Andrea Jennert - La Mer - Die Liebe der Emma Debussy

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Andrea Jennert

La MerDie Liebe der Emma Debussy

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbarIm Herbst 2011 erschien die 1. Auflage als Hardcover mit Schutzumschlag in der Plöttner Verlag GmbH & Co.KG.

Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Jonas Pöttner Verlag UG, 2013, Leipzig

2. Auflage

Klappenbroschur (korrigierte Fassung)

ISBN 978-3-95537-029-9

Satz: Plöttner VerlagUmschlaggestaltung: Walter Melzner,unter Verwendung eines gemalten Bildes von Andrea JennertE-Book: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.ploettner-verlag.de

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Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz,wie ein Siegel auf deinen Arm.Denn Liebe ist stark wie der Todund Leidenschaft unwiderstehlich …

Das Hohelied Salomos 8,6

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Blumen

Paris lag hell in der Sonne. Das neue Jahrhundert war erst wenige Jahre alt. Hoffnung und Fliederduft verbanden Häuser und Himmel. Nach dem langen Frost hatte der Mai alle Blüten an Bäumen und Sträuchern gleichzeitig geöff-net. Das tägliche Treiben auf Plätzen, Straßen und Märk-ten war wieder laut geworden. Händler priesen Waren an, Kinder spielten, Räder von Kutschen rappelten auf dem Pflaster, Pferdebahnen und vereinzelte Automobile fuhren vorbei. Hupen und Klingeln, Schritte und Stimmen, Musik aus offenen Fenstern, Geigen und Flöten vor Notre-Dame klangen zusammen als eine Sinfonie. Die Stadt komponier-te sich neu auf den Notenlinien ihrer Straßen.

Die Spitze des Eiffelturms stach ins flirrende Licht. Für die Weltausstellung vor fünfzehn Jahren gebaut und nicht wieder abgerissen wie vorgesehen, hatten ihn die Pariser ins Herz geschlossen, ein für allemal. Durch den leichten Wind flogen Spatzen und Meisen, Elstern und Amseln. Die Wän-de der Häuser rochen nach Sommer und warmem Stein.

Emmas Hut schwebte in Schulterhöhe der anderen Pas-santen. Ihr goldbraunes Haar hatte die gleiche Farbe wie ihr Kleid, mit einer Spur Kupfer darin. Die moosgrünen Strei-fen in der Seide fanden sich an Hut und Ärmeln als Samt-bänder wieder. Sie komponierte ihre Kleidung gern wie ein Gemälde, die Farben passten zu ihrer Stimmung wie der Hut zu ihrem Kleid, die Form so vollendet, dass sie sich gut darin bewegen konnte. Ihr Gang war aufrecht. Zielstrebig ging sie über den Markt Ile-de-la-Cité in Richtung der Far-ben, die weithin leuchteten. Rittersporn in Weiß und Blau, lila Levkojen, Margeriten, gelbe und rote Tulpen, Narzissen, Pflanzen in Töpfen. Sie liebte den Platz auf der größeren

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der beiden Seine-Inseln, der sich vor der Kathedrale befand und sich mitunter bis zum Quai aux Fleurs erstreckte. Jede Woche probierte Emma zusammen mit einer der Blumen-frauen neue Farbvariationen aus. Mit geschlossenen Augen sog sie den Duft ein, er sollte harmonisch wirken, passend zum Anlass.

Freesien und Tulpen wählte sie für den Eingangsbereich, die Gäste sollten sich sofort wie in einem Garten fühlen. Rittersporn und Levkojen würden im Salon neben dem Flü-gel stehen. Zu Hause wollte sie dieses Bukett mit hellem Flieder aus dem Garten komplettieren. Sie bezahlte und zeigte dem Sohn der Blumenhändlerin, zu welcher Drosch-ke er die Sträuße bringen sollte.

»Madame! Sie haben das Kleine vergessen! Hier, bitte! Eine Nadel ist schon dran.«

Emma nahm der Frau den Veilchenstrauß aus der Hand und steckte ihn über der Brust fest. Der kleine Duft nur für sie selbst.

»Danke. Hier, das ist für Ihren Sohn.«Sie gab ihr etwas Kleingeld und ging dem Jungen nach. Aus einer entfernten Wohnung klang ein Präludium von

Bach auf die Straße, unterbrach an einer Stelle, begann von vorn, stoppte an der gleichen Stelle. Emma musste lächeln. So hatte es sich anfangs auch bei ihren Kindern angehört. Raoul und Dolly hatten mit kaum sechs Jahren zu spielen begonnen. Jetzt war Raoul dreiundzwanzig, studierte beim Maître Debussy am Conservatoire Klavier und Kompositi-on, und Dolly war zwölf, sie spielte die Suiten des Kompo-nisten Fauré, die er ihr jedes Jahr zum Geburtstag schenkte, fehlerfrei.

Dolly war Emmas zarte Muse. Ihre Berührungen waren wie Daunen auf der Haut. Und Gabriel Fauré würde auch

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heute Abend wieder dabei sein. Madame Bardacs Soirées wa-ren längst über Paris hinaus bekannt. In ihrem Haus trafen sich junge und ältere Künstler, Professoren und Studenten des Conservatoire. Sie spielten ihre neuesten Kompositio-nen, einer brachte den anderen mit, oder sie wurden von der Hausherrin auf Empfehlung eingeladen. Immer neue Talente erblickten bei Emma zum ersten Mal das Licht der Öffentlichkeit oder fanden Kontakt zu anderen Künstlern, Förderern oder Verlegern.

Emma liebte diese Abende.Die Pferde scharrten auf dem Pflaster, der Kutscher nahm

dem Jungen die Blumen ab. »Salut, Maman!«Emmas Sohn war einen Kopf größer als sie, dunkelhaarig

und hübsch wie ein Mädchen.»Raoul, was machst du hier?«»Ich treffe Maurice, er will mir etwas zeigen.«»Ah! Monsieur Ravel, er hat sicher wieder für ein paar bil-

lige Münzen eine chinesische Vase aus der Ming-Dynastie gekauft und hält sie dir als teures Erbstück unter die Nase.«

»Aber Maman! Lass ihm seine Marotte!«»Denkst du an heute Abend, Raoul? Bring ihn mit, den

Maurice, ohne Vase, dafür mit neuer Musik. Ich mag sie.«»Dann wird er zunächst allein kommen, ich habe noch

Unterricht.«»Bei Monsieur Debussy?«»Ja, Debussy.«Emma hatte Raouls Lehrer bereits fünfmal eine Einla-

dung geschickt. Er hatte weder geantwortet noch war er erschienen. Bei jedem anderen hätte sie nach dem zweiten Versuch aufgegeben. Er will nicht, nun gut. Hier war es an-ders. Die Musik dieses Menschen hatte sie bereits vor zehn

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Jahren in ihren Bann gezogen, als sie die Uraufführung des Faun hörte. Das Prélude à laprès-midi d´un faune. Der außergewöhnliche Flötenklang hatte ihr eine flirrende Som-merhitze vorgegaukelt, in welcher sich Pan samt Nymphen und Najaden räkelte. Diese Flöte hatte einen neuen Ton in ihr berührt: Sehnsucht.»So schade, dass er nicht kommen will.«

»Ich werde ihm verraten, dass du all seine Lieder auswen-dig singst.«

»Untersteh dich!«Raoul winkte und lief bereits in Richtung Sonne.Der Kutscher half Emma beim Einsteigen, er schloss

die Tür des Kastens, in dem sie plötzlich saß wie in einem Gefängnis.

Als sich ihre Hände über das abgesessene Polster beweg-ten, war es, als berühre sie damit ihr eigenes Alter.

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Soirée

Höflich und zugewandt stellte Emma ihre Gäste einan-der vor, sie lächelte und wahrte dabei achtungsvoll die zarte Distanz einer Gastgeberin. Sie legte ihre Hand auf Gabriel Faurés Unterarm, ihre Augen strahlten. Der Verleger Jacques Durand stand gern hinter dem bodentiefen Terrassenfen-ster, zog an seiner Zigarre und beobachtete die Gesten und Blicke der Anwesenden, und oft hatte Emma das Gefühl, auch sie würde so von ihm beobachtet.

Sigismond Bardac, Emmas Ehemann, aus Russland stam-mender Bankier und Besitzer eines Vermögens, war an die-sem Abend nur einmal kurz zu sehen. Sein blondes Haar ging bereits ins Grau, er begrüßte einige Gäste, höflich kor-rekt mit einem kleinen Lächeln, er begrüßte seine Frau mit einem Kuss auf die Stirn, verabschiedete sich gleich wie-der von ihr und zog sich zurück. Außer Durand bemerkte niemand, dass Emmas Ausstrahlung für diesen kurzen Mo-ment verschwand.

Sie drehte sich um und ging in den Musiksalon hinüber.»Sagen Sie, Mary«, hörte Emma einen Kritiker fragen,

»wie war das, als Sie mit Debussy die Mélisande einstudier-ten? Er soll sehr streng sein.«

Mary Garden hatte vor zwei Jahren die Premiere von Debussys Oper Pelléas et Mélisande gesungen und war seitdem mit dem Komponisten und seiner Frau befreun-det.

»Streng? Das ist gar kein Ausdruck! Furchtbar war er, ein kauziger Kerl! Wenn ihm eine winzige Kleinigkeit an mei-nem Gesang nicht passte, verließ er den Raum und kam nicht zurück. Voilà! Aber einem Genie gesteht man so et-was zu, nicht wahr?«

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Emma zweifelte plötzlich, ob sie diesen Menschen wirk-lich in ihr Haus wünschen sollte.»Unsere Studien waren zu Beginn wahrlich kurios. ›Sie sind die Sängerin?‹, fragte er mich, ›Sie wollen das singen?‹ Er nahm mich überhaupt nicht ernst!«

»Und was haben Sie getan?«»Getan? Ich hatte die Freundlichkeit, darüber hinweg

zu sehen und einfach gut zu singen. So gut, dass der Mei-ster mir zuliebe einige Anmerkungen in sein Manuskript schrieb!«

Sie zwinkerte.»Anmerkungen zur Interpretation. Aber das Netteste an

ihm ist seine Frau Lily, eine hübsche Schlanke mit einer Haut wie Alabaster, ein wirklich rührendes Wesen. So an-hänglich, arglos, naiv und vor allem hingebungsvoll. Nur wenn es darum geht, ihren Mann vor Störenfrieden zu be-schützen, wird sie plötzlich zur Walküre, die sich mit einem Besen in die Tür stellt und deklamiert:

›Mein Mann ist nicht zu Hause!‹›So? Aber ich höre ihn doch spielen?‹›Mein Mann ist nicht zu Hause!‹Und rums, schlägt Wotans Tochter dem ungebetenen

Gast die Tür vor der Nase zu. Sie können Emile Vuillermoz fragen, einen Studenten von Fauré. Er wollte Debussys Mit-wirkung bei einem avantgardistischen Konzert im Conser-vatoire erbitten.«

Und Mary erzählte, dass Lily und sie öfter auf dem Sofa gesessen und zugehört haben, wie Debussy auf dem Flügel improvisierte.

Ich beneide sie. Beide. Mary hat diesen genialen Geist seinen Himmel öffnen und hineingreifen sehen, hat erlebt, wie

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er durch seine Arme und Hände göttliche Musik fließen ließ, um sie dann wieder ins Universum entschwinden zu lassen, dem Himmel beim Schließen zuzuschauen und nichts davon aufzuschreiben. Und diese Lily, die wohl gar nicht verstehen kann, welch göttlicher Stunde sie beiwohnen durfte! Eine Verkäuferin in einem Damenatelier, sagt man! Wie kommt ein Meister wie Debussy zu einer so einfachen Frau? Braucht er es nicht, dass ihn seine Frau versteht, dass sie ihm folgen kann in seiner Arbeit? Will er nur bekocht und beschützt werden? Seine Musik ist so großartig, ich beneide jeden, der in seiner Nähe sein, ihm nur zuhören darf, wenn er spielt, aber was für ein Mensch ist er?

Emma ging Raouls Freund entgegen, der mit einigen No-tenblättern unter dem Arm den Raum betrat.

»Maurice! Wie schön, dass Sie gekommen sind! Wollen Sie unsere Runde heute Abend eröffnen?«

Emma begleitete den jungen Mann zum Flügel, bat um Aufmerksamkeit, begrüßte die Gäste mit all ihrem Charme und ließ sie Platz nehmen.

Der junge Maurice Ravel legte eine schlichte Melodie in den Raum, Pavane pour une Infante Défunte, ein Liebes- gedicht auf weinrotem Samt.

Stille, als er geendet hatte. Es war kaum zu glauben. Die-ser junge Kerl dort, Mitte Zwanzig vielleicht, und solch eine Musik! Das erste Klatschen kam von Emmas Sohn Raoul, der plötzlich neben ihr stand.

»Genial, oder? Er hat mich gefragt, ob er das spielen könne, ohne deine Gäste zu verscheuchen.«

»Er ist ja verrückt! Es war wundervoll!«»Ach ja, du hattest recht vorhin. Die Ming-Vase war in

diesem Fall ein Kerzenleuchter mit Juwelen.«

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Emma lächelte und nickte dem jungen Ravel zu. Ihr Blick ging durch den Raum. Es freute sie, die Anwesenden be-wundernd und staunend zu sehen.

Und dann sah sie ihn. Er stand vor dem Büfett, mit dunk-lem Anzug und dunklem großem Kopf, er bediente sich be-reits. Die Frau neben ihm, eine hellhäutige Schönheit, nicht kleiner als er, redete ängstlich auf ihn ein.

»Bitte, lass das liegen! Hier isst noch kein Mensch! Die essen erst später! Das gehört sich nicht! Bitte! Und nimm doch nicht das Beste sofort! Was wird Madame von dir denken! Du sollst doch einen guten Eindruck machen!«

Der Mann bediente sich weiter, während die Frau, größer als Emma und sehr schlank, um ihn herum hüpfte. Er wählte sorgsam aus dem Angebot und nahm von der Krönung der Sa-late die besonders schönen Erdbeeren einfach weg, legte, nein drapierte sie neben Spargel und Schinken auf seinen Teller.

Emma erkannte ihn an den Augen. Am dunklen Haar über diesem Schiffsbug einer Stirn, am dunklen Bart, die Statur untersetzt, aber nicht klein, diese Augen waren schwarze Magneten.

»Madame, Sie haben Geschmack. Was Sie hier zusammen- gestellt haben, erfreut meinen Gaumen schon beim Anblick. Ich konnte nicht umhin, die gedeckte Tafel bereits anzu-knabbern. Zu entjungfern sozusagen. Verzeihen Sie. Claude Debussy mein Name.«

Ich kann meinen Blick nicht von seinen Augen lösen. Und er schaut in keine andere Richtung, sieht mich an, ernst und dunkel. Ich spüre die gesamte Fülle seiner Musik, wie sie ihn durchrauscht, ihn niederschlägt, ihn wieder hoch-hebt, nur für die Musik ist er da, ihr Werkzeug seit dem Moment, in welchem sie ihre Hand nach ihm ausgestreckt hat.

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Und wenn sie müde wird, diese Hand, wenn sie erlahmt, ihn frei lässt für einen Moment, eine Stunde, eine Woche oder auch Monate, wie es ihr beliebt, dann, möglicherweise, kann er essen, charmant lächeln, die größten Erdbeeren für sich beanspruchen. Und er kann mich anschauen, mit diesen Augen.

Er nahm ihre Hand, zog sie an seine Lippen, deren Wär-me sie deutlich spürte. Er verbeugte sich etwas, Emma konnte auf seinen Scheitel sehen.

Sein Haar riecht nach Zigarrenrauch, süßem Kinderhaar und Gemüsesuppe, Kohlsuppe gar. Ich habe vergessen, dass er zwar bekannt ist, aber nicht viel damit verdient. Und das wenige, so hat Durand einmal erzählt, gibt er für die Kunst aus. Kupferstiche, Drucke, Aquarelle. Kleine Skulpturen. Madame hat die Löcher in der Haushaltskasse kunstvoll zu schließen. Mit Kohlsuppe.Ich habe nie Hunger kennengelernt. Oder mehrere Änderungen an abgetragenen Kleidern. Aber ein Mann, der seinen letzten Franc für die Kunst ausgibt, hat Leidenschaft, Tiefe. Über Weiteres will ich nicht nachdenken.Ich kann seinen Scheitel sehen, das dunkle Haar, das sich vor meinen Augen teilt.

Von diesem Moment an wollte sie nichts weiter, als ihre Hände darüber halten.

»Ich freue mich, dass Sie endlich meiner Einladung gefolgt sind, und ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in meinem Haus.«

Emma gab ihre Hand der Frau neben ihm. Lily nahm sie ganz anders als er, knickste beinahe bis zum Boden und berührte Emmas Hand nur wenig.

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»Ah, Maman! Ihr kennt euch bereits. Was sagst du nun? Ich habe ihn überredet! Madame Debussy wollte zuerst nicht mitkommen, aber ich sagte, Sie werden meine Mutter mögen!«

»Madame ist ganz reizend«, sagte Lily und traute sich kaum, Emma anzusehen.

Mary Garden nahm Lilys Arm und wollte sie sofort ent-führen.

»Ich passe auf, dass sie nicht verhungert.«Claude beobachtete alles um sich herum, aß langsam und

bewegte sich kaum. Seine Augen nahmen jede Bewegung wahr, jeden Blick.

Wenn er mich ansieht, verwirrt mich das, und ich weiß nicht, ob ich das will. Ich werde durchsichtig, unruhig, die Poren meiner Haut öffnen sich so plötzlich, dass es wie Wind durch meinen Körper zieht, ein Palast mit lauter offenen Fenstern, Wichtiges fliegt durcheinander, Türen schlagen zu. Vorhänge bewegen sich und den letzten Staub dahinter.

Als Emma glaubte, gleich zu zittern, wandte sie sich ab. Ging hinüber zu Fauré. Beruhigend, wie er über ihren Ell-bogen strich, die offenen Fenster wurden sanft angelehnt.

»Ich bin bereits länger mit Überlegungen die Scholastik im Conservatoire betreffend beschäftigt«, sagte er, »unsere Lehrverfahren müssten etwas aufgebrochen werden, um der Kreativität unserer Studenten mehr Freiheit zu gewähren. Andererseits bietet gerade die strenge Schule mit all ihrem Kontrapunkt und ihrer Theorie, mit Wettbewerben und Kompositionsübungen nach den altehrwürdigen Gesetzen eine hervorragende Möglichkeit, diese Gesetze zu lernen,

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um sie dann zu durchbrechen, hinter sich zu lassen und seinen eigenen Stil zu formen.«

»Meinen Sie wirklich«, ließ sich Mary Garden hören, »dass man erst nach alter Manier komponieren lernen muss, um seinen eigenen Stil zu finden? Meister Rodin hatte nie eine Ausbildung zum Bildhauer! Keine der Schulen wollte ihn. Er war ihnen zu eigenwillig. Eine Schule will leh-ren, will formen, ausbilden. Hat ein wahrer Meister nicht alle Meisterschaft in sich und kann sie daher nur hervor- bringen?«

»Nun, meine Liebe«, Fauré lächelte gutmütig, »vielleicht trifft das zu. Würden wir uns allerdings ausschließlich auf diese Sicht einigen, dann gäbe es keine Grundlagen, keine Gesetze, keine Möglichkeiten, Regeln zu lernen. Und Re-geln, das müssen Sie zugeben, werden in einer Gesellschaft gebraucht. Sonst funktioniert kein Zusammenleben. Sogar in der Kunst muss es Regeln geben, an deren Gebrauch Schüler wie Meister gemessen werden können.«

»Das wollen Sie? Ist Ihnen denn nicht daran gelegen, ori-ginelle Meister an ihrer Schola zu bilden?«

»Aber ja doch«, Fauré deutete auf Debussy, »einige gehen als Meister hervor. Sie haben genug Kraft und Kunst in sich, stärker als jede Schulbildung. Oder dieser außergewöhnli-che Mensch«, er zeigte auf Ravel, »der junge Maurice steht in seiner Eigenart Debussy in nichts nach. Gottseidank hat er nicht vor, ein Debussyst zu werden. Er hat zu viele eigene Ideen und Harmonien. Das ist es, was ich meine: Ein gro-ßer Geist muss einen Weg gezeigt bekommen, den er gehen kann; ihm müssen Mittel und Werkzeuge in die Hand ge-legt werden, mit denen er dann frei arbeiten kann.«

»Und doch«, ließ sich nun auch Emma hören, »hätte Maurice wenigstens einmal den Rompreis verdient. Fünf-

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mal hatte er sich beworben, aber seine Stücke waren der Jury jedes Mal zu avantgardistisch.«

Dieser Preis der französischen Akademie der schönen Künste in Rom, vor genau hundert Jahren von der Regierung gestiftet, sicherte den jungen Komponisten ein fünfjähriges Stipendium zu. Drei Jahre durften sie sich dabei in der Villa Medici aufhalten und hatten jährlich ihre Kompositionen vorzulegen.

»Du, Gabriel, warst sein Lehrer, und du hast deine Sache gut gemacht. Aber ich hätte ihm die fünf freien Jahre von Herzen gegönnt. Was sind das für Jurys, die mehr Wert auf eingehaltene Regeln legen als auf wunderbare französische Musik?«

»Da gebe ich Madame recht.«Debussy war dazu getreten. Er wischte noch mit der Ser-

viette über seinen Mund.»Zuviel systematischer Gebrauch an Volksmelodien. Und

der herrische Kontrapunkt hält sie in Schach. Wen wundert´s, dass diese Melodien dann immer etwas betreten dreinschau-en? Diese ernsthaften Übungen sind einfach nur langweilig. Aus lauter Gewohnheit nennt man sie dann Symphonien. Wie wäre es, wenn wir eine musikalische Geschmackspolizei aufstellen könnten?«

Fauré lachte. So kannte er ihn, das spürte Emma.Im Grunde liebte sie diese Gespräche. Mit Sigismond,

ihrem Mann, einem liebenswerten Menschen, in Finanz- angelegenheiten gebildet, die Damen mochten ihn durch-aus, konnte sie nicht über solche Themen reden. Es gab ein stilles Einverständnis zwischen ihnen: Jeder lebt seinen Kreis und die Eheleute treffen sich an der jeweiligen Peri-pherie. Hin und wieder zumindest.

»Sie sind eine hinreißende Gastgeberin, Madame.«

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Debussy suchte ihre Nähe.»Willst du nicht etwas singen?«Fauré strich über ihre Hand.»Raoul möchte etwas spielen«, sagte sie, »und ich hoffe,

Monsieur Debussy ebenso. Wenn wir einen Meister wie ihn schon unter uns haben, muss er natürlich spielen.«

»Erstaunlich, dass es dir geglückt ist, ihn herzulocken.«»Das hat Raoul fertiggebracht.«Raoul winkte aus dem Saal, deutete auf seinen Lehrer,

dann auf den Flügel. Emma nickte ihm zu, löste sich von Fauré und ging mit klopfendem Herzen auf Debussy zu.

Vor dem Flügel standen Emma und Claude Debussy ne-beneinander. Emma begrüßte ihn offiziell zum ersten Mal als ihren Gast. Und ihre Seele begrüßte ihn in ihrem Leben.

Seine Stimme war sanft, als er den Titel ansagte.»Eine kleine Arabesque.«Debussy berührte den ersten Ton. Emmas eigener Flügel

hörte sich ganz neu an. Ein Summen unter ihrer Haut, ein Bienenstock. Die Klänge trafen sie an einer ungeschützten Stelle, sie spürte ihre Unsicherheit aufbrechen wie eine sehr alte Wunde, ihre Haut öffnete sich.

Im windleeren Raum vibriert die Luft, auf meinen Armen stellen die Härchen sich auf, mein Gesicht wird ganz warm. Die Abwesenheit jeglicher Spannung verdichtet sich zu Stille. Ich löse mich darin auf. Die Musik kommt durch die Haut, fährt in Klängen meine Aderflüsse entlang, mein Geist wird zum Segel, das sich füllt mit dieser Kraft, meine Seele kann hoch am Wind der Töne entlangfahren und Geschwindigkeit aufnehmen, die Augen kann ich schließen, alles dreht sich in mir, alles kommt durcheinander auf diese süße Art.

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Die ganzen Töne tragen seine Musikhallen wie Säulen. Es beginnt immer und endet nicht. Es beginnt nie, tritt aus der Stille nicht heraus.Wer diese Musik nicht fühlt, sagt, sie sei spannungslos, langweilig, eine weiche Masse ohne Knochengerüst. Der Rhythmus fehle, die Spannung der Halbtöne, alles eigentlich, was Musik so greifbar und diesseitig macht. Sie schwebe irgendwo im Raum, nicht festzumachen an erdigen Gesetzen. Die Arabesque hat einen schlichten Dur-Klang, eines seiner früheren Stücke, ich kenne es längst, und doch schwebt es, ähnlich denen in ganzen Tönen. Es ist sanft und süß. Die Kritiker haben recht. Und ich verstehe den anderen Zauber, die Leidenschaft des Irdischen, den Rhythmus zum Mittrampeln. Die Lautstärke, die aufgebaute Spannung bis hin zum Höhepunkt, die Kulmination und das Auflösen, die darin enthaltene Zeit macht sie irdisch. Diese Musik ist wie ein Fluss, der den Ozean berührt und im selben Moment Ozean wird.

In Emmas Herzen hielten die Töne an und begannen sich auszudehnen. Sie war das Instrument, das endlich an-geschlagen wurde.

Dann Stille.Dann Applaus. Verbeugung. Blitze in den Augen.»Wenn Sie gestatten, meine Damen und Herren, möchte

ich mich bei Madame Bardac für die Einladung bedanken und sie bitten, mit mir zu singen.«

Alle sahen zu Emma, die blieb, wo sie war, völlig verwirrt. Debussy kam auf sie zu, nahm ihre Hand und führte sie nach vorn. Emma stand vor ihrem Flügel wie ein Backfisch. Debussy gab ihr ein Notenbuch in die Hand, setzte sich in aller Ruhe auf die Flügelbank.

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»Madame, ich weiß, Sie brauchen die Noten gar nicht, Sie singen sie auswendig.«

Er lächelte. Zum ersten Mal. Emma fühlte ihre Röte sich bis in die Haarwurzeln ausbreiten. Freundlich gespannte Gesichter in den Reihen.

Chansons de Bilitis.»Ich gebe Ihnen den Ton.«Jetzt.

Er sieht mich weiter an. Er spricht zu mir in Klängen, zart und verspielt, ich antworte mit meiner Stimme, ich fliege und gleite auf seiner Melodie als ein Vogel durch den Sommerhimmel, überfliege die Taktstriche wie niedrige Wände. Fliege höher und lasse mich tragen. –

Stille.Heftiges Atmen.

Gleich werde ich stürzen –

Debussy kam um den Flügel herum an ihre Seite, griff in den heiligen Raum ihrer körperlichen Distanz hinein, nahm ihre Hand, fing ihren Flug auf. Emma landete sanft.

Sie verbeugten sich.Und standen danach viel zu lange Hand in Hand in ei-

nem völlig identischen Kreis.

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Mondzeit

Die nächsten Tage bewegte sich Emma mit einer Sanft-heit, die sie selbst erstaunte. Sie sagte der Köchin, sie möge allein entscheiden, was es zu Tisch geben soll. Sie umarmte Dolly häufiger, ein neues Strahlen trat in ihre Augen. Dolly schmiegte sich an sie: ›Maman!‹

Sie las in Debussys Noten und vergaß zu atmen. Sie flog durch die Tage, wurde schmaler dabei, spürte seine Hand noch immer in der ihren und war wild vor Sehnsucht.

Nachts saß sie vor dem Flügel. Seine Hände hatten ihn berührt, und nun berührte sie die Tasten ebenso. Vielleicht saß er jetzt in seinem Zimmer, die Hände auf den Tasten seines eigenen Instrumentes. So würden sie sich in der glei-chen Bewegung treffen.

Dass Sigismond in der Ecke im Sessel saß, eine kalte Pfeife im Mundwinkel, sah sie nicht. Es war, als gäbe es ihn nicht mehr.

Emma war nicht mehr unberührt.Manchmal sah Sigismond ihr direkt in die Augen und

stellte die Frage doch nicht. Emma lächelte. Sie ging durch ihre alten Räume, streifte mit den Händen

Tische und Vorhänge und wieder die Tasten des Flügels.An den Abenden setzte sie sich zu Sigismond in den

Salon, las ein Buch, wenn er die Börsenberichte durchging, es war wie immer. Sie unterbrach das Buch, wenn er eine Bemerkung machte, war freundlich, zugewandt. Und sie verabschiedete sich früher, ging zu Bett und fand doch keinen Schlaf. Ihr Körper leuchtete durch die Kleider hin-durch.

Es war Juni, und Emma wusste nicht, wie es Debussy ging.Sie schickte ihm Blumen.

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Mit einem Kärtchen, auf dem stand, mit seinem Besuch und seiner Musik sei er ein besonderer Segen für sie gewesen.

Er antwortete sofort mit einem Brief.›Wie nett ist es, und wie gut die Blumen riechen! Aber vor

allem bin ich tief glücklich über Ihre Gedanken. Sie gehen in mein Herz, setzen sich fest. Sie sind mir unvergesslich, entzückend, süß … Ich bitte um Verzeihung, wenn ich alle diese Blumen wie einen lebenden Mund geküsst habe, viel-leicht ist das verrückt. Aber Sie können mir doch wohl nicht böse sein, wenigstens nicht mehr als eine leichte Berührung des Windes …‹

Emmas Herz hatte ein neues Zuhause.

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Familie

Onkel Bertrand war Anfang siebzig, seine Frau Louise Mitte fünfzig, und sie war ein Schatz. Emma und Louise hat-ten sich das erste Mal vor ein paar Jahren gesehen und sofort umarmt. Bertrand hatte sehr lange allein gelebt, nicht nur weil er befürchtet hatte, Frauen könnten sein Geld mehr lie-ben als ihn. Bertrand war still, verschlossen, beinahe streng, dann wieder lachte er laut und war voller Leben. Als kleines Mädchen durfte Emma als einzige auf seinem Schoß herum- turnen und ihm die Haare durcheinander bringen. Seit er Louise hatte, war er nicht nur dicker geworden, auch viel sanfter, gemütlicher, er lachte öfter.

Louise war seine Lebendigkeit. Sie trug überhaupt kei-nen Schmuck, dafür liebte sie Hüte. Zu jedem Besuch in Emmas Haus hatte sie einen anderen Hut auf dem Kopf gehabt, mal schlicht, mal mit Federn, Kirschen oder Blüten, der Formen und Gestalten gab es viele. Diese Kopfbe-deckungen passten perfekt zu ihrer schlicht eleganten Mode und ihrem freundlichen Gesicht. Sie war jedes Mal ein er-freulicher Anblick. Heute hatte sie einen größeren Hut mit dunkelgrünen künstlichen Blättern gewählt.

»Du siehst aus, als hättest du noch nicht gefrühstückt.«»Danke«, sagte Emma, »mancher Hunger ist mit Essen

nicht zu stillen.«Louise sah ihr kurz in die Augen, ordnete dann ihr aufge-

stecktes Haar vor dem großen Spiegel, fuhr sich mit beiden befeuchteten Zeigefingern über die Augenbrauen, sagte bei-läufig: »Ach, ich hätte doch gern ein Glas Wasser«, und ging ins Esszimmer.

Auf dem langen Tisch lag ein Tuch aus weißem Damast, dazu silbernes Besteck, silberne Serviettenhalter, Servietten

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aus dem gleichen Damast wie das Tischtuch. Zwei fünfar-mige Kerzenleuchter und eine Blumenschale in der Mitte. Es gab Zwiebelsuppe mit Käse, dazu roten Bordeaux.

Bertrand hatte die gleichen Augen wie Emmas Mutter, und wenn Emma ihn ansah, waren Sehnsucht, Freude und Schmerz gleichzeitig da. Neben ihm saß Louise, an der Stirnseite Sigismond, gegenüber Raoul, neben Emma saß Dolly. Das Mädchen hatte eine liebe und stille Art, alles um sich herum zu beobachten, und sie stellte Fragen, die einen Erwachsenen geadelt hätten. Sie fand Zusammenhänge mit Gott, der Welt und sich selbst, sie dachte sich Lieder aus, versuchte sich im Kontrapunkt, und wenn sie an ihrem Ge-burtstag von Fauré wieder ein neues Stück für ihre Suite geschenkt bekam, leuchteten ihre Augen.

Bertrand hatte Sigismond kennen gelernt, als Emma noch ein junges Mädchen und im Internat gewesen war. Er hat-te die beiden in den Ferien einander vorgestellt und dabei betont: »Dieser junge Mann ist ein ausgezeichneter Bankier, ihm würde ich mein ganzes Vermögen anvertrauen.«

Sigismond konnte lachen, war trotzdem ernsthaft im Geschäft, schätzte das Geld und konnte mit ihm umgehen. Er war ausgesprochen höflich und zurückhaltend, er liebte Kunst, kaufte und sammelte sie, und sah überdies gut aus. Mittelblond, groß, gepflegtes Haar, gepflegte Hände. Und wie glücklich Bertrand gewesen war, als der junge Mann, den er als seinen Wahlsohn bezeichnet hatte, an Emma Ge-fallen fand! Er hatte die Hochzeit ausgestattet und seiner Nichte einen großen Teil seines Erbes in Aussicht gestellt.

Emma war nichts an seinem Tod gelegen. Er sollte ihr, so lange es ging, lebendig erhalten bleiben.

Bertrand hatte sich die Serviette zwischen zwei Hemd-knöpfe gesteckt, sie lag über einem erheblichen Bauch.

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Die Zwiebelsuppe war superbe, etwas stark gewürzt für Emmas Geschmack, aber sie wusste, dass ihr Onkel das so liebte und hatte Anweisung gegeben, etwas stärker, aber ausgewogen zu würzen.

»Wie geht es denn unserem Musikstudenten?«Bertrand tupfte sich die Mundwinkel ab.»Welcher Art sind nun die Fortschritte, seitdem du bei

deinem berühmten Lehrer Unterricht hast?«»Du meinst Monsieur Debussy?«, fragte Raoul.Bei der Nennung dieses Namens wurde Emmas Rücken

heiß, sie hatte Mühe, den Löffel festzuhalten.»Nun, er ist mehr Künstler als Lehrer. Er achtet nicht auf

Kleinigkeiten wie Handhaltung, Fingerhaltung oder Finger- satz. Das war bei Massenet wichtiger. Bei Debussy geht es um die Größe der Musik, um ihre magnetische Wirkung. Wie schlage ich die Töne an, ohne zu schlagen. Welcher Art sind die inneren Bögen. Wie drücke ich die Natur in der Musik aus. Welche Farben, welche Klangeffekte kann ich dem Instrument entlocken, dass die Musik magisch wird?«

»Oder esoterisch?«»Vielleicht auch das.«»Ich habe einiges gehört von dieser neuen Mode. Ist er

Esoteriker? Ich hoffe nicht!«»Onkel Bertrand, wir machen Musik, nicht Tische-

rücken!«»Nun, so ein Studium ist schließlich nicht umsonst. Und

wenn du schon Musiker wirst, was du sicher von deiner lieben Mutter geerbt hast, dann einer der besten, dann Professor für Musikgeschichte oder ähnliches, mit einer ordentlichen Stellung am Conservatoire und einer hüb-schen Pension im Alter.«

»Aber Onkel, daran denke ich noch gar nicht!«

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»Lass ihn«, warf Louise ein, »er ist jung genug für Lei-denschaften und Amouren. Verschrecke ihn nicht mit dem Wort Pension!«

»Erschreckt es ihn? Oder eher dich?« Er gab ihr einen langen Kuss auf die Hand.

»Maman, wir unterhielten uns neulich darüber, ob es nicht möglich wäre, den Unterricht hier zu Hause zu neh-men? Im Conservatoire gibt es derzeit Raumprobleme. Ein Gebäudeteil wird renoviert. Ständig diese Sucherei. Und wenn wir einen Raum gefunden haben, ist nicht ge-sagt, dass das Instrument uns gefällt. Monsieur Debussy ist da sehr anspruchsvoll. Was ich gut verstehe. Maman, was sagst du?«

Emma legte den Löffel neben ihren Teller. Sollte es das Schicksal so gut mit ihr meinen? Sollte es wirklich so sein, dass Claude regelmäßig in ihr Haus kommen, sie ihn se-hen, ihn spielen hören, seiner Stimme lauschen konnte?

»Natürlich«, sagte sie wie nebenher, »ihr könnt den Salon nutzen. Vorausgesetzt dein Vater hat nichts dagegen.«

Sie hatte sich an die Etikette gehalten und sah, wie Onkel Bertrand nickte. Ihre Unsicherheit fiel nicht weiter auf, alle Blicke gingen zu Sigismond, sie konnte ausatmen.

»Wenn es dir nützlich ist, Raoul, dann bring ihn mit. Mach mit deiner Mutter eine Zeit aus, in der euer Spiel sie nicht stört, du weißt, sie ist oft sehr empfindlich gegen Geräusche.«

Emma mochte tatsächlich keine lauten Geräusche. Aber das hatte nichts mit Musik zu tun. Und das wusste Sigismond.

»Bring ihn mit, wann immer es euch passt. Du weißt, dass Musik mich noch nie gestört hat. Schon gar nicht die deines Lehrers.«

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Raoul lachte die merkwürdige Stimmung zwischen seinen Eltern hinweg.

Sie ging mit Louise durch den Garten, zeigte ihr Lilien und Rosen.

»Was ist mit dir, Emma? Du machst einen merkwür-digen Eindruck auf mich. Wie soll ich sagen, du bewegst dich irgendwie anders.«

»Tatsächlich?«Wäre Louise nicht ihre angeheiratete vierzehn Jahre äl-

tere Tante, Emma hätte sie auch als Freundin gern gehabt. Louise schaute sie an und ahnte mehr, als Emma erzählen konnte.

»Bist du schwanger?«»Schwanger?! Aber nein, wie kommst du darauf?«»Das kommt vor in der Ehe.«Louise lächelte. »Und immerhin bist du noch nicht zu

alt dafür.«»Ich bin viel zu alt dafür! Ich habe zwei wunderbare Kin-

der, das genügt.«»Was ist es dann?«Die Blätter der Linde sahen aus wie lauter grüne Herzen.»Ich liebe Debussy.«»Oh ja, ich weiß. Und du singst ihn hervorragend. Ich

liebe ihn auch.«»Ich meine den Mann.«»Den Mann? Ich dachte, er besteht nur aus Geist. Rein

geistiger Magnetismus. Ich habe in seiner Oper gesessen und die ganze Zeit völlig anders geatmet als sonst. Danach war ich erstaunt, dass sie fast drei Stunden gedauert hatte. Wie ist er als Mann?«

»Er ist ein Magnet.«»Na dann.«

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Sie sah Emma sehr genau an, musterte deren Haltung und Blick.

»Jetzt, wo du es sagst. Deine Augen leuchten. Dein Kör-per ist voller Anmut, wie erwacht. Du hast Zärtlichkeit in deinen Bewegungen. Und in deiner Stimme.«

Emma wartete besorgt, wann die Verurteilungen kom-men würden. Schließlich war sie verheiratet, hatte zwei Kinder, führte ein gesichertes Leben. Sie hatte einen Ruf in Paris, war eine Grand-Dame des musikalischen Salons, för-derte Künstler, lebte in deren Kunst. Sie selbst fühlte sich nur wie eine Ausführende, eine Sängerin, Dilettantin, die nicht auf der Bühne der Theater sang. Sie war wohlhabend, hatte ein großes Haus zu bewirtschaften, ein großes Erbe stand zu erwarten, all das musste verantwortet werden.

Andererseits genoss sie eine große Freiheit, die ihr kostbar war.

Und nun, während Louise sie ansah, spürte Emma einen Schauer im Rücken.

»Es ist ernst, nicht wahr?«Emma nickte hilflos.Louise strich ihr über die Wange und lächelte.»Weiß es Sigismond?«Emma schüttelte den Kopf.»Wenn du dich da mal nicht irrst.«»Wie meinst du das?«»Nun, er beobachtet dich, wenn du es nicht merkst.

Meine Liebe, geh es langsam an. Wenn du dir sicher bist, ist es schön für dich. Und schwer auch. Übrigens steht dir das Rot in deinem Gesicht. Ich werde dir einen passenden Hut schenken.«

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Bekennen

Es war ein Dienstag, und es folgten weitere Dienstage, an denen Claude in das Haus der Familie Bardac kam, mit Raoul im Musiksalon verschwand, danach wieder im Entrée stand, um sich mit langem Handkuss von Emma zu verabschieden. Er ließ ihre Hand nicht los, zog sie näher zu sich. Dann plötzlich, als würde ihm ein Gedanke durch den Kopf gehen, trat er einen Schritt zurück, ließ Emma los und ging, ohne sich umzusehen.

Als es wieder Dienstag war, stand sie gegen Ende der Unter- richtsstunde vor dem Salon, hörte Raoul und Debussy hinter der Tür reden. Sie öffnete und ging hinein. Beide sahen überrascht hoch. Emma war betont fröhlich, char-mant, ganz Hausherrin und plauderte los:

»Ah, Monsieur! Heute werde ich Sie nicht verabschieden, ohne dass Sie mir noch etwas vorgespielt haben. Es geht einfach nicht an, dass der bekannte Meister regelmäßig mein Haus beehrt und mich so hungrig zurücklässt.«

Emma setzte sich und lächelte. Das hatte sie gut formu-liert. Raoul lächelte auch, Claudes Blick war ein anderer. Sie sah so etwas wie einen Schock. Was hatte er verstanden? Er beehrte ihr Haus und ließ sie hungrig zurück, hungrig? Sie fiel aus dem Plauderton heraus, ihre Bewegungen wur-den unsicher unter diesem so genauen Blick, ihre Stimme klang belegt.

»Bleiben Sie … noch etwas?«Er nickte nach einer Weile. Und er nickte sehr langsam,

legte seinen Stift beiseite, legte eine Hand in die andere.»Ja, Madame. Ich bleibe.«»Na dann«, ließ sich Raoul hören, »das freut mich. Ich

verabschiede mich. Monsieur – nächste Woche wieder?«

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Claude drehte sich sehr langsam zu Raoul, schüttelte dann energisch den Kopf.

»Nein, Raoul, nächste Woche nicht. Auch die darauf fol-genden nicht. Ich werde nicht in Paris sein. Aber Sie wer-den erfahren, wann ich zurück bin. Für eine Vertretung ist gesorgt.«

»Oh!«Raoul hielt im Einsammeln seiner Noten inne.»Sie sind gar nicht da?«»Nein. Ich fahre ans Meer.«»Zum Komponieren, nehme ich an?«»Ja.«Es klang sehr müde.»Dann wünsche ich Ihnen eine fleißige Feder.«»Danke, mein Junge.«Als Raoul aus der Tür ging, konnte Emma nur denken,

dass sie Claude nun wochenlang nicht sehen würde und wie sie das aushalten sollte. Sie hatte nur noch von Dienstag zu Dienstag gelebt, ist ihm kurz begegnet, und nun?

Er saß am Flügel. Langsam nahm er die Hände auf die Tastatur und begann mit einer unendlichen Zartheit zu spielen, Clair de lune.

Die ersten Terzen klangen wie sanfter Regen. Die Töne kamen aus seiner Seele und berührten die Innenseiten ihrer Herzwände.

Den Atem anhalten. Dieser Raum gehört nur uns beiden. Nichts denken, nur hören. Die Akkorde klingen. Füllen den Raum mit Pastellfarben.Das Mittelstück aus lauter Girlanden von Farben, die ineinander fließen, zuerst die dunkleren, Grün, Braun,