. Trunken von allerorts sprudelndem Sekt und dem beseelten Gefühl nach der großen Einführung von Windows 95 und dem Jahr 2000 schon wieder einen Weltuntergang überlebt zu haben, dürften sich nun alle Menschen an Silvester wieder in den Armen liegen. Aber was dann? Was sollen wir, gekleidet in T-Shirts mit der Aufschrift: „Ich überlebte 2012 und alles, was ich dafür bekam, war dieses lausige T-Shirt“ (der Renner unter den Last-Minute-Weihnachtsgeschenken), mit all der neu gewonnenen Zeit anfangen? Ein Jahr, das nicht von vornherein mit Terminen und Verpflichtungen vollgestopft ist, hat viele Vorteile, die es nun zu nutzen gilt.

Kalender, kauft Kalender!Ein erster Schritt wäre sicher, sich aufzurappeln und die fristlos gekün-digten Verträge mit Telefon, Strom, Hartz IV und dem Fitnessstudio wieder aufzunehmen. Natürlich ist es dann unangenehm, im Januar mit besagtem T-Shirt wieder vor dem Menschen zu stehen, dem man nach all den Jahren gehörig die Meinung gegeigt und dessen Lieblingskrawatte man in seinem beschissenen Aquarium versenkt hat und um die alte Arbeitsstelle zu betteln. Vergessen Sie das mit dem sich selbst erkennen. Ohrfeigen Sie sich selbst und gehen Sie raus in die Welt, das Reich der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Arsch rein, Brust raus, Hosen runter und Socken an! Kaufen Sie Kalender und freuen Sie sich über all die weißen Flächen darin, die nur darauf warten mit Leben gefüllt zu werden. Leben Sie schon, oder überleben Sie noch?

Am Ende nichts NeuesWoher aber kommt nur diese genüssliche Endzeitstimmung, an der nicht nur Depressive und Menschen am sozialen Abgrund Gefallen finden? Liegt es wirklich an der in uns allen schlummernden Sehnsucht nach Geborgenheit, Einfachheit und der Abneigung vor einem mit komplizierten Problemen behafteten Leben voller Verantwortungen und Pflichten? Oder ist unsere auf christlichen Denkweisen beruhende moderne Kultur schuld, in der auch unter Atheisten die Annahme weit verbreitet ist, dass im Nachleben die Erlösung wartet? Vielleicht reicht es auch einfach vielen, die mutmaßliche Scheindemokratien durchschauen, über die ein Leben lang nur hinwegentschieden wird und die nie zu Geld kommen.

Egal was der Grund ist, die bequeme Verlockung eines schnellen Endes einer sinnlosen Welt wird weiterhin immer mehr Freunde bei Facebook bekommen. Sie ist sogar so stark, dass ihre Twitter-Follower jegliche Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen ignorierten, nach denen der einzige Grund dafür, das der Maya-Kalender für den 21.12.2012 den Weltuntergang vorsah, der war, dass einfach kein Platz mehr zum Meißeln auf der großen Steintafel übrig war. Aber das macht ja nichts, denn ein großer amerikanischer Nachrichtensender hat sich bereits wissenschaftliche Ergebnisse gekauft, die den Jüngern des Weltuntergangs, den Desasterjunkies und Katastro-phentouristen neues Futter geben

dürfte. Dass die Welt nicht am 21.12.2012 dematerialisierte, liegt diesen Forschungen nach einfach nur daran, dass die Maya sich bei ihrer großen Zählung für den Baktun-Zyklus verzählt haben. Ein Praktikant soll schuld daran gewesen sein und der Fehler sich über die Jahrhunderte tradiert haben. Der neue Termin, um im Garten auf den Weltuntergang zu warten, soll dann der 16.03.2013 sein. Nutzen wir also den Aufschub, den wir bekommen haben und fahren wir alle noch einmal ins Bisney Land und verirren uns im Labyrinth von Dicky Klaus. Denn ein bisschen ist es mit Weltuntergängen so, wie mit Abschiedskonzern der Rolling Stones - der nächste kommt bestimmt.

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l Weltuntergang oder Tag der Zeitenwende?

Es war einmal vor vielen tausend Jahren, da lebte ein Volk namens Maya in Mittelamerika. Es war aus heutiger Sicht kulturell hoch entwickelt und erlangte Berühmtheit unter anderem durch den

Anbau von Mais, ihre mathematischen und astronomischen Fähigkeiten, den Bau von bis zu 75m hohen Stufenpyramiden und Städten, die bis zu 80.000 Einwohner zählten. In den letzten Jahren stand allerdings der von ihnen entwickelte Sonnenkalender mehr im Interesse der Öffentlichkeit. Diese in Maya-Schrift verfasste Zeittafel ist sehr komplex, unserer heutigen Zeitrechnung aber ähnlich. Am 21.12.2012, dem Tag der Wintersonnenwende, sah sie eine Zeitenwende vor. Bis vor kurzem werteten Zeitgenossen dies als Zeichen dafür, dass die Maya einen Welt-untergang kommen sahen und den Kalender nicht fortsetzten wollten. Nun, wenn Sie dies hier und jetzt lesen, dann, weil dieses Szenario nicht eingetreten ist. In der Wissenschaft war diese Theorie eh fraglich, wenngleich sie zusätzlich den Forschergeist in dem Vorhaben beförderte, den Maya-Kalender noch mehr zu entschlüsseln. Das Verständnis und Interesse für die Lebensweise dieser Kultur ist jedenfalls dadurch gewachsen.

Nicht zuletzt, weil die Fragen nach dem Zusammenbruch der Maya-Gesellschaft unmittelbar einen aktuellen Bezug zu unserer Zeit herstellen. In der wissenschaftlichen Dis-kussion werden dabei ökologische und nicht-ökologische Erklärungsmodelle diskutiert. Zum Beispiel: War es das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt, oder Epidemien, Katastrophen oder Invasionen, die den Untergang dieser Hochkultur besiegelten? Die Antworten darauf stützen sich vielfach auf Überlieferungen, da nur noch wenige Schriften vorliegen. Das macht es dem Laien nicht gerade verständlich. Doch im Hinblick auf unsere heutige ökonomische und ökologische Krise in der Welt gibt es manche Parallele, die jeder nachvollziehen kann. Das macht diese Diskussion aus meiner Sicht auch heute noch wichtig und interessant.

Den Mayas jedenfalls ging es offensichtlich nicht um die Prophezeiung eines Weltunterganges, sondern um den Übergang von einer Zeitrech-nung in die nächste. Es ging um ein „Himmelsereignis“, dass auf der Seite schamanismus.net „… als die Konjunktion zwischen unserer Sonne und dem Äquator der Milchstraße, welcher die Erde nur alle 52.000

Jahre umarmt“ ausführlich beschrieben wird. Dies ist ein besonderes Ereignis für ein Volk, das sich in seinem ganzen spirituellen Sein auf die Sonne bezog. Die Nachfahren der Maya, die heute vor allem in Guatemala beheimatet sind, sehen dieser Zeitenwende nach wie vor mit besonderer Ehrfurcht und Freude entgegen. Schließlich endet am 21.12.2012 laut Maya-Zeitrechnung die dreizehnte Periode des Maya-Kalenders, ein 400 Jahre alter Zyklus geht zu Ende, gefolgt vom nächsten.

Das ist schon etwas Besonderes. Ich erinnere mich noch gut an den Jah-reswechsel 1999/2000. Letztlich war es aber so natürlich unspektakulär, wie die Erscheinungen vor und nach einem Vollmond. Das in diesem Kontext mit den Ängsten der Menschen nicht nur Stimmung, sondern auch viel Geld und Einfluss gewonnen werden kann, ist allerdings nicht

neu. Maya-Forscher, wie Lars Frühsorge von der Universität Hamburg, finden es dennoch außergewöhnlich, dass es die Nachfahren der Maya trotz einer solchen „Vergewaltigung ihrer Kultur“ schafften, diese Thematik für sich fruchtbar zu machen – mit Seminaren, Lehrgängen und rituellen Veranstaltungen.

Hierzulande nutzen einige diesen Anlass aller-dings dazu, sich einen Platz im Atombunker zu sichern. So berichtete am 3.12.2012 die rbb-Abendschau von einer seriösen Buchung von 500 Plätzen für den 21.12.2012 im Weddinger Atombunker. Und das, obwohl

bereits die US-Raumfahrtbehörde auf ihrer Internetseite rechtzeitig Entwarnung gab. In der Presse und im Usenet (also überall) werden hingegen Amateurastronomen zitiert, die behaupten, dieses Objekt namens Nibiru (PlanetX) zu beobachten, auf dem Weg, die Erde zu zerstören. Könnte ich ein Teleskop mein Eigen nennen, ich hätte mich liebend gern an dieser Diskussion beteiligt, vielleicht hätte ich mich dann auch für einen Moment wie ein Maya gefühlt, damals vor 3.000 Jahren, auf der Suche nach den Fragen und Antworten beim Blick in die Sterne. Vielleicht hätte ich mich auch bei der einen oder anderen Konstellation gefürchtet und mir selbst Mut zugesprochen, indem ich mir sage: Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende!

n Andreas Peters

Wie die Hochkultur der Maya zu neuen Ehren kommt

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lWas geschieht, wenn der Euro scheitert?Abwertung und Neuanfang

Das KrisenszenarioDas absehbare Scheitern des Euro, der Gemeinschaftswährung von 17 der zurzeit 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), kann je nach politischer Entscheidung zu mindestens zwei verschiedenen Konstellationen führen. Entweder alle 17 Staaten kehren zu nationalen Währungen zurück und lassen den Euro untergehen oder die „solideren“ Staaten, besser gesagt: die „weniger unsoliden“, versuchen, als „Rest-Euroland“ den Euro beizubehalten; etwa Deutschland, Frankreich (?), Österreich, Niederlande, Luxemburg, Belgien, Finnland usw. Letztere Variante ist fraglich, weil auch diese Staaten hoch verschuldet sind und durch den Zusammenbruch des gegenwärtigen Euro-Systems wegen der Haftung für die Gemeinschaftswährung mit Billionen Summen zusätzlich belastet werden und um eine Abwertung (Währungsreform) nicht herumkommen würden. Man kann nämlich die Bürger nicht endlos mit immer höheren Steuern und Abgaben oder gekürzten Löhnen und anderen Minderungen auspressen wie eine Zitrone. Die Grenzen sind mancherorts fast überschritten und soziale Unruhen die Folge.

Die Staaten von Rest-Europa werden gegenwärtig von den Rating-Agenturen nur deshalb als – mehr oder weniger – kreditwürdig eingestuft, weil sie dank ihrer einigermaßen funktionierenden Wirtschaften (noch) die Zinsen, Zinseszinsen und Tilgungen aufbringen können; und sei es mittels neuer Schulden. Aber allein durch den Ausfall von Griechenland entstehen z. B. der deutschen Wirtschaft, vor allem den Banken und Versicherungen, Schäden in Höhe von vielen Milliarden Euro, die in der Vergangenheit dorthin gefl ossen sind in Form von Anleihen und Krediten. Genaue Zahlen gibt es deshalb nicht, weil die Anleger und Investoren den zeitlichen Aufschub, der durch die diversen „Rettungsmaßnahmen“ gewonnen wurde, für einen Ausstieg aus dem Griechenland-Engagement zu nutzen versuchen werden.

Internationale AuswirkungenFür den Welthandel und den internationalen Zahlungsverkehr wäre der Untergang des Euro eine Katastrophe. Die EU ist gegenwärtig immerhin der wichtigste Wirtschaftsraum auf der Erde. Viele Staaten benutzen den Euro als vermeintlich harte Währung zu Reservezwecken. Europa würde bis auf weiteres im Konzert der Weltmächte keine Rolle mehr spielen. Deutschland würde einen ungeheuren Vertrauensverlust erleiden; insofern vergleichbar mit der Lage am Ende des 2. Weltkrieges. Es gäbe dann nur noch eine einzige international verwendbare Währung, nämlich den US-Dollar.

Nationale AuswirkungenFür die Bürger in Deutschland ist Folgendes zu erwarten: Legt man die in der Geschichte bisher praktizierten Methoden zugrunde, wird

es – gleich viel, ob man mit einem Rest-Euro weiterwurstelt oder wieder eine eigene nationale Währung einführt (am einfachsten die D-Mark)

– eine Währungsreform mit einer erheblichen Abwertung geben. Das heißt, Sparguthaben, Lebens- und Rentenversicherung sowie andere auf Kapitalbasis, d.h. vor allem auf Zinserträge begründete Versicherungen werden drastisch abgewertet, die Geldschulden desgleichen; ähnlich wie nach dem 2. Weltkrieg. Und alles geht von vorne los…

Hoffnungsschimmer und VisionMan kann aber auch die bevorstehende Währungs- und Finanzkatastro-phe zum Anlass nehmen, die gravierendsten Mängel des bestehenden Geldsystems zu beheben, wie in dieser Zeitung schon wiederholt gefordert worden ist:

1. Entgegen der herrschenden, aber falschen Meinung kann Geld nicht „wertstabil“ sein, weil die Waren, die seinen Sachwert (Kaufkraft) ausmachen, infolge von Verderbnis naturgemäß auch ihren (Sach-)Wert schrittweise verlieren. Geld als Ersatz oder Gutschein für die veräußerte Ware kann logischerweise nicht wertstabiler sein als das zugrundeliegende Original. Geld ist ein Tauschmittel und muss umlaufen, ein Fließendes Geld sein. Die herrschende Meinung ist ein Betrug.

2. Entgegen der herrschenden, aber falschen Meinung kann Geld nicht „arbeiten“ und weiteres Geld hervorbringen. Zinsen und andere leistungslose Einkommen (außer den Sozialtrans-fers) darf es nicht mehr geben. Sie sind ebenfalls ein Betrug.

3. Geschäftsbanken dürfen nicht mehr wie bisher „Geld schöpfen“. Diese Gemeinschaftsaufgabe darf nur von einer unabhängigen staat-lichen Zentralbank erfüllt werden; und zwar im öffentlichen Interesse.

Auf dieser Grundlage lassen sich die gegenwärtigen Geld-, Finanz- und Schuldenprobleme sowie auch die Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und andere Nöte relativ leicht lösen. Das erfordert aber ein fundamentales Umdenken, vor allem bei den für das Geldwesen zuständigen Volkswirten, und würde zu der „geistig-moralischen Wende“ führen, von der der Altbundeskanzler Helmut Kohl Anfang der 80er Jahre gesprochen hat, oder der frühere Bundespräsident Roman Herzog in seiner „Berliner Rede“ von 1997: „Es muss ein Ruck durch die Gesellschaft gehen.“

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Euro-Symbol von Ottmar Hörl, vor dem Gebäude der EZB in Frankfurt am Main

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Paritätischer Wohlfahrtsverband prangert Politik der Umverteilung von unten nach oben an

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtver-band e. V. ist ein Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege Deutschlands mit Sitz in Berlin. Neben seiner Lobbyarbeit

für die Kranken und Schwachen der Gesellschaft versteht sich der Verein als Dienstleistungsverband. Seine Mitgliedsorganisationen werden in fachlichen, rechtlichen und organisatorischen Fragen beraten und erhalten Hilfe bei der Finanzierung von Projekten. Weiterhin gibt es im Aus- und Fortbildungsbereich für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter Kurse, Lehrgänge und Seminare. Unter dem Dach des Gesamtverbands sind mehr als 10.000 Vereine, Organisationen, Einrichtungen und Initiativen versammelt, die ein vielfältiges und unterschiedliches Spektrum sozialer Arbeit reprä-sentieren. Dazu zählen Vereinigungen wie der Guttemplerorden und anthroposophische Gemeinschaften, aber auch Organisationen wie der Verband alleinerziehender Mütter und Väter, der Deutsche Kinderschutzbund, Frauenhäuser, Migranten-Organisationen, Arbeitsloseninitiativen und viele Selbsthilfegruppen aus dem Gesundheitsbereich. Dr. Ulrich Schneider ist seit 1999 Hauptge-schäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick sprach mit ihm über Soziales, Armut und Obdachlosigkeit in Deutschland.

Andreas Düllick: Können Sie ein kurzes Fazit der Arbeit des Paritä-tischen Wohlfahrtsverbandes für 2012 ziehen? Dr. Ulrich Schneider: Ein großer Erfolg ist das, was wir im Bündnis Umfairteilen gemeinsam mit Attac, ver.di und anderen Partnern in den

letzten Monaten auf die Beine gestellt und auf den Weg gebracht haben. Da ist eine richtige Bewegung für eine solidarische und sozial gerechte Finanzierung unseres Sozialstaats entstanden. An dem Thema wird im kommenden Bundestagswahlkampf so leicht keine politische Partei mehr vorbeikommen. Bewegung hat der Paritätische mit eigenen Initiativen unter anderem auch in die Debatte um ein Präventionsgesetz oder die Frage, wie Strom angesichts explodierender Energiepreise für alle Haushalte in Deutschland bezahlbar bleiben kann, bringen können. Viele sozialpolitische Baustellen sind jedoch leider kaum kleiner geworden. Die Pflegereform, die beschlossen wurde, ist nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das Bildungs- und Teilhabepaket für arme Kinder und Jugendliche ist ein Flopp und der Ausbau der Kindertagesbetreuung stockt vorne und hinten. Schließlich sind wir bei der konkreten Armuts-bekämpfung keinen Schritt weitergekommen.

A. D.: Wird die Stimme des Paritätischen in Deutschland auch gehört?U. S.: Wir können uns über mangelnde Einladungen – sei es zum Aus-tausch in größerer Runde oder bilateralen Gesprächen – nicht beklagen und das parteiübergreifend.

A. D.: Die Bundesrepublik ist ein reiches Land. Trotzdem wir die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer. Immer mehr Menschen sind auf Hartz IV bzw. Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. Woran liegt das?U. S.: Dies ist zum einen natürlich auch Ergebnis der Arbeitsmarkt-entwicklung. Wenn der erste Arbeitsmarkt jedoch nicht mehr genug

Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes

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Arbeit für alle bieten kann, wäre die Politik in der Verantwortung, durch öffentlich geförderte Beschäftigung Langzeitarbeitslosen Arbeit und damit Perspektiven zu bieten, statt sie in Hartz IV aufs Abstellgleis zu schicken. Man muss sagen, dass die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich unbestreitbar zu einem Teil politisch hausgemacht ist. Die Amerikanisierung des Arbeitsmarktes ist das Ergebnis politischer Entscheidungen und politischer Versäumnisse. Nicht wenige in der Politik haben diese Entwicklung ganz bewusst vorangetrieben. Die Steuer- und Sozialpolitik der letzten zehn Jahre war eine Politik der Umverteilung von unten nach oben. Sie ist entscheidend mit verantwortlich für die zunehmende Spaltung dieser Gesellschaft.

A. D.: Seit 2001 legt die Bundesregierung regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht für die Bundesrepublik vor. Als übergeordnetes Ziel wurde die Versachlichung der Diskussion über Armut und Reichtum und die Enttabuisierung von Bedürftigkeit ausgegeben. Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde wiederholt angekündigt – und dann weiter verschoben. Er liegt noch immer noch

nicht vor. Das wichtigste Fazit des 1. Entwurfs dieses Berichts, der im Sozialministerium von Ursula von der Leyen erstellt wurde: ‚Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher.‘ Im 2. Entwurf, der von den anderen Fachministerien überarbeitet wurde, ist davon keine Rede mehr! Wurden hier die harten Fakten frisiert? U. S.: Nicht die Fakten wurden frisiert, sondern die Interpretation. Der zum Teil schonungslosen Analyse im ersten Entwurf der Bundesarbeits-ministerin wurden in zentralen Passagen sämtliche Zähne gezogen. Der amtliche Armuts- und Reichtums-Bericht mutiert damit zum reinen Hofbericht.

A. D.: Der strassenfeger hat am 17. Oktober 2012 unter dem Titel „Die im Schatten sieht man nicht“ den Schattenbericht der Nationaler Armutskonferenz in einer Sonderausgabe veröffentlicht. Dieser Bericht soll aufklären und zu einer gesellschaftlichen Diskussion über Armut und Reichtum anregen. Er soll außerdem verdeutlichen, wo Lösungsmöglichkeiten liegen, um Menschen mit geringem Einkommen ein Leben in Würde zu ermöglichen und zeigen, wie diese

Die im Schatten sieht man nicht!

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lMenschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und es

mitgestalten können. Sollte die Bundesregierung diesen Schattenbe-richt nicht zur Grundlage ihres Handelns nehmen?U. S.: Die besondere Qualität des Schattenberichts ist, dass hier Betrof-fene tatsächlich zu Wort kommen und Armut nicht nur in Zahlen und Statistiken abgehandelt wird. Jedem Politiker ist die Lektüre dringend angeraten, um sich berühren zu lassen davon, wie Armut im Alltag wirkt.

A. D.: Fazit des nak-Schattenberichts ist: ‚Menschen brauchen Wohnraum, den sie bezahlen können; Menschen brauchen eine Arbeit, von der sie leben können; Menschen brauchen Zugänge zum Bildungs- und zu+m Gesundheitssystem; Kinder brauchen Zugänge zu Bildung und eine Infrastruktur, die diese ermöglicht. Kinder brauchen individuelle Förderung und Zugänge zur gesellschaftlichen Teilhabe, d. h. zu Theater, Museen, Sport.‘ Was muss die Politik tun, um das zu gewährleisten?U. S.: All das kostet Geld, viel Geld. Damit sind wir bei der Gretchenfrage angelangt. Armutsbekämpfung ist ohne Umverteilung schlechterdings nicht möglich. Es ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern bereits eine Frage der puren Vernunft. Wer es wirklich ernst meint mit der Armutsbekämpfung in Deutschland, wer diesen Sozialstaat weiter will, der kommt nicht darum herum, den Reichtum in Deutschland stärker zu besteuern als bisher.

A. D.: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger lag im Oktober bei rund 6,7 Mil-lionen. Viele dieser Menschen sind langzeitarbeitslos, d. h. sie haben seit Jahren keine Arbeit mehr und damit auch kein eigenes Einkommen. Viele von ihnen würden gern arbeiten, doch Arbeitsplätze gibt es für sie nicht. Trotzdem werden sie ständig von den Jobcentern gegängelt: Sie werden zu unsinnigen Weiterbildungen oder Maßnahmen geschickt, sollen Jobs zu Niedriglöhnen annehmen. Von Fordern und Fördern kann schon lange keine Rede mehr sein. Was muss sich da ändern?U. S.: Wir brauchen eine arbeitsmarktpolitische Kehrtwende um 180 Grad. Wir müssen passgenaue Unterstützung auch für die anbieten, die nicht ohne weiteres und nicht von heute auf morgen in den ersten Arbeits-markt integriert werden können. Wir brauchen öffentlich geförderte sozialversicherungspfl ichtige Beschäftigung zu fairen Bedingungen und tarifl ichen beziehungsweise ortsüblichen Löhne. Die Menschen wollen arbeiten und haben es verdient.

A. D.: Kann eigentlich jemand, der Leistungen nach Hartz IV, Sozi-alhilfe oder eine kleine Altersrente bezieht, am gesellschaftlichen Leben teilhaben?U. S.: Fest steht, dass man mit 382 Euro so gut wie keine Chance hat, über den Monat zu kommen. Das reicht kaum, um die wichtigsten Grundbedürfnisse zu decken. Von Teilhabe kann hier keine Rede sein.

A. D.: Diese Menschen werden oft ausgegrenzt und abwertend als Sozialschmarotzer bezeichnet, gerade auch von sogenannten Besser-verdienenden und Politikern, die es eigentlich besser wissen müssten. Boulevardzeitungen stellen Menschen wie Helmut Richard Brox oder Ralph Boes, die nicht gewillt sind, sich mit Hartz IV zufrieden geben bzw. für ein bedingungsloses Grundeinkommen kämpfen, gern an den Pranger. Da stimmt doch was nicht? U. S.: Auch der Paritätische ist kein Fan des bedingungslosen Grund-einkommens. Kritik in der Sache darf aber niemals Grund sein, einen Menschen mit Beleidigungen, Diffamierungen und der Herabwürdigung seiner Person an den Pranger zu stellen.

A.D.: Es gibt keine offi zielle Obdachlosenstatistik; die Forschungsar-beiten zu diesem brisanten Thema sind eher dürftig. Kann Deutschland es sich leisten, das Problem Obdachlosigkeit zu verdängen, statt nach nachhaltigen Lösunge zu suchen? U. S.: Es ist schon erstaunlich, dass in Deutschland so ziemlich alles amtlich gezählt wird von Traktoren bis zu Legehühnern, nur Obdachlose nicht. Dies sagt eine Menge aus über den politischen Stellenwert des Phänomens der Obdachlosigkeit. Auch wenn man fairerweise sagen muss, dass die statische Erfassung methodisch schwierig ist.

A. D.: Wie halten Sie es mit den sozialen Straßenzeitungen? Lesen Sie soziale Straßenzeitungen wie den strassenfeger?U. S.: Straßenzeitungen sind, wenn es so etwas überhaupt gibt, echter Journalismus von unten. Und sie sind gelebte Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade in meiner Eigenschaft als Hauptgeschäftsführer eines Ver-bandes wie dem Paritätischen gehören sie damit für mich geradezu zur Pfl ichtlektüre.

A. D.: Was wünschen Sie sich berufl ich für das Jahr 2013 und was privat?U. S.: Berufl ich wünsche ich mir, dass die sozialen Belange in Deutsch-land im Wahlkampf 2013 tatsächlich zu einem wahlentscheidenden Thema werden, privat das gleiche. n

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Alles Gute, ÖPNV!Der öffentliche Personennahverkehr in Berlin steckt seit Jahren in der Krise. Im neuen Jahr muss es besser werden

Gute Vorsätze fürs neue Jahr sind eigentlich ein völlig überflüssiges Ritual. Denn wer etwas verändern möchte, kann und sollte das jederzeit tun und nicht das nächste Jahr abwarten. Das ist bloß

wieder ein Grund zum Aufschieben. Prokrastination perfekt. Und dennoch, dem Berliner öffentlichen Personennahverkehr wünscht man Besserung fürs Jahr 2013 und hofft, dass er sich viele gute Vorsätze zu Herzen nimmt und umsetzt. Denn im vergangenen Jahr gab es praktisch keinen Monat, in dem der hiesige ÖPNV nicht Negativschlagzeilen machte und die Nerven seiner Fahrgäste strapazierte, ihre Zeit stahl oder gar ihr Leben in Gefahr brachte. Ganz egal ob S-Bahn oder Berliner Verkehrsbe-triebe (BVG) mit ihren U-Bahnen, Bussen und Trams, irgendwo bestimmte immer eine Baustelle, technisches Chaos oder Personalmangel (!) den eingeschränkten Fahrplan.

Die S-Bahn feiert im neuen Jahr ein rundes Jubiläum: fünf Jahre S-Bahn-krise. Hans-Werner Franz vom Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg hält diese auch noch lange nicht für beendet, wie er gegenüber der Abendschau sagte. Dafür sei zu wenig qualifiziertes Personal im Einsatz und auch an der Technik mangele es. Zu Spitzennegativzeiten waren 2012 nur ein Drittel der Züge auf den Schienen, das sei ein Nachkriegsrekord. Schlecht außerdem: Das Chaos bleibt auch im Ausland nicht unbemerkt, was einen Reputationsverlust für Deutschland bedeute.

Auch Werner Müller vom Fahrgastverband Pro Bahn sieht einen Nega-tivtrend, zumal sich die Zustände mit dem Wintereinbruch wie jedes Jahr erneut verschlechtert haben. Das liegt zum Teil an alter Technik, die ohnehin in wenigen Jahren ausgetauscht und bis dahin ständig repariert werden muss. Manchmal spielt menschliches Versagen eine Rolle. Wie beim Highlight, oder besser Lowlight, im letzten Jahr, der Entgleisung der S-Bahn im August in Tegel. „Der Schaden für die S-Bahn ist enorm“, erklärt Müller, „denn so ein Unfall verunsichert die Fahrgäste sehr.“ Berlin schneidet im Vergleich zu anderen Großstädten schlecht ab, bemerkt er, allerdings fallen Pannen woanders auch weniger auf, weil die Fahrgastzahlen und Taktzeiten niedriger sind.

Gewalt auf Bahnhöfen und in ZügenEin dunkles Kapitel ist die Kriminalität in Zügen und in und um Bahnhöfe in Berlin. Letztes Jahr gab es wieder zahlreiche Schwerverletzte und sogar Tote nach Schlägereien und Übergriffen. Es reicht schon, einen Mitfahrer auf das selbstverständliche Rauchverbot aufmerksam zu machen, um Prügel zu kassieren. Werner Müller spricht sich deshalb für mehr Videoüberwachung und eine bundeseinheitliche Datenschutz-regelung bezüglich der Aufzeichnungen aus, damit Täter im Nachhinein gefunden und bestraft werden können. Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB e. V. hingegen wünscht sich wieder mehr Personal auf den Bahnhöfen: „In Dienstkleidung, um Präsenz zu zeigen und Hilfe anzubieten, aber auch, um die Hausordnung durchzusetzen.“

Dass Züge und Bahnhöfe kein rechtsfreier Raum sind, muss wieder bei den Menschen ankommen. Wieseke würde sich deshalb gelegentlich ein paar „spektakuläre Aktionen“ wünschen, die widerspenstigen Fahrgä-sten – wenn nötig auch mit Hilfe der Polizei – zeigen, dass Verstöße tatsächlich auch geahndet werden. Es braucht nicht mehr Verbote, wie etwa das kürzlich eingeführte (und von niemandem bemerkte) Ess- und Trinkverbot in U-Bahnen, sondern das Bewusstsein unter den Berlinern, dass Benimmregeln ernst gemeint sind und Verstöße bestraft werden. Wieseke rät auch den Fahrgästen: „Tut Euch zusammen! Wenn einem Störenfried von mehreren Umstehenden gesagt wird, dass sein Verhalten nicht erwünscht ist, verlässt dieser oft genug beim nächsten Halt den Wagen.“ Auf Aufklebern tut das seit ein paar Jahren die rothaarige BVG-Stewardess Betty, Sinnbild für Rücksicht unter den Fahrgästen. Sie wirbt mit dem Spruch „Es lebe Berlin.“ Besser wäre wohl inzwischen „Überlebe Berlin.“

Lieber ÖPNV, werde bald wieder gesund. Wir brauchen dich. n Boris „Mobilix“ Nowack

Fällt in Berlin vielen schwer: Erst aussteigen lassen, dann einsteigen

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Pleiten, Pech und Pannen am Flughafen „BER – Willy Brandt“Eine kritische Betrachtung des größten Infrastrukturprojekts von Berlin und Brandenburg

Man könnte meinen, es gehört in Berlin und Brandenburg fast schon zu einer guten alten Tradition am Ausbau eines Flughafens bei Schönefeld kläglich zu scheitern. Die Verantwortlichen für

seinen Betrieb wollten schon immer hoch hinaus, im Ergebnis fielen sie mit ihren Visionen auf den Boden der Realität zurück. Als die Passagierzahlen 1969 die Eine-Million-Grenze überschritten, waren die Fantasien über eine Erweiterung zum Zentralflughafen der DDR mit einer Passagierzahl von bis zu 18 Millionen Fluggästen jährlich festes Planziel. Gebaut wurden ein neues Hauptgebäude (Terminal A), bis Mitte der achtziger Jahre noch drei Anbauten(NPA - Neue Passagier Abfertigung, Terminal B & C), außerdem wurden die vorhandenen Lande- bzw. Startbahnen verlängert. Baumaßnahmen, die aber mehr als drei Millionen Passagiere jährlich bis ins Jahr der Wende nicht zuließen.

Nicht kleckern, sondern klotzenAls die Bundesregierung unter Helmut Kohl gemeinsam mit den Bun-desländern Berlin und Brandenburg und der Flughafengesellschaft am 28. Mai 1996 den Ausbau des Flughafen Berlin-Schönefeld zum Großflughafen beschloss, hatten die Passagierzahlen(ca. 1,7 Mio.) und Flugbewegungen ihren Tiefststand erreicht. Von den Betonpisten des ehemaligen Prestigeobjekts der vergangenen DDR wurden als reguläre Linienziele nur noch Moskau und Sankt Petersburg angeflogen. Gegen diese Betriebslethargie steuerten damals nur noch ein paar Charterflüge an. Deshalb wurde damals ein aufwendiges Raumordnungsverfahren angestrengt, das den alten wie neuen Standort auf politischen Druck hin – und an dem sicher viel besser geeigneten Standort Sperenberg vorbei – als prädestiniert für den neuen Single-Flughafen Berlin fest-legte. Für die endgültige Fertigstellung wurde das Jahr 2012 angegeben. Die finanziellen Aufwendungen für Bund und Länder mit 2,5 Milliarden Euro wurden veranschlagt. Wenig später lagen die geplanten Kosten schon bei 2,83 Mrd. Euro, sollten aber auch keinesfalls überschritten werden. Und man träumte von bis zu 60 Mio. Fluggästen jährlich. Am 5. September 2006 erfolgte der erste Spatenstich. Schon damals gab es ernste Zweifel an einer planmäßigen Eröffnung des Airport und der Einhaltung des finanziellen Rahmens.

Streit um Verfahrenfehler bei Bauvergabe statt Nutzung von fachlicher KompetenzDie Standortfrage ist Mitte der 1990er Jahre noch längst keine beschlossene Sache. Trotzdem treffen die Flughafenbetreiber schon ihre erste richtig teure Fehlentscheidung: Einhundert Hektar angren-zendes Ackerland werden zu völlig überzogenen Preisen erworben. Mit 200 Mio. Euro wird daraus das Baufeld Ost, auf dem bis zum heutigen Tag keinerlei Nutzung durch den Flughafen stattfindet oder auch nur geplant ist. 1999, ein Jahr nach dem Baubeschluss wird festgelegt, einen privaten Bauherren und Betreiber mit ins Boot zu holen. Der internationale Baudienstleister und deutsche Marktführer, die HOCHTIEF AG aus Essen, erhält den Zuschlag. Eigentlich eine gute Wahl, denn es werden sehr schnell Planungsfehler festgestellt, die vor der Ausführung getilgt werden könnten. Doch leider kümmert man sich auf politischer Ebene lieber um irgendwelche Verfahrensfehler bei der Vergabe der Bauherrenschaft. Und so wird nur ein Jahr später die HOCHTIEF AG per Beschluss des Oberlandesgerichts Berlin wieder aus dem Projekt verabschiedet und entschädigt.

Als ein zweiter Privatisierungsanlauf – wieder unter Teilnahme der HOCHTIEF AG sowie der IVG – dann höchst persönlich von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit und dem Brandenbur-gischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck 2002 gestoppt wird, werden Entschädigungszahlungen von rund 40 Mio. Euro fällig, die natürlich der Steuerzahler berappen muss. Danach ist die Idee des Generalunternehmens-Konzept endgültig vom Tisch. Die Folge: Wie sich nun herausgestellt hat, sind die danach mit der Koordinierung der am Bau beteiligten Gewerke beauftragten Gesellschafter vollkommen überfordert.

Völlig unrealistische EröffnungszenarienAuf welcher Grundlage man davon ausging, den Betrieb des neuen Großflughafens bereits am 30. Oktober 2011 aufnehmen zu können, ist aus heutiger Sicht nicht einmal mehr für die Verantwortlichen bei der

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Bauzustand im Juni 2011

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11Bauausführung sowie dem Aufsichtsrat der Flughafen Berlin Branden-burg GmbH(FBB), zu dem auch Klaus Wowereit und Matthias Platzeck gehören, nachvollziehbar. Die Verschiebung dieses ersten Termins um weitere sieben Monate auf den 3. Juni 2012 wurde durch die Insolvenz eines Ingenieurbüros und hohe EU-Sicherheitsauflagen erklärt. Dies wurde in der Öffentlichkeit kaum beachtet, zumal die gewaltige Kostenexplosion des Baus kaum thematisiert wurde. Als am 8. Mai 2012 aber auch dieser Termin wieder deutlich in Frage gestellt werden musste, kamen Informationen über personalpolitische Fehlentscheidungen und die exorbitante Kostenexplosion ans Tageslicht. So wurde bekannt, dass der Aufsichtsrat der FBB zum überwiegenden Teil mit fachfremden Politi-kern und Arbeitnehmervertretern besetzt ist. Ausschreibungen erfolgten fehlerhaft, und die Budgetplanungen hatten mit der Realität am Bau wenig bis nichts zu tun. Entsprechend groß war die Kritik, die von allen Seiten auf die unfähigen Macher dieses größten Infra-strukturprojekts der Bundesländer Berlin und Brandenburg hereinbrach. Ungeachtet dessen gaben Wowereit und Platzeck am 12. Mai 2012 als neuen Eröffnungstermin den 17. März 2013 bekannt. Die Entlassung des damaligen technischen Geschäftsführers Manfred Körtgen war die logische Konsequenz, die Einstellung Horst Amanns als neuer Technischer Geschäftsführer der FBB GmbH wirkt dagegen wie ein Schildbürgerstreich.

Der neue Heilsbringer Horst AmannKlaus Wowereit führte Horst Amann in die technische Verantwortung für die Fertigstellung des Flughafens mit den Worten ein: „Herr Aman ist ein Mann mit Durchsetzungskraft und der Sprache der Baubranche.“ Als Referenz für die Entscheidung der FBB GmbH verwies Wowereit auf die im November 2011 in Betrieb genommene Landebahn Nord-West in Frankfurt/Main. Diese sei ein Erfolgsmodell und spräche für die Arbeit von Amann. Scharfe Kritik kommt Dieter Faulenbach da Costa. Er ist Flughafenarchitekt und beschreibt die Arbeitsweise von Herr Amann so: „Horst Amann ist mit seiner Arbeitsauffassung für eine Kontinuität der Terminverschiebungen in Berlin gut aufgehoben. Der Mann ist ein Bulldozer der alle sichtbaren Widerstände bei Seite räumt und dabei wesentliche Planungsfehler nicht sieht.“ Tatsache ist, dass die Nord-West-Landebahn bereits zur Fußballweltmeisterschaft 2006 fertig gestellt sein sollte. Darüber hinaus wurde eine Mrd. Euro mehr aufgewendet, und das dazu gehörende Terminal 3 ist bis heute nicht gebaut.

„Wir eröffnen!“ – aber wann?Kaum war der neue Mann an Bord, war auch der nun schon dritte Eröffnungstermin Geschichte: Mitte August 2012 wurde der 23. Oktober 2013 als neuer Termin ausgegeben. Diesen hält Dieter Faulenbach da Costa zwar für möglich, aber „ …immer unter der Voraussetzung das bis Ende des Jahres 2012 alle Arbeiten am Terminal und am Flughafen abgeschlossen sind, um dann ungehindert, in einem fertigen Flughafen, ein Inbetriebnahme-Szenario durchführen und mögliche Schwachstellen

bis zum Eröffnungstermin beseitigen zu können.“ Klingt logisch. Bisher sprach man aber nur davon, die Arbeiten ab Mitte November wieder in vollem Umfang aufzunehmen. Und auch diese Aussage von Horst Amann ist Makulatur, denn Tatsache ist genau das Gegenteil. Längst gibt auch der Aufsichtsrat der FBB GmbH zu, mit den Arbeiten frühestens erst

wieder im Januar 2013 beginnen zu können. Genaueres weiß man aber nicht. Wahrschein-lich hat genau diesen Umstand auch Klaus Wowereit gemeint, als er am 13. Dezember im Abgeordnetenhaus von „riesigen Proble-men“ sprach und als Aufsichtsratsmitglied keine Garantie für den derzeitig geplanten Eröffnungstermin übernehmen wollte. „Die Gesamtfinanzierung ist von Unsicherheiten begleitet. Es gibt nicht mehr viel Puffer und das Volumen der Schadenersatzforderungen ist noch unklar.“

Der Druck wächst„Wenn es nach dem Bundesverkehrsminister allein ginge, wäre der Vorsitzende der Geschäftsführung (Rainer Schwarz, Anm. d. R.) schon längst weg“, so Ramsauer in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. Ramsauer

war angesichts immer neuer Gerüchte um Terminverschiebungen und steigende Kosten der Kragen geplatzt: „Ich habe kein Vertrauen mehr in ihn.“ Rainer Schwarz wird schon seit langem für eine verfehlte Geschäftsführung und die Fehlplanungen verantwortlich gemacht. Dazu zählten laut „SPIEGEL“ nicht nur der Brandschutz, sondern auch die Gepäckabfertigung und die Check-in-Schalter. Keine einzige der großen Anlagen sei derzeit einsatzbereit. Selbst der Haushaltsaus-schuss des Bundestags dringt deshalb auf seine Entlassung. In einem Entlassungsantrag des Haushaltsausschuss hieß es, man unterstütze die Bundesregierung darin, „bei Vorlage eines entsprechenden Gutachtens“ auf die Entlassung von Schwarz hinzuwirken. Die Länder Brandenburg und Berlin als weitere Anteilseigner, vertreten durch ihre Landesfürsten, verhindern dies aber bislang. Ein Schelm, wer hier einen Interessenskon-flikt zwischen den Tätigkeiten für die jeweiligen Landesregierungen und der Aufsichtsratstätigkeit vermutet. Inzwischen gab aber die EU grünes Licht für die nächste Finanzspritze. Damit sind weitere 1,2 Mrd. Euro aus Mitteln der Bundes- und Landeshaushalte zu Beginn des Jahres 2013 gesichert. Bis dahin bewilligten die Haushälter des Bundestages 84 Mio. Euro für die Begleichung von Forderungen aus Handwerkerrechnungen.

Totales Versagen von Anfang anSchon heute steht fest, dass der Bau dieses Flughafens die öffentlichen Haushalte mit mehr als 4,2 Mrd. Euro belasten wird. Das sind 1,7 Mrd. Euro mehr als ursprünglich veranschlagt. Da wirkt es doch nahezu gro-tesk, dass der im damaligen Raumordnungsverfahren als geeigneterer Standort Sperenberg vom Bundesrechnungshof als zu teuer abgelehnt wurde, obwohl sich allein die dafür in Frage gekommenen Flächen bis heute zu 98 Prozent in öffentlich Besitz befinden. Logische Konsequenz wäre: Sofortige Entlassung des kompletten Aufsichtsrates und der Geschäftsführung der FBB GmbH und statt Zahlung von satten Abfin-dungen das Inrechnungstellen von Schadenersatz in vollem Umfang.

n Guido Fahrendholz

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Flughafen Berlin Brandenburg - Innenansicht des im Bau befindlichen Terminals (Juni 2011)

Flughafen Berlin-Brandenburg, Blick in die Abflughalle 13. Mai 2012 (Tag der offenen Tür)

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l Kein Geld da?Was hat die Berlinförderung mit dem Berliner Wohnungsmarkt zu tun?Forderung und Wirklichkeit

Es ist Aufgabe der Politik, den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft zu sichern. Beim Wohnungsmarkt in Berlin

müssen wir erkennen, dass die Politiker sowohl im Bund als auch im Land an dieser Forderung scheitern. Zum Schutz der Mieter sind Eingriffe in den Markt unerlässlich: Den Vermietern müssen bei der Miethöhe Grenzen gesetzt werden. Das durchzusetzen, erfordert erhebliche finanzielle Anstrengungen der öffentlichen Hand. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der Berliner Senat hat am 11. November 2011 das „Sanierungsprogramm des Landes Berlin 2012 – 2018“ beschlossen, in dem die gewiss nicht üppigen 460 Mio. Euro, die 2011 für sozialen Wohnungsbau eingestellt worden waren, in diesem Jahr um 101,5 Mio. auf 358,5 Mio. Euro gekürzt werden. 2013 ist eine Kürzung um 158 Mio. auf 302 Mio. Euro geplant und 2016 gar um 311,7 Mio. auf 148,3 Mio. Euro. Die Mittel für den sozialen Wohnungsbau waren und sind Sparpotenzial für den Haushalt des Landes Berlin. Das ging jahrelang gut, weil der Wohnungsmarkt in Berlin entspannt war. Jetzt müsste umgesteuert werden und da tun sich die Politiker schwer.

Schulden des Landes Berlin und BerlinförderungDas Land Berlin ist hoch verschuldet. Etwa 60 Mrd. Euro. 2010 hatte jeder Einwohner Berlins 17.979 Euro Schul-den zu tragen. In Sachsen waren das 2.934 Euro, in Bayern 3.556 Euro, im Schnitt aller Länder 7.580 Euro (Quelle: Finanzplanung des Landes Berlin 2011 bis 2015). Nur Bremen war mit 26.800 Euro je Einwohner höher verschuldet. Natürlich hat der Bankenskandal den Haushalt des Landes Berlin belastet. Dennoch hat der Schuldenberg des Landes Berlin andere Ursachen. Berlin hatte 1989 mit seinen Schulden im Mittelwert aller Bundesländer gelegen. Wegen der Insellage war die ökonomische Kraft Westberlins gering, aber aus politischen Gründen pumpte die Bundesregierung Milliarden in die Stadt. Es begann 1948 mit der „Nothilfe Berlin“. Die Berlinblockade hatte die Wirtschaft der Inselstadt nachhaltig geschädigt. Der Oberbürgermeister Ernst Reuter verhandelte mit der Bundesregierung und erreichte 1950 die Verabschiedung des Gesetzes „über Hilfsmaßnahmen zur Förderung der Wirtschaft von Groß-Berlin“. Förder-instrumente der Berlinförderung waren Subventionen und Steuerpräferenzen. Die Förderrichtlinien wurden im Laufe der Jahre mehrmals geändert.

In den 80er Jahren gab es in Westberlin diverse Zigarettenfabriken, Kaffee-röstereien und diverse Fabriken zur Herstellung von Kakao und Schokolade. Nachhaltige Industrieansiedlung sieht anders aus. Das ist noch nicht alles. Die Senatsfinanzverwaltung weist in der Finanzplanung 2011 bis 2015 darauf hin, dass Westberlin mit dem dritten Überleitungsgesetz 1952 den Anspruch auf „Deckung eines auf andere Weise

nicht auszugleichenden Bedarfs“ hatte. Die Bundeshilfe deckte zeitweise mehr als 50 Prozent des Westberliner Haushalts. Auch Ostberlin wurde im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten der DDR-Führung aus politi-

schen Gründen großzügig gefördert. Das fiel mit dem Fall der Mauer weg. Gewissermaßen von einem Tag auf den anderen.

Steuerreform: Geschenke an Großunterneh-men zu Lasten der KommunenBerlin leidet wie alle Kommunen unter den Folgen der Steuerreformen, ins-besondere die vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder durchgepeitschten Senkungen der Einkommenssteuer und der Körperschaftssteuer. Der Referent für Finanz- und Steuerpolitik der Hans-Böckler-Stiftung Dr. Joachim Träger bezifferte in seinem Beitrag „Finanzpolitisches Streichkonzert“ für das „MieterEcho“, Ausgabe 357, die Einnahmeausfälle dieser Steuerreform auf 50 Mrd. Euro, für Berlin auf mehr als eine Mrd. Euro. Anmerkungen in der Finanzplanung 2011 bis 2015 bestäti-gen negative Folgen für das Land Berlin. Angesichts dieser Situation Steuersen-kung auf die Fahne zu schreiben, ist Ausdruck von Vertretung einer kleinen Minderheit. Kommunen in Nordrhein-Westfalen sind offenbar von diesen Ein-nahmeausfällen noch stärker betroffen. Jeanette Otto hatte in der Zeitschrift DIE ZEIT vom 19.01.2012 in ihrem Beitrag „Her mit den Krippen“ im Zusammen-hang mit dem Versprechen der Bundes-regierung nach Kinderbetreuung und der Umsetzung in Kommunen in NRW die Finanzmisere hoch verschuldeter Kommunen beschrieben. Dass das mit der unter Rot-Grün durchgepeitschten Unternehmenssteuerreform zu tun hat, ist im Beitrag von Roland Kirbach „Kurz vor Schluss“ vom 29.11.2011 für DIE ZEIT zu lesen. Heute bei www.zeit.de im Onlinearchiv.

Kein Geld da?Auf dem ersten Blick ist kein Geld da und angesichts der Schuldenbremse scheint die Situation ausweglos. Für uns Bürger ist kein Geld da, es ist in fal-schen Händen: Steuerreform. Das mag ein Fehler gewesen sein, aber Fehler können korrigiert werden. Ich sehe bei den Regierenden da keine Bewegung. Das ist aber notwendig, wenn wir weiter in unseren Wohnungen leben wollen. Notfalls müssen wir Bürger die Politiker zwingen.

n Jan Markowsky

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lHurra – wir haben ab 2013 eine neue GEZ-GebührOder warum wir sozial sein und den neuen Beitrag zahlen müssen!

Ab 01.10.2013 gibt es keine GEZ mehr, und manchem Bürger wird vor lauter Freude ein Lächeln auf das Gesicht treten. Aber halt: Was lesen wir da im Internet: „ARD ZDF Deutschlandradio

Beitragsservice“ heißt der Begriff, hinter dem sich ab Beginn des neuen Jahres die bisherige GEZ versteckt. Das ganze nennt sich dann auch nicht mehr Gebühr, sondern „Beitrag“! Aha – und das Ganze soll jetzt also ein „Service“ sein. Worin besteht der „Service“ denn? Ja, die GEZ, ähm besser die „ARD ZDF Beitrags-Einziehungszentrale“, nee sorry, der

„ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice“, hat ein bahnbrechendes Neujahrsgeschenk für alle Bürger bereit, über das sich alle sehr, sehr freuen werden.

Ja, der Abgabenwahnsinn wird auf die Spitze getrieben: Jeder Bürger „darf“ jetzt bezahlen – jeder Bürger hat die Ehre, zur Existenz des öffent-lichen – rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsystems beizutragen. Da ist schließlich das Allgemeinwohl in Gefahr, wenn das öffentlich-rechtliche Fernseh- und Rundfunksystem an seiner Geldarmut zugrunde geht und die Grundversorgung für den Bürger in diesem Bereich mit dem besten Fernsehen der Welt nicht mehr gesichert ist.

Wir müssen das System retten und das unbedingt und um jeden Preis. Hier muss also jeder Bürger ran. Da ist es schließlich auch egal und völlig unwichtig, ob ich überhaupt ein Rundfunk – oder Fernsehgerät besitze. Trotzdem muss ich meinen Beitrag leisten, und das, auch wenn mich die Programme von ARD und ZDF (ganz zu schwiegen von den Privatsendern, aber um die geht es ja hier nicht) gar nicht interessieren und mich das Programm ankotzt, damit wenigstens alle anderen Menschen diese tollen Sendungen sehen können. Die paar Euro Beitrag kann man schließlich immer auftreiben. Und im Zeitalter des übermäßigen Egoismus muss man ja schließlich auch mal an andere denken und nicht nur immer an sich selber. Also bezahle ich auch ohne Gerät den Beitrag, weil das öffentlich-rechtliche System eben unverzichtbar ist.

Stellen Sie sich mal vor: Es gebe kein „Wetten dass“ mit Markus Lanz mehr, kein „Fest der Volksmusik“ mit unserem frohgemuten Florian Silbereisen, und auch das „ZDF-Sportstudio“ mit Torwandschießen könnte man am sehr, sehr späten Samstagabend nicht mehr genießen. Ein Schock durchzuckt meinen Körper, wenn ich an derartige Horrorszenarien denken muss, und der nackte Angstschweiß tritt auf meine Stirn, weil ich weiß, dass ich es ohne diese Sendungen nicht aushalten und mir womöglich deshalb etwas antun würde. Wie soll vor allem mein älterer Nachbar es ohne sein Sportstudio aushalten? Der würde sich am Samstag den ganzen Tag nur noch quälen und sich die ganze Woche ohne Ende ärgern, wenn seine Lieblingssendung nicht mehr käme. Ich denke auch an meine Tante, die den Hausfrauenschwarm Markus Lanz so gerne mag und kein „Wetten dass...“ mehr sehen könnte! Und auch seine Talkshow mit den ausgwählten Spitzen-Superstars wäre weg! Womöglich stürzt sie sich vor Verzweifl ung noch aus dem Fenster. Nein, das wollen wir doch nicht und das wäre auch nicht zu verantworten...

Vor allem: Ich denke auch an die Unzahl arbeitsloser Moderatoren, Schauspieler und Sprecher, die eventuell nicht mehr unterkommen würden und ohne Arbeit wären. Die könnten dann den Kitt aus den Fenstern fressen. Nee, das geht nun gar nicht. Das wäre ebenfalls nicht zu verantworten. Und die armen, armen Intendanten der öffentlich-rechtlich Sender, die dann von Hartz IV leben müssten. Wenn ich nur daran denke, wird mir ganz schlecht. Wir sind schließlich ein Sozialstaat, und auch diese Menschen brauchen schließlich Brot und Lohn. Also lieber „ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice“, nimm gefälligst die dreifache Gebühr. Das bisschen Knete treibe ich auch noch auf. Noch ‘n Vorschlag: Erhöht die Gagen und Honorare für die bei den öffentlich-rechtlich beschäftigen Menschen jedes Jahr um den Satz der Infl ation, damit sie nicht noch verarmen... Ach so, und könntet Ihr vielleicht nicht noch ein, zwei, drei neue Talkshows aus der Taufe heben, damit die bekannten Dummschwätzer, die eh in jeder Talkshow für Geld ihren Unsinn verbreiten dürfen, noch ein paar mehr sprudelnde Geldquellen haben?!

n Detlef Flister

Die Umstellung von den gerätebezogenen Rundfunkgebühren zum Rundfunkbeitrag bringt einige Neuerungen für Verbraucher mit

sich. Dazu beraten die Mitarbeiter der Verbraucherzentralen im Rahmen einer Kooperation mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) ab sofort kostenfrei.Konkret geht es dabei beispielsweise darum, wer unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung von der Beitragspfl icht bzw. eine Ermäßigung der Beiträge beantragen kann. Zu dieser Gruppe gehören Empfänger von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder BAföG und behinderte Menschen, deren Schwerbehindertenausweis das Zeichen „RF” enthält. Von der Zahlungspfl icht befreit sind zum Beispiel Bezieher von Blindenhilfe. Neben der auf praktische Einzelfallhilfe ausgerichteten Beratung geben die Experten Tipps zum Ausfüllen von Anträgen. Abgerundet wird das Angebot durch zahlreiche Info-materialien zum Rundfunkbeitrag, die in den Beratungsstellen der Verbraucherzentralen ausliegen. Bei besonders komplizierten Fällen können die Mitarbeiter über ein „rotes Telefon“ direkten Kontakt zu Beitragsexperten im rbb aufnehmen, um jederzeit schnell helfen

zu können. Um die kostenfreie Beratung zum Rundfunkbeitrag in Anspruch zu nehmen, können Verbraucher an den Termintelefonen der Verbraucherzentralen einen persönlichen Beratungstermin vereinbaren:

Berlin: Tel. 030/214 85-150 (dienstags und freitags von 9 bis 13 Uhr sowie mittwochs und donnerstags in der Zeit von 13 bis 17 Uhr)

Brandenburg: Tel. 01805/00 40 49 (montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr, 14 ct/Min. aus dem deutschen Festnetz, mobil maximal 42 ct/Min.)

Link: 8 http://presseservice.rbb-online.de/presseinformationen/unternehmen/2012/12/20121214_rundfunkbeitrag_koop_verbrau-cherzentr_rbb.phtml

Info:

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Hannes Wader: Heute hier, morgen dort...Über die Erfolge und Krisen des Liedermachers Hannes Wader

Wie alles anfingErst mit einundzwanzig Jahren beginnt Hannes Wader richtig mit dem Musik machen. Das war in der Zeit, als er sein Grafikstudium in Berlin fortsetzte. Er spielte zusammen mit amerikanischen Studenten, die auf Europatrip waren, mit Klarinette und Gitarre auf dem Kurfürstendamm. Das war 1963 und ein wichtiges Jahr für ihn: Er hört zum ersten Mal Georges Brassens, der ihn laut eigener Aussage sehr inspiriert hat. Auch schreibt er sein erstes Lied „Das Loch unterm Dach“, das 1969 zusammen mit all seinen bis dahin geschriebenen Liedern auf seinem ersten Album „Hannes Wader singt...“ erschien. Dass aus ihm einmal ein ganz Großer der Liedermacherszene werden würde, war damals nicht klar.

Wader wurde am 23.6.1942 in Berthel bei Bielefeld geboren.Er wuchs mit seinen beiden acht und neun Jahre älteren Schwestern in einer ganzen normalen Familie auf. Der erste tiefe Einschnitt ereignet sich im Alter von fünfzehn Jahren: Sein Vater stirbt mit 54 Jahren. Zwei Jahre später macht Wader eine Lehre als Dekorateur in einem Schuhgeschäft, die er erfolgreich abschließt. Nach drei Jahren gibt er diesen Beruf schließlich auf. 1966 beginnt dann seine eigentliche Musikerkarriere: Er hat seinen ersten Auftritt beim Waldeck-Festival. Reinhard Mey erzählte über seine erste Begegnung mit Wader: „Da stand dieser große Bursche mit der Baskenmütze und seiner Gitarre auf der Bühne und sang das, was ich

Hannes Wader, 2012

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8 www.wikipedia.deDoku „Wecker, Wader, Vaterland“ (2008)Begleitheft zur Neuauflage von „Wader singt...“ (2006)„Wader sechzig“ – Begleitheft zu seinem 60. Geburtstag (2002)

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schon immer hören wollte(....) Es war ein Frühsommerabend 1966 auf Burg Waldeck. Hannes sang ‚Blumen des Armen‘ und ich wusste, dass ich einem Meister begegnet war – und einem Seelenverwandten“.

Die beiden wurden Freunde und organisierten eine gemeinsame Tournee quer durch Deutschland. Dazu berichtet Reinhard Mey: „Es waren die Anfänge der Liedermacherei. Wir hatten beide eine handvoll eigener Lieder und waren begierig, zu singen und auszuprobieren, was wir da geschrieben hatten(....) Also legten wir unsere Schätze zusammen… Es waren einschneidende Stunden unserer Sturm- und Drangzeit, die wir da gemeinsam auf den Kleinkunstbühnen und Straßen des Landes in meinem alten, blauen Käfer erlebt haben. Und wir schrieben wie besessen, erfüllt von der Lust zu erzählen, berauscht von der Bühne, angespannt vom Beifall“. Irgendwann hatte jeder sein eigenes Programm und sie verloren sich bis Ende der 80er aus den Augen, weil jeder seinen eigenen Weg ging.

Das erste Album: „Wader singt...“ 1969 steigt Hannes Wader schließlich auch ins Plattengeschäft ein. Knut Kiesewetter war der Produzent seines ersten Albums „Hannes Wader singt...“. Das Album wird, besonders wenn man bedenkt, dass Wader damals höch-stens Insidern bekannt war, ein beachtlicher Erfolg: Innerhalb eines Jahres verkaufte es sich drei- bis viertausend mal. Das war als Sensation für einen Plattendebütanten und damit war er im Geschäft. Wader schreibt im Begleitheft zur Neuauflage des Album als CD (2004) dazu: „Anlässlich eines Konzertes für den Süd-westfunk in Baden-Baden fragt mich Knut Kiesewetter – er hat zufällig auch beim SWF zu tun und sich unseren Auftritt angesehen – ob ich schon eine Platte hätte. Wenn nicht, dann würde er eine mit mir machen wollen. Knut sagte: ‚Du kannst mir deine Adresse in der Rezeption hinterlassen. Ich rufe Dich an‘ Die Sprüche kenne ich schon. Ich hinterlasse keine Adresse an der Rezeption. Wenn er es ernst meint, wird er mich schon finden… Wochen später ruft Knut mich an: ‚Wir wollten doch eine Platte machen, warum hast Du mir Deine Adresse nicht dagelassen?‘ Hab‘ ich vergessen!“

Schließlich kam es, nachdem ihn Kiesewetter wegen seiner chronischen Geldnot eine Fahrkarte nach Hamburg geschickt hatte, im Studio Windrose zur Produktion seines ersten Albums. Kiesewetter gelang es, das Album auf dem Sonderlabel „Conträr“ bei „Philips“ unterzubringen. Dazu musste er einen „Unterboss“ dort stark bedrängen. Er hatte selbst eine Witzplatte veröffentlicht, und die „Philips“-Herren dort wollten gern eine weitere Scheibe dieser Art. Schließlich wurde ausgehandelt, dass es eine zweite Witzplatte gibt und Philips dafür „Wader singt...“ veröffentlicht. So läuft das oft in der Musikbranche.

Die Sache mit der RAF Das Jahr 1972 sollte ein ereignisreiches Jahr für den Liedermacher werden, der inzwischen ein Großer der Szene geworden war. Das kam so: Sein drittes Album „7 Lieder“ war ein großer, kommerzieller Erfolg, und er hatte vor, mit diesen Liedern im Gepäck gemeinsam mit dem Gitarristen Werner Lämmerhirt eine Tournee zu starten. Durch Zufall traf er eine junge Dame, die sich als wohnungssuchende Journalistin ausgab. Wader machte den größten Fehler seines Lebens: Er untervermietete seine Wohnung an sie. Später kam heraus, dass er die RAF-Terroristin Gudrun Ensselin beherbergt hatte, und dass seine Wohnung zum Bau von Bomben benutzt worden war. Die Sache eskalierte, und irgendwann wurde er von der Bühne weg festgenommen. Er kam in U-Haft und wurde jahrelang wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung von der Justiz verfolgt und vom Verfassungsschutz beobachtet. In der Sendung „Wader, Wecker, Vaterland“ zu seiner Tournee mit Konstantin Wecker äußerte sich der Liedermacher verbittert und wütend, als ihm alte Artikel zu der Sache gezeigt werden: „Eigentlich wollte ich von der RAF-Scheisse nichts mehr wissen“. Man sieht, wie er die alten Artikel mit versteinertem Gesicht liest.

Seine Erfahrung verarbeitet er später in dem Lied „Freunde, Genossen“,

das auf dem Album „Wieder Unterwegs“(1979) publiziert wurde. Man kann am Text sehen, dass Wader tiefe Wunden in die Seele gerissen wurden. Verbittert und teilweise aggressiv berichtet er über seine Erfahrungen, die er bis heute nicht wirklich verarbeitet hat. Als Fazit gibt er resignierend an: „Freunde, Genossen, die haben beschlossen, der Demokratie den Hahn abzudreh‘n!“

In dieser Zeit wurde eine Art Medienboy-kott über ihn verhängt. Er hatte kaum noch Auftritte und seine Plattenver-käufe gingen in den Keller. „Ich habe“, so Wader in der Fernsehdokumentation „Wecker, Wader Vaterland“, „ja damals die Relationen verloren. Überall wurde ich bejubelt und vergöttert. Plötzlich brachen meine Einnahmen weg, und ich merkte, dass ich auch nur ein Mensch bin!“ Nur mit Hilfe seiner Kollegen kam er überhaupt zu Auftritten, doch oft hieß es: „Wader nicht!“ Kollegen wie Reinhard Mey sagten deshalb eigene Auftritte oft nur unter der Bedingung zu, dass auch Hannes Wader eine Chance bekommen würde. Mühsam kam seine Karriere im Laufe der Jahre wieder in Gang.

Zusammenbruch einer WeltanschauungDie nächste Lebenskrise, die Wader erschütterte, wurde 1989 ausgelöst: Der Anlass, war der Zusammenbruch

der DDR, der seine gesamte Weltanschauung zerstörte. Schließlich war er überzeugter Kommunist gewesen und hatte seine Ideale auch immer öffentlich vertreten. Kaum eine Veranstaltung der Linken hatte er ausgelassen, oft war er dort mit seinen Liedern präsent. 1977 war er, begleitet von unzähligen Presseverrissen, in die DKP eingetreten, um seine politische Einstellung zu manifestieren. Jahrelang kämpfte er mit sich und erklärte 1993 – drei Jahre nach der Einheit – seinen Austritt aus der DKP. Diese Geschichte hinterließ natürlich Wunden. In „Wader, Wecker, Vaterland“ stellte seine zweite Frau Cordula Fink sichtlich betroffen und mitgenommen fest: „Du warst nie wieder so leidenschaftlich wie in Deiner DKP-Zeit. Es war danach vieles wie weg.“ Wader nickte zur Antwort nur traurig und bestätigte dies mit wenigen, leisen Worten. Es war ein riesiger Einschnitt und Schock für den heute 70-jährigen Liedermacher, den er bis heute scheinbar nicht richtig ver-daut hat. Von 1991 („Nie mehr zurück“) bis 2001 veröffentlichte Wader acht Alben, auf denen aber nur zwei Eigenkompositionen waren. Hatte dieser Schock seine Kreativität blockiert? Es spricht meiner Meinung nach einiges dafür.

Wader ist wieder daIn diesem Jahr veröffentlichte Hannes Wader sein Album „Nah dran“. Es ist ihn meiner Meinung nach gelungen, wieder Lieder mit kraftvoller Lyrik und starken Inhalten zu kreieren. Mit dem Song „Dass wir solange leben dürfen“ zieht Wader schonungslos Bilanz. Er bezichtigt sich des Pratzens und bezeichnet sich sogar als jemand, der ein Loser ist. Seinen Lebenskampf bezeichnet er als „meist vergebens“ und „oft verbissen“. Es werden auf lebendige, kritische Weise ganz persönliche Geschichten erzählt.

Waders CD „Nah dran“ wurde 3. Quartal 2012 als „herausragende Neuveröffentlichung“ im mit dem „Preis der Deutschen Schallplatten-kritik“ ausgezeichnet. Hannes Wader ist am 7. Juli 2012 beim größten deutschen Weltmusikfestival „TFF“ in Rudolstadt für sein Lebenswerk mit dem Weltmusikpreis „RUTH“ ausgezeichnet worden. Die sehr bewegende Laudatio hielt sein Freund und Kollege Konstantin Wecker.

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Quellen:

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Hannes Wader im Konzert

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„Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich nichts tue“ (Johannes Grützke)

Ausstellung „die ganze Welt in meinem Spiegel“ im Ephraim-Palais

Johannes Grützke, 1937 in Berlin geboren, bedeutendster Vertreter der figurativen Malerei, Bühnen-

bildner, Dichter und Musiker, ist ein charismatischer Mensch, der mit Humor und Nachsicht die Wirklichkeit betrach-tet und sie in seinem vielfältigen Werk darstellt. Die Malerei und Grafik dieses Künstlers, also „die ganze Welt in meinem Spiegel“, ist jetzt endlich auch in seiner ersten institutionellen Ausstellung in Berlin – im Ephraim-Palais – zu sehen. Urszula Usakowska-Wolff besuchte für den strassenfe-ger den Meister des Pinsels und des Wortes in seinem Wilmersdorfer Atelier und sprach mit ihm über Kunst, Dichtung und Wahrheit.

strassenfeger: Herr Grützke, Ihnen wurde 2012 der Hannah-Höch-Preis des Landes Berlin verliehen. Welche Bedeutung hat für Sie dieser Preis? Warum haben Sie ihn erst jetzt bekommen? Johannes Grützke: Ich bin eigentlich nicht preisbegabt. Preise zu kriegen ist eine beson-dere Begabung. Ich habe inzwischen schon einige Preise bekommen, aber in Berlin eben

nicht. Ich habe mich immer um Preise beworben, zum Beispiel in Wolfsburg um den Preis „Junge Stadt sieht junge Kunst“. Ich weiß, dass es junge Kunst gar nicht gibt. Es gibt nur junge Künstler, und der war ich, als ich diesen Preis kriegte, überhaupt nicht mehr, da war ich ziem-lich alt geworden, da war ich 65 (lacht). Na gut, der Hannah-Höch-Preis ist kein Jugendpreis, er wird für das Lebenswerk verliehen, den kann man nur als alte Frau oder alter Mann kriegen.

sf: Sie sind ein echter Berliner… J. G.: Das bedeutet in Berlin überhaupt nichts.

sf: Warum tut sich Berlin so schwer mit Ihrer Kunst? J. G.: Na ja, nicht nur Berlin. In Berlin spielt es überhaupt keine Rolle, dass ich ein Berliner Künstler bin, und woanders auch nicht.

sf: Sie sind Ihrer figurativen Kunst bis heute treu geblieben. Fiel Ihnen diese Entschei-dung leicht? Sie wollten sich nie verbiegen,

obwohl Ihre Kunst nicht bei allen Kritikern auf Begeisterung stieß. Warum eigentlich? Weil Sie gegenständlich und in altmeisterlicher Manier malen? J. G.: Ich habe mir diese Frage nie gestellt, weil ich einfach das gemacht habe, was mir einfiel oder was ich gesehen habe. Ich habe keine Rücksicht genommen, was besser ankommen könnte. Ich studierte in einer Zeit, als das Abstrakte gefeiert wurde, doch alles hat eine Chance. Eine Chance im

Bewusstsein, denn damals war an den Kunst-handel überhaupt nicht zu denken, wir waren weit vom Schuss. Wir waren zwar informiert, aber hatten hier in Berlin keinen Kunsthandel und keine Sammler, das kam erst viel später.

Jetzt ist es sowieso egal, wo man lebt. Es gibt kein West-Berlin mehr. Aber West-Berlin bot eine Chance für komische Existenzen, die vom Markt unbehelligt blieben.

sf.: Woher kommt Ihr Interesse am nackten menschlichen Körper? Ich finde, dass diese Fleischeslust, die Ihre Bilder durchdringt, etwas Besonderes ist in der zeitgenös-sischen deutschen Kunst, die mit Sinnlichkeit nicht viel anfangen kann.J. G.: Für mich ist das nichts Beson-deres, denn ich habe auch Lust (lacht) am Nackten. Es gab eine Zeit, wo jeden Tag andere Modelle zu mir ins Atelier kamen. Angefangen hat mein Interesse aber nicht mit der Nacktheit

als solche, sondern weil ein nackter Mensch mehr ist als ein verkleideter: Er verkörpert sozusagen die Menschheit. Er stellt mehr dar als nur sich selbst in seiner Zeit, nämlich die Gerechtigkeit oder die Wahrheit. Wenn er nackt ist, ist er zum Symbol befähigt. In meinem Fall kommt es nicht auf das Symbol an, denn meine Figuren sind durch ihre Gestik zu einer übergeordneten Bedeutung geeignet, die ich wahrscheinlich nicht kenne, aber die ich mir zu Recht machen oder deuten kann, denn ich bin vor dem eigenen Bild genauso dumm wie ein anderer, der davor steht und es genauso wenig zu deuten weiß.

sf: Von vielen Leuten werden Ihre Bilder als karikaturhaft oder ironisch empfunden. Ist das Ihre Absicht?J. G.: Ironie gibt es gar nicht! Alles, was ironisch ausgesprochen wird, kann man buchstäblich verstehen.

sf: Stellen Sie sich an die Staffelei mit einem

fertigen Bild im Kopf, das Sie dann genau nach Ihrer Vorstellung malen? J. G.: Das, was gemalt wird, ist ja nicht der Inhalt, man sieht nur das Gestein, also die Oberfläche.

sf: Was unter der Bildoberfläche ist, sieht man nicht, und das ist vielleicht das Interessan-teste: die Gedankenwelt des Künstlers. Sie bleibt aber dem Betrachter verborgen. J. G.: Die guckt schon raus, doch das ist

Johannes Grützke in seinem Wilmersdorfer Atelier

Unter der grünen Lampe, 2010

Der Dichter, 1975

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Johannes Grützke „die ganze Welt in meinem Spiegel“ (Hannah-Höch-Preis des Landes Berlin 2012) noch bis zum 17. Februar 2013Ephraim-Palais | Stadtmuseum Berlin Poststr. 16 10178 Berlin-Mitte Öffnungszeiten: Di, Do-So 10-18 Uhr | Mi 12-20 Uhr Eintritt: 6 / 4 Euro | jeden 1. Mittwoch im Monat Eintritt frei, Katalog zwei Euro

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„Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich nichts tue“ (Johannes Grützke)

Ausstellung „die ganze Welt in meinem Spiegel“ im Ephraim-Palais

sozusagen wie mit der rechten Hand das linke Ohr anzufassen, es ist ein Umweg, aber er ist sehr angenehm, denn er verschiebt jede Verantwortung.

sf: Die Kritik steht manchmal ratlos vor Ihren Bildern, weil sie nicht weiß, was sie davon halten soll. J. G.: In solchen Fällen bin ich sehr zufrieden, es geht mir selber so.

sf: Ist es schwer, seinen eigenen Weg zu gehen in einer Zeit, wo viele Künstler vor allem für den Kunstmarkt arbeiten? J. G.: Ich muss nicht traurig sein,

auch was den Wettbewerb betrifft, denn es geht mir gut und zum Leben reicht es mir auch (lacht). Mehr brauche ich nicht. Geld kann man sowieso nicht essen. Damit habe ich kein Problem, bloß bin ich nicht in der oberen Kategorie, aber das ist nicht ärgerlich, denn ich bin auch nicht in der unteren.

sf: Sie meiden den Kunstbetrieb, wollen nicht in eine Schublade gesteckt werden, gehen

nicht zu den Kunstevents… J. G.: Jetzt nicht mehr. Früher habe ich das gemacht, aber in meinem Alter weiß ich ja alles (lacht). Ich muss mich gar nicht erst dahin bemühen, denn es gibt nichts Neues. Ich habe mir immer Mühe gegeben, diesen Kunst-Ismen zu entweichen. Ich wollte nicht dazu gezählt werden, aber als Berliner ist man sofort ein Kritischer Realist. Es nützt nichts, sich dagegen aufzulehnen, denn die Leute machen mit uns, was sie wollen. Für die Wiener bin ich wiede-rum ein Maler der1968er, was mich auch sehr wundert. Ich habe in dieser Zeit zwar gelebt und manche ihrer Themen aufgenommen, aber sie weder plakativ noch agitatorisch umgesetzt. Die Kunst muss nicht brüllen, um gehört zu werden.

sf: Sie sind nicht nur Maler und Grafiker, sondern auch Schriftsteller und Musiker. Was bedeutet es, ein künstlerisches Multitalent zu sein? J. G.: Diese Frage habe ich mir nie gestellt, das mit dem Talent weiß ich nicht. Ich mache auf jedem Fall eine ganze Menge, ich habe auch Bühnenbilder für Peter Zadek gemacht, ich schrieb Theaterstücke für „Die Schule der Neuen Prächtigkeit“ und schreibe jetzt für die Schadow-Gesellschaft. Zu dichten habe ich angefangen, weil ich die Zeit totschlagen musste. Ich war ja mal einige Jahre in Ham-burg tätig und die Bahnfahrt von Berlin nach Hamburg dauerte damals über vier Stunden. Ich saß im Mitropa-Speisewagen und habe zuerst die Speisekarte abgeschrieben, weil darauf sehr komische Worte wie „Sättigungsbeilage“ oder Preise wie 1,29 DM für Mineralwasser standen. Das war mein erstes gereimtes Gedicht, danach habe ich lange Zeit gereimt, heute nicht mehr, denn ich lasse meinen Stift einfach laufen. Ich muss immer etwas tun; wenn ich nichts tue, fühle ich mich nicht wohl.

sf: Malen und Schreiben sind doch unterschied-liche künstlerische Disziplinen. J. G.: Ja, aber ich pflege bei meiner Dichtung wie bei meiner Malerei nicht zu überlegen, denn das Überlegen ist planvoll und speku-lativ. Ich lasse beim Dichten den Stift laufen, so wie ich beim Bild meinen Pinsel laufen lasse. Es fließt von allen Seiten immerfort etwas hinein. Der Pinsel ist nur ein ausführendes Organ, auch der Stift. Das sind ja Medien oder Seismogr aphen;

eigentlich braucht man nur einen geschlos-senen oder nicht geschlossenen Raum, eine gewisse Trance, und alles, was an Gedanken da ist, fließt in den Stift beziehungsweise in den Pinsel. Dann gucken wir uns das Geschriebene oder Gemalte an und lassen es gelten, ohne es zu verbessern. Man muss die Sache, die geflossen ist, festhalten: Das ist meine Devise.

sf: Wie viele Bilder haben Sie bisher gemalt? J. G.: Das letzte Werkverzeichnis war 1977, da waren es ungefähr 250, jetzt sind es bestimmt 1000.

sf: Wie viele gehören Ihnen noch? J. G.: Nicht viele.

sf: Was machen Sie, wenn Sie nicht malen, nicht schreiben oder ihr Archiv nicht ordnen? Haben Sie Hobbies? J. G.: Nein, ich habe keine Hobbies, alles was ich mache, mache ich hauptsächlich. Nichts ist nebensächlich, oder fast nichts, es gibt schon dämliches Zeug, aber das ist leider auch nicht nebensächlich. Vor allem muss ich mir die Zeit für die Kunst freischaufeln. Kunst und Leben, das geht alles durcheinander.

sf: So ähnlich wie auf Ihrem Bild „Bach durch seine Kinder gestört“? J. G.: Ja, es geht darum, dass man auch unter ungünstigen Umständen etwas Sinnvolles machen kann.

Info:

Unser Fortschritt ist unaufhörlich, 1973

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„Die Bahnhofsmission ist mein Wohnzimmer, hier fühle ich mich zuhause.“Dieter Puhl, Chef der Bahnhofsmission am Zoo zieht Bilanz

Mein WohnzimmerVor drei Jahren begann ich meine Tätigkeit als Leiter der Bahnhofsmis-sion Zoo. Schon 17 Jahre davor war ich in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission tätig, 13 Jahre davon im Betreuten Wohnen am Chamissoplatz in Kreuzberg. Drei Jahre als einer von zwei Bereichsleitern der Wohnungslosenhilfe, dann kurz in der City-Station der Berliner Stadtmission. „Die Bahnhofsmission ist mein Wohnzimmer, hier fühle ich mich zuhause.“ Ich hörte und höre diesen Satz häufig von Gästen der Bahnhofsmission. Er schmeichelte mir, denn es war doch wohl gut, in einer Einrichtung zu arbeiten, die so von ihren Gästen geschätzt wird. Manchmal zucke ich nunmehr aber etwas zusammen, wenn ich diesen Satz höre.

Die Besucher – GästestrukturVor drei Jahren besuchten uns um die 400 Gäste täglich auf, die Zahlen stiegen stetig, wir sind bei 600 Gästen angelangt, manchmal sind es schon über 650. Ca. 70 Prozent unserer Gäste sind wohnungslose Men-schen. Aus über 30 Ländern dieser Welt, natürlich viele aus Deutschland, aus dem gesamten Bundesgebiet. Gescheiterte, Menschen die neu durchstarten wollten, Glücksritter, zog es schon immer nach Berlin, mit einer Plastiktüte unter’m Arm und einer Unterhose zum Wechseln: „Ich fang neu an“. Die Metropole Berlin bot stets die Möglichkeit in der Anonymität abzutauchen, wer lässt sich schon gern als Verlierer über die Schulter schauen, wer möchte seiner Familie, seinen Schulfreunden

in seiner Hilflosigkeit begegnen? Das gute Hilfesystem und die Scham-haftigkeit treiben viele Bundesbürger nach Berlin.

Im letzten Winter starben wohl über 50 wohnungslose Menschen in Warschau an der Kälte, in Berlin nicht einer. Ein guter und überzeugender Grund um nach Berlin zu kommen für viele Menschen aus Osteuropa. Ihre Zahlen steigen. Der Wilmersdorfer Witwe, und es sind wirklich die Menschen aus den Innenstadtbereichen, fehlt sehr oft ab dem 20. des Monats das nötige Geld, um selbst Lebensmittel zu kaufen. Die Geschich-ten sind oft ähnlich: Um die 800 Euro oder weniger Rente, 400 bis 500 Euro Miete. Wenn man sich dann für 160 Euro ein paar orthopädische Schuhe kaufen muss, ist es kurz vor knapp. Fast all diese Menschen sind auf sich allein gestellt, haben kaum Freundschaften, keine tragfähigen sozialen Kontakte.

Wo ist mein Platz?Ich bin 1957 in Altenholz bei Kiel geboren. Wuchs in einem Haushalt, gemeinsam mit meinen Eltern, meiner Schwester, meiner Großmutter und meinem Onkel auf. Familie zählte. Nachbarschaft überwiegend auch. In dem Dorf lebten ca. 400 Einwohner, es gab vier Gehöfte. Gut in Erinnerung ist mir geblieben, jeder Landwirt hatte mindestens zwei Knechte. Das waren schon komische Typen. Ich fand sie als Kind sehr eigenartig. Oft waren sie unrasiert, sehr oft angetrunken oder mehr. Bei

Dieter Puhl (links), Leiter der Bahnhofsmission am Zoo

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Dorffesten waren sie schnell in Prügeleien verwickelt, lagen am nächsten Morgen oft betrunken im Graben. Als ich sehr klein war, waren sie mir unheimlich. Als ich größer wurde merkte ich, so übel waren sie gar nicht, hatten nur einen eigenartigen Humor. Und ich merkte schnell, hier vollzog sich etwas Wichtiges: Sie hatten ihren Platz! Das war gar nicht so selbst-verständlich, aber es funktionierte. Sie gingen ihrer Arbeit nach, taten etwas sinnvolles, konnten sich eingeben, lebten in den Familien der Bauern. Sie saßen mit ihnen an einem Tisch, aßen die gleiche Mahlzeit; wurden wenn sie älter wurden versorgt, erhielten so etwas wie ihr Gnadenbrot. Auch wichtig, die Dorfgemeinschaft zeigte sich gegenüber ihren Eigenarten tolerant.

Vor 20 Jahren gab es im Betreuten Wohnen keine Klienten, die einen muslimischen Hintergrund hatten. Türken und arabischstämmige Menschen waren in dieser Stadt nicht wohnungslos. Wenn sie soziale oder psychische Schwierigkeiten hatten, wurden sie durch ihre Familien versorgt. Das veränderte sich zunehmend. Verkürzt und sicherlich nicht für alle zutreffend: Wenn Onkel Mehmet Schwierigkeiten hat, muss er nun zusehen, wie er klar kommt. Seine Familie hilft ihm nicht mehr. Und so sucht nun auch Onkel Mehmet die Bahnhofsmission auf.

Die Leistungen der BahnhofsmissionDreimal am Tag, jeden Tag, erhalten unsere Gäste richtig schmackhafte Mahlzeiten. Das Essen ist gut, abwechslungsreich, leckere Brote und Brötchen, viel-fältig belegt, Obst, Kuchen und Törtchen, Joghurts und Salate, Kaffee und Tee – alles ist kostenlos. Die Berliner Tafel versorgt uns irre gut. Was fehlt, bringen freundliche Spender oder wir müssen es dazu kaufen. (Vorsicht Falle – wir haben nicht das Geld dazu.) Wir sind vom Raum her sicherlich die kleinste Kleiderkammer Berlins, unsere Gäste erhalten hier nur „Notbekleidung“, aber immerhin: Vor drei Jahren gaben wir 4.000-mal pro Jahr Bekleidung heraus, dann 11.000-mal, sind nunmehr bei 27.000 Kleide-rausgaben gelandet. Es wäre falsch nun zu schluss-folgern, dass sich die Not ungeheuer potenziert hat. Wir haben Abläufe des Sammelns und Sortierens auch rationalisiert, aber wir erhalten auch deutlich mehr gute Bekleidung als vor Jahren, können diese folglich auch entspannter herausgeben.

Die Beratungen sind kompetent, wenngleich wir es leider nicht schaffen, alle Menschen gut zu beraten. Hierfür fehlt das hauptamtliche Personal. Es ginge mehr. Viele Gäste werden in das weiterführende Hilfesystem vermittelt, einige kommen sicher auch an, viele schaffen die Wege ohne Begleitung nicht, irren durch die Systeme. Ich möchte nicht wissen, wie viele alt, demenzerkrankte wohnungslose Menschen es in dieser Stadt gibt, die ständig von einer zur nächsten Beratungsstelle geschickt werden, ohne dort je anzukommen?

Seelsorge, also das Sorgen um die Seele, sollte in einer evangelischen Einrichtung keine leere Worthülse sein. Einmal wöchentlich findet eine Andacht, 14täglich sonntags ein Gottesdienst, der immerhin von unge-fähr 40 Menschen besucht wird, statt. Sehr oft wird getröstet, zugehört, gestreichelt. Zunehmend nachts, wir haben ja rund um die Uhr geöffnet, wird die Bahnhofsmission auch von Bürgern aufgesucht, die nicht mehr allein klarkommen, einen Menschen brauchen, ein reales Gegenüber.

Und dann gibt es ja noch die bahnreisenden Menschen, die in Not geraten sind und das ist ja seit über 100 Jahren der Klassiker. Für sie stehen elf Schlafplätze zur Verfügung. Jetzt in der Weihnachtszeit erhalten wir fast von allen Botschaften in Berlin Weihnachtsgrüße und manchmal auch kleine Präsente. Das irritierte mich vor drei Jahren, wusste ich doch nicht, was das soll? Nunmehr ist mir klar, sehr viele Botschaften schicken ihre in Not geratenen Landsleute in die Bahnhofsmission. „Dort werden sie ja prima versorgt.“ Das ergibt eine Vielfalt an Geschichten, Problemlagen, Herausforderungen und diese werden zunehmend komplexer.

Gewalt auf der StraßeFast alle wohnungslosen Menschen die ich kenne, sind äußerst fried-fertig, werden wenn sie Pech haben, ja selbst eher Opfer von Gewalt. In den vergangenen Jahren und aktuell haben wir, andere Einrichtungen wohl auch, es leider mit einer Gruppe von 15 Menschen zu tun, die durch diese Stadt ziehen und oft ohne jedes Regelwerk auftreten. Gegenüber anderen wohnungslosen Menschen und auch gegenüber Mitarbeitenden in Einrichtungen kommt es zu Übergriffen, Gewalt-androhungen, gelegentlich auch zu Gewaltanwendungen. Der Job ist durchaus gefährlich geworden. Noch fehlen hier die entsprechenden Vernetzungen der Einrichtungen untereinander, der fachliche Austausch, und es gibt meines Erachtens keine zulänglichen Strategien, adäquat mit diesen Übergriffen umzugehen. Anzeigen und Hausverbote, wir sprechen diese in der Bahnhofsmission äußerst selten aus, führen eher zu Problemverschiebungen, machen diese Menschen noch aggressiver. Wenn sie überall ausgegrenzt werden, haben sie gar nichts mehr zu verlieren!

Die SchwachpunkteBei 600 Gästen täglich den einzelnen Menschen zu erkennen, auf ihn einzugehen, ist eine Herausforderung, der wir uns stellen, die sicher auch ab und an gelingt, leider aber nicht immer. Es ist ungemütlicher geworden in der Bahnhofsmission. Welch ein Wunder! Es ist enger, lauter, hektischer und einige unserer Gäste sind auch unzufrieden. Ich glaube aber nicht, dass hier die Bahnhofsmission das Problem ist, sondern der Umstand, dass im innerstädtischen Bereich zwei weitere Einrichtungen dieser Größenordnungen fehlen. Die Zahlen steigen, alle Fachkollegen kommunizieren Zuwächse von um die zehn Prozent jährlich, dann sollten auch Plätze in den Einrichtungen steigen, neue Einrichtungen gegründet werden. Tun sie aber nicht.

Andi Barzda, Mitarbeiter der Bahnhofsmission am Zoo

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Leider! Die Einrichtungen, die es gibt, werden so nicht Schritthalten können. Die Bahnhofsmission Zoo, als eine der größten Einrichtungen, hat ihre äußerste Kapazitätsgrenze erreicht, vielleicht sogar schon überschritten? Wir werden das Jahr 2013 nutzen, um hier konzeptionelle Überlegungen anzustellen, so gut als möglich mit widrigen Umständen umzugehen.

Geld, Geld, GeldDie Senatsverwaltung für Soziales trägt im hohen Maße die Perso-nalkosten der hauptamtlichen Mitarbeiter. Seit zehn Jahren gibt es hier aber leider keine Erhöhungen und so wird das jährliche Defizit der Bahnhofsmission eigentlich jedes Jahr höher, denn die Personalkosten steigen ja jedes Jahr etwas an. Auch bei den Sachmit-teln gibt es riesige Lücken. Und so blieb und bleibt nur der Weg Menschen zu finden, die unsere Arbeit mit Sach- aber auch mit Geldspenden unterstützen.

Freunde der ArbeitIch mag das Wort „Spender“ nicht. Hört sich für mich irgendwie kühl an. Wir wünschen uns Freunde. Menschen, die die Bahn-hofsmission aufsuchen, sich vor Ort bei einer Tasse Kaffee informieren, Innen-einsichten erlangen. Wir wünschen uns Menschen, deren Pulsschlag sich ver-ändert, wenn sie bei uns sind. Hoffen auf Freunde, die mitfühlen und deshalb unterstützen müssen. Natürlich bereitet diese Netzwerkarbeit Freude, sie ist aber auch sehr zeitintensiv. Zeit, die auch unseren Gästen fehlt.

Der HygienecontainerDie Jebensstraße ohne einen Hygienecontainer für wohnungslose Menschen geht gar nicht. Noch immer ist unklar, wo wohnungslose Menschen ihre Notdurft verrichten bzw. ist es sichtbar, weil sie dies

auf der Straße tun müssen. Das nimmt Würde und ist auch falsch für die übrigen Anrainer der Jebensstraße. Ein riesiges Dankeschön gegenüber den Nachbarn der Jebensstraße, sie sind weiterhin sehr freundlich und aufgeschlossen. Es gibt Ansätze für 2013, die man verhalten als optimistisch bezeichnen kann. Wir hoffen und drängen solidarisch für unsere Gäste auf einen neuen Hygienecontainer.

Salz in der Suppe 80 ehrenamtliche Helfer unterstützen und tragen die Arbeit in der Bahn-hofsmission maßgeblich. Ergänzt werden sie durch ca. 120 Praktikanten im Jahr und viele Menschen, die hier „Arbeit statt Strafe“ Firmen und Einzelpersonen absolvieren Servicetage, werden zu wichtigen Multi-

plikatoren. Die jüngsten Helfer sind 16 Jahre alt, unsere älteste Lady ist 79. Laut und leise, arm und reich, introvertiert oder nach außen gekehrt – das ist schon eine sehr bunte Mannschaft. Gemeinsam ist allen, sie packen an, sind zuverlässig und mit Freude bei der Sache – und ihre Sache ist es, gute Gastgeber zu sein. Helfen macht glück-lich, erfüllt, man pendelt sich neu ein. Nebenbei: Es ist ein ganz starkes tragfähiges soziales Netzwerk – an guten Tagen fast so etwas wie Familie, das Leben mit der Großmutter, dem Onkel, den Geschwistern. Ein echtes

gesellschaftliches Gegenprogramm zu 53 Prozen Singlehaushalten und 30 Prozent Partnerschaften, die über das Internet geknüpft werden. Wirkliches Leben und reale Berührung.

Die Bahnhofsmission Zoo hilft vielen Menschen, ist gleichzeitig aber auch auf die Hilfe vieler angewiesen. Wir wissen, Gottes Liebe hat nichts mit verschränkten Armen und Untätigkeit oder „ich bin nicht zuständig“ zu tun. Je mehr wir geben, desto mehr werden wir erhalten.

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Gespendete Kleidungsstücke für obdachlose Menschen

Herzlich Wilkommen in der Bahnhofsmission!

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zstrassenfeger radio & strassenfeger unpluggedMan(n) war das ein Jahr!

Hat ein Jahr wirklich nur elf Monate?Es gab den Moment, so Ende November diesen Jahres, an dem ich ernsthaft darüber nachdachte, warum so viele Medien noch vor

Ablauf eines Jahres, bereits zum Monatswechsel November-Dezember, abschließend auf ein dann erst elf Monate altes Jahr zurückblicken. Hätte ich diesen Gedanken nicht gleich darauf schnell wieder verworfen, wäre diesem Rückblick ein wirklich krönender Jahresabschluss ent-gangen. Damit stecke ich dann auch schon mitten drin in meiner ganz persönlichen Reflektion des Radio- und TV-Jahres 2013 des strassenfeger.

Ich liebe StatistikenJa, ich gebe es zu, ich bin Mathe-affin. Und folgende Zahlen verbuchen wir jetzt einfach mal auf der Haben-Seite. Wir realisierten folgende Sendungen im zurückliegenden Jahr:

strassenfeger radio:52 x strassenfeger radio auf 88vier und ALEX (UKW 88,4 MHz Berlin, 90,7 MHz Potsdam & Brandenburg)52 x dominotalk auf ALEX (Kabel Deutschland 92,6 MHz)

strassenfeger tv:14 x strassenfeger unplugged auf ALEX TV1 x strassenfeger talk auf ALEX TV

Insgesamt führten wir dabei allein für die beiden Radioformate 66 Live-Telefon-Interviews, gegrüßten 29 Gäste im Radiostudio und produzierten 43 Interviews sowie 24 Beiträge vor. Zu unseren Gesprächspartnern zählten beispielsweise Autoren, Schauspieler, Politiker aber auch Richter, Journalisten und Menschen wie Du und ich. Ihre Mails nach fast jeder

Sendung sind Beleg genug dafür, dass wir gehört werden, es sich lohnt auch dieses Medium zu bedienen.

Mit strassenfeger unplugged habe wir inzwischen ein anerkanntes TV-Musik-Format etabliert. 14 Konzerte vor nicht selten, ausverkauften Hause sind mit durchschnittlich einer Erstausstrahlung und mindestens vier Wiederholungen von jeder Sendung, fester Programmbestandteil von ALEX. Den Abschluss bildete natürlich auch bei uns thematisch das fünfzigjährige Bühnenjubiläum der Rolling Stones. „GET STONED“ gaben uns, sich aber auch dem Original die Ehre.

So viel zu den Zahlen und nun viel Spaß mit den Impressionen.n Guido Fahrendholz

Danksagung:„Wollte mich nur melden, um noch mal ‚Danke‘ für ein super organisiertes Konzert zu sagen. Es war ein großes Vergnügen beim strassenfeger zu spielen. Wir freuen uns schon sehr auf die Übertragung der Show! Alles Beste aus Slovenien, Dominik“ (Band „Balladero“)

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Show„Let it Show!“

Ob der Berliner Winter wieder so schön weiß werden wird, wissen wir nicht – aber eins ist so sicher wie das S-Bahn-Chaos zum Jahresende: Gayle Tufts wird uns mit ihrer

Wintershow glücklich machen. Gegen den Winterblues hilft nur eine ordentliche Dosis Show! Und wer könnte die besser bieten als Gayle Tufts, die amerikanischste Berlinerin seit John F. Kennedy – unser gorgeous Darling, die mit selbst geschriebenen Liedern und souligen Coverversionen der besten Wintersongs von Paul Simon, Prince, Irving Berlin, den Beatles und vielen anderen dafür sorgt, dass es dem Publikum ganz warm ums Herz wird. Glamour, Glit-zer und eine ordentliche Portion Feuer – auch am Silvesterabend! Begleitet wird Gayle Tufts von der Band unter der Leitung von Bene Aperdannier und Marian Lux. Tanz und Gesang: Daniella Foligno und Steven Seal.

27.12.2012 - 20.01.2013, Mo. – Sa. um 20 Uhr, So. um 19 Uhr.

Preise von 20,80 bis 39,50 Euro. Ermäßigte Karten an der Abendkasse gegen Vorlage des entsprechenden Ausweises zum Einheitspreis von 12,50 EUR, soweit verfügbar.

SILVESTERGALA - nur telefonisch buchbarDie große Silvester-Show mit Gayle Tufts. Tickets nur telefonisch buchbar 030.39 06 65 50

TIPI AM KANZLERAMTGroße Querallee10557 Berlin

Info: www.tipi-am-kanzleramt.de

Konzert„Noonsong”

Auch am ersten Samstag im neuen Jahr um 12 Uhr erklingt in der Kirche am Hohenzollernplatz eine himmlische Liturgie mit dem Profi -Vokalensemble „sirventes berlin“

unter der Leitung von Stefan Schuck. Heute werden Werke von William Byrd, J.P. Sweelinck, Ascanio Trombetti, Hieronymus Praetorius und Michael Praetorius gespielt. Wer sich Musikstücke von vergangenen Konzerten anhören möchte, kann

dies über die Internetstreams tun, die auf www.noonsong.de/down-load.html downloadbar sind. Auf der Internetseite von „noonsong“ können Interessierte außerdem die zukünftigen Termine und Musikstücke entnehmen.

Am 5. Januar, um 12 Uhr

Eintritt frei!

Kirche am HohenzollernplatzNassauische Straße 66-6710717 Berlin

Info: www.noonsong.de

Bildnachweis: www.stefan-evers.de

Ausstellung„Winterzauber en miniature“

Eine bezaubernd schöne Puppenstuben-Winterlandschaft ist ab diesem Wochenende in den großen Schaufenstern der SCHAU-BUDE BERLIN in der Greifswalder Straße im Prenzlauer Berg zu erleben. Die Theatergruppe Die Pyromantiker Berlin hat liebevoll und kunstfertig an die 100 Puppen unterschiedlicher Größe in den großen Fenstern arrangiert. Ber-liner Impressionen en miniature. In dieser fantastischen Winterwelt gibt es alles, was das Herz erwärmt: Weihnachtsmarkt, Winterwald, Puppencenter - sogar ein Puppen-theater, aber kein gewöhnliches! Ein Flugzeug ist gelandet. Unzäh-lige illustre Gäste, Menschen und Tiere aus aller Welt, strömen ins weihnachtlich geschmückte Berlin. Und jede Menge Kinder tummeln sich in der verschneiten Stadt. Hier ist der Löwe los. Ein Panda fährt Schlittschuh. Ein Kind ist Schim-melreiter. Am Zuckerbäckerstand des Weihnachtsmarktes gibt’s ein großes Gedränge. Alle haben Spaß am winterlichen Treiben. Im Pup-penhaus gibt’s ein Festessen. Hoch

oben auf dem Dach thront die Weihnachtsgans Auguste in Frie-den und Freiheit… Die Fenster, von Zuschauern schon als die schönsten Fenster der Stadt

erkoren, sind noch bis Ende Februar 2013 zu sehen.

Noch bis Ende Februar 2013

SCHAUBUDE BERLIN - Theater. PuppenFigurenObjekteGreifswalder Str. 81-84 10405 Berlin-Prenzlauer Berg

www.schaubude-berlin.de

Kinder„Die Hochzeit der Schnee-königin“

Mitten in einem Frühlingsfest erscheint doch noch einmal ein eisiger Wind. Es ist der Nordwind, er hat die Schneekönigin mitgebracht, die sich von den Kindern für ein Jahr verabschieden will. Diese entdeckt Kai und mit Hilfe des Teufels und gegen den Willen des Nordwinds entführt sie ihn in ihr glanzvolles Schloss. Sie will einen Sohn, zur Unterhaltung für ihre einsamen Stunden. Gerda, die beste Freundin von Kai beschließt ihn zu suchen und zu befreien. Für sie beginnt eine schwierige Reise durch die Welt. Auf dem Wege zum Schloss der Schnee-königin begegnet sie einer uralten Kröte im Fluss, der Blumenkönigin, dem Südwind und dem Nordwind, wilden Räubern und in deren Mitte der Räubertochter Raja, Igula der Frau des Nordens, tanzenden Pinguinen und einem singenden Rentier. Die ständigen Begleiter unserer Handlungen, die Kobolde Mana und Duku sind natürlich auch mit dabei. Gerda gelingt es, Kai zu retten und beide werden Gäste einer strahlenden Hochzeit im Eispalast der Schneekönigin.

Am 28. Dezember, um 16.30 Uhr

Eintritt: Kinder bis 16 Jahre: elf Euro/ normal: 21 Euroermäßigt: 18 Euro

UraniaAn der Urania 1710787 Berlin

Info und Bildnachweis:www.urania.de

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Kult

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Zusammengestellt von Laura

Schicken Sie uns Ihre schrägen, skurrilen, famosen und preiswerten Veranstaltungstipps an:

[email protected]

Theater„Schubladen”

„She She Pop“ ist ein Performance-kollektiv. Alle im Westen aufge-wachsen, treffen auf ihre ost-sozi-alisierten Gegenspielerinnen, um füreinander ihre „Schubladen“ zu öffnen. Anhand von persönlichem Material wird der Versuch einer kollektiven Bestandsaufnahme der deutsch-deutschen Geschichte der letzten 40 Jahre unternommen. G e m e i n s a m suchen sie nach dem Objektiven im Privaten, bekennen sie sich zur Viel-s t immigkeit , zur kollektiven E r z ä h l u n g , aber auch zur Differenz und zum deutlichen Unverständnis. Lücken, Unge-n a u i g k e i t e n und fehlende Verbindungen gehören zum System. Wer sind wir? Wer waren wir? Was trennt uns nach wie vor und was verbindet uns? Im Anschluss an das Theaterstück gibt es ein Gespräch mit den Darstellerinnen.

Am 4. Januar, um 20 Uhr

Eintritt: zwischen 7,70 Euro und 19,80 Euro

HAU Hebbel am UferStresemannstr. 2910963 Berlin

Info und Bildnachweis: www.hebbel-am-ufer.de

Musik„Open Mic“

Es ist die Nacht der Stars und Stern-chen! Das Angebot des „Open Mic“ im „Acud“-Kunsthaus wendet sich an Sänger, an Singer-Songwriter, Poeten, Newcomers, Wannabees, Instrumentenquäler und Stars und solche die es werden wollen. Die Teilnehmer_innen liefern die Show, das Lied, das Gedicht oder den Text oder was auch immer büh-

n e n t augl ic h ist. Das Acud K u n s t h a u s bietet in

V e r b i n d u n g mit dem S e s s i o n c a f é „Max Fish“ den Rahmen dafür. Eine vorherige A n m e l d u n g zum „Open Mic“ ist nicht n o t w e n d i g . Let’s go!

Am 3. Januar, um 21 Uhr

Eintritt frei!

Kontakt: per Mail unter max-fish_@_acud.de

MAX FISH im ACUDVeteranenstr. 2110119 Berlin

Info und Bildnachweis: www.acud.de

Kinder„Berliner FamilienPass 2013“

„BERLIN entde-cken, KULTUR erleben, FREI-ZEIT gewinnen“ heißt es mit dem neuen Berliner Fami-lienPass: 280 mal ermäßi-gter oder sogar kos tenloser Eintritt – bei-spielsweise in Zoo und Tier-park, Schwimmbädern, Eisbahnen und zahlreichen Sehenswürdig-keiten sowie bei Konzerten, Thea-tern, Museen oder Kinos. Darüber hinaus gibt es Plätze für rund 180 Tagesausflüge, Führungen, Work-shops und Bustouren – exklusiv für FamilienPass-Inhaber zu gewinnen. Der „Berliner FamilienPass 2013“ ist ab 10.12.2012 für sechs Euro in zahlreichen Verkaufsstellen sowie ab sofort im Online-Shop erhältlich.

Außerdem gibt’s den „Super-Ferien-Pass 2012/13“ für die Weihnachtsferien: Er bietet zahlreiche Vorteile für junge Leute bis einschließlich 18 Jahre: beispielsweise freien Eintritt auf einigen Kunsteisbahnen (beliebig oft), bei den Schwimmbädern der Berliner Bäder-Betriebe (täglich) oder im Zoo-Aquarium sowie Eintrittspreisermäßigungen für Kinos, Theater, Kletterhallen und viele andere Orte. Bereits ab dem 22.12.2012 ist der Super-Ferien-Pass wieder gültig!

JugendKulturService gGmbHObentrautstraße 5510963 Berlin-Kreuzberg

Fahrverbindung:U 1 und U 7 (Möckernbrücke)U 6 und U 7 (Mehringdamm)

Telefon: 030-23 55 62 0Fax: 030-23 55 62 20E-Mail: [email protected]

Web: www.jugendkulturservice.deFacebook: www.facebook.com/JugendKulturServiceTwitter: http://twitter.com/jks_berlin

Party„Sylvester Party“

Viel hatte es zu bieten, das „Ballhaus“-Jahr 2012: beleidigte Nationen, dröhnende Fragen, scheppernde Antworten, rennende Romeos, Krabben aus Kuba, Fahr-räder, Stimmen des Widerstands und vieles mehr! Zu Silvester möchte das „Ballhaus Naunyn-strasse“ auf all das mit seinen Zuschauern anstoßen. Und auf die naturgemäß ungewisse, aber ganz gewiss post-migrantische Zukunft! Neben altbekannten DJs aus dem „Ballhaus“-Netzwerk und diversen Überraschungsgästen sorgen dabei in diesem Jahr wieder Alfred Mehnert und sein „Berlin Metropol

Orchester“ mit „Tres Voices“ aus Berlin, mit Großstadt-Grooves zwischen Orient, Cha-Cha-Cha und einem Schuss Neue Deutsche Welle für den amüsanten Start in das neue Jahr.

Am 31. Dezember, ab 22 Uhr

Eintritt: 14 Euro/ermäßigt: acht Euro

Ballhaus NaunynstrasseNaunynstr. 2710997 Berlin

Info: www.ballhausnaunynstrasse.de

Bildnachweis: Esra Rotthoff

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Hertha BSC spielt nicht unbedingt schön, dafür sehr effizientDas Ziel ist der sofortige Wiederaufstieg - ohne Wenn und Aber!

Die Hinrunden-Bilanz – plus zwei Spiele der Rückrunde – von Hertha BSC Berlin in der 2. Liga ist absolut beeindruckend: 16 Spiele in Folge ungeschlagen, davon zwölf Siege und sechs Unentschieden

und eine einzige Niederlage. Dazu mit 36:15 Toren das beste Torverhält-nis der Liga. 42 Punkte aus 19 Spielen sprechen eine deutliche Sprache. Damit liegt Hertha über dem Zwei- Punkte-Schnitt, der nach Meinung von Trainer Jos Luhukay sicher für den Aufstieg reichen sollte. Und hätte der 1. FC Union nach toller Leistung nicht noch mit 3:4 gegen Braunschweig verloren, die Alte Dame hätte das Jahr 2012 sogar als „Wintermeister“ abgeschlossen. Der Abstand zum Tabellendritten, dem 1. FC Kaiserslautern, beträgt satte zehn Punkte. Wer hätte das im Mai 2012 nach dem katastrophalen Abstieg der Hertha, verbunden mit dem Verschleiß von drei Trainern (Babbel, Skibbe, Rehhagel) in einer einzigen Saison gedacht. Also alles im Lot bei Hertha BSC?

Enge Spiele wurden meist gedrehtEin ziemliches perfektes Spiegelbild dieser Saison war das letzte Spiel des Jahres im Olympiastadion: Ein mäßiges Spiel, in dem der Hertha wieder einmal Kreativität und Spielwitz gerade im gegnerischen Strafraum fehlten. Zu Gast war der FSV Frankfurt, der den Berlinern die einzige Saisonniederlage eingeschenkt hatte. Klar, dass das Team von Luhukay das Heimspiel unbedingt gewinnen wollte. Schließlich gab es auch noch die große Chance, vor Eintracht Braunschweig an der Tabellenspitze zu überwintern. Lange Zeit war es allerdings ein eher langweiliger und uninspirierter Auftritt der Berliner gegen den massiven Frankfurter Abwehrblock. Durch einen Treffer aus dem Nichts – ein dummes Foul von John Anthony Brooks an der Strafraumgrenze führte zu einem Freistoß – lagen die Hessen bis acht Minuten vor Schluß mit 1:0 in Führung. Doch dann drehte Herthas „Lebensversicherung“, der Brasilianer Ronny, mit zwei Geniestreichen doch noch das Spiel und sicherte den Sieg. Erst führte er blitzschnell einen Freistoß aus, den Marcel Ndjeng dankbar verwertete. Dann hämmerte er einen präzisen Rückpass von Fabian

Lustenberger unhaltbar ins Frankfurter Tor. Neun Tore hat Ronny bislang erzielt und steht damit auf Platz drei der Torschützenliste. Vor allem dank seiner Tore steht Berlin momentan ganz oben, trotz der eingangs erwähnten spielerischen Defizite. Dass es besser geht, das räumt der Trainer selbstkritisch ein: „Wir sind auf Topniveau der Liga, aber die Art und Weise der Spiele kann manchmal noch schöner sein.“

Trainer Jos Luhukay ist ein echter Glücksgriff für Hertha BSCRonny wiederum verdankt seine neue Stärke vor allem seinem Trainer Jos Luhukay. Viele Attribute kann und muss man diesem Fußballlehrer zuschreiben: Er arbeitet akribisch, ist fleißig, offen und ehrlich, uneitel, er macht keine Kompromisse und fordert vollste Konzentration von den Spielern ein. Und er hat ein großes Herz für alle seine Spieler. Das spürten vor allem die Sorgenkinder Adrian Ramos und Ronny. Letzterer galt lange nur als Anhängsel seines Bruders Raffael. Jetzt macht Ronny oft den Unterschied aus und gilt zu Recht als einer der besten Spieler der 2. Liga. Der Geschäftsführer Sport, Michael Preetz, weiß, wem es zu verdanken ist, dass der Brasilianer momentan die Fans verzückt: „Das ist das große Verdienst von Jos Luhukay. Jos hat die richtige Ansprache, das ist bei Ronny nicht so einfach. Er braucht Zuckerbrot und Peitsche!“ Der Trainer selbst kommentiert die Leistung seines Stars so: „Trotz aller Individualität ist Ronny auch zum Teamspieler geworden. Er ist mitten-drin und kommt im Team gut an. Er besitzt ein Gespür auch für Spieler, die oft auf der Bank sitzen, weil es ihm auch lange so ergangen ist. Sowohl Ronny profitiert von der Mannschaft, wie auch die Mannschaft von Ronny profitiert.“ Gerade Letzteres ist dem Trainerfuchs wichtig. Denn nur das harmonische Mannschaftsgefüge sicherte letztlich den Erfolg.

Die Mannschaft ist der StarNeben Ronny sind es vor allem Torwart Thomas Kraft und die Abwehr um Fabian Lustenberger. Erstklassig die Leistung des zum perfekten Innenverteidiger mutierten Schweizers. Eigentlich ein defensiver Mit-

Großer Teamgeist bei Hertha BSC Berlin

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telfeldspieler zeigt „Lusti“, was sein früherer Trainer Favre schon immer wusste: Dieser Mann ist polyvalent, d.h. universell einsetzbar, weil er das Spiel einfach ganz stark antizipiert. Jos Luhukay: „Kein Innenverteidiger in der Zweiten Liga hat diese Qualität. Er hat eine sehr gute taktische Ansicht, kann ein Spiel lesen. Er hat eine Aggressivität, macht dabei aber kaum Fouls. Er bekommt die Freistöße und verursacht sie nicht.“ Hinzu kommt, dass die Mannschaft jeden verletzungsbedingten Ausfall in der Abwehr geräuschlos kompensieren konnte. Für Maik Franz (Schulter-Operation), Peter Pekarik (Schulteroperation) und Christoph Janker (Leisten-Probleme) sprangen John Anthony Brooks, Felix Bastians und Marcel Ndjeng ein und machten ihren Job ziemlich perfekt. Und dann ist da noch die Berliner Doppelsechs: Kapitän Peter Niemeyer spielt den eher defensiven Part. Klasse vor allem seine Balleroberung. Und – er geht immer mit vollstem Einsatz in die Spiele, gerade auch, wenn es mal eng wird. Wichtig als Kapitän: Niemeyer übernimmt Verantwortung und führt seine Mitspieler auf dem Platz. Mittelfeld-Kollege Peer Kluge ist der offensive Sechser, der Mann für die Spielentwicklung und das Tempo nach vorn. Er legt ein riesige Wege zurück und ist fast überall zu finden, wenn es pressiert, auch in der eigenen Abwehr. Wenn Kluge noch öfter mal seine Stürmer in den gegnerischen Strafraum schicken würde, dann würde auch etwas mehr spielerischer Glanz das Olympiastadion erfüllen. Daran wird der Trainer sicher arbeiten in der Winterpause. Denn gerade die Stürmer Wagner, Allagui, Sahar und Kachunga sind noch lange nicht in Bestform. Alles in allem muss man aber sagen, funktioniert schon sehr viel in Luhukays Team.

Mit Herz und Leidenschaft Fußball spielenTrotzdem warnt der Trainer immer wieder vor Selbstzufriedenheit und hält die Spannung im Team hoch. „Was in der letzten Woche, was im letzten Spiel war, kann einen schnell einholen und zu Bequemlichkeit und Nachlässigkeiten führen.“ Denn gerade eine große Siegesserie kann zu Überheblichkeit führen, weiss der Coach. Wir erinnern uns alle noch gut an die Wutrede Luhukays nach dem verlorenen Spiel gegen Frankfurt: „Das ist das erste Mal in 20 Jahren, dass ich hier so spreche, aber es ist wichtig, denn einige meinen bei uns, dass sie groß sind, einen Namen haben, einen Status oder einen Stellenwert.“ Die Genannten haben sich das in den Spielen der ersten Halbserie zu Herzen genommen und erüllen die Ansprüche des Trainers bislang sehr gut. Der for-derte auch: „Ich will eine Mannschaft, die mit Herz und Leidenschaft auf dem Platz Fußball spielt.“ Und gerade das, nämlich Charakter zu beweisen, das haben seine Jungs oft gemacht, wenn auch meist erst in der letzten Viertstunde.

Ein großes Lob geht an den gesamten Trainerstab. Anders als in den vergangenen Jahren stehen mittlerweile viele Berliner Eigengewächse im

Team. Luhukay schenkt seinen jungen Spielern großes Vertrauen. „Wir haben mittlerweile die viertjüngste Mannschaft der Liga, zehn Spieler aus der eigenen Jugend stehen bei uns im Kader.“ Ganz wichtig: Die Jungs dürfen auch mal Fehler begehen. Sie müssen allerdings draus lernen, fordert der Coach.

Woran muss in der Winterpause gearbeitet werden? Trotz aller Erfolge gibt es natürlich einige Baustellen. Gerade, wenn Journalisten schon vom fast sicheren „Wiederaufstieg“ sprechen, warnen Luhukay und Manager Preetz: „Wir waren bislang sehr stabil, aber wir wissen alle: Das reicht noch nicht für den Aufstieg.“ Er sieht vor allem in der Erarbeitung von Chancen bzw. in der mangelnden Chancenverwertung ein großes Manko. Das hat auch Luhukay längst bemerkt. Er weiß, dass seinen Spielern oft eben nicht der letzte, tödliche Pass in die Tiefe gelingt. Dass ihnen Konzentration und Nervenstärke vor dem Tor abgehen. Aber gerade das wäre der Schlüssel, die oft schier undurchlässigen Abwehrbollwerke der Gegner zu knacken. Und vielleicht sollte er seinen Stürmern auch empfehlen, mal nach dem offiziellen Training noch ein paar individuelle Sonderschichten in Sachen Torschuß einzulegen. Denn, da sind wir uns alle wohl sicher, von einem hoch bezahlten Profi muss man verlangen können, dass er das Tor trifft.

Blick in die ZukunftDie Rückrunde wird hart, davon muss man ausgehen. Der Aufstieg ist noch lang nicht sicher. Viele der Mannschaften, die derzeit hinter der Hertha stehen, werden alles daran setzen, den Berlinern kräftig in die Suppe zu spucken. Trotzdem geht das Trainerteam davon aus, dass der Sprung in die erste Liga glücken wird. Schließlich hat der Verein in der Rückrunde noch etliche Asse im Ärmel, die hoffentlich

stechen werden. Mit den Stürmern Pierre Michel Lasogga und Änis Ben Hatira, mit den Verteidigern Maik Franz und Christoph Jancker kehren starke Langzeitverletzte zurück in den Kader. Außerdem ist da ja auch noch der äußerst erfahrene Lewan Kobiaschwili, der nach seiner langen Sperre auch auf seinen ersten Einsatz brennt. Und vielleicht findet ja auch der tschechische Nationalverteidiger Roman Hubnik wieder zu alter Stärke zurück. Sicher ist, die Konkurrenz im Team wird schärfer, und die Qualität des Kaders wird weiter steigen. Wozu es am Ende reicht, wer weiss das schon.

Eines sollte die Geschäftsführung aber im Blick haben: Diese Stadt

will endlich wieder einen Fußballklub, der stetig oben in der ersten Bundesliga um den Titel mitspielt. Diese Stadt ist hungrig auf Spiele der Champions League gegen Madrid, Barcelona, Manchester oder Mailand. Der Weg dahin ist lang und steinig. Erst einmal muss der Aufstieg her. Trotzdem – genau das muss das Ziel sein für Hertha BSC!

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Trainer Jos Luhukay (rechts) zeigt, wo es langgeht!

Der Brasilianer Ronny (mitte) ist Herthas „Lebensversicherung“

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Ohne PerspektiveAuf Deutschlands Straßen landen immer mehr gescheiterte Arbeitsmigranten aus Osteuropa. In Hamburg versucht man mit einem Beratungs- und einem Rückfüh-rungsprojekt, der wachsenden Verelendung Herr zu werden.

„Eigentlich kann man gar nichts machen für diese Leute.“ Das sagt ausgerechnet der Mann, der einer ihrer stärksten Fürsprecher ist, der bei Behörden für ihre Belange kämpft, Hilfsprojekte mit ange-schoben hat. Andreas Stasiewicz, der selber Wurzeln in Polen hat, kümmert sich in Hamburg um obdachlose Menschen aus Osteuropa. Als Sozialarbeiter kann er für deutsche Obdachlose etwas tun, ihnen eine Therapie vermitteln, Hartz IV beantragen, eine Wohnung organisieren. Doch wenn die bedürftige Person, die ihm gegenübersteht, einen rumänischen, slowakischen oder polnischen Pass besitzt, sind ihm die Hände gebunden.

Ende November hat Andreas Stasiewicz Besuch aus Berlin. Seine Gäste sind Mitarbeiter der Organisation Gebewo – Soziale Dienste, die in der Hauptstadt das Projekt „Frostschutzengel“ ins Leben gerufen haben, das sich explizit an obdachlos gewordene Menschen aus Osteuropa richtet. Die Berliner wollen profitieren von den Erfahrungen, die man in Hamburg gemacht

hat, geplant ist eine Kooperation mit den Projekten Stasiewiczs. Evalu-ationsbögen wurden bereits abgeglichen.

Hamburgs größte Notübernach-tung für obdachlose Menschen während der Wintermonate ist ein hässlicher, grauer Klotz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Der ehemalige Büroturm stand über 20 Jahre leer, bevor die Stadt ihn als Notquartier für obdachlose EU-Bürger aus Osteuropa umfunk-tioniert hat. Viele Jahre habe es gedauert, bis die Verantwortlichen der Stadt verstanden hätten, dass man etwas für die Osteuropäer tun müsse, sagt Staciewicz.

Ein Mitarbeiter der Notunterkunft führt durch die Räumlichkeiten. 80 bis 90 Prozent der hier Übernachtenden kämen aus

osteuropäischen Ländern, sagt er, die meisten stammten aus Bulgarien, Rumänien und Polen. Die 230 Betten reichten in der Regel nicht aus, überzählige Personen schliefen dann im Aufenthaltsraum.

Prävention statt Notfallbehandlung

Ratsuchende Arbeitsmigranten

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Das Wort EU-Bürger erscheint zu vornehm für die elenden GestaltenEinlass ist um 17 Uhr. Vor dem Eingang hat sich bereits eine Stunde vorher eine lange Schlange Wartender gebildet. Einige Männer halten voll gepackte Einkaufstüten in den Händen, manche sind zu dünn angezogen und frieren. Elende Gestalten sind unter ihnen. Das Wort EU-Bürger scheint für sie deutlich zu vornehm zu sein.

Etwa 600 obdachlose Osteuropäer leben in Hamburg, schätzt Andreas Stasiewicz. Grob lassen sich zwei Gruppen ausmachen. Die einen sind Immigranten, Polen zumeist, die nach dem Beitritt ihres Landes zur EU 2004 nach Deutschland kamen, keine Arbeit fanden oder scheiterten damit und inzwischen seit mehreren Jahren auf der Straße leben. Die allermeisten von ihnen sind alkoholabhän-gig. Als „kaputte Menschen“, beschreibt Stasiewicz sie und da schwingt Hilflosigkeit, Wut auch, mit. Diese Menschen würden noch ein paar Jahre weiter trinken, bis sie daran stürben. Zur zweiten Gruppe gehören eher junge Männer, die meisten von ihnen noch unter 30. Sie sind noch nicht lange in Deutschland und suchen hier Arbeit. Viele von ihnen sind Rumänen und Bulgaren, deren Länder 2007 der EU beigetreten sind.

Zu ihnen gehören die jungen Männer, die an diesem Morgen die „Anlaufstelle für obdach-lose osteuropäische Menschen“ bevölkern. Es sind einfach und unauffällig gekleidete Männer, viele senken den Blick. Die meisten verstehen kaum ein Wort Deutsch.

„Alle sind mit der Absicht hergekommen, zu arbeiten“, sagt Desislava Koeva. Die Bul-garin ist Mitarbeiterin der Beratungsstelle. Viele hätten sich die Sache viel zu leicht vorgestellt, hätten in ihrem Heimatdorf von jemandem gehört, der es in Deutschland geschafft habe. Und seien selber in einen Bus Richtung Westen gestiegen.

Zwei Millionen Rumänen haben ihr Land verlassenSie sind Teil eines riesigen Migrationsstroms, der sich seit mehreren Jahren durch Europa bewegt. Ein Strom von Ost nach West, von Arm nach Reich. Ein Strom, der auch durch Wirtschafts- und Eurokrise kaum zurück schwappt. Die meisten polnischen Emigranten sind zum Arbeiten nach England gegangen, die meisten Rumänen nach Italien. Zwei Millionen Rumänen haben in den letzten Jahren ihr Land verlassen, das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Insgesamt schätzt man, dass zurzeit etwa fünf Millionen Migranten innerhalb der Europäischen Union unterwegs sind. Die meisten haben Arbeit im Ausland gefunden, schicken Geld an ihre Familien im Heimatland.

Diejenigen, die in die Hamburger Beratungsstelle kommen, sind die Menschen, die schon in ihrem Herkunftsland schlechte Arbeits- und Lebensperspektiven hatten. Um die sich ein funktionierender Sozialstaat kümmern müsste, den es aber gerade in Rumänien und Bulgarien nur bruchstückhaft gibt. „Die Menschen, die zu uns in die Beratungsstelle kommen, sind zu 90 Prozent schlecht ausgebildet“, sagt Desislava Koeva, die meisten seien schon in ihrem Heimatland arbeitslos gewesen, einige seien Analphabeten.

Ein Teil der Männer findet Arbeit, aber zweifelhafte. Die Ausbeutung der Osteuropäer als billige Arbeitskräfte ist weit verbreitet. Die Mitarbeiter der Anlaufstelle sind immer wieder Zeugen mieser Arbeitsverträge geworden. Für das Reinigen von Hotelzimmer haben Betroffene häufig einen Stundenlohn von zwei oder drei Euro erhal-ten. Wenn sie nicht ganz um ihren Lohn geprellt wurden.

Andreas Stasiewicz warnt davor, wie bei den langjährig obdachlosen, zunehmend verelenden Polen zu lange zu warten mit Hilfe. Den Behörden rechnet er vor, dass Prävention alle mal billiger ist als eine teure Kran-

kenhausbehandlung, die im Notfall die Stadt übernehmen muss. Er macht noch eine andere Rechnung auf: Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Polen belaufe sich auf 20 Milliarden Euro. Bei dieser Summe an Profit durch das Zusammenwachsen Europas müsse doch auch Geld für obdachlose Osteuropäer drin sein.

724 Personen sind in ihre Heimatländer zurückgekehrtInzwischen finanziert die Hamburger Sozialbehörde vollständig das von Stasiewicz geleitete Projekt „Plata“, was auf Polnisch „Platte“

heißt. Neben Straßensozialarbeit durch einen polnischen Streetworker beinhaltet es so genannte Rückführungen. Stasiewi-czs Angaben zufolge sind 724 Personen seit Herbst 2010 in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Vor allem Polen. Ein Teil der Rückkehrer sei in polnische Hilfseinrich-tungen vermittelt worden, so Stasiewicz, es bestünden gute Kooperationen mit dortigen Organisationen. Der andere Teil sei zurückgekehrt in die Herkunftsfamilien. Manchmal begleite sein Kollege Rückkehrer zurück in ihr Heimatland. Die Busfahrten dorthin zahlt auch Hamburgs Sozialbehörde. Die Frage, ob die Finanzierung von „Plata“ an eine bestimmte Zahl an Rückführungen geknüpft sei, verneint die Behörde.

Bei den Berlinern sieht man die so genannten Rückführungen mit Skepsis. Marie-Therese Reichenbach, eine der drei „Frostschutzengel“ sagt, für sie sei wichtig, den Wunsch ihres Gegenübers zu respektie-ren. Sie sehe es einerseits als ihre Aufgabe, den bei ihr Ratsuchenden aufzuklären über seine Perspektiven in Deutschland. Andererseits halte sie es für „anmaßend“,

jemandem vorzugeben, wo er seinen Lebensmittelpunkt haben solle.

Ende November ist das Thema Arbeits- und Armutsmigration auch auf Bundesebene angekommen. Die Jahreskonferenz der Arbeits- und Sozialminister hat sich auf Initiative von Hamburgs Sozialsenator mit dem Thema beschäftigt und beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzuset-zen. Diese soll unter anderem klären, ob die bisherigen gesetzlichen Regelungen zum Schutz vor Arbeitsausbeutung ausreichend sind. Zudem wird der Bund aufgefordert, sich bei der EU für einen Hilfsfond einzusetzen, mit dessen Geldern Kommunen bei der Unterbringung und Gesundheitsversorgung hilfsbedürftiger Osteuropäer unterstützt werden können. Geklärt werden soll auch, ob EU-Gelder abgerufen werden können, die die Versorgung der Menschen in ihren jeweiligen Heimatländern sicherstellen könnte. An Armut und Perspektivlosigkeit in den Heimatländern der Migranten wird sich dadurch nichts ändern.

n Jutta H.

…und von innen

Hamburgs größte Winter-Notunterkunft in der Spaldingstraße – von außen…

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Weihnachten bei mob e.V. und strassenfeger200 Verkäufer, obdachlose und arme Menschen kamen in die Prenzlauer Allee 87

„Bekommen Obdachlose auch was vom Nikolaus?“ Katja, 7 JahreEs ist noch gar nicht so lange her, da wurde ich von der zweiten Klasse einer Grundschule eingeladen, um mit ihnen über Wohnungs- und Obdachlosigkeit und den strassenfeger zu sprechen. Dort wurden mir Fragen gestellt, über die wir Erwachsenen gar nicht mehr nachdenken, weil wir die Antwort bereits zu kennen glauben. „Wann macht ein strassenfeger-Verkäufer Urlaub?“, „Warum dürfen die bei der Arbeit rauchen?“ Besonders nachdenklich machte mich die Frage: „Bekommen Obdachlose auch was vom Nikolaus?“

Was soll ich Ihnen sagen, aber genau in dieser Frage steckt die Antwort darauf, warum wir uns alle beim strassenfeger das ganze Jahr so stark engagieren.

Ein Fest unter FreundenWie auch schon in den vergangenen Jahren fand in diesem Jahr wieder die Weihnachtsfeier für unsere Verkäufer und arme Menschen in den Räumen des sozialen Treffpunkts „Kaffee Bankrott“ statt. Schon seit den frühen Morgenstunden hatten Mitarbeiter und Mitglieder des Vereins mob – obdachlose machen mobil e.V. mit Enthusiasmus und viel Liebe zum Detail die Räume festlich geschmückt, Weihnachtsbäume aufgestellt und viele bunte Teller bestückt. Jeder, der kam wurde mit einem leckeren Festtagsbraten beschert, dazu wurden Heiß- und Kaltgetränke gereicht.

Aber es gab auch Kultur satt: „Der Lari und der Tobi“, ein Singer-/

Songwriter-Duo, tief verwurzelt im Berliner Bezirk Wedding und seit langem dem strassenfeger verbunden, gastierten bei mob e.V. und berei-teten den Gästen viel Freude. Es wurde miteinander geredet, Karten oder auch Schach gespielt. Es wurde gesungen, getanzt und ganz viel gelacht.

Warme Kleidung dank großzügiger SpendenGanz wichtig: Es gab auch ein paar warme Kleidungsstücke für die, die wenig oder nichts haben. Leider kam eine große Kleiderspende erst nach der Feier bei uns an. Die dicken Jacken und Wintermützen werden wir demnächst verteilen. Und dann wird es im Januar auch wieder unsere große Spendenaktion „ONE WARM WINTER“ geben, die wir gemeinsam mit der Werbeagentur „DOJO“ durchführen, durch die warme Kapuzen-pullover etc. finanziert werden sollen.

Noch viel wichtiger: Diese wunderbare Weihnachtsfeier wurde möglich durch die vielen kleinen und großen Spender, bei denen wir uns ganz herzlich bedanken möchten. Ohne dieses von Herzen kommende, großartige soziale Engagement – auch für unsere Spendenkampagne

„Ein Dach über dem Kopf“ wäre unsere wichtige Arbeit überhaupt nicht möglich!

n Guido Fahrendholz

PS: Liebe Katja, wir sind zwar nicht der Nikolaus, aber wir geben uns ganz viel Mühe, ihn würdig zu vertreten, wenn er mal jemanden vergessen hat.

Großer Andrang bei der Weihnachtsfeier von mob e.V./strassenfeger

Wunderbare Stimmung bei den Gästen

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Rechtsanwältin Simone Krauskopf

im Kaffee Bankrott bei mob e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin

Jeden Montag von 11 bis 15 Uhr

Bei Bedürftigkeit wird von der Rechtsanwältin ein Beratungsschein beantragt. Bitte entsprechende Nachweise mitbringen (z. B. ALG-II-Bescheid)!

Allgemeine Rechtsberatung

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eberACHTUNG!

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Mehr zu Alg II und Sozialhilfe

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Im Büro von mob e.V., Prenzlauer Allee 87 für 11,– Euro erhältlich oder zu bestellen bei: DVS, Schumanstr. 51, 60325 Frankfurt/M, Fax 069/74 01 69, www.dvs-buch.de, [email protected]

›› www.tacheles-sozialhilfe.de›› www.erwerbslosenforum.de

Sanktionen Teil 4Berlin ist in einem Punkt „Deutschlandmeister“; es hat die höchste

Quote von Sanktionen! Aber wir sind auch Hauptstadt der Armen. Wenn wir sonst nichts hinkriegen, dann wenigstens dies.

Betroffene, die einen Anhörungsbogen für eine beabsichtigte Sanktion erhalten, sollten die dort gestellten Fragen zu Einkommen und Vermö-gen beantworten, insbesondere wenn Kinder im Haushalt leben. Die Jobcenter KÖNNEN, bei Kindern im Haushalt MÜSSEN sie bei Sanktionen über 30 Prozent ergänzende Leistungen erbringen (§ 31a Abs 3 Satz 1 und 2 SGB II).

Bei Sanktionsbescheiden von mehr als 30 Prozent müssen Betroffene ohne Kinder im Haushalt einen ANTRAG auf ergänzende Leistungen stellen. Hier hängt die Bewilligung von zusätzlichen Sachleistungen in erster Linie von eventuell vorhandenem Einkommen und Schonvermögen ab. Bei Betroffenen, die z. B. ein paar Hundert Euro oder mehr auf dem Konto haben, besteht kaum Aussicht, ergänzende Leistungen zu erhalten. Sehr wohl aber bei Betroffenen, deren Konto leer ist. Deshalb ist Sanktionierten ohne Einkommen und Schonvermögen dringend zu raten, SOFORT einen Antrag auf ergänzende Leistungen zu stellen. Die Durchführungshinweise der BA (DH) sehen unter Rdz. 31.49 vor, dass zusätzliche Leistungen rückwirkend nach dem Monatsprinzip zu bewilligen sind. Wer also am 15. des Monats beantragt, soll die Leistung ab 1. des Monats erhalten. Ausnahme: Er hat bis zur Antragstellung von Dritten Zuwendungen erhalten.

Das LSG NRW hat in seiner Entscheidung vom 07.09.2012 (L 19 AS 1334/12 B) die Ansicht vertreten, dass es bei Kindern im Haushalt zwingend erforderlich erscheint, ZEITGLEICH mit der Sanktion über ergänzende Leistungen zu ENTSCHEIDEN. Das Gericht geht davon aus, dass eine spätere oder nachträgliche Entscheidung nicht mehr den Zweck der Schutzvorschrift (der Kinder) erreicht. Es geht davon aus, dass dann der Sanktionsbescheid rechtswidrig ist!

In den DH zu den Paragrafen 31, 31a und 31b SGB II sind in der Anlage 3 Tabellen zur Berechnung der Gutscheinhöhe nach Regel-

satz und prozentualer Kürzung zu finden. Die DH sind auch unter

8 www.tacheles-sozialhilfe.de veröffentlicht. Die Tabelle für die Regelsatzstufe I Alleinstehende ist hier stark verkürzt und gibt nur die tatsächliche Gutscheinhöhe wieder, nicht die Berechnung.

Regelsatz 374 EuroHöhe der

Sanktion (Prozent) 40 50 60 70 80 90 100

Gutschein (Euro) 17 34 52 69 97 134 172

Die oben aufgeführte Tabelle stellt nur den Anteil für Ernährung, Gesundheits- und Körperpflege „sicher“. Ab 60 Prozent Sanktionen sollen Zahlungen direkt vom Jobcenter an den Vermieter und an den Energieversorger erfolgen, soweit diese Leistungen noch erbracht werden müssen. Die DH zu den zusätzlichen Leistungen sind äußerst dürftig. Lediglich Zahlungen an den Energieversorger bei drohender Stromsperre werden erwähnt. Lediglich die Formulierung ... „Sachlei-stungen sind INSBESONDERE in Form von Lebensmittelgutscheinen zu erbringen...“ lässt erahnen, dass noch andere GELDWERTE Leistungen möglich sind.

In keinem Fall sind Einzelfallentscheidungen so wichtig, wie bei den Sanktionen. Insbesondere bei höheren Sanktionen sind oft noch zusätzliche Leistungen nötig: Bei dringend notwendigen Arztbesuchen, wenn der Arzt wegen der Entfernung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht zu Fuß erreicht werden kann, kann die zusätzliche Leistung von Einzelfahrscheinen oder die Übernahme einer Monatskarte nötig sein.

Von Betroffenen, die sanktioniert wurden, kann auch nicht verlangt werden, dass sie schriftliche Bewerbungen vorfinanzieren oder die Fahrten zu Vorstellungsgesprächen bezahlen. Auch hier müssen vom Amt Lösungen gefunden werden.

Es müsste bei einer hundertprozentigen Sanktion auch die Miete weiter übernommen werden. Der sonst folgende Wohnungsverlust, wenn drei Monate keine Miete gezahlt wird, ist nicht hinnehmbar. Obdachlosigkeit als „Erziehungsmethode“ ist nicht nur nach meiner Meinung verfas-sungswidrig.

Bisher haben sich die Gericht nach meiner Kenntnis nicht mit Art und Höhe der zusätzlichen Leistungen befassen müssen. Das liegt in erster Linie an den Betroffenen, die keine Ahnung haben, dass es noch mehr Möglichkeiten gibt, als Gutscheine für Ernährung, Gesundheits- und Körperpflege.

n Jette Stockfisch

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2013 – Ein Jahr, das es nicht gibtWenn Sie, lieber Leser, diese meine wohl letzten Zeilen lesen, befi nden Sie sich sicher in Mecklenburg oder der Uckermark, wo bekanntlich alles hundert Jahre später stattfi ndet. Berlin, wo ich jetzt sitze und schreibe, gibt es dann nicht mehr, und was aus mir geworden ist, will ich mir besser nicht vorstellen. Trinken Sie bitte ein Gläschen auf mein Wohl und lassen Sie es sich gut gehen ohne diese Welt.

Unser Chefredakteur hat mich gebeten, wie schon früher einen Jahresrückblick auf das kommende Jahr 2013 zu schreiben. Weil aber bekanntermaßen die Welt am 21.12.2012 laut Mayakalender untergeht, kann das gar nicht gehen, weil ja nichts passieren wird. Es ist ein trauriger Gedanke, wenn ich mir vor Augen führe, was uns da alles entgeht. Es hätte so ein spannendes Jahr werden können.

Schon im Januar hätten wir bei der Landtagswahl in Niedersachsen miterleben dürfen, wie Herr Rösler die drei Prozent für die FDP als einen großartigen Erfolg feiert: fünfzig Prozent mehr als erwartet.

Im Frühling hätten wir alle unsere Augen auf Italien gerichtet, wenn Herr Berlusconi seine Rückkehr an die Spitze der italienischen Regierung mit einer landesweiten Bunga-Bunga-Party feiert. Grund dazu hätte er, denn er würde ja nicht nur Italien retten, wie er behauptet, sondern auch sich selbst vor dem Zugriff der Justiz. Bunga-Bunga hinter schwedischen Gardinen wäre wirklich nicht lustig.

Ab April würde die ganze Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt und zur Demonstrations-, Marathon-, Radfahr- und Fetenzone erklärt. Diese Sperre solle aber nur bis Ende Oktober gelten.

Ganz Berlin stünde Kopf, wenn im Mai Hertha und Union gemeinsam den Sprung in die Bundesliga schaffen. Das Beste an der Sache ist, dass Union durch die Relegation muss und dabei souverän Rache an der Düsseldorfer Fortuna nimmt. Es ging ja um Berlin.

Wenn im Sommer die großen Ereignisse ausbleiben, könnte die S-Bahn zu einer großen Fete einladen, um die 100.000. Verspätungsminute zu feiern. Das fällt nun leider aus. Aber die S-Bahn verspricht ihren Kunden zum Weltuntergang am 21.12. einen besonderen Service: Mit einer Riesenverspätung werden die S-Bahnzüge erst ein paar Stunden später zum Weltuntergang kommen.

Im August wären wieder die ABC-Schützen in die Schule gekommen und hätten mit ihrem Auftritt mal wieder eine Schulreform einge-läutet. Es wären nur noch A-Schützen, die Buchstaben B und C wären erst im darauffolgenden Jahr drangekommen, um die lieben Kleinen nicht unnötig in Stress zu bringen.

Auch die Bundestagswahl im September 2013 wird nicht mehr statt-fi nden. In einem Fernsehduell hätten Frau Merkel und Herr Steinbrück über die Frage diskutiert, ob Reden wirklich nur Silber ist. Dabei die Sensation: Frau Merkel tritt auf in Rock und Bluse! Wer sich da vorgenommen hatte, einen Regierungswechsel herbei zu wählen, muss sich nun damit abfi nden, dass es keine Alternative zu Angela Merkel mehr gibt. Sie wusste das ja schon immer.

Der 27. Oktober 2013 sollte ja ein besonderer Tag für Berlin werden. Dann hätte Klaus Wowereit entweder den Flughafen Schönefeld eröffnen oder im letzten Moment eine Erklärung abgeben sollen, warum es doch noch etwas länger dauert mit der Fliegerei. Beides

macht der Weltuntergang unmöglich, und darüber freuen sich Herr Wowereit und die Flughafengegner gemeinsam.

Jeder Gang macht schlank sagt der Volksmund. Im November wollten die Jobcenter die verplombten Schrittzähler wieder einsammeln und das Laufergebnis der Hartz-4-Leute aus-werten. Für die zehn Besten hätte es einen befristeten Halbtagsjob als Postzusteller zur Belohnung gegeben. Leistung soll sich ja lohnen.

In Folge der enormen tektonischen Verschiebungen beim Weltun-tergang käme dann wohl im Dezember eine aztekische Inschrift ans Sonnenlicht: „Alle Mayas sind doof und können nicht rechnen, der Weltuntergang ist erst 3013, und zwar am 22. Dezember!“ Also alles wieder zurück auf den 20.12.2012 und weiter wie gewohnt.

Im Juli würde die Herzogin von Cambridge ihr von allen so sehnlich erwartetes Kind zur Welt bringen. Doch statt des weltweiten Jubels wird sich Enttäuschung ausbreiten. Das königliche Kind ist nur ein Mensch.

Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest hätte uns Apple mit einem neuen I-Phone überrascht, das dann auf den Wunschzetteln landen könnte. Das neue revolutionäre Gerät würde mit zwei überraschenden Apps glänzen, die sich die User schon lange gewünscht haben: das I-Phone kann nun auch bügeln und grillen.KptnGraubär

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Theater RATTEN 07 feiern 20. Geburtstag und teilen mit:Wir spielen „Biberpelzen“ freisinnig nach Gerhart Hauptmann

Am 4., 5., 11.und 12. Januar 2013 werden die RATTEN 07 im Schlossplatztheater, Köpenick, „Biberpelzen“ in der Regie von Uta Kala spielen.

Frau Wolff will ihren Töchtern ein anderes Leben ermöglichen und braucht dafür dringend Geld. Gemeinsam mit ihrem Mann bessert sie die kargen Einkünfte durch Wilderei und Dieb-stahl auf. Die Ermittlung der Diebstähle durch den preußischen Baron von Wehrhahn endet im Grotesken. Die Ratten fordern ihr Publikum heraus mit „Biberpelzen“, einer ins Absurde übersteigerten Komödie, nach Gerhart Hauptmann. Die schrille Darbietung und das Tempo, das im Verlauf des Stückes aufgenommen wird, sind atemberaubend und erhellend zugleich.

„Eine rasant gespielte Aufführung. So kann Naturalismus sein, nämlich als sozialer, sprach-licher und kommunikativer – also kein platter Abbild-Realismus; denn was wäre eindeutig abzubilden in einer Welt, in der es kracht? Das Krachen wäre abzubilden – und das machen die Ratten denn auch.“ Gerd Koch, spielart-berlin.de

Die Darsteller sind Anto, Florian, Christa, Thommes, Hermann, Kristin, Herb, Ike, Ulli, Jan, Peter, H-Christian, Paul, Heinz, Hans, Anne-Ly

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Geschichte des Reisepasses

Warum die Vögel ziehen?

Tippelbrüder und andere fahrende Gesellen

Ausgabe 2/2013 „Fernweh“

Die Kraniche ziehen in den Süden

ISSN 1437-1928

Herausgebermob – obdachlose machen mobil e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 46 79 46 11Fax: 030 - 46 79 46 13E-Mail: [email protected]

Vorsitzende: Dr. Dan-Christian Ghattas, Lothar Markwardt, Andreas Düllick (V.i.S.d.P.)

Chefredakteur Andreas Düllick

Redaktionelle Mitarbeit Bernhardt, Andreas Düllick, Laura F., Guido Fahrendholz, Detlef Flister, rwf, Jutta H., Christoph Mews, Jan Markowsky, Marcel Nakoinz, Boris Nowack, OL, Andreas P., Andreas Prüstel, Dieter Puhl, Urzsula-Usakowska-Wolff, Manfred Wolff

Titelbild Collage: Guido Fahrendholz

Karikaturen Andreas Prüstel, OL

Satz und Layout Ins Kromminga

Belichtung & Druck Union Druckerei Berlin

Redaktionsschluss der Ausgabe 19.Dezember 2012

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Der strassenfeger ist offen für weitere Partner. Interessierte Projekte melden sich bei den Herausgebern.

RedaktionPrenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 41 93 45 91E-Mail: [email protected]

Abo-Koordination & Anzeigenmob – obdachlose machen mobil e.V.Tel.: 030 - 41 93 45 91

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