Glück - Ausgabe 1 2016 des strassenfeger

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    Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT ür

    den_die Verkäuer_in

    No. 1, Januar 2016

    SÜCHTIGGlücksspiel in Berlin(Seie ) 

    INDIVIDUELLGlücksbringer &Pechvögel (Seie /)

    SO COOL!Das leze Moör-head-Konzer(Seie )

    GLÜCK

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      srasseneger | Nr. | Januar | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraßenzeiung srasseneger  wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des srasseneger  is: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srasseneger  wird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-seneger  biee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMöglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie können selbs enschei-den, wo und wann sie den srasseneger  anbieen. Die Verkäuer erhaleneinen Verkäuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srasseneger  soziale Projeke wie die Noübernachung und den sozialen Treffpunk»Kaffee Bankrot« in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhäl keine saaliche Unersüzung.

    Liebe Leser_innen,das neue Jahr ist nun schon ein paar Tage alt – und hier kommtsie nun, die erste Ausgabe des strassenfeger  in 2016! »Glück«lautet das Titelthema dieses Hefts. Warum? Nun ja, wir wollendas Jahr natürlich positiv beginnen, nicht gleich mit den ganzharten Fakten kommen. Obwohl, die Artikel, die unsere ehren-

    amtlichen Autoren erstellt haben, beschäftigen sich selbst beimThema »Glück« durchaus auch mit den kritischen Bestandteilenvon Glück. Was haben wir? Auf Seite 3 berichten wir über dieIndividualität von Glück. Jutta Herms erzählt auf den folgen-den Seiten, was in unseren Körpern genau vorgeht, wenn wirglücklich sind. Dazu kommen Texte über das Glücksspiel (S.6f), über Glücksbringer und Pechvögel (S. 8f), über das kleineund große Glück eines strassenfeger -Verkäufers (S. 10) und überdas Glück der Liebe (S. 11). Unfassbar viele Menschen machteFrank Zander wieder auf seiner alljährlichen Weihnachtsfeier fürObdachlose wenigstens für ein paar Stunden glücklich (S. 12f).Außerdem im Heft: Ein erstes Fazit der Arbeit unserer neuen,ganzjährig geöffneten Notübernachtung »Ein Dach über demKopf« in der Storkower Str. 139c (S. 14). Dazu kommt ein Be-richt über den Start der Spendenkampagne ONE WARM WIN-TER, die die Kreuzberger Kreativagentur DOJO zusammen mitdem strassenfeger  startet.

    Ganz exklusiv drucken wir ein Interview mit Prinz William überObdachlosigkeit, das unsere Kollegen von der britischen Stra-ßenzeitung BIG ISSUE dem Street News Service des Interna-tionalen Netzwerks der Straßenzeitungen INSP zur Verfügunggestellt haben (S. 18f). Auch ganz wichtig ist der Bericht übereine Odyssee: Jan Markowsky begleitete eine von Kündigung be-drohte Frau durch den Ämterdschungel, mit Erfolg (S. 20f). Un-sere Autorin AnneLy hatte das große Glück beim letzten Konzertvon Motörhead dabei zu sein (S. 24f). Und schließlich haben wirden einzigen deutschen Nationalspieler der »Füchse Berlin« beider Handball-Europameisterschaft in Polen zum Interview ge-troffen (S. 26f). Es ist also wieder ein pralles Magazin geworden,hoffentlich mit interessantem Stoff für alle.

    Das gesamte Team des strassenfeger  wünscht allen Leser_inneneinen tollen Start in das Jahr 2016 und natürlich wieder viel Spaßbeim Lesen!

     Andreas Düllick

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    GLÜCKGlück is individuell

    Was im Kop passier…

    Glücksspiel – einer gewinn immer

    Glücksbringer und PechvögelAnamnese des Pechvogels

    Kleines Glück & und großes Glück

    Meine iese Beziehung

    Frank Zander Weihnachseier ür Obdachlose

    Neue Noübernachung – Eine erse Bilanz

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    TAUFRISCH & ANGESAGT

    S o z i a lSpendenkampagne ONE WARM WINTER

    a r t s t r a s s e n f e g e r»The Boticelli Renaissance«

    I N S PExklusiv: Prinz William über Obdachlosigkei

    B r e n n p u n k tAnna dar in ihrer Wohnung bleiben

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    P U N K t r i f f t P R O F

    Das leze Moörhead-Konzer in Berlin

    S p o r tHandball-»Fuchs« Fabian Wiede ähr zur EM

    A k t u e l lPeer Poss »Bob-Dylan-Coverversionen«

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e r

    Einsweiliger Rechsschuz Teil

    K o l u m n eAus meiner Schnupfabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    strassenfeger | Nr. | Januar GLÜCK |

    Parkeisenbahn Dresden blaue Lokomoive (Quelle: Henry Mühlpord, Wikipedia CC BY-SA 3.0)

    Glück ist individuellEigene GlücksmomenteB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Ich spielte als Kind gern mit einer blauenHolzlokomotive. Leuchtend blau mit gel-bem Schornstein. Übers Jahr wurde meinegeliebte Lok ganz schön strapaziert, und

    sie sah im September nie schön aus. Im Herbstverschwand die Lok auf wundersame Weise,und ich freute mich jedes Mal, wenn ich meineheiß geliebte blaue Lok unter dem Weihnachts-baum wiederfand. Welch ein Glück!

    Später sind Omi und Opa mit mir in die Feriengefahren. Nach Lauterbach auf Rügen. Dieersten Jahre bei einem Fischer, dann beim Kos-tümschneider des kleinen Theaters Putbus. Der

    Schneider hatte für meine Großeltern ein kleinesZimmer mit Ehebett. In einer großen Dachgaubestand ein kleines Bett, vom Zimmer durch einenVorhang getrennt. Ich war begeistert: »Ein Zim-mer für mich ganz alleine!«

    D a h a t t e i c h j a G l ü c k g e h a b tIch habe in meinem Leben echt Schwein gehabt.An eine Begebenheit habe ich nur vage Erinnerun-gen. Mir wurde sie des Öfteren erzählt. Ein frem-der Mann hat mich einfach an die Hand genom-men, und ich wäre beinah mit, wenn das nichtmein Opa durch die große Schaufensterscheibeseines Friseursalons gesehen hätte und sofortrausgelaufen wäre. Als Kind, das noch nicht zurSchule geht, wusste ich nichts von den Gefahren,die von fremden Männern ausgehen kann. Inzwi-schen ist mir der Begriff »Pädophilie« geläufig.

    Ich pflegte 1982/83 schon längst Freundschaftzu kritischen Geistern in Jena und Ostberlin. In

     jenen Jahren wollte Ralf Hirsch ein »öffentlichesSterben« auf dem Bahnhof Alexanderplatz ver-anstalten. Ich kannte Ralf Hirsch nur vom Se-hen im Friedensplenum der Samaritergemeindeher. Als mich am Abend zwei junge Männer imJugendmodelook ansprachen, wusste ich nichtsvom geplanten »Die In«. Ich wusste auch nichtsdavon, als ich nach der Aufnahmeprozedur(Sachen abgeben, Fingerabdrücke) in einemschäbigen Raum von einem Mann allen Ernstesgefragt wurde: »Weshalb sind Sie hier?« Ey, derTyp muss mir sagen, was seine Vorgesetzten mir

    vorzuwerfen haben! Und nicht andersherum.Von mir konnte es nur eine Antwort geben: »Daswerden Sie mir sagen!« Nach Stunden des ewiggleichen Frage-Antwort-Spiels hat er sich mir zuerkennen gegeben: »Hab ich es Ihnen nicht ge-sagt? Oberstleutnant Sowieso, Ministerium fürStaatssicherheit!« »Dann bin ich ja richtig hier«,gab ich mit einem Lächeln zurück.

    In der gleichen Nacht sind viele, meist jungeMenschen befragt worden. Ein Freund aus derFriedensgruppe der Samaritergemeinde musstezu einem Aufenthalt in Oranienburg Auskunftgeben. Zu dem Zeitpunkt, da er in Oranienburgwar, wurde ein Tötungsdelikt begangen. Er hattewirklich Pech. Die meisten wurden wie Schulbu-ben gedemütigt. Eine junge Frau bat mich, beiihr zu bleiben. Sie hat dann doch im Gegensatz

    zu mir schlecht geschlafen. Die Träume plagtensie. Ich wusste schon von den psychologischenTricks der Stasi, bevor ich von den beiden Herrenangesprochen wurde.

    G l ü c k i s t i n d i v i d u e l lGlück ist einmal das Glücksgefühl, und es istaber auch der glücklich überstandene Moment.Glück gehabt. In der Regel ist das Gefühl ge-meint. Bei Umfragen wird oft Geld genannt.Geld macht nicht glücklich, sagt der Volksmund,die vom Kapitalismus geformte Seele giert trotz-dem danach. Das Füllhorn der GlücksgöttinFortuna muss nicht nur Geld ausstreuen. Mir

    genügte viele Jahre lang meine geliebte blaueLokomotive unter dem Weihnachtsbaum. Ichfühlte mich bei meinen Großeltern gut aufgeho-ben. Omi und Opa haben mich geliebt, und ichhabe sie geliebt. Und der ganze Trash, der heutedie Kinderzimmer füllt, war in den 50er Jahrendes vorigen Jahrhunderts unbekannt. Das sozi-ale Milieu und unsere Erfahrungen spielen einegroße Rolle, wenn es um das Glücksgefühl geht.

    Selbst beim glücklichen Zufall kann individu-ell nachgeholfen werden. Die Aufmerksamkeitmeines geliebten Opas hat mich möglicherweisevor einem Pädophilen bewahrt. Und vor meinerBegegnung mit dem Genossen Vernehmer hatteich Berichte von Menschen gehört, die von derStasi verhört wurden. Ich wusste also von ihrenpsychischen Fallen.

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      strassenfeger | Nr. | Januar | GLÜCK

    Glück ist,wenn die Biochemieim Gehirn stimmtFür Wohlbefinden und Hochgefühl ist in unserem Gehirn einfein abgestimmter Cocktail an neuronalen Botenstoffen zuständig.T E X T : J u t t a H e r m s

    Eine bestandene Prüfung, gute Freunde,Sport treiben, es gibt viele Anlässe, unsglücklich zu fühlen. Aber egal, ob sichdieses Sich-glücklich-fühlen als wohli-

    ges Körpergefühl, Lachen oder als Schmetter-linge im Bauch äußert, egal, ob wir einen kurzenGlückskick oder länger anhaltende tiefe Freudeempfinden – Glücksgefühle haben ihren Ur-sprung stets in den Nervenzellen unseres Gehirns.Die Art, wie Nervenzellen miteinander kommu-

    nizieren, welche Moleküle zwischen ihnen ausge-tauscht werden, ist entscheidend dafür, dass wiruns nach einer gemeisterten Aufgabe befriedigtund erleichtert fühlen oder ständig an den Partnerdenken, in den wir frisch verliebt sind.

    Legt man eine Person in einen Computerto-mographen und spielt ihr schöne Musik vor oderlässt sie an etwas Schönes denken, erkennt man,dass in ihrem Gehirn bestimmte Hirnstrukturenaktiv sind. Sie gehören zum sogenannten Beloh-nungszentrum unseres Gehirns. US-Forscherhaben es bereits in den 50er Jahren bei Versu-chen mit Ratten entdeckt. Sie beobachteten, dassRatten, die über eine Taste eine Elektrode in ih-rem Gehirn stimulieren konnten, gar nicht mehr

    abließen von der Taste. Offenbar empfandensie die Stimulierung als angenehm. Als so ange-nehm, dass einige Ratten beinahe verhungerten,da ihnen der mittels der Taste hervorgerufeneGlückskick wichtiger war als zu fressen.

    G l ü c k u n d H o c h g e f ü h ld u r c h k ö r p e r e i g e n e O p i a t e

    Das Belohnungszentrum unseres Gehirns bestehtaus einer Reihe von Arealen und Nervenverbin-dungen. Besonders der Nucleus accumbens, derals sogenanntes Lustzentrum gilt, spielt hier einewichtige Rolle. Neben den Hirnstrukturen spie-len Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter,die entscheidende Rolle bei der Erzeugung vonGlücksgefühlen und Wohlbefinden. Botenstoffesind Moleküle, die dafür sorgen, dass Nervenzel-len elektrische Impulse untereinander weiterleiten

    können. Hauptakteur in diesem System ist der Bo-tenstoff Dopamin. Lange Zeit gingen Hirnforscherdavon aus, dass die Ausschüttung des DopaminsGlück und Hochgefühl verursachen. Demnachwürden wir zu Handlungen angetrieben, weil Do-pamin in uns ein Glücksgefühl hervorruft, nachdem wir immer wieder verlangen. Heute weißman, dass für das Hochgefühl, wenn wir bekom-men, wonach wir uns sehnen, nicht das Dopaminverantwortlich ist. Diese Rolle kommt den körper-

    eigenen Opiaten zu, den Endorphinen.Steht beispielsweise eine Schauspielerin

    kurz vor der Premiere eines Theaterstückes, indem sie die Hauptrolle spielt, wird sie aufgeregtund unter freudiger Anspannung sein. In ihremGehirn würde man jetzt eine hohe Konzentra-tion an Dopamin messen können, das Nervenzel-len ihres Mittelhirns ausgeschüttet haben. Nebendem Nervenkitzel, der Hochspannung, für dendas Dopamin sorgt, hilft es der Schauspielerinauch, aufmerksam und konzentriert zu sein; siekann Informationen jetzt besser verarbeiten alssonst. Hat sie ihre Aufführung gemeistert, ist al-les gut gelaufen, machen sich Glück, Beschwingt-sein und Erleichterung in ihrem Körper breit. Die

    Nervenzellen ihres inneren Belohnungssystemshaben jetzt körpereigene Opiate, sogenannteEndorphine, sowie andere Botenstoffe wie dasOxytocin freigesetzt. Sie überschwemmen dasBelohnungssystem der Schauspielerin und sor-gen für das Hochgefühl in ihr.

    D o p a m i n - B o t e n s t o f fd e s V e r l a n g e n s

    Die Rolle des Dopamins ist eher die des Verlan-gens, der Belohnungserwartung, der Lust aufdas Stück Schokoladentorte: Der Anblick desStück Tortes stimuliert das Dopaminsystem unddas löst in uns ein tiefes Verlangen nach der sü-ßen Speise aus. Schon lange schlagen Forscherdeshalb den Teil des Belohnungssystems, in demdas Dopamin aktiv ist, in »Motivationssystem«umzubenennen.

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    strassenfeger | Nr. | Januar GLÜCK |

    Im Orchester der »Glücksbotenstoffe«zählt neben Dopamin, verschiedenen Endor-phinen und Oxytocin auch der Botenstoff Sero-tonin zu einem wichtigen Mitspieler. Serotoninwirkt auf unsere Stimmungslage. Es gibt unsdas Gefühl der Gelassenheit, inneren Ruhe undZufriedenheit. Häufig lassen sich Depressio-nen auf einen Mangel an Serotonin oder seinerVorstufe, der Aminosäure Tryptophan, zurück-führen. Medikamente gegen Depressionen, so-

    genannte Antidepressiva, sorgen dafür, dass Se-rotonin länger zwischen zwei Nervenzellen, imsogenannten synaptischen Spalt, verbleibt, wasbei der betreffenden Person zu einer positiverenGrundstimmung führt.

    Serotonin kommt auch in Genussmittelnwie Schokolade oder Bananen vor. Ihr Konsumführt jedoch nicht wegen des in ihnen enthalte-nen Serotonins zu einer stimmungsaufhellenden

     Wirkung - Serotonin ist nicht fähig, vom Blut inNervenzellen überzutreten. Es sind vielmehr diemit der Speise aufgenommenen Kohlenhydrate,die eine vermehrte Produktion und Ausschüttungvon Neurotransmittern im Gehirn bewirken undzu einer stimmungsaufhellenden Wirkung führen.

    B e s t ä n d i g e s G l ü c k s g e f ü h ld u r c h F l o w - E r l e b n i s s e

    Eine weitere Hirnstruktur kommt ins Spiel,wenn man sich die Qualität von Glück nä-her ansieht. Da ist der nicht lange andauerndeGlückskick, der zum Beispiel auf materielleGeschenke oder Sex folgt. Hier wird vor allemder Nucleus accumbens aktiviert. Anerkennungund Freundschaft hinterlassen dagegen ein län-ger anhaltendes Gefühl von Wohlbefinden. Diebeständigsten Glücksgefühle entstehen durchsogenannte Flow-Erlebnisse, durch Tätigkeiten,in denen wir restlos aufgehen. Hier spielen dieBasalganglien unseres Gehirns eine Rolle. Wennwir merken, dass wir etwas gut können und unsals selbstwirksam erleben, sorgen sie dafür, dassreichlich Endorphine ausgeschüttet werden.

    Eine fatale Rolle spielt das Belohnungszen-trum unseres Gehirns bei der Ausbildung einerSucht. Normalerweise lernt unser Körper, dass,nachdem wir etwas Angenehmes erlebt haben,die positiven Gefühle mit dieser Situation zu-sammenhängen und ist bestrebt, diese erneutzu erleben. Bei einer Sucht wird der Weg, derzur neuronalen Belohnung führt, abgekürzt.Mit zum Beispiel Zigaretten, Alkohol oder einerDosis Heroin. Drogen stimulieren die Dopamin-Rezeptoren des Nucleus accumbens bis zu zehnMal intensiver als etwa Essen. Die Wirkung aufdas Belohnungssystem ist schlichtweg derartberauschend, dass der Wunsch nach Wiederho-lung bald übermächtig groß wird.

    Glückliche Menschen leben länger, sind sel-tener schwer krank und gesunden auch wiederschneller. Es lohnt sich also, unser inneres Beloh-nungssystem aktiv zu fördern, sagt Neurowis-senschaftler Tobias Esch. In seinem Buch »DieNeurobiologie des Glücks. Wie die Positive Psy-chologie die Medizin verändert« (Thieme Ver-lag, 2011) schreibt er, die Fähigkeit, glücklich zusein sei zu 50 Prozent angeboren. Zu zehn Pro-zent spielten äußere Zufallsfaktoren eine Rolle.Zu 40 Prozent aber hätten wir es selbst in derHand, die Ausschüttung von Glücksstoffen zubeeinflussen und aktiv zu fördern. Vor allem po-sitives Denken, Genuss und Achtsamkeit weistTobias Esch hier eine hohe Bedeutung zu.

    Wer das bekomm, was erwill, verspür Glücksgeühle(Quelle: Public Domain)

    Glück ha seinen Ursprungin Nervenzellen des Gehirns(Quelle: Wikimedia Commons)

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      strassenfeger | Nr. | Januar | GLÜCK

    Einer gewinnt immerGlücksspiel in BerlinB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f  

    Vor einem Jahr war da noch ein kleiner Drogerie-markt, jetzt steht in großen leuchtenden Buch-staben »Casino« über der Eingangstür. ZweiHäuser weiter ist in einem früheren Textilge-schäft ein Wettbüro eingezogen. Nur wenige

    Schritte sind es bis zum Automatencafé. 500 Meter Straße

    beherbergen neun gewerbliche Glücksspiele. Das ist in eini-gen Berliner Bezirken oft anzutreffen, nicht nur im Brunnen-viertel. In der Neuköllner Hermannstraße kommen auf knappzwei Kilometer 28 Glücksspielbetriebe. Dazwischen findetman dann noch ganz bescheiden eine Lottoannahmestelle.Die Berliner scheinen alle auf der Suche nach dem großenGlück zu sein. Alle Berliner? Nicht wirklich, denn in Steglitzund Zehlendorf sind nur wenige dieser Spielorte anzutreffen,in Mitte und Neukölln dagegen sehr viele.

    In Berlin gelten über 30 000 Menschen als spielsüchtig. Eshandelt sich in den meisten Fällen um Menschen, die in wirt-schaftlich prekären Umständen leben. Sie verfügen nur überein geringes Einkommen, sind häufig arbeitslos und hoch ver-schuldet. Die erhofften Gewinne bleiben aus. Der Senat da-gegen gewinnt immer beim Glücksspiel. Ungefähr 40 Millio-nen Euro gewinnt der Finanzsenator als Vergnügungssteueran den Automaten. Dagegen macht sich die halbe Million,

    die jährlich zur Bekämpfung der Glücksspiel-sucht aufgewendet wird, recht schäbig aus. Esist auch schwierig, aus eigenem Willen aus derSpielsucht auszusteigen. Während man sich anden staatlichen Spielcasinos mit ihren Roulett-tischen bundesweit sperren lassen kann, ist das

    bei den Spielhallen nur immer für einen Ort mög-lich. Da es nur wenige Schritte bis zum nächstenAutomatensaal sind, ist die Gelegenheit schnellgeboten, der Spielsucht am neuen Ort wiedernachzugeben. Waren früher zehn Pfennig derNormaleinsatz an einem Automaten, so könnenheute die Maschinen auch Scheine akzeptierenund so den Profit des Aufstellers und den Ruindes Spielers beschleunigen.

    Mit dem Spielhallengesetz hat Berlin einen er-folgreichen ersten Schritt getan, die Gelegen-heiten zum Glücksspiel einzuschränken. ImSommer dieses Jahres läuft die Übergangsfristfür die Spielhallen aus und alle Lizenzen verlie-ren ihre Gültigkeit. Dann gilt, dass der Abstandzwischen zwei Spielhallen mindestens 500 Me-ter betragen muss. Der gleiche Abstand ist zu

    Berliner Casino in der Kazbachsraße (Quelle: Dirk Ingo Franke CC0 Wikimedia Commons)

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    strassenfeger | Nr. | Januar GLÜCK |

    Einrichtungen zu wahren, die von Kindern undJugendlichen genutzt werden, also Schulen, Ki-tas, Sportstätten. Je Halle sind nur noch achtAutomaten erlaubt statt bisher zwölf, die auchso angeordnet werden müssen, dass das gleich-zeitige Spiel an zwei oder mehr Automaten un-

    möglich ist. Zwischen drei und elf Uhr müssendie Hallen schließen.

    Die Spielhallen machen jedoch immer weni-ger Umsätze im Glücksspiel. Dafür nimmt dergraue Bereich ständig zu. Wie viele Spielauto-maten dort betrieben werden, weiß der für dieRegulierung zuständige Innensenator nicht.Das reicht von dem Groschengrab auf dem

     Weg zum Klo in der Eckkneipe bis zur Schein-gastronomie, mit der das Spielhallengesetzumgangen wird. Für den Kneipenwirt ist derSpielautomat oft die einzige Möglichkeit, sei-nen Betrieb aufrecht zu erhalten. Sein Anteilam eingespielten Gewinn, der bei den Auto-

    maten bei circa 6 000 Euro beträgt, finanziertdann gut die Miete für das Lokal. 6 700 dieserAufstellungsorte sind bekannt, fünfzig Prozentmehr als in den Spielhallen. Bis zum Jahr 2019ist das in Berlin noch erlaubt, obwohl das Auf-stellen solcher Automaten seit 2013 bundes-rechtlich nicht mehr erlaubt ist.

    Relativ neu auf dem Glücksspielmarkt sind dieSportwetten. Gab es die früher nur für Pfer-derennen, so kann man heute dort Wetten aufFußballspiele, Pferderennen und Boxkämpfeabschließen. Diese Wettbüros sind in der Re-gel auch mit einer leichten Gastronomie ver-bunden. 400 solcher Geschäfte gibt es allein inBerlin. Sie sind Filialen von Wettbüroketten,die ihren Sitz im Ausland haben. Im Glücks-spielstaatsvertrag der Länder hatte man an die

    Vergabe von 20 Lizenzen für solche Angebotegedacht. Bislang wurden aber keine Lizenzenbeantragt oder gar vergeben, weil die Firmen,die dort tätig sind, ihren Sitz in der EU habenund von daher ihr Recht auf europaweite Ge-schäftstätigkeit beanspruchen. Das gilt auch für

    die zahlreichen Zockermöglichkeiten im Inter-net. Der Bundesverband der privaten Spielban-ken – so eine Lobbyorganisation gibt es wirklich– beklagt die entgangenen Gewinne, die in die-sen Zockerbuden und im Internet landen.

     Wo es um so viel Geld geht, kann man nichterwarten, dass sich alle an Recht und Gesetzhalten. Daniel Buchholz, der sich im Abge-ordnetenhaus um das Glücksspiel kümmert,berichtete, dass bei einer Razzia, die in 40 Lo-kalen durchgeführt wurde, lediglich ein einzi-ger Betrieb »sauber« war. Festgestellt wurdenillegales Glücksspiel, Ordnungswidrigkeitenund Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz.

    Restriktive Maßnahmen bis zur Schließungdes Lokals sind in der Regel wenig erfolg-reich, da dann schnell ein neuer Betreiber aufden Plan tritt.

     Wer selbst spie lsüchtig ist oder eine spielsüch-tige Person kennt, kann in Berlin auf Hilfe rech-nen. An der Charité gibt es ein Beratungsan-gebot, das unter der Rufnummer 450 617 333erreicht werden kann. Die »Anonyme SpielerGA Berlin« erreicht man unter 284 528 93; dameldet sich Frank. Das »Café Beispiellos« inder Kreuzberger Wartenburgstraße 8 ist eineEinrichtung der Caritas, Telefon 666 33 955oder www.cafe-beispiellos.de. Der »Glücks-spiel-Sucht-Hilfe e. V.« informiert auf der Web-seite www.gluecksspiel-sucht-hilfe.de und hatdie zentrale Telefonie unter 390 63 00.

     Spielhallen in Berlin (Foo: Manred Wol)

    In Las Vegas sehen ausende dieser Spielauomaen (Quelle: en:User:Pcb21 / GNU Free Documenaion License, Version 1.2)

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    Glücksbringer & PechvögelWas meint der Volksmund damit?B E T R A C H T U N G : A s t r i d

     Was ein Glücksbringer ist, weißwohl fast jeder. Das vierblätt-rige Kleeblatt, das Hufeisen, derMarienkäfer, das Schwein, der

    Schornsteinfeger und auch die Hasenpfote.Nur bei Letzteren fragte ich mich, ob der Hasedas auch so empfindet. Eine Pfote zu verlieren,ist bestimmt kein Glück. Und glauben sie mir,der Schornsteinfeger ist auch überbewertet.

     Wieso? Ich hatte einen Termin für die Kamin-reinigung in meiner Wohnung. Es klingelte, unddrei Mann standen vor mir. Oha, drei Schorn-steinfeger in voller Montur, na wenn das keinGlück bringt. Ich berührte sie und spielte denTag noch Lotto. Und was geschah? Pusteku-chen, noch nicht einmal drei Richtige. Alsoaufpassen mit den Glücksbringern.

    Das sieht man ja auch beim Fliegenpilz, auch einGlückssymbol. Essen sie den doch mal, dann ister aber keins mehr. Außer für ihre Erben, fallssie Geld haben. Vierblättriges Kleeblatt? Tja,bis man auf die Idee kam, die zu züchten, wohlschon eher. Aber eins zu finden auf einer riesigen

     Wiese voll mit Klee? Ich schaffte es mal durchZufall, stolperte über einen Stein und fiel mitder Nase voraus ins Gras. Und siehe da, ein vier-

    blättriges Kleeblatt. Oh, war ich stolz, ach ja undneun Jahre alt. Hufeisen? Nur, wenn die richtigrum über der Tür hängen, mit der Öffnung nach oben. Aber, hat nun ein Schmied laufend Glück,

    wenn der täglich mit den ganzen Hufeisen rum-hantiert? Noch eine unbeantwortete Frage.

    Kommen wir nun zu den Pechvögeln. So be-zeichnet man Menschen, denen Ungeschickepassieren. Aber das Wort stammt ursprünglichvon der Jagd: Man verwendete klebrige Substan-zen, um Vögel zu fangen. Pech war nur eine da-von, aber die Bezeichnung blieb. Zurück zu denmenschlichen Pechvögeln. Jetzt sagen Sie nicht,Sie sind einer, nur weil am Morgen Ihr Brot run-tergefallen ist und mit der Marmeladenseite auf

    dem Teppich landete. Das ist Physik, das Brotschafft es nicht eine volle Drehung zu machen.Passiert in 99 von 100 Fällen. Sie sind auch keinPechvogel, wenn Ihnen morgens der Bus vorder Nase wegfährt, das kann passieren. Wenn esständig so geht, kommen Sie der Sache schon nä-her. Dann kann man von einem Pechvogel reden.

    Glauben Sie mir nicht, gut mal sehen. Dienstag,den 29. Dezember, übernehme den Dienst imVertrieb des strassenfeger für eine kranke Kolle-gin am Bahnhof Zoo. Überhaupt kein Problem.Ich mache den Wagen zu, um die Abrechnungin den Verein zu bringen. Die Strecke dorthinfahre ich mit der U9 bis Westhafen, dann Ringbis Landsberger Allee. An der Treppe, die in dieU-Bahn führt, fällt mir eine rote Absperrung auf,aber da der Zoobahnhof gerade umgebaut wird,

    denke ich mir nichts und gehe in den Bahnhofrein und dann zur U-Bahn. Ich stoppe, weil dort

     jede Menge Menschen stehen. Was ist denn hierlos? Kralle mir einen BVG Bediensteten undfrage: »Polizeieinsatz!« Och nee, die hasse ich.Nachgehakt, wie lange es wohl dauern wird, ichhabe nur ’ne Stunde Zeit. »Wissen wir nicht,kann aber dauern!« Ein Mann mault neben mir,anscheinend fahren die S-Bahn Züge auch unre-gelmäßig. Mist, wie mache ich das nun. Bus, ’neStunde oder mehr. Und, wie komme ich heim?Brauche die U9 auch, wohne in Reinickendorf.Also im Verein angerufen, angesagt, dass ich am

    nächsten Tag komme und auf den Heimweg ge-macht. Mittwoch, der 30. Dezember: Ich krab-bele in die U8 bis Alexanderplatz, unsere Bahnstoppt und fährt nicht weiter. Ich denke: »OhGott, nicht SCHON wieder!« Die Stimme unse-res Fahrers ertönt: »Wegen technischer Problemeim Bahnhof Rosenthaler Platz verzögert sich un-sere Weiterfahrt um einige Sekunden!« Mal se-hen, jawohl es geht bald weiter. Abends Wagenam Ostbahnhof abgeschlossen, den Bahnhof be-treten und rauf auf die Plattform. Und dort leseich auf der Anzeigetafel »Polizeieinsatz im Zug!«Genauso war’s, der stand nämlich noch dort.Hatte mich jemand auf dem Kieker, war ich diezwei Tage einfach nur ein Pechvogel? Ich stiegein, der Zug fuhr los. Meine Kollegin im »KaffeeBankrott« grinste nur, als ich eintraf und sagte:»Bin daaaaaa und will nicht mehr!«    K   a

       r    i    k   a   t   u

       r   :    O    L

    Ein eches vierblätriges Kleeblat is ein Glücksbringer (Quelle: Umbero Salvagnin / Wikimedia CC BY 2.0)

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    strassenfeger | Nr. | Januar GLÜCK |

    Der PechvogelEine AnamneseB E R I C H T : P a u l i n a N i e d e r h ö f e r

    D

    ie Anamnese (von griechisch ἀνάμνησις,anámnēsis, »Erinnerung«) ist eine Erhebungder Leidensgeschichte eines Patienten, aus sei-ner persönlichen Erfahrung, und erfolgt durchden behandelnden Therapeuten. Die Bezeich-

    nung »Pechvogel« entstammt der mittelalterlichen Vogeljagd.Damals wurden Vögel mit Leimruten, sogenannte »Pechru-ten«, gefangen, an denen die Tiere kleben blieben. So wurdeder gefangene Pechvogel, auch Unglücksrabe genannt, zumSymbol für jemanden, dem das Schicksal übel mitspielt. Es gibt Leute, die alles zu haben scheinen. Eine Familie, eingroßes Haus, ein schickes Auto und einen guten Job. Wie oftschwelgt man in Träumen über solch ein sorgloses Leben?Und wie häufig werden diese Träume durch die harte Realitätzerstört, dass man selbst einfach nicht mit solch einem Glückgesegnet ist? Ist es möglich, dass die Welt in Glückskinderund Unglücksraben gespalten ist?

    Die Weltgesundheitsorganisation fand in einer Studie von1996 heraus, dass Depression in Industrieländern an erster

    Stelle der zehn häufigsten Ursachen für ein beeinträchtigtesLeben steht. Die Erkrankung ist insofern individuell, dass siebei jedem Menschen aus anderen Gründen auftreten kann. Einwichtiger Auslöser ist Stress. Ursachen dafür können Ängste

    sein, die man täglich mit sich herumträgt. Auch Schuld- oderMinderwertigkeitsgefühle spielen eine große Rolle. Diese psy-chischen Zustände werden von Erlebnissen des Misserfolgsgenährt, welche der Pechvogel nur zu gut kennt.

    Ein Gespräch zwischen einem Pechvogel und seinem Thera-peuten könnte wie folgt aussehen:

    Patient: »Herr Therapeut, ich bin deprimiert und unmotiviert.«Therapeut: »Woher kommt das?«Patient: »Ich habe immer nur Unglück.«Therapeut: »Wie kommen Sie darauf?«Patient: »Wenn ich zu schnell fahre, werde ich geblitzt. MeineKleidergröße ist immer ausverkauft. Lotto spiele ich erst garnicht, weil ich ja sowieso nichts gewinnen würde. Auf meinerArbeit wird eine tolle Stelle frei, aber ich habe sicher eh keineChance, weil es bestimmt qualifiziertere Bewerber gibt, die sichbesser verkaufen können.«Therapeut: »Ist das Ihre tägliche Einstellung?«Patient: »Selbstverständlich. Wie soll ich auch positiver den-ken, wenn mir nur Schlechtes passiert?!«

    Der Therapeut hört sich das Leiden des Patienten weiteran, bis die Sitzung vorbei ist. Zum Ende hin steht er aufund gibt dem Patienten zum Abschied die Hand, mit den

     Worten: »Lieber Patient, Sie haben die Strategie des Un-glücklichseins perfektioniert. Wenn Sie an dieser Einstel-lung festhalten, werden Sie problemlos in der Hölle aufErden verweilen können.«

    Der Unglücksrabe wird durch dieses Gespräch verwirrt sein. Was soll seine Einstellung damit zu tun haben, dass es seinSchicksal ist, immer den Kürzeren zu ziehen? »Alles«, würdeder Therapeut antworten. Unglück zu haben, bedeutet un-glücklich zu sein. Macht man sich deprimierende Gedanken,fühlt man sich deprimiert. Daher ist es nicht übertrieben zu

    sagen, dass die eigenen Gedanken die Baumeister des Schick-sals sind. Niemand ist dazu verdammt, ein Pechvogel zu sein.Personen, die vermeidlich in diese Kategorie fallen, haben die-selbe Einstellung wie unser Patient.

     Was würde der Therapeut also »verschreiben«? Der Patientmuss lernen zu akzeptieren, dass er allein Verantwortung fürsein Leben und sein Glück hat. Die Ausreden und Schuldzu-weisungen bringen ihn nicht weiter. Es ist leicht, das Lebenschwer zu nehmen. Jedoch ist es schwer, das Leben leicht zunehmen. Unser Patient sollte sich nicht jeden Rückschlag zuHerzen führen oder Misserfolge gar als Ultimatum ansehen.Sofern der Pechvogel lernt, die kleinen Dinge wertzuschät-zen, werden die anderen Ereignisse nicht mehr so groß er-scheinen. Sich konstant zu sorgen und immer das Schlechtezu erwarten, führt zu nichts. Sie laufen ja auch nicht täglichmit einem geöffneten Regenschirm durch die Stadt, für denFall, dass es einmal regnen könnte.

    Wenn die Sonne wieder schein (Quelle: Originalbild von abduci (flickr), bearbeie von Normen Wohner)

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      strassenfeger | Nr. | Januar | GLÜCK

    Das kleine Glück und

    das große Glück!Ein Zeitungsverkäufer berichtetB E T R A C H T U N G : C a r s t e n D a h l e k e ( v e r k a u f t d e n s t r a s s e n fe g e r )

     Was ist eigentlich Glück? Vor einigen Jahrenhabe ich irgendwo mal einen sehr sinnigenSpruch zu diesem Begriff gelesen, leider istmir der Verfasser des Spruches entfallen:»Keiner weiß was Glück ist, aber alle wis-

    sen hinterher, was Glück war!«

    Seit einigen Jahren bin ich nicht nur Autor, viel länger habeich mich im Zeitungshandel als Verkäufer versucht, mit mehroder weniger Erfolg. Als ich noch im ambulanten Zeitungs-handel tätig war, war es mein größtes Glück, so viele Zei-tungen wie möglich zu verkaufen. Dies ist bei einer Tages-zeitung, die jeden Abend im Vorabdruck für den nächstenTag herauskommt, sicher nicht schwer, wird sich so manchervielleicht denken, der abends die Zeitungshändler mit den Rä-dern durch die Straßen fahren sieht. Ganz so ist es nicht, einguter Umsatz im Zeitungshandel ist von sehr vielen Dingenabhängig. Das fängt mit der Jahreszeit an und endet bei derStimmung der Leser.

    Oft werden Zeitungshändler im ambulanten Verkauf (Ver-kauf auf der Straße ohne festen Laden), wenn nicht geradeverachtet, so zumindest nicht richtig beachtet, es sei denn,

    man ist morgens auf dem Weg zu Arbeit am nahe liegendenTabakwarenladen oder Bäcker vorbei gerannt und hat verges-sen, sich die Zeitung für die Pause zu kaufen. Dann kommensie gerade recht, und mit der Zeit wird es für viele Käufer dannzur Gewohnheit, bei den ambulanten Zeitungsverkäufern zukaufen. Das war damals bei mir nicht anders, ganz egal, obich auf einem Standplatz war oder als Fahrradverkäufer aufeiner Kneipentour (wie es im Zeitungshandel genannt wird).Damals war es schon ein kleines Glück, wenn es mir gelangden Umsatz zu steigern.

    Als ich dann begann, selbst den strassenfeger  zu verkaufen,war’s für mich anfangs schon ein richtiges Glück, eine einzigeZeitung zu verkaufen. Mit den Jahren änderte sich das, und eswar fast wie bei der Tageszeitung. Seit etwa ein und ein viertel

    Jahren werde ich aber das dumpfe Gefühl nicht los, es entwi-ckelt sich bei mir alles zurück, alles in die Richtung, als ich mitdem Zeitungsverkauf beim strassenfeger  begann. Als langjäh-riger Zeitungsverkäufer sucht man in diesem Fall nach den Ur-sachen, ich kann zwar das Feld der Möglichkeiten eingrenzen,aber leider nicht den möglichen Fehler genau benennen.

     Was ich beobachten kann: Es wird immer mehr rumänischenMenschen Geld gegeben, die mit einer Zeitung (egal ob ein-geschweißt in Folie oder nicht) und einem Pappbecher umGeld betteln. Der strassenfeger  wurde ins Leben gerufen, umMenschen die obdachlos sind, ihre Papiere verloren habenetc., davor zu bewahren, betteln oder stehlen zu müssen. Re-guläre Verkäufer der sozialen Straßenzeitung strassenfeger  sind übrigens durch das offene Tragen des Verkäuferauswei-ses legitimiert! Die zweite Seite dabei: Die Gründer wolltendiesen Menschen die Möglichkeit eines gewissen Selbstwert-gefühles ermöglichen, dass sie Struktur in ihr Leben bekom-

    men, nichts anderes bedeutet es, wenn man jeden Morgenum 6 Uhr beginnt, die Straßenzeitung zu verkaufen, und sichselbst ein wenig von der untersten Stufe der Sozialleiter wie-

    der hocharbeiten zu können.

    Mit den Jahren haben sich die Verhältnisse geändert, dieStrukturen unter den obdachlosen bzw. wohnungslosenMenschen, die soziale Straßenmagazine verkaufen, habensich verändert. Hinzu kamen die vielen armen Menschen, diedurch die Einführung von Hartz IV abstürzten. Diese Men-schen stehen auch auf den untersten Stufen der Sozialleiterund versuchen sich mit dem Verkauf ein Zubrot zu verdienen,was eigentlich ja nicht schlimm ist. Leider hat auch der soge-nannte »Armutstourismus« aus den neuen EU-Ländern starkzugenommen. Viele von diesen Menschen denken, Deutsch-land und insbesondere Berlin wären das Paradies und diegebratenen Tauben würden durch die Luft fliegen. Hier an-gekommen müssen sie erkennen, dass ihnen hier dann doch

    nicht das Geld ganz einfach in die Taschen geschoben wird…Leider verdrängen einige schwarze Schafe, unter diesen zwei-felsohne auch sehr hilfebedürftigen Menschen, die Einheimi-schen manchmal auch mit verbaler oder physischer Gewalt.Schön ist das wirklich nicht, aber es gibt aber auch vielefleißige und angenehme Verkäufer und den Neuen. Für denVorstand des mob e.V., der den strassenfeger  herausgibt, istes sicher auch sehr schwer, über mögliche Sanktionen vonschwarzen Schafen nachzudenken. Alle Neu-EU-Bürger vomVerkauf des strassenfeger  auszuschließen, wäre sicher keinegute Lösung. Wichtig wäre es aus meiner bescheidenen Sicht,den Vertrieb zu stärken. Ein oder zwei Straßensozialarbeiter,die sich ganz intensiv um uns Verkäufer kümmern würden,wären sicher sehr hilfreich. Aber so ein kleiner Verein wiemob e.V. kann eben auch nicht alle sozialen Probleme alleinbewältigen. Tja, so ist es heute für mich ein großes Glück,wenn ich so viele Ausgaben wie möglich verkaufen kann.

    Carsen beim Verkau des srasseneger & Superpenner-Comic(Foo: Andreas Düllick ©VG Bild-Kuns)

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    strassenfeger | Nr. | Januar GLÜCK |

    Ein kleines Glück...Meine tiefste BeziehungB E R I C H T : D e t l e f F l i s t e r

    Es war ein herrlicher Sommertag. DieSonne strahlte vom Himmel und es wartierisch heiß. Alles passte zusammen undmeine Stimmung war bombastisch gut.

    An diesem Tag war ich bei meinem Kumpel Klaus,mit dem mich bereits eine 27 Jahre dauerndeFreundschaft verbindet. Klaus erzählte mir, dassheute seine Ex Marita vorbeikommen würde, ihnnach über zwei Jahren wieder einmal besuchenwürde. Er redete auch von einem Neubeginn.

    Klaus wohnte damals in Tegel und hatte einigeQuerstraßen von seiner Wohnung entfernt einenkleinen Garten angemietet, den er hegte undpflegte. Dort wollte sie hinkommen. Nach demwir einen Kaffee und ein Stück Kuchen einge-nommen hatten, liefen wir dort hin.

    Nach dem wir etwa eine Stunde dort bei Musikentspannt gesessen haben, kam sie. Klaus be-grüßte sie gut gelaunt und freundlich und botihr einen Platz an. Er warf den Grill an und esgab etwas zu Essen. Wir saßen mehrere Stundenund unterhielten uns und Marita strahlte uns dieganze Zeit an. Auch sie war ganz gut drauf undfreute sich bei uns zu sein. Es war ein herrlicher

    Tag. Ein Tag, bei dem man hoffte, dass er nieenden würde. Schon am Anfang fiel mir auf, dasssie immer wieder zu mir herüber schaute, michanlächelte. Sie hörte gut zu, wenn wir etwas er-zählten. Sie stellte zwischendurch auch immerwieder Fragen und wollte mehr wissen. Sie sel-ber erzählte nur wenig über sich und nahm sichoffenbar nicht so wichtig.

     Wir sangen abwechselnd die Lieder mit und amü-sierten uns köstlich, wenn wir, zumindest einigeMale, völlig schräg sangen. Wir konnten uns dieLieder ja auch nicht aussuchen. Erst war Klausdran, dann ich und zum Schluss – darauf bestandsie – Marita. Es ging immer der Reihenfolge nach

    und wenn jemand ein Lied nicht kannte oder dieTonlage nicht erreichte, kriegten wir uns vor La-chen nicht mehr ein.

    Irgendwann begannen wir zu tanzen. Maritaforderte Klaus auf. Ich spürte, dass ihr das keinSpaß machte. Sie bemühte sich zwar weiter zulächeln, aber es wirkte angestrengt und künst-lich. Sie schaute öfter in meine Richtung undblinzelte mir zu. Jetzt wusste ich, was los warund ahnte, dass sie es auf mich abgesehen hatte.Ich spürte ihre Freude, als sie mich schließlichaufforderte. Es machte ihr nicht die geringsteMühe, mich anzulächeln. Sie begann auch, zwi-schendurch zu streicheln. Ich ließ es geschehen.Eine angenehme Wärme und ein Kribbeln mach-ten sich in mir breit. Am Ende des Tanzes gab siemir einen kräftigen Kuss. Mein Herz schlug ganz

    aufgeregt und mein Puls raste. Auch ich begannzu lächeln und schaute ihr tief in die Augen. Eswar ein herrliches Gefühl.

    Auch Klaus merkte, was passiert war und guckteden Rest des Abends ziemlich traurig zwischen

    mir und Marita immer hin und her. Er wusstein diesem Moment, dass es mit dem Neuanfangmit Marita nichts wurde. Eigentlich tat es mirauch leid. Aber ich wusste auch, dass ich mei-nem Gefühl folgen musste. Ich konnte einfachnicht anders. Gegen 21.00 Uhr sah Marita michan und fragte mich, ob ich sie nach Hause brin-gen wolle. Ich sagte zu und verabschiedete michfreundlich von Klaus, der mich ganz bedeppertanschaute. Ich klopfte ihn auf die Schulter undbemühte mich zu lächeln, was aber nicht gelang.Ja, es hatte bei mir gefunkt und ich war nicht inder Lage mich dagegen zu wehren....

    Für mich begann eine sehr glückliche Zeit.Marita und ich kamen uns rasend schnell nä-her und ehe ich mich versah, wuchs eine engeBeziehung, die auf einer tiefen Seelenverwandt-

    schaft beruhte. Wir waren uns so nahe, dass sie– ohne dass ich etwas sagen musste – immer ge-nau wusste, wie es mir ging und was ich wollte.Es lief alles ohne viele Worte. Wie selbstver-ständlich bekam ich ohne etwas zu sagen meinLieblingsessen und fast alles, was wir taten und

    gemeinsam unternahmen, bedurfte in seltens-ten Fällen eine Absprache. Wir lagen uns bei jeder Unterhaltung auf den Lippen. Alles wasder andere tat und sagte hatte für jeden von unseine immense Bedeutung. Wir verbrachten fast

     jede freie Minute miteinander und konnten unsnur schwer trennen, so verliebt waren wir. Nacheiner Weile bestimmten wir sogar zwei Tage, andenen wir uns nicht sahen, weil unsere Hobbysund Freunde zu kurz kamen. Es war eine glor-reiche und herrliche, bewegende Zeit für uns.

    2003 starb Marita leider an Krebs. Nach einerTrauerzeit von über einem Jahr konnte ich michendlich damit abfinden, dass sie nicht mehr war.Heute blickte ich freudig auf die gemeinsameZeit zurück und bin dankbar dafür, denn Maritawar die größte Liebe in meinem Leben!

    »1873 Pierre Auguse Co - Spring«von Pierre Auguse Co(Quelle: Ar Renewal Cener Gemeinrei über

    Wikimedia Commons)

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      strassenfeger | Nr. | Januar | GLÜCK

    Was für ein Glück –der Zander kommt!Über die Weihnachtsfeier für Obdachlose von Frank ZanderB E R I C H T : D e t l e f F l i s t e r | F O T O S : r W e r n e r F r a n k e

    Am 21. Dezember machten Andreas und ich sich

    auf, um die Weihnachtsfeier von Frank Zanderzu besuchen. Wir hatten uns bereits eine Wochevorher tierisch darauf gefreut, weil wir schonim letzten Jahr viel Spaß hatten. Wir hatten viel

    Glück, weil wir recht weit vorne standen und uns beim Ein-lass eine lange Wartezeit erspart blieb. Auch durch diesenengen Tunnel mussten wir glücklicherweise diesmal nicht.Ein Lob an die Veranstalter dafür, dass sie einen anderenEingang gewählt hatten.

    Nachdem uns Franky die Hand gereicht hatte und uns einpaar freundliche Worte gewidmet hatte, ging es die kurzeStrecke zum Saal. Claudia Jung, die Schlagersängerin, liefuns über den Weg und wünschte uns gut gelaunt frohe Weih-nachten. Beim Eintritt in den Saal stand Markus Zander

    vorn, und ich begrüßte ihn freundlich. Auch er hatte einigenette Worte für mich. Wir suchten uns einen Platz, und ichtrank erst einmal ein Glas Cola und aß zwei Stück Kuchen.Dann unterhielten wir uns eine Weile mit unseren Nachbarnam Tisch, von dem sich einer als Muffel erwies, wovon ichmich aber nicht beim Feiern stören ließ.

    Nachdem ich getrunken und gegessen hatte, drehte ich gut ge-launt meine erste Runde. Fröhlich kam mir Hanno Bruhn, derlegendäre Berliner Blueser und Jazzer, entgegen. Er begrüßtemich ebenfalls und unterhielt sich mit mir, nachdem wir unsfrohe Weihnachten gewünscht hatten. Wir sprachen über alteZeiten und über sein Lied »Leg‘ die Knete auf die Theke«, dasirgendwann Ende der 60er oder Anfang der 70er komponierthatte. Er freute sich, dass ich das noch kannte. Das ist das,was ich bei der Obdachlosen-Weihnachtsfeier von Frank Zan-der besonders mag: Man kann dort mit den Prominenten plau-schen, an die man sonst nur schwer heran kommt, was einen

    das Gefühl gibt dazu zu gehören und es entsteht das Gefühl als

    sei man zu Hause. Auch mit Entertainer Wolfgang Lippert, demBoxer Arthur Abraham und dessen Trainer Uli Wegner bin ichins Gespräch gekommen, wenn auch nur kurz.

    Das Bühnenprogramm machte mir richtig Spaß und ichkam gar nicht mehr vorne weg. Hanno Bruhn machte mirwieder besonders viel Spaß mit seinen Lied »Ich hab‘ dieSchnauze voll, nie wieder Alkohol!« Ich rief beim Refrainimmer die Worte »Schnauze voll« oder »gestrichen voll« hi-nein, und Hanno Bruhn freute sich tierisch darüber, dassich mitmachte. Auch Claudia Young (?) und Nicole, meinedeutsche Lieblingssängerin, waren da. Nicole sang die Lie-der »Flieg‘ nicht so hoch mein kleiner Freund« und »Einbisschen Frieden«, das mich zu Tränen rührte. »Queen II«heizte ein, und zum Schluss kam Frank Zander und amü-

    sierte das Publikum. Es machte mir tierischen Spaß. So vielhabe ich schon lange nicht mehr gesungen, und ich war amEnde ziemlich heiser, was am nächsten Tag aber wieder wegwar. Auch mein Kumpel Andreas hatte sichtlich viel Spaß.

    Die Weihnachtsgans war übrigens die köstlichste und zar-teste, die ich seit langen gegessen habe. Ja, es war wirklicheine Veranstaltung, die mir und meinem Kumpel viel Spaßgemacht hat. Eine Veranstaltung bei der man am Ende sagenkonnte: »Schade, dass es schon vorbei ist!« Ich bin dem Frank,seinem Sohn Markus und den vielen Helfern sehr dankbarfür alles, was sie für uns getan haben. Danke, Danke, Danke!Danke Frank, dass du diese Feier jedes Jahr immer wieder mitdeinem Sohn Markus organisierst. Es sind einfach ein paarschöne Stunden, in denen man den Alltag und seine Sorgenvergessen kann und das tut sehr, sehr gut! Ich hoffe für unsalle, das das noch sehr lange geht, dass es Weihnachten nochsehr lange heißt: »Der Zander kommt!«

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    Die Auorin im Gespräch mi Übernachungsgas Tino (Quelle: Team Noübernachung)

    Eine menschenwürdigeGrundversorgung in derneuen Notübernachtungvon mob e.V.Die Projektleiterin zieht eine erste BilanzB E R I C H T : M a r a F i s c h e r

    Die Zahl der Wohnungslosen inDeutschland ist auf einem neuenHöchststand. Nach Schätzungender BAG Wohnungslosenhilfe wa-

    ren 2014 ca. 335 000 Menschen in Deutschlandohne Wohnung – seit 2012 ist dies ein Anstiegum ca. 18 Prozent. Es wird von 2015 bis 2018sogar ein weiterer Zuwachs auf dann 536 000wohnungslose Menschen prognostiziert.

    Am 20.10.2015 konnte der mob e.V. eine neueNotübernachtung für obdachlose Menscheneröffnen. Die Notübernachtung ist ganzjährig.Alle Menschen in akuter Not sind bei uns herz-lich willkommen. Es stehen insgesamt 20 Bettenzur Verfügung, fünf Notbetten sind ebenfallsvorhanden. Der Verein bietet den Hilfesuchen-den »Ein Dach über dem Kopf« und vor allem

    eine menschenwürdige Grundversorgung. Esgibt einen gemütlichen Aufenthaltsraum für dieGäste, warme und saubere Betten. Zusätzlichgibt es eine Kleiderkammer. Wir bieten Schutzvor Gewalt, vor Kälte und dem drohenden Erfrie-rungstod. Das Herzstück unserer Arbeit ist dasmenschliche Miteinander. Wir betrachten die Ob-dachlosen als Gäste. Es geht um den Einzelnenmit seiner Biografie. Unserer Gäste können sichbei uns ausruhen, sind geschützt vor Blicken derPassanten, wir geben ihnen die Gelegenheit zueinem Gespräch oder einfach mal nur Vor-sich-hin-träumen. Ohne unsere vielen fleißigen Ehren-amtlichen könnten wir dies nicht ermöglichen!

    Seit dem ersten Januar 2016 wird die Notüber-nachtung durch das Integrierte Sozialprogramm(ISP) des Landes Berlin gefördert. Dies warzwingend notwendig, es deckt die Kosten teil-weise. Deshalb sind wir nach wie vor dringendauf Geld-, Zeit- und Sachspenden angewiesen.Jedoch konnten wir nun einen Sozialarbeitereinstellen, der sich mit den Nöten und Sorgender hilfesuchenden Menschen auseinandersetzt.Jeden Montag kommt das Caritas Arztmobil undversorgt Menschen ohne Krankenversicherung.

    W a r u m i s t d i e N o t ü b e r n a c h t u n gv o n m o b e . V. s o w i c h t i g ?In Berlin wird von ca. 15 000 wohnungslosenMenschen ausgegangen. Zu dem gibt es ca. 4 000bis 6 000 obdachlose Menschen. Unsere Notun-terkunft ist ein Kristallisationspunkt der sozialen

    Herausforderungen der Stadt Berlin. Wir sehensozusagen täglich die Wunden sozialer Brüche undHärten. In Berlin wird es immer enger. Besondersschlimm steht es um obdachlose Familien mit Kin-dern. Obwohl wir erst seit ca. zwei Monaten geöff-net haben, können wir schon Erfolgsgeschichtenschreiben. Bei uns finden Menschen Zuwendungund eine neue Perspektive für ihr Leben.

    W e r k o m m t i n d i e N o t ü b e r n a c h t u n gu n d s u c h t H i l f e ?Das ist ganz unterschiedlich. Viele ältere Men-schen, aber auch einige sehr junge, klingelnbei uns und suchen Hilfe. Die Hilfesuchendenkommen in einem meist sehr desolaten kör-

    perlichen und psychischen Zustand zu uns. Eskommt häufiger vor, dass das Sozialamt unsMenschen vermittelt, die frisch aus dem Kran-kenhaus kommen und nicht wissen, wohin.Meist sind das ältere Menschen, deren kleineRente nicht mehr für ihren Lebensunterhaltreicht. Aber auch Menschen, die einen Job ha-ben oder eine Ausbildung machen, landen beiuns, weil sie durch das reguläre Gesundheits-und soziale Hilfesystem nicht aufgefangenwerden. Gründe hierfür sind die resultieren-den Entwicklungen aus politischen und sozia-len Rahmenbedingungen. Gerade in Berlin istder Mangel an bezahlbarem Wohnraum unddie stetige Gentrifizierung ein sehr großes Pro-blem. Hinzu kommen Hartz IV-Sanktionen,Mietschulden und Zwangsräumungen, wes-halb immer mehr Menschen Hilfe und Schutz

    bei uns suchen. Der angespannte Wohnungs-markt bietet Berliner_Innen kaum eine Chance,bezahlbaren Wohnraum zu finden. Selbst dieObdachlosenwohnheime sind überfüllt.

    W i e k ann d as Te am v o n mo b e . V.k o n k r e t h e l f e n ?Es besteht immer die Möglichkeit, mit den ehren-amtlichen Mitarbeitern vor Ort zu sprechen undeinen Beratungstermin mit dem Sozialarbeiterzu vereinbaren. Die Hilfe in Form einer Beratungist nicht obligatorisch, wird trotzdem sehr häu-fig in Anspruch genommen. Wir bieten Unter-stützung beim Stellen von Anträgen und Ärgermit den Behörden. Durch unsere Sozialberatung

    können wir die Menschen rechtlich unterstützenund helfen in schwierigen Fällen auch, indem wirdie Hilfesuchenden zu den Behörden begleiten.

     Wir möchten unsere obdachlosen Gäste nichtnur kurz unterbringen, wir versuchen langfris-tige Lösungen für die einzelnen Individuen zufinden. Und das geht nur wenn Vertrauen aufge-baut wird. Für eben dieses Vertrauen und Mitei-nander steht das ganze Team der Notübernach-tung und der Verein mob e.V. Das Besondere anunserer Projekt: Wir sind deutschlandweit dieeinzige Notunterkunft für Obdachlose, die miteiner Flüchtlingsunterkunft unter einem Dachwohnt. In friedlicher Nachbarschaft.

     Wer helfen möchte, kann sich gerne an den Ver-ein wenden: [email protected]. Wirfreuen uns auf Euch!

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    strassenfeger | Nr. | Januar TAUFRISCH & ANGESAGT |

    Die Tänzerin, Choreografin und Schauspielerin Nikeaa Thompson engagier sich ür die Spen-denkamapagne ONE WARM WINTER (Quelle: DOJO)

    Es wird kalt in BerlinSpendenkampagne »ONE WARM WINTER« startetB E R I C H T : A n d r e a s D ü l l i c k

    Am 11. Januar ist unsere neue »One

     Warm Winter«-Kampagne gestartet.Schon im Herbst vergangenen Jahreshatten sich die Macher der Kampagne

    von der Kreuzberger Kreativschmiede »DOJO«und ich zusammengesetzt und über die Spenden-aktion für Obdachlose und Flüchtlinge in 2016nachgedacht. Schnell war klar: Wir werden wie-der versuchen, prominente Künstler anzufragen,ob sie uns bei ONE WARM WINTER unterstüt-zen. Gut, wenn man ein paar »alte Hasen« hat,die schon mehrfach ihr Gesicht für OWW hin-gehalten haben. Die Idee des DOJO-Teams umSvenja und Daniel, die schon lange bei OWWdabei sind, war, die Fotos in der neu eröffnetenNotübernachtung »Ein Dach über dem Kopf«des mob – obdachlose machen mobil e.V. in derStorkower Straße 139c zu machen. Ganz einfachwar das letztlich nicht, weil die Gäste der Not-übernachtung eher auf Ruhe und Schutz bedachtsind, denn auf Medienarbeit. Selbstredend wur-den alle kleinen und großen Probleme gelöst, undnun findet der aufmerksame Beobachter schon inder ganzen Stadt wieder die wunderbaren Port-räts der ONE WARM WINTER-Kampagne.

    Wer ist mit dabei?Als Schauspielerin, Moderatorin und DJane

    lässt Palina nicht nur pubertäre Männerherzenhöher schlagen. Vom roten Teppich aus geht esschon seit mehreren Jahren direkt auf die Stra-ßen Berlins, um Stellung gegen Kälte und so-ziale Ungerechtigkeit zu beziehen. Da sich derRapper Marteria die lila Wolken nicht nur gernevon hinter der Scheibe aus anschaut, weiß er,dass es draußen auch bitter kalt werden kann.Die schadenfrohe Lache des Moderators undSchauspielers Joko Winterscheidt gehört zumdeutschen Fernsehen wie die Kälte zum Winter.

     Weil die TV-Größe das weiß, reißt er sich diesesJahr seine Kleidung vom Leib und springt fürden guten Zweck in die Straßen-Couture vonOWW. Der Moderator, Sänger, Schauspieler

    und Produzent Klas Heufer-Umlauf ist einewahre Größe im deutschen Fernsehen. Diesen Winter tauscht der Anti-Clown aus Circus Hal-liGalli das Rampenlicht gegen das Blitzlicht ausund bezieht mit OWW Stellung gegen sozialeUngerechtigkeit. Gegen die Kälte da draußenhat die Tänzerin, Choreografin und Schau-spielerin Nikeata Thompson nicht nur heißeDancemoves parat. »30° Grad« brachte denRapper MC FITTI mit dem prachtvollen Bartauf sämtliche deutschen Monitore. Mit OWWsetzt auch er sich dafür ein, ein paar Grad mehran die Obdachlosen in Berlin abzugeben. DieModeratorin VISA VIE hat die Rapszene festim Griff. Zum dritten Mal in Folge engagiertsie sich für Obdachlose. Der begnadete Singer/Songwriter, Autor und Sprücheklopfer OlliSchulz ist zweifellos Deutschlands schönster

    Entertainer. Er musste so manchen Hambur-ger Winter über sich ergehen lassen. Von derKälte geprägt, setzt sich der Styler jetzt schonim dritten Jahr für Obdachlose ein. ZwischenEliteschule und Straße – der Rapper Prinz Pi

    weiß genau, wo seine Wurzeln liegen, er ist die-ses Jahr zum ersten Mal Teil der Kampagne. DieBerliner Nachtleben-Ikone KOMET bereichertOWW mit Seifenblasen und guter Laune. Aufder Futuredeutschewelle reitet die SängerinLary von Bühne zu Bühne und verzaubert ihreFans. Sie setzt sich zum zweiten Mal in Folge fürdie Berliner Obdachlosen ein.

    Was genau verbirgt sich hinter OWW?ONE WARM WINTER ist eine Aufklärungs- undSpendenkampagne. Bundesweit möchten wir fürdie Problematik Obdachlosigkeit sensibilisieren.In unserem Alltag treffen wir immer wiederaufgrund eines mangelnden Verständnisses in-tolerantes bzw. ignorantes Verhalten gegenüberbetroffenen Personen – ein Zustand, den wir än-dern wollen. Über kleine Spendenbeträge sam-

    meln wir seit vier Jahren Geld für notwendigeGüter wie Kleidungsstücke oder finanzierenNotunterkünfte sowie unterstützenswerte Re-habilitations- bzw. Präventionsprogramme fürobdachlose Menschen. Die Erfahrung zeigt: In

    der Summe können auch Mikrospendenbeträgegroßes Bewirken. Unsere Philosophie: Je einfa-cher das Helfen, desto mehr Menschen machenmit. Denn gemeinsam können wir viel erreichen– also erzählt Euren Freunden von der Aktionoder teilt sie in sozialen Netzwerken.

    Am 4. Februar steigt übrigens wieder eine fetteSpendenparty von OWW, diesmal wird im»Prinz Charles« in der Prinzenstraße 85f, 10969Berlin abgefeiert. Freut Euch schon mal auf tolleLive-Acts!

    Spenden könnt Ihr auf www.onewarmwinter.org, damit macht Ihr Essens- und Kleiderausga-ben für Obdachlose und Flüchtlinge möglich.#onewarmwinter #daslebenistkeinubahnhof#homestreethome

    S o z i a l

  • 8/20/2019 Glück - Ausgabe 1 2016 des strassenfeger

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      strassenfeger | Nr. | Januar | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Der Steinbruch BotticelliDie Ausstellung »The Botticelli Renaissance« versucht, den Einfluss des FlorentinerMalers auf die Kunst der letzten 200 Jahre zu beleuchten und zeigt, dass seine Sujets

    und Motive auch von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern aufgegriffen,angeeignet oder auf heutige Art interpretiert werden.R E Z E N S I O N & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Zwei Schaufensterpuppen, die eine trägt ein ge-mustertes Sommerkleid, die andere einen gleichgemusterten Hosenanzug, beide Kleidungsstü-cke sind mit dem Etikett einer teuren italieni-schen Modeschmiede versehen, verharren auf

    dem weißen Podest in der Mitte des ersten Saals. An den Wänden ist zeitgenössische Kunst, vor allem die zwischen1990 – 2015 entstandenen Bilder und Fotografien zu sehen.

    Nur ein Bild fällt aus dem Rahmen, obwohl es sehr schön undaufwändig gerahmt ist: ein altes Bild, das frischer und anre-gender wirkt, als viele der neuen, die es aufgreifen, variieren,persiflieren, verfremden, interpretieren und es in die Gegen-wart überführen. Doch die nackte Schönheit mit dem Ala-basterleib und den goldenen Haaren, die so lang sind, dass siedamit ihren Venushügel keusch verhüllt, scheint das nicht zuinteressieren. Sie ist in sich gekehrt, melancholisch, verträumtund abwesend, obwohl sie eine starke körperliche Präsenz hatund wie eine Skulptur anmutet. Die 1490 vom FlorentinerMaler Sandro Botticelli mit Tempera auf Leinwand gemalte»Venus«, die antike Göttin der Liebe, ist eines seiner bekann-

    testen Werke, eine Ikone, die gleichermaßen vonder Kunstwelt, Mode und Popkultur verehrt,verarbeitet und manchmal auch verzerrt wird.

    N a c h 3 0 0 J a h r e n w i e d e r e n t d e c k tDie Ausstellung »Botticelli 2015 – 1445. TheBotticelli Renaissance« ist etwas ungewöhnlich,denn sie beginnt à rebours: am Anfang ist das

    Ende der Schau, am Ende der Anfang. Sie feiertdie »Renaissance« eines Renaissancekünstlers,der sich zu Lebzeiten einer großen Popularitäterfreute, dann vergessen und erst im 19. Jahr-hundert wiederentdeckt und zu einer Inspirati-onsquelle für Künstler der Moderne und Postmo-derne wurde. Die über 150 Arbeiten umfassendeSchau, worunter sich 50 Gemälde von Botticellibefinden, zeigt anhand von Werken, welche sichdirekt oder indirekt auf den Alten Meister ausFlorenz beziehen, seinen Einfluss auf die euro-päische und außereuropäische Kunst der letz-ten 200 Jahre. Während im ersten und zweitenAusstellungsaal Botticellis Rezeptionsgeschichteerzählt wird, ist der dritte Saal ausschließlich sei-

    nem Œuvre gewidmet. Auf schwarz verkleideten Wänden hängen seine berühmten Madonnen,Heiligenbilder und Porträts der Adeligen. Wasfehlt, ist »Der Frühling« (1477 – 1482) und »DieGeburt der Venus« (1482 – 1485), zwei Meister-werke und Kultobjekte, deren Motive und Or-namente die Fantasie der Nachwelt am meisten,sozusagen nachhaltig beflügeln. Doch sie befin-den sich auf Dauer in den Uffizien in Florenz unddürfen nicht auf Reisen gehen.

    A n d a c h t s b i l d e r , P o r t r ä t s ,w e i b l i c h e A k t eDer Mann, der sich als Künstler Sandro Botti-celli nannte, war ein vielseitiger und gefragterMeister seines Fachs. Er malte Andachtsbilder,Porträts schöner Frauen und mächtiger Männersowie Geschichten aus der Mythologie. »Überall

    Blick in die Aussellung The Boticelli Renaissance

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    strassenfeger | Nr. | Januar TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    in der Stadt schuf er eigenhändig für verschie-dene Häuser Rundbilder und eine Reihe vonweiblichen Akten, von denen zwei heute nochin Castello sind, einem Landsitz von Herzog Co-simo: Das eine zeigt die Geburt der Venus und

     jene Lüfte und Winde, die sie zusammen mit denAmoretten an Land treiben, das andere eine wei-tere Venus, die von den Grazien mit Blumen ge-

    schmückt wird, was den Frühling anzeigen soll,alles mit sichtlicher Anmut von ihm zum Aus-druck gebracht«, schrieb über Sandro Botticellider Florentiner Architekt, Hofmaler der Medici,Biograf italienischer Künstler und somit einerder ersten Kunstkritiker, Giorgio Vasari (1511– 1574), in seinem Werk »Das Leben der aus-gezeichnetsten italienischen Architekten, Malerund Bildhauer«, das 1550 erschien und worin erals Erster den Begriff »rinascita«, Renaissance,also Wiedergeburt verwendete.

    B o t t i c e l l i u n d s e i n e H e l f e rDoch ob Botticelli diese Rundbilder und weib-liche Akte wirklich »eigenhändig« schuf, ist

    nicht so ganz sicher, denn mit Ausnahme ei-nes Gemäldes und einer Zeichnung sind seine Werke nicht s igniert. Sandro Botticelli, der alsAlessandro di Mariano Filipepi am 1. März 1445in der Familie eines Florentiner Lohgerbers aufdie Welt kam, eröffnete bereits als 25-jährigereine eigene Werkstatt. Da er von den Medicigefördert wurde, die zu seinen wichtigstenund treuesten Auftraggebern gehörten, hatteer ein gutes und sicheres Einkommen. Er wardurchaus ein moderner und geschäftstüchtigerKünstler, denn viele seiner Bilder, darunter dasPorträt des 1478 bei einem Attentat ermorde-ten Giuliano di Piero de´ Medici, wurden inmehreren, seriell gefertigten Versionen, ausge-führt. Auch seine Bilder wurden nicht nur vonihm selbst in seiner Werkstatt gemalt. Wie vielBotticelli ist in einem Botticelli wirklich drin,

    ist ein Problem für Kunsthistoriker und für dieForschung. Ist ein Original wirklich ein Origi-nal oder ist es das Werk von vielen anonymenHandwerkern, deren Namen wir nie erfahrenwerden? Bei dem Betrachten dieser Bilderspielt das keine Rolle, auch wenn auffällt, dasssie nicht immer richtig proportioniert zu seinscheinen, denn die Fersen und die Hände der

    weiblichen und männlichen Figuren sind anmanchen Stellen etwas zu lang oder zu klobigund die Beine etwas zu kurz geraten. Geradedadurch, dass sie nicht makellos sind, wirkensie authentisch, verletzlich, einfach menschlich.

    G u t f ü r B i l d e r u n d K l e i d e rBotticelli, der im letzten Jahrzehnt seines Le-bens laut Vasari nicht mehr malen konnte undals armer Mann am 10. Mai 1510 in seiner Hei-matstadt starb, wurde dreihundert Jahre nachseinem Tod als ein Mythos wiedergeboren. Un-abhängig davon, wer die ihm oder seiner Werk-statt zugeschriebenen Gemälde geschaffen hat,ist ihre Wirkung kolossal. Sie drückten der Kunst

    des 19. und 20.Jahrhunderts ihren Stempel auf,beeinflussten die Werke der Präraffaeliten, desSymbolismus, Jugendstils, Surrealismus, diegestrige und heutige Pop Art. Botticellis Motivesieht man bei Dante Gabriel Rossetti, EdwardBurne-Jones, Gustave Moreau, Salvadore Dalí,René Magritte, Andy Warhol, Robert Rauschen-berg, Cindy Sherman und vielen anderen, wo-bei die Porträts der schönen Damen, die Engel,Nymphen und vor allem seine Venus und Floraliebend gern zitiert und zu der eigenen Zeitpassend mal gar ernst, mal augenzwinkernd zuetwas Neuen verarbeitet werden. Die luftigenund reich verzierten Kleider, in die Botticelliseine Göttinnen hüllte, waren und sind für dieModewelt ein Segen. Legendär sind die botticel-liesken Abendroben von Elsa Schiaparelli undAlexander McQueen. Plakativ und effekthasche-

     INFO

    »The Botticelli Renaissance«

    Noch bis zum 24. Januar in der Ge-mäldegalerie – Saaliche Museenzu Berlin

    Kulurorum Mathäikirchplaz,10785 Berlin

    Öffnungszeien: Di – Fr 10 – 18 Uhr,Do 10 – 20 Uhr, Sa – So 11 – 18 Uhr

    Einrit: 14 / 7 Euro

    › www.boicelli-renaissance.de

    risch muten dagegen das Sommerkleid und derHosenanzug von Dolce & Gabbana an, die auseinem mit Fragmenten aus der »Geburt der Ve-nus« bedruckten Stoff genäht wurden: Geradegut genug für einen Auftritt von Lady Gaga.

    D r e i G r a z i e n i n e i n e r F e l g eDas Werk von Botticelli ist ein Steinbruch, aus

    dem sich viele bedienen. Manchmal ist die Neu-interpretation eines beliebten Sujets ein Hoch-glanzkitsch, wie auf den C-Prints des gefragtenFotografen David LaChapelle zu sehen. Kunst,Kitsch und Kommerz sind heute nicht mehr zutrennen. So liegt vor dem Eingang zur »Botti-celli Renaissance« ein rundes Ding auf einemPodest. Es ist kein Tondo. »Botticelli ist zumMarkenzeichen geworden. Er steht für italie-nische Eleganz. Es wundert daher nicht, dasssogar eine Leichtmetallfelgen-Serie unter demNamen ›Botticelli‹ existiert. Die im Zentrum derSpeichen eingesetzte Diamantform ist an eineBrosche angelehnt, die eine der drei Grazien inBotticellis Gemälde ›Primavera‹ (Frühling) in

    den Uffizien, Florenz, trägt«, klärt die Websiteder Ausstellung auf.

    Blick in die Aussellung The Boticelli Renaissance

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      strassenfeger | Nr. | Januar | TAUFRISCH & ANGESAGT I N S P

    »Der Obdachlosigkeit Jugendlicher kann ein

    Ende gesetzt werden«Prinz William im Exklusivinterview für die sozialen StraßenzeitungenI N T E R V I E W : S o p h i a K i c h o u | Ü B E R S E T Z T : Tr a n s l a t o r s W i t h o u t B o r d e r s / I r e n a B o e t t c h e r | M I T F R E U N D L I C H E R G E -N E H M I G U N G V O N I N S P N E W S S E R V I C E w w w . I N S P. n g o / T h e B i g I s s u e

    I

    n diesem exklusiven Interview mit der Obdachlosen-zeitung »The Big Issue UK« erklärt Prinz William,warum es für ihn eine ganz persönliche Sache ist, derObdachlosigkeit Jugendlicher ein Ende zu setzen. DerPrinz hat auf der Straße übernachtet, um die britische

     Wohltätigkeitsorganisation »Centrepoint« bei ihren Bemü-

    hungen zu unterstützen, das Bewusstsein der Gesellschaftfür Obdachlosigkeit zu stärken.

    Der Herzog von Cambridge ist ein vielbeschäftigter Mann.Er arbeitet als Vollzeit-Pilot für die »East Anglian Air Am-bulance«, stationiert am Flughafen Cambridge. Darüber hi-naus hat er die verschiedensten königlichen Pflichten zu er-füllen und engagiert sich in großem Umfang ehrenamtlich.Unter anderem ist er Schirmherr von »Centrepoint«, einerbritischen Wohltätigkeitsorganisation, die führend ist, wennes heißt, sich um obdachlose junge Menschen zu kümmern.Bezeichnenderweise war dies die erste Schirmherrschaft, dieer im Jahr 2005 wählte. Dies ist ein Anliegen, das auch seinerMutter, der verstorbenen Prinzessin Diana, sehr am Herzenlag. Sie war ebenfalls Schirmherrin von »Centrepoint«. Im

    Dezember 2009 übernachtete Prinz William eine Nacht langmit einem Schlafsack in der Nähe der Blackfriars Bridge inLondon. Dies geschah im Rahmen einer Aufklärungsinitiativevon »Centrepoint«. Er wollte sich dadurch eine Vorstellungvon den harten Bedingungen verschaffen, mit denen obdach-lose Jugendliche zu kämpfen haben.

    Sophia: Was macht Ihr Job? Wie ist das, einen Hubschrauberzu fliegen?

    Prinz William: Nun, es ist jedenfalls viel einfacher, alsein Journalist zu sein (lacht). Ich genieße meine Zeit bei derAir Ambulance sehr – es ist fantastisch. Ich arbeite mit her-vorragenden Leuten zusammen, und die medizinische Seiteder Arbeit fasziniert mich. Bei uns arbeiten einige der bestenÄrzte der Welt, und es ist bewegend zu sehen, wie sie Lebenretten. Das Gefühl, dass ich dazu etwas beitragen kann... AmEnde eines Tages spüre ich einfach, dass ich etwas Lohnen-des getan habe.

    Sie haben »Centrepoint« im Laufe der Jahre oft besucht.Warum ist Ihnen gerade das Problem der Jugendobdachlo-sigkeit so wichtig?

    Ich glaube, das geht zurück auf die Zeit, als meine Mutterdie Rolle der Schirmherrin übernommen hat. Damals war ichnoch ein kleiner Junge. Die Menschen, mit denen ich dadurch

    in Berührung kam und das, womit sie zu kämpfen haben,haben mich sehr betroffen gemacht. Auf der Straße schlafenoder bei immer wieder neuen Bekannten auf dem Sofa über-nachten, ohne die Bequemlichkeiten auskommen müssen, diedie meisten von uns für selbstverständlich halten. Das hatmich in meinen jungen Jahren sehr geprägt. Für mich, der ichin einem Palast aufwuchs, war der Unterschied zum anderenEnde des Spektrums natürlich besonders gravierend. Ich sah,welchen großen persönlichen Herausforderungen diese Men-schen ausgesetzt waren, und wie sie damit fertig wurden. Daswar beeindruckend. In der heutigen westlichen Welt, mit allden Vorteilen und Privilegien, die wir genießen, ist es doch ge-radezu lächerlich, dass manche Menschen kein Bett und keinDach über dem Kopf haben.

    Sie sind vielen jungen Menschen begegnet, die eine Zeit derObdachlosigkeit hinter sich haben. Sind Ihnen dabei Ge-schichten ganz besonders im Gedächtnis geblieben?

    Es ist schwer, da einzelne Geschichten herauszupicken.Aber etwas, das mich lange Zeit sehr beschäftigt hat, daswar eine Begegnung mit einem Jungen aus Eritrea, dessengesamte Familie umgebracht worden war. Das war vielleichtder Moment, an dem ich den Tränen am nächsten war, vonall den Geschichten, die ich gehört habe. Seine Familie, sie-ben Menschen, war umgekommen, und er hatte jetzt nieman-den mehr auf der ganzen Welt, der auf ihn aufpasste. Aber»Centrepoint« war die Organisation, die ihm Unterstützungverschaffte und es ihm möglich machte, sein Leben neu auf-zubauen. Das hat mich gewaltig beeindruckt. Und es gibt soviele Geschichten wie diese.

    Meine Schwester und ich, wir waren noch sehr jung, als wirunsere Mutter verloren haben. Ich war damals acht, ein we-

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    strassenfeger | Nr. | Januar TAUFRISCH & ANGESAGT | I N S P

      DIE INTERVIEWERIN

    Sophia Kichou is 24 Jahre al und is im lezen

    Jahr ihres Sudiums der Publizisik an der CiyUniversiy in London. Ihre Muter sarb, als Sophiaach Jahre al war, und sie wuchs bei einer Tane inUganda au. Als sie 18 wurde, wolle sie in Londonbei ihrem Vaer bleiben, doch er bo ihr nich dassichere Zuhause, das er ihr versprochen hate.Sie musse es verlassen und übernachee ineinem Obdachlosenheim. Sie and Unersüzungbei »Cenrepoin« und begann an ihrem Traumzu arbeien, Journalisin zu werden. Mi einemBerich über Jugendobdachlosigkei gewann So-phia den »Breaking Ino News-Wetbewerb« desSenders ITV. Darüber hinaus war s ie Miglied des»Cenrepoin-Parlamens«, einer Gruppe jungerMenschen, die sich erolgreich ür die Erhalungvon Teilen der Bildungsbeihile einseze, eines

    Projekes ür Schüler mi Vollzeiunerrich.

    nig jünger als Sie beim Tod Ihrer Mutter. Beimeinem Vater konnte ich nicht leben. Alsowurde ich mit 18 obdachlos, zog von Ort zu Ort.Glauben Sie, dass die Menschen verstehen kön-nen, was jemand wie ich durchmachen muss?

     Was mich betrifft, so finde ich es unglaub-lich bewegend zu sehen, wie Menschen ihrepersönlichen Herausforderungen und die Wid-rigkeiten überwinden, mit denen Sie und anderezu kämpfen hatten. Genau das gibt mir auch dieZuversicht, dass wir mit diesem Problem fertig

    werden können. Ich glaube, wenn mehr Men-schen wüssten, was Sie und andere hinter sichhaben, und wie Sie es geschafft haben, Ihr Lebenin den Griff zu bekommen, könnten sie es auchbesser verstehen.

    Glauben Sie, wir können die Jungendobdachlo-sigkeit jemals besiegen?

    Ja, ich glaube, das ist ein Ziel, das wir er-reichen können. In England und Wales sind136 000 junge Menschen auf Notfallhilfe ange-wiesen. Von ihnen werden jedoch nur 16 000offiziell als obdachlos geführt. Das beweist,dass wir es hier mit einem enormen Problem zutun haben, mit dem wir uns noch immer nicht

    wirklich befassen. Es würde mir sehr gefallen,wenn das Land endlich aufwachen würde. Es istein komplexes, aber lösbares Problem. Davonbin ich überzeugt.

    2009 haben Sie eine Nacht lang in London aufder Straße geschlafen. Ich habe gehört, Sieseien beinahe von einem Kehrmaschinenfahr-zeug überfahren worden?

    Nun, das ist möglicherweise ein wenig über-trieben (lacht).

    War das schwierig? Hat es Ihnen die Realitätder Obdachlosigkeit gezeigt?

    Nein, die Realität konnte mir das nichtzeigen. Ich war überzeugt, es sei wichtig, eineNacht auf der Straße zu verbringen, aber ichkann nicht einmal im Entferntesten behaupten,

    ich wüsste, was es bedeutet, obdachlos zu sein.Schließlich konnte ich am Ende ja wieder zu ei-nem bequemen Bett zurückkehren. Es hat miraber durchaus vor Augen geführt, wie einsamman sich fühlen muss, wenn man jede Nacht soverbringen muss, und wie verletzlich man dabeiist. Ich hatte ja nun Polizeischutz und Seyi Ob-akin (den Geschäftsführer von »Centrepoint«)als Gesellschaft, während andere mit dem Risikovon Unterkühlung, Missbrauch und gewalttäti-gen Angriffen zu kämpfen haben.

    Die Erfahrung hat also gewissermaßen Ihr Den-ken auf das Problem konzentriert?

    Ja, es hat meine Gedanken darauf gerichtet,wie verzweifelt junge Menschen sein müssen,wenn sie das durchmachen, und auf einige derMethoden, die sie möglicherweise einsetzen,um ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Sieverletzen sich selbst, damit sie ins Krankenhausaufgenommen werden, sie begehen Straftaten,um ins Gefängnis zu kommen. Wenn junge Men-schen dazu bereit sind, müssen wir dringend et-was dagegen unternehmen.

    Haben Sie den Eindruck, es seien Fortschritte

    erzielt worden, wenn es um die Obdachlosig-keit Jugendlicher geht?Ich denke schon. Ich habe, wenn ich ehrlich

    bin, Höhen und Tiefen gesehen. Zuerst hattenwir – bei »Centrepoint« und einigen anderenObdachlosenorganisationen – das Gefühl, wirhätten einen Überblick darüber, wie umfang-reich das Problem ist, und dass wir es angehen.Doch in den letzten Jahren wurde das Problemimmer schlimmer. Die Organisationen sind amRande dessen angekommen, was sie leisten kön-nen. Dennoch glaube ich noch immer, dass wirdas Problem der Jugendobdachlosigkeit besiegenkönnen. Der Schlüssel dazu ist es, früh einzu-greifen. Je früher wir die Probleme dieser jungenMenschen angehen, desto wahrscheinlicher istes, dass wir ihnen die Möglichkeit geben können,sich eine eigene Zukunft aufzubauen.

     Sophia Kichou und Prince William im Kensingon Palace, 24. November 2015 (Foos: The Big Issue/Louise Haywood-Schieer)

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      strassenfeger | Nr. | Januar | TAUFRISCH & ANGESAGT B r e n n p u n k t

    Geschafft!Mit großem Aufwand ist es möglich geworden,dass Anna in ihrer Wohnung bleiben darf B E R I C H T : J a n M a r k o w s k y | F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k © V G B i l d - K u n s t

    Ich habe mit Anna viele Stunden verbracht.Ich habe sie begleitet. Zur Hausverwaltung,zum Jobcenter, zum Sozialamt, zum Fach-arzt. Anna ist schwer krank, und es drohte

    ihr die Obdachlosigkeit. Die Krankheit siehtman ihr nicht an. Sie ist eine lebenslustige ältereDame, die immer fröhlich wirkt. Ich habe Rönt-genaufnahmen gesehen, die zeigen, wie schwererkrankt sie wirklich ist. Anna ist vor vielen Jah-ren aus Polen nach Berlin gekommen und hathier viele Jahre gearbeitet.

    D e r e r s t e S c h r e c k :D i e W o h n u n g i s t g e k ü n d i g tAnna suchte die soziale Beratung des Vereins»Unter Druck« auf, weil ihre Wohnung gekün-digt wurde. Sie hatte jahrelang zur Untermietegewohnt, und der Hauptmieter hatte nun den Ver-trag gekündigt. Er hat es unterlassen, sie zu ver-ständigen. Sie lebte viele Jahre mit einem Lands-mann in einer Wohngemeinschaft. Der hat eine

    Frau gefunden und die alte Wohnung gekündigt.Damit sie nicht auf der Straße schlafen muss, hater eine Wohnung gemietet und sie als Untermie-terin aufgenommen. Mit der neuen Kündigungdrohte ihr das. Der erste Versuch ist die Umwand-lung des Untermiet- in einen Hauptmietvertrag.

    D i e O d y s s e e b e g i n n t : B e s u c h b e i d e rH a u s v e r w a l t u n g u n d d i e F o l g e nIch begleite Anna zum zuständigen Büro einergroßen kommunalen Wohnungsbaugesellschaft.

     Wir erfahren, dass die Wohnung zur Neuver-mietung ausgeschrieben ist und für Anna alsEmpfängerin sozialer Transferleistungen nichtinfrage kommt. Die Vorstellungen für die Miete

    lassen das nicht zu. Was nun? So schnell gebeich nicht auf. Erst einmal zurück zu »UnterDruck«, nach einem Ausweg suchen, beratschla-gen. Die rettende Idee kommt schnell: Brief andie Geschäftsführung und Unterstützung ausder Kommunalpolitik sichern. Also Name derGeschäftsführung ermitteln, den Sachverhaltaufschreiben, den Brief unterschreiben undabsenden. Dann dem Stadtrat den Sachverhaltschildern und um Unterstützung bitten. ZweiTage später ein Anruf aus dem Bezirksamt.Die Mitarbeiterin hat ein paar Fragen. Die sindschnell beantwortet. Der Stadtrat wird Anna unduns mit einem Schreiben an die Wohnungsbau-gesellschaft unterstützen. Ein Lichtblick.

    Einige Tage später kommt Anna in den Treff-punkt. Sie ist glücklich, sie hat ein Mietangebot

    von der Hausverwaltung erhalten. Ich sehe mirdas Angebot an und sehe sofort, dass es über derGrenze für Bezieher sozialer Transferleistungenin Berlin liegt. Ich erinnere mich an eine Zu-

    sammenkunft mit dem für Leistungsabteilungzuständigen Mitglied der Geschäftsführung desJobcenters, der mir versprach, angesichts desangespannten Wohnungsmarkts in dem Bezirkgroßzügig zu entscheiden. Das kann ich hiertesten. Anna nennt Termin und Uhrzeit, und ichsage ihr mein Kommen zu.

    D i e O d y s s e e s e t z t s i c h f o r t :K e i n S p i e l r a u m . . .Ich bin zum vereinbarten Termin ein paar Mi-nuten eher da. Die Anschlüsse beim Umsteigenhaben ausnahmsweise super geklappt. Annakommt mit Fahrrad und hatte einige Probleme.Sie ist aber früh genug da. Also in der Warte-

    schlange anstehen. Wir sind dran. Die Mitarbei-terin im Eingangsbereich will das einfach weiter-leiten. Ich interveniere und bestehe auf Klärungam gleichen Tag. Ein kurzes Telefonat zur Mitar-beiterin, und wir werden zur Leistungsabteilungdurchgelassen. Jetzt heißt es erst einmal warten.Endlich wird Anna aufgerufen. Die Mitarbeite-rin ist wirklich nett und bemüht. Sie kann dasaber nicht genehmigen. Die Differenz zur vomSenat erlaubten Summe ist zu hoch. Sie telefo-niert noch mit der Hausverwaltung. Die siehtkeinen Spielraum für eine Minderung der Miete.Das aktuelle Angebot enthält bereits einen or-dentlichen Nachlass gegenüber der ursprüngli-chen Vorstellung. Wirklich nichts zu machen.Ehe sie den Negativbescheid erstellt, werde ichgefragt. Ich will das Verfahren offen lassen undmöchte mit dem Teamleiter sprechen. Das hat

    nichts mit Misstrauen zu tun. Nur die Kompe-tenzen der Mitarbeiterin im Jobcenter sind be-schränkt. Nach kurzer Wartezeit sind Anna undich im Büro des Teamleiters. Der wiederholt die

    Argumente seiner Mitarbeiterin. Ich antwortemit der Bemerkung seines für die Leistungsab-teilung zuständigen Mitglieds der Geschäftsfüh-rung des Jobcenters. Wir sprechen noch kurzüber den Begriff der Angemessenheit und überdie schwere Erkrankung und die damit verbun-denen Einschränkungen für die Wohnungssuchevon Anna. Ich gehe mit der Empfehlung, beimSozialamt vorzusprechen. Das Jobcenter arbeitein Einzelfällen mit dem Sozialamt zusammen,und wenn dieses Amt die Übernahme im Einzel-fall befürwortet, wird die Miete vom Jobcenterübernommen. Die Kosten für Unterkunft undHeizung werden vom jeweiligen Bezirk über-nommen, sind für das Jobcenter durchlaufende

    Posten. Das Votum des Sozialamts macht (neu-deutsch gesagt) Sinn.

    P i n g p o n g i m S o z i a l a m tAlso auf in das Sozialamt. Wir warten im Flur.Die wenigen Stühle sind besetzt. Wir müssenuns auf eine lange Wartezeit einrichten. DieTüren der Amtszimmer öffnen sich selten, undnach einiger Zeit stelle ich fest, viele öffnen sichgar nicht. Die Sprechzeit ist fast zu Ende, dasind wir dran. Die Mitarbeiterin verteilt nochzwei Wartemarken, dann dürfen wir den Raumbetreten. Anna erzählt und reicht ihre Unterla-gen. Sie erzählt von ihren erfolglosen Bemü-hungen, eine andere Wohnung zu finden. Sieerzählt auch von ihren Schwierigkeiten mit demSteigen von Treppen. Ich ergänze Annas Berichtund höre zu. Ich habe ein gutes Gefühl. Nur eine

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    strassenfeger | Nr. | Januar TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Anmerkung zum Alter des Gutachtens vomFacharzt. Die Mitarbeiterin im Sozialamt sagtuns eine Stellungnahme bis nächster Woche zu.Die will sie ans Jobcenter schicken. Mit gutem

    Gefühl gehen wir auseinander. Auf dem Flurvereinbaren Anna und ich den Termin für dasJobcenter. Wir sind da und werden auch wiedergleich in die Leistungsabteilung durchgelassen,müssen dieses Mal nicht lange warten. Wirwerden kurz abgefertigt: Die Stellungsname istnoch nicht da, die Kollegin im Sozialamt nichterreichbar. Das war umsonst. Schon am nächs-ten Tag ist Anna bei »Unter Druck«. Die Haus-verwaltung wird unruhig. Wir schreiben derMitarbeiterin vom Vermietungsbüro, dass derAntrag noch nicht entschieden ist und bitten umGeduld. Tage später der Anruf von Anna: DieStellungsname ist da, Termin beim Jobcenterist mündlich vereinbart, wird ihr per Post zuge-

    sandt. Ich notiere mir den Termin.Ich bin fast pünktlich da, Anna wartet schon. Wirsind rechtzeitig genug oben. Dieses Mal ist es eineandere Kollegin, nicht so nett, nicht so zugänglich.Anna erhält den Ablehnungsbescheid. Die Mitar-beiterin im Jobcenter bügelt jeden Ansatz der Dis-kussion ab. Ich erkläre meinen Widerspruch, dannfällt die Tür zu. Von innen. Mir ist klar, dass esan der Stellungnahme lag. Mit dem Widerspruchwollte ich das Verfahren offen halten.

    E i n ä r z t l i c h e s G u t a c h t e n m u s s h e r Wir schicken von »Unter Druck« aus einenneuen Hilferuf an den Stadtrat. Unser Ruf wirderhört, und Anna erhält einen neuen Termin imSozialamt. Am vereinbarten Termin muss ichkurz auf Anna warten. Wir sind rechtzeitig da,

    müssen warten. Aber nicht lange, da öffnet sichdie Tür, und wir werden hinein gebeten. DieMitarbeiterin im Amt redet von öffentlichenGeldern und macht auf die relativ große Über-

    schreitung der Werte aufmerksam. Mir ist dasbekannt. Nur weiß ich um den Wohnungsmarkt,und im SGB II steht das Wort »angemessen«,und wenn wirklich keine anderen Wohnungenzu finden sind, ist… Ich verkneife mir vomSchloss oder vom Einzelzimmer im Adlon zureden. Stattdessen erwähne ich erneut »schwererkrankt«. Da meldet sich Anna und sprichtüber ihre Schwierigkeiten, sich zu bewegen.Die Wohnung im Erdgeschoss sei für sie maß-geschneidert, und sie habe einen Garten, der siezu leichter Bewegung in frischer Luft animiere.Sie brauche leichte Bewegung, könne aber nichtTreppen steigen. Die Mitarbeiterin erwähnt mirgegenüber »Besonderheiten des Einzelfalls«, die

    gewürdigt werden müssen. Die schwere Erkran-kung sehe ich als solchen. Sie sei kein Facharzt,sagt die Mitarbeiterin, sie brauche für ein posi-tives Votum ein hieb- und stichfestes Gutachtenvon einem Facharzt. Das Gutachten, das Annavorgelegt hat, reiche nicht aus und sei nicht ak-tuell. Sie sagt uns noch, welche Sätze in demGutachten für ein positives Votum neben derDiagnose stehen müssen: »Umzug nicht zumut-bar.«, »Treppensteigen nicht zumutbar.« End-lich: Anna hat reelle Chancen, in ihrer Wohnungzu bleiben, wenn der Facharzt mitspielt. Fach-ärzte achten in ihren Gutachten nicht immer aufdie speziellen Anforderungen der Behörden. Ichwerde auch hier mitgehen.

    Der Facharzt untersucht sie und stellt erst ein-mal eine Überweisung zum Radiologen aus. Ein

    Facharzt braucht gute und aktuelle Bilder. Derzweite Termin ist der entscheidende. Die Bilderzeigen dem Facharzt, der Zustand von Annahat sich auf keinen Fall verbessert, sondern ver-

    schlechtert. Der Arzt stellt ein Rezept aus, daerinnere ich ihn an das Gutachten für das So-zialamt. Obdachlosigkeit würde der GesundheitAnnas nicht grade förderlich sein. Er versprichtsich zu kümmern, und ich sage noch die Sätze,die das Gutachten für das Amt unbedingt ent-halten muss. Er macht sich Notizen, geht mit vorzur Aufnahme und gibt dort die entsprechendenAnweisungen. Das Rezept kann die Schwesterausstellen, aber kein Gutachten, das dem Amtvorgelegt werden kann. Der Arzt wird gerufen,und der versucht einige Minuten, das Gutachtenauszudrucken. Vergebens. Computerpanne. DieSchwester ruft die Fachfirma an und erhält denTermin für die Reparatur. Anna kann die letzten

    Schritte allein gehen. Sie holt das Gutachten abund fährt damit zum Sozialamt. Wenige Tagespäter hat sie Post vom Jobcenter: Zusage. Ab-gabe bei dem örtlich zuständigen Büro der Woh-nungsbaugesellschaft und dann die Unterschriftunter dem Mietvertrag. Geschafft.

    F a z i tAnna konnte in ihrer Wohnung bleiben. Sie hat esdank Unterstützung geschafft. Viele »Kunden«der Jobcenter haben nicht diese Möglichkeit. Bisauf die entgegenkommende Mitarbeiterin imJobcenter wurde mehr Wert auf Verhinderungeiner Überzahlung als auf die Verhinderung vonObdachlosigkeit gelegt. In der Regel wird derbedürftige Mensch allein gelassen und landet inder Obdachlosigkeit. Für einen Sozialstaat istdas sehr beschämend.

     Jan Markowsky: Kompeen und engagier.

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      strassenfeger | Nr. | Januar | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    LESUNG

    Unterstützung für Ashraf Fayadh

    Das internationale literaturfestival berlin (ilb) hat Menschen,Institutionen, Schulen und Medien, denen Freiheit undBürgerrechte wichtig sind, zur Teilnahme an einer weltweitenLesung von Gedichten und Texten zur Unterstützung fürAshraf Fayadh aufgerufen. Ashraf Fayadh, ein 35-jähriger, inSaudi Arabien als palästinensischer Flüchtling geborenerDichter und Kurator, ist von einem saudischen Gericht imNovember 2015 u.a. wegen des Abfalls vom Glauben zumTode verurteilt worden. Die weltweiten Lesungen finden seit2006 statt, u.a. wurde bereits für für Pussy Riot und EdwardSnowden gelesen. Ein Ort der Lesungen am 14. Januar wirdin Berlin das »HAU Hebbel am Ufer« sein.

    14. Januar, 19:30 Uhr – Eintritt frei

    HAU Hebbel am Uer 2Sresemannsraße 2910963 Berlin

    Ino: www.worldwide-reading.com

    KINO

    »Leviathan«Der korrupte Bürgermeister einerrussischen Kleinstadt tut alles, umdem Mechaniker Nikolai sein ander Barentssee gelegenes Landstückabzujagen. Stur kämpft Nikolaigegen die Repressionen, dochkommt er nicht gegen das Unge-heuer aus Nomenklatura undKlerus an. Eine moderne, inüberwältigenden Bildern erzählteVariante der Hiobsgeschichte.

    International wurde Leviathan mitPreisen überhäuft, in der russischenHeimat des Regisseurs AndrejSwjagizew stark kritisiert und indeutschen Kinos bislang zuUnrecht übersehen. Der Film ausdem Jahr 2014 wird im PotsdamerFilmmuseum im Original mitUntertiteln gezeigt.

    16. 01., 21:15 Uhr, 23. 01, 19 Uhr

    Einrit: 6 Euro, emäßig 5 Euro

    Filmmuseum PosdamBreie Sraße 1A14467 Posdam

    Ino: www.filmmuseum-posdam.deFoo: Promo Verleih

    FÜHRUNG

    Zuses ComputerKonrad Zuse gilt als der Erbauer desersten Computers der Welt. Seine inden Jahren 1936 bis 1941 erbautenPrototypen Z1 und Z3 wurden imZweiten Weltkrieg zerstört. KonradZuse selbst sowie sein Sohn HorstZuse haben Nachbauten dieserMaschinen angefertigt, die einbeeindruckendes Zeugnis von denAnfängen des Computers ablegen.

     Während der Nachbau der mechani-schen Z1 bereits seit vielen Jahren imTechnikmuseum in Berlin zu sehen ist,ist der Nachbau der elektronischen Z3nur für einige Zeit hier zu sehen.Professor Horst Zuse, Konrad Zusesältester Sohn, wird den Besuchern dieMaschine persönlich vorführen.

    17. Januar, 11 Uhr

    Kosen: Museumseinrit: 8 Euro,4 Euro (ermäßig)

    Keine Voranmeldung erorderlich

    Deusches TechnikmuseumTrebbiner Sr. 9

    10963 Berlin-KreuzbergIno: www.sd